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Darina und Milo

 

Darina keuchte auf, Schmerzen jagten durch ihr Knie. Aus einem Reflex griff sie hinunter und rieb darüber, aber sie wusste es schon: Es war nicht ihr Knie, dass so stechend schmerzte. Jemand war auf dem Weg zu ihrer Hütte. Jemand hatte tatsächlich die Mauern der Stadt und die Sichtgrenze hinter sich gelassen und kam ihrem Wohnsitz immer näher. Mit eiligen Bewegungen wischte Darina ihr Strickzeug vom Tisch in einen geflochtenen Korb und griff nach ihrem Wanderstab. Sie zog sich hoch und angelte nach dem Messer unter ihrem Kopfpolster. Die Schmerzen wurden immer größer, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Person näherkam. Ihre Hände schlossen sich stärker um die Waffen, und sie zog sich in die Ecke der Hütte zurück, die im Dunklen lag. Jemand, der mit Schmerzen zu ihr kam, wollte sie schwächen. Jetzt spürte sie auch etwas um den Hals, einen harten Ring, der gegen ihre Kehle drückte. Sie unterdrückte den Drang, danach zu tasten. Es war nicht ihr Körper, der misshandelt wurde.

Ein kräftiges Klopfen brachte die Tür zum Beben. Darina rührte sich nicht. Sie war ganz ruhig. Sie spürte Verzweiflung, Schmerzen, Ungeduld von der anderen Seite der Tür. Sie waren zu dritt. Oder zu viert?

»Leserin! Ich brauche dich!«, ertönte eine weibliche Stimme. 

»Nenne deinen Namen, so erhöre ich dich vielleicht!«, rief Darina in Richtung Tür.

»Deine Königin begehrt Einlass in dein Heim«, antwortete eine barsche männliche Stimme.

»Sie ist nicht meine Königin, doch sie kann eintreten, wenn sie in freundlicher Absicht kommt«, rief Darina mit fester Stimme. Die Königin persönlich!

Die Tür würde aufgerissen und Darina sah sich einem Krieger gegenüber. Er war so groß, dass er den Kopf senken musste, um durch die Tür zu passen. Weiterhin hielt sie das Messer und den Stab umklammert. Seine stechend blauen Augen musterten sie abschätzend. Er war bereit, jeden zu töten, der sich seiner Königin in den Weg stellte. Aber er würde ihr nichts tun. Darina legte das Messer weg und trat einen Schritt vor. Nachdem er sich in der Hütte umgesehen hatte, trat er zur Seite, sodass die Königin eintreten konnte. 

»Ríona«, grüßte Darina und verbeugte sich.

»Leserin«, antwortete die Königin knapp und ließ sich auf dem groben Holzstuhl bei dem Tisch nieder. Darina setzte sich auf die Bettkante. Dabei unterdrückte sie ein Stöhnen. Der Blick der Königin ruhte auf ihr. 

»Vergib mir, dass ich zu dir komme mit all meinen Sorgen. Vergib mir, dass ich dir Schmerzen bereite«, sagte die Königin mit einer Stimme aus Eis. Sie war es nicht gewöhnt, sich für ihre Taten zu rechtfertigen. 

»Du hast einen Grund«, presste Darina hervor. Verzweiflung. Mut. Unsicherheit. Entschlossenheit. Die Gefühle der Königin lagen offen in Darinas Kopf, aber noch konnte sie keine Zusammenhänge herstellen.

»Ich habe gesehen, dass eine Armee kommen wird«, kam die Königin gleich auf den Punkt.

»Eine Armee?«, wiederholte Darina. Sie runzelte die Stirn. Die Königin hatte die Kriegerstände. Sie hatte sogar den Trainerstand unter sich, wenn es tatsächlich zum Krieg kommen sollte. Aber eine Armee? Was sollte man darunter verstehen?

Die Königin nickte dem Krieger zu, der sie begleitet hatte und die ganze Zeit still, wie eine Statue, neben ihr gewartet hatte.

Er verschwand kurz nach draußen und Darina konnte einen ängstlichen Schrei hören. Da die Tür weiterhin geöffnet war, konnten sie sehen, wie der Krieger einen Mann hinter sich herzog, der draußen mit einer Kette angebunden gewesen war. Sein Knie blutete und die Schmerzen zwangen Darina dazu, keuchend einzuatmen, bevor sie sich zusammenreißen konnte. Nur unklar konnte Darina die Gedanken des Gefangenen spüren. Er sah aus wie jeder andere Mann auch, den sie bisher zu Gesicht bekommen hatte. Vielleicht war er etwas kleiner als die meisten, aber er konnte doch nicht … das war doch nicht möglich?

»Ein Mensch?«, flüsterte sie erstaunt. »Ich habe seit Jahren keinen Menschen mehr gesehen.«

Die Königin nickte bedrückt. Das war das Problem.

»Du warst Menschen gegenüber immer freundlich gesinnt, Ríona. Wir haben sie wieder auferstehen lassen.« Darina runzelte die Stirn. Wieso war ein Mensch ein Problem? Er hatte keinerlei Fähigkeiten, die nicht kontrolliert werden konnten.

Die Königin schloss die Augen für eine Sekunde.

»Ich habe etwas gesehen, Leserin. Etwas, das mich sehr beunruhigt. Darf ich es dir zeigen?« 

Darina zögerte eine Sekunde lang. Sie sah den Krieger an, den Menschen und dann streckte sie auffordernd die Hände nach vorne an den Tisch. Die Königin legte ihre Hände in Darinas und zwang sich ihre Schutzschilde zu lösen. Darina beobachtete sie und wünschte sich, sie hätte auch solche Schilde. Einfach auszublenden, was sie nicht sehen oder fühlen wollte, musste herrlich sein. Sie dagegen war der Königin und den Männern nun hilflos ausgeliefert. Darina schloss die Augen, sobald sie spürte, dass die Gedanken der Königin in sie einströmten.

Darina sah Horden von Menschen in Reih und Glied marschieren, sie sah Hunderte sterben. Städte brannten, sie konnte den Rauch riechen und das verkohlte Fleisch der Krieger beider Seiten der Schlacht. Sie hörte Schreie, schlimmer als sie je gehört hatte. Sie sah Bäume, Wälder, dichte Wälder.Kälte, Gefahr, sie spürte Angst, Panik. Flucht, sie war auf der Flucht, sie musste schneller rennen, konnte aber nicht mehr. Wasser in ihrer Lunge. Keine Luft. Panik. Schmerzen. Ein Baby. Frieden. Dunkelheit. Sonne. Regen. Heute. Gestern. In einem Jahr. In zwanzig Jahren. Vor hundert Jahren.

 

Milo sah alles in dieser erbärmlich kleinen Hütte. Er lehnte mit dem Rücken gegen einen Stützpfeiler nahe der Tür. Weder die Königin noch die Leserin waren in Gefahr. Bis jetzt war alles einfach gewesen. Er hatte keine Einwände gehabt, als die Königin nur ihn als Begleitung in die Hütte verlangte. Es war nur ein Raum und die Leserin war nur eine Person. Eine kleine Person noch dazu. Gut, vermutlich konnte sie sich verteidigen. Schließlich waren Leserinnen ja dafür bekannt, überall in der Wildnis herumzustreunen, immer auf der Jagd nach Wissen und Gefühlen. Wahrscheinlich konnten sie gar nicht selbst fühlen, sondern klinkten sich einfach in die Gefühle von anderen, falls sie mal fühlen mussten. Sie konnte ihn nicht überraschen. Zugegebenermaßen war sie jünger und schöner als er gedacht hatte, aber das hatte er zur Kenntnis genommen und war wieder in seine Meditation verfallen. Wenn er nichts fühlte oder dachte, konnte sie ihm auch nicht gefährlich werden. Er konzentrierte sich auf seinen Job und das war gut so. Da die Leserin eine Vertraute der Königin war - wie auch immer diese Bekanntschaft zustande gekommen sein mochte -, hoffte er halb auf die Unterstützung der Leserin. Sie konnte ihm sagen, falls jemand in ihr Territorium eindrang. Darauf konnte er zwar nicht vertrauen, aber er erinnerte sich nur zu gut, wie misstrauisch sie war. Sie hielt ein Messer in der Hand, als sie ihn ins Haus gerufen hatte. Milo nahm an, dass sie irgendeine Reaktion haben würde - irgendwie zusammenzucken würde -, wenn ein Fremder in die Nähe kam.

Doch nun war es mit seiner Gelassenheit vorbei. Die Königin hatte ihre Hände in die der Leserin gelegt. Das gefiel ihm gar nicht. Der Mensch war hilflos, er würde nichts tun. Die Leserin war abgelenkt. Sie sah die Gedanken der Königin. Und litt dabei große Qualen.

Sie atmete keuchend ein, zuckte unter Schmerzen zusammen, wiegte den Kopf hin und her, als hätte sie einen Alptraum. 

Milos Griff um die Arme des Menschen verstärkte sich unbewusst. Er konzentrierte sich mehr auf die Leserin als auf seine Aufgaben. Erst als der Mensch ebenfalls keuchte, blickte Milo hinunter und sah die Striemen, die seine Handschuhe auf der Haut des Menschen hinterlassen hatten. Er band den Menschen um den Stützpfeiler, um beide Hände frei zu haben, falls er gebraucht wurde. Daran hätte er früher denken können, verdammt.

Die Leserin riss plötzlich die Hände zurück und begann in Todesangst zu schreien. Sie schlug wild um sich und fiel schließlich zu Boden. Milo machte einen Schritt nach vorne und sah, dass der Königin Tränen über die Wangen liefen. »Es tut mir leid, Darina!«, flüsterte sie hilflos. Die Leserin rollte sich zusammen wie ein Baby und begann flach zu atmen - hilflos nach Luft zu schnappen, ohne sie tatsächlich einzuatmen. Dann wurde sie ganz ruhig und bewegte sich nicht mehr. 

Die Königin beugte sich hinab und legte ihr die Hand an die Wange. Dann winkte sie Milo heran, und deutete auf das Bett.

Milo vergewisserte sich, dass der Mensch weit genug von der Königin entfernt hockte, dann kam er näher. Er schob seine Finger unter den reglosen Körper der Leserin und zog sie zu sich heran. Sie wog fast nichts. Als er ihre weichen Formen an seinem Körper spürte, erlaubte er sich zum ersten Mal, sie genauer zu betrachten. 

 

Darina spürte Wärme und Sehnsucht, als sie langsam wieder zu sich kam. Sehnsucht, Hunger, Verlangen. Das waren wieder nicht ihre Gefühle. Als sie die Augen aufschlug, blickte sie direkt in das Gesicht des Kriegers, es war unerwartet nah. Seine Gedanken, seine Gefühle waren in ihrem Kopf, also musste er Körperkontakt mit ihr haben. Wie konnte er es wagen, ihr so nahe zu kommen! 

Bevor sie etwas sagen konnte, wurde sie nach unten gedrückt, auf ihr eigenes Bett. Sie versuchte, ihn böse anzuschauen, doch ihr Atem ging schwer und sie fühlte ein angenehmes, dumpfes Pochen in ihrem Unterleib. 

»Es geht schon wieder«, wies sie ihn zurecht und setzte sich auf. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. In seinen Augen blitzte kurz die Erkenntnis auf, dass alles, was er spürte, sie ebenfalls wahrnahm. Wäre seine Haut heller gewesen, wäre er wohl rot geworden. Doch so zog er sich zurück - scheinbar unberührt. 

 

»Was war das, meine Königin?«, flüsterte Darina. »Was habe ich gesehen?«

»Eine Armee? Aus Menschen«, antwortete die Königin, sich vergewissernd, dass Darina vom Krieg sprach.

»Ja. Aber wie ist das möglich? Und wann?« Sie schüttelte sich. Zu viel Information in ihrem Kopf. 

»Bald. Vielleicht in zehn Jahren. Aber es gibt immer mehr Menschen. Ich war immer der Meinung, dass wir mit den Menschen friedlich leben. Gut, sie sind uns unterlegen. Aber ich habe Strafen darauf ausgesetzt, wenn sie ungerecht behandelt werden.«

»Wir wissen, woher Menschen kommen«, antwortete Darina.

»Ja. Menschen entstehen bei einer künstlichen Empfängnis. Die künstliche Empfängnis ist nicht untersagt, aber sie wird streng kontrolliert.«

»Auch in anderen Teilen der Welt?«, fragte Darina. Es lag auf der Hand - natürlich kamen die Menschen nicht von hier, sie zerstörten dieses Land. Aber woher dann?

»In manchen Teilen der Welt ist die künstliche Empfängnis verboten. Viele unserer Zuwanderer kommen aus diesem Grund hierher. Sie können keine Kinder bekommen, sie lassen sich künstlich helfen. Dann haben sie ein Kind.«

»Ein menschliches Kind.« Darina überlegte. Sie konnte die Gedanken von Menschen fast genauso gut lesen wie die von allen anderen. Es waren Lebewesen, ohne jeden Zweifel. Plötzlich musste Darina an das winzige Baby aus der Vision der Königin denken. So klein hatte es in ihren Armen gelegen.

»Ja. Ich halte nach wie vor die Vermischung für gut und notwendig. Menschen sind fruchtbar. Wenn sie mit uns gemeinsam aufwachsen und leben, gibt es keinen Grund für sie, uns zu hassen. Und ein Mensch bringt sehr oft einen Begabten zur Welt. Wenn wir die Welt wiederbevölkern wollen, ist es nur natürlich, auf die Menschen zurückzugreifen. Wir sind zu wenige.«

»Du brauchst mich nicht zu überzeugen. Ich bin keiner deiner Politiker. Was hat der Mensch gesagt? Warum hast du ihn mitgebracht?«

»Das ist das Problem. Seit einiger Zeit haben wir menschliche Zuwanderer, ohne Familie. Sie sagen nicht, woher sie kommen. Ihn habe ich in einer meiner Visionen gesehen. Ich habe es dir nicht gezeigt, weil es nicht wahrgeworden ist. Milo hat es verhindert. In der Vision hat mich der Mensch getötet.«

»Du willst, dass ich gegen seinen Willen in seinen Kopf eindringe?«

»Er ist ein Mörder. Du hast jedes Recht dazu.«

»Du lebst noch. Er ist kein Mörder. Und ich stehle nicht. Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Darina! Du unterstehst nicht meinem Befehl - aber doch meinem Schutz«, zischte die Königin wütend.

»Außerdem hast du schon gesehen, dass ich es tun werde?«

»Ich habe noch eine Information, die du haben willst. Du hast sie schon gesehen.«

»Das Baby?«

»Es war nicht mein Kind, es war deine Tochter. Willst du, dass die Zukunft so abläuft, wie sie gesehen wurde? Die Zukunft hat viele Stränge, nicht alle sind miteinander verbunden. Wenn du mir hilfst, einen Teil zu verhindern, kann ich dir helfen, den anderen Teil wahr werden zu lassen.«

»Das ist Erpressung, meine Königin.«

»Das ist mein Königreich, Leserin, und ich werde nicht alle darin sterben lassen.«

»Bring den Menschen näher, Krieger«, sagte Darina zu dem Mann.

Er wechselte einen Blick mit seiner Königin, dann band er den Menschen los und schob ihn einige Schritte auf Darina zu.

Sie setzte sich an den Rand des Bettes und legte dem Menschen ihre Hände auf die Stirn.

»Nein«, flüsterte der Mensch und versuchte, sich ihrem Griff zu entwinden.

»Dann gib sie mir freiwillig«, bat Darina.

»Nein«, knurrte der Mensch.

»Es wird wehtun«, flüsterte Darina.

»Missgeburt!« Er spuckte ihr ins Gesicht.

Darina hatte kein Mitleid mehr mit ihm. Sie packte seinen Kopf mit beiden Händen und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen. Sie sah seine Gedanken näher kommen, spürte sie in ihrem Kopf noch bevor sie sie erkennen konnte. Der Mensch begann zu schreien. Und Bilder begannen in ihren Kopf zu wandern. Er bekam sie nicht wieder zurück. Gewaltsam genommen, gehörten ihr alle Gedanken und Gefühle, die er hatte. Er gehörte ihr. 

Hass. Verzweiflung. Tiefer Hass. Wut. Schmerz. Unterlegenheit. Demut. Hass. Sehnsucht. Geltungsdrang. Hass. Tests. Krankenhaus. Hass. Unverständnis. Erklärung. Fragen. Erklärung. Fragen. Wut. Gezüchtet. In schlafenden Frauen gezüchtet. Herausgeschnitten statt geboren. Tests. Schmerzen. Soldaten. Disziplin. Kampf. Ausbildung.

 

»Leserin! Es reicht!«

Darina spürte, wie kräftige Hände sie packten und festhielten. Sie schlug die Augen auf. Der Mensch lag vor ihr auf dem Boden. Er blutete aus der Nase. Die Königin starrte entsetzt auf ihn herab. Sie presste die Lippen zusammen und seufzte. Mit einem Kopfschütteln wandte sie sich von dem Menschen ab und Darina zu.

»Leserin! Was hast du gesehen?«, rief die Königin.

»Zu wenig. Ich brauche einen Ort, oder es war alles umsonst.«

Die Königin blickte auf den Menschen, der noch immer röchelnd dalag, während sein Blut auf den Holzboden tropfte. Schließlich nickte sie dem Krieger zu, der Darina pflichtbewusst zurückgerissen hatte. Darina rieb sich die Arme und kniete sich neben den Sterbenden. Sie hob sorgsam seinen Kopf an, fuhr mit ihren Händen seine Wangen entlang und strich sanft durch sein Haar.

»Zeig mir, wo die Menschen herkommen werden«, flüsterte Darina. Der Mensch leistete diesmal keinerlei Widerstand. Er war einfach zu schwach dazu. 

Sie sah einen Ort, konnte ihn aber nicht einordnen. Wald. Berge. Sonne. Schnee. Lagerhallen.

»Wie heißt der Ort?«, zischte sie ihm ins Ohr.

»Ich weiß es nicht, Herrin. Aber ich bin über die Berge gekommen«, flüsterte er stockend, kaum hörbar. Sein Atem flatterte gegen ihr Gesicht.

»Verschwende deine Kraft nicht für Worte. Zeig mir alles, was du weißt.«

Er zeigte ihr Landschaften, Wege, Wälder, Häuser, alles, woran er vorbeigekommen war. Doch auch sie wusste nichts damit anzufangen. Schließlich spürte sie, dass er ihr alles gegeben hatte, was er wusste, kannte, liebte und hasste.

»Schon gut«, sagte sie langsam. 

»Vergebt mir, Herrin«, röchelte er.

»Danke für deine Gaben«, sagte Darina. Sie wusste, dass es kein Geschenk gewesen war, dass er sich gewehrt hatte, solange er konnte. Und jetzt lag er in ihren Armen und lächelte dankbar. Sie küsste ihn auf die Stirn und sagte: »Du wirst belohnt werden.« Sie zog seinen Körper an sich heran und wiegte ihn wie ein kleines Kind, bis sie fühlte, dass er diese Welt verlassen hatte und sie nur noch seine leblosen Überreste hielt.

Die Königin blickte betreten zur Seite, sie musste ihre Tränen zurückhalten. 

»Er wusste nichts, was euch weiterhilft. Zuerst Westen, über die Berge. Dann vielleicht Norden. Nur Berge, nur Wälder. Die Gebäude waren alt ... ein paar Jahrhundert jedenfalls. Aber alte Militärkasernen gibt es überall. Viele werden heute nicht mehr benutzt. Offiziell nicht mehr benutzt, so sieht es aus.«

Die Königin schüttelte ernüchtert den Kopf. »Würdest du den Ort wiedererkennen?«, fragte sie.

»Wahrscheinlich. Ich habe fast alle Gebäude von innen und außen gesehen. Ich habe keine Erfahrung mit Militärgebäuden. Ich weiß nicht, wie sehr sie sich ähneln.«

Jetzt nickte die Königin zufrieden. »Wir werden dir Bilder zukommen lassen, alles, was wir finden.«

Der Soldat hatte einstweilen den Körper aufgehoben und öffnete die Tür, um ihn nach draußen zu bringen. Die Königin erhob sich.

»Meine Belohnung«, flüsterte Darina.

»Ja«, sagte die Königin. »Dass du mir nicht geholfen hast, kann wirklich niemand behaupten. Deine Tochter wird nächstes Jahr zur Welt kommen.«

»Wie? Wer ist der Vater?«

»Ich weiß es nicht.«

Darina streckte die Hand aus. »Bitte ...« 

»Ich habe dich mit mehreren Männern gesehen. Du wirst in die Fruchtbarkeitshallen kommen, wenn du so weit bist.«

Darina erschrak. Fruchtbarkeitsfeste gab es jeden Tag, um die Erhaltung der Begabten zu gewährleisten. Alle fruchtbaren Frauen konnten sie feiern, bis sie schwanger wurden. Sie hatte davon gehört, aber niemals wäre es in den Sinn gekommen, auch nur in die Nähe der Halle zu kommen. Alle, die mitmachten, bekamen gefühlsverstärkende Mittel injiziert. Es war schon schlimm genug, in einem Raum mit zwei Menschen zu sein - und sich aus ihren Gedanken herauszuhalten. Der Soldat und die Königin hatten Schutzschilde um ihren Geist gelegt und trotzdem konnte sie alles spüren. Sie musste daran denken, als der Soldat sie in den Armen gehalten hatte. Diese Gefühle spürte sie gerne. Es machte Spaß, aber von mehreren Menschen umgeben zu sein, die diese Gedanken auslebten, konnte sie sich nicht vorstellen. Wahrscheinlich würde sie durchdrehen. »Ich kann nicht zum Fruchtbarkeitsfest kommen. Soweit werde ich niemals sein.«

»Natürlich kannst du. Sonst hätte ich deine Tochter wohl kaum gesehen.«

»Die Leute fühlen sich in der Nähe einer Seherin nicht wohl. Es würde das Fruchtbarkeitsfest stören«, wehrte Darina ab.

»Ich habe dich mit einer Tochter gesehen. Ich habe gesehen, wie sie gezeugt wurde. Wer sich weigert, das Fruchtbarkeitsfest zu feiern, wird mit dem Tod bestraft. Ich habe dich aufgenommen, in mein Reich. Ich habe es dir freigestellt, zu kommen, mit Rücksicht auf deine Fähigkeiten. Nun habe ich gesehen, dass du eine Untertanin gebären wirst. Weigere dich nicht, sie zu empfangen«, befahl die Königin und senkte den Kopf zum Abschied, bevor sie den Raum verließ.

Alleingelassen, versuchte Darina sich vorzustellen, wie es war, ein Kind zu empfangen. Sie hatte viel darüber gelesen und gehört. Sie tastete nach Menschen in ihrer Umgebung, doch die Königin und ihr Beschützer waren schon außer Reichweite. Sie stellte sich vor, wie es wäre, ein kleines Baby in ihren Armen zu halten, ihre eigene Tochter. Sie würde all ihre Gefühle und Gedanken kennen. Sie würde sie alleine aufziehen dürfen, ihr alles über den geliebten Wald beibringen. Je nach Begabung würde sie dann in der Stadt leben, oder hier draußen bei ihr. Heiße Tränen rannen Darinas Wangen herab, als sie daran dachte, wie lieb sie ein Baby haben konnte. Etwas, dass da war, wo immer sie war, und immer weinte und schrie und auf den Arm genommen werden wollte. Aber Darina würde wissen, was das Baby gerade wollte und könnte helfen. Nein, es konnte nicht so schlimm sein. Und sie hätte jemanden, für den sie sorgen konnte. Das wäre schön. 

Mit diesem Gedanken beglückt, ging sie ins Badezimmer und holte aus dem Standardhygienepaket zum ersten Mal ein Gerät heraus, das die meisten Frauen verwendeten, sobald die Doktoren sagten, sie seien körperlich ausgewachsen. Darina hingegen musste die Gebrauchsanweisung durchlesen, da sie keine Ahnung hatte, wie man es benutzte. Sie setzte sich auf die Bettkante und führte das schmale Ende des Stabes vorsichtig in ihre Vagina ein. Nach einer halben Minute gab das Gerät einen seltsamen Summton von sich und Darina zog es wieder heraus. Sie klappte das Display des Stabes auf und sah sich ihre Resultate an. In drei Tagen begann ihre Fruchtbarkeitswoche. Drei Tage nur! Es blieb keine Zeit, Geistverschließungsübungen durchzuführen. Sie konnte in die Stadt aufbrechen und einige Menschen beobachten und üben, sie auszusperren, aber richtige Fortschritte würde sie innerhalb von drei Tagen nicht machen.

 

Milo folgte seiner Königin durch den Wald. Ihm war nicht wohl dabei, dass sie den Weg alleine suchte, doch vertraute er auf ihre Visionen. Keiner hatte bemerkt, dass sie diesen Weg eingeschlagen hatten, keine würde sie angreifen. Aber es war nicht Milos Art, so zu denken. Er ließ sich von nichts ablenken, wenn es um das Leben seiner Königin gab. Was er heute gesehen und gehört hatte, würde ihn beschäftigen, wenn er sich schlafen legte. Der Menschenkörper auf seiner linken Schulter beeinträchtigte weder seine Aufmerksamkeit noch seine Geschwindigkeit. 

»Warst du diese Woche schon bei einem Fruchtbarkeitsfest?«, fragte seine Königin plötzlich. Das brachte ihn ein bisschen aus der Fassung. Jeder Krieger durfte zu so vielen Fruchtbarkeitsfesten gehen, wie er wollte. Es war ein Privileg, das nur den Kriegerklassen zustand. Andere Klassen waren auf einmal die Woche beschränkt, es sei denn, sie hatten eine Vertraute. Jede Frau konnte sich ein Kind von einem bestimmten Mann wünschen. Milo kannte einen Mann, der drei Kinder mit derselben Frau gezeugt hatte, aber das war sehr selten. Er war oft bei Fruchtbarkeitsfesten, aber er hatte noch niemals die Nachricht bekommen, dass er ein Kind gezeugt hatte. Seine Königin stellte niemals Fragen darüber. Er hatte angenommen, dass sie es einfach wusste und keine Fragen stellen musste. 

»Ja, meine Königin«, antwortete er ihr.

»Möglicherweise willst du in drei Tagen hingehen und mir Bericht über die Leserin erstatten?«

In Milos Gedanken blitzte die Leserin auf, wie sie ganz nackt vor ihm lag und sich unter seinen Berührungen wand. Er musste sich räuspern, bevor er antworten konnte.

»Ist das ein Befehl, meine Königin?«, fragte er.

»Nein, Milo. Nur eine Ahnung«, erwiderte sie und legte ihre Hand kurz auf seine Wange. 

 

Darina hatte gehofft, dass sie sich vielleicht unbemerkt hineinschleichen konnte. Aber sie hatte verdrängt, dass es eine Massenabfertigung war und keine Individualität gestattet wurde. Keine Privatheit wie in ihrem Wald, kein Platz, um sich zurückzuziehen. Sie hatte angenommen, dass sie eine der älteren Jungfrauen sein würde, doch das war nicht so. Viele Frauen entschieden sich für eine militärische Laufbahn und boten ihren Körper erst später an. Reifere Körper schufen sehr oft stärkere Nachkommen und die Königin ließ die Frauen selbst entscheiden, wie oft im Jahr sie an Fruchtbarkeitsfesten teilnehmen wollten. Es kam nicht oft vor, dass Frauen sich weigerten Kinder zu gebären. Weit öfter passierte es, dass sie ihre Kinder dann nicht aufziehen wollten und sie der Königin übergaben. In den Gebäuden der Königin wohnten unzählige Kinder. Das gehörte zu den Geheimnissen, zu den Dingen, die Darina in ihrer Recherche zwar herausgefunden hatte, aber nicht einordnen konnte. Viele Frauen nahmen an den Fruchtbarkeitsfesten teil, sooft sie konnten. Aber die Kinder schenkten sie später der Königin. Darina, die in völliger Einsamkeit lebte, konnte es sich nicht vorstellen, das einzige Lebewesen herzugeben, das bei ihr leben durfte. Warum konnten das diese Frauen? Und warum wollten sie so viele Kinder gebären, wie nur möglich? Natürlich, man bekam eine finanzielle Entschädigung, aber die ging an die Kinder, sobald man sie weggab. Darina wusste so vieles nicht und heute war sie einige Schritte näher dran, Antworten auf ihre tausenden Fragen zu erhalten. 

Sie betrat das Gebäude und eine Ärztin kam auf sie zu. Sie lächelte und nickte ihr aufmunternd zu. Darina folgte ihr in ein Zimmer, wo die Erstuntersuchung stattfand. Die Temperatur der Räume war höher, als in jedem Raum, indem Darina jemals war. Die Ärztin begann mit der Untersuchung und nach und nach musste sich Darina aller ihrer Kleidungsstücke entledigen. Da nur die Ärztin im Raum war, verschwendete sie keinen Gedanken daran. Ihr war warm und sie genoss es, als die Ärztin eine Salbe auf ihrem Bauch verteilte und mit der Ultraschallfunktion an ihren Fingerkuppen darüberfuhr. Es war angenehm beruhigend.

Darina war vollkommen gesund, alle Werte waren in einem guten Bereich und die Ärztin kommentierte in einem freundlichen Ton. Die Ärztin ließ vorsichtig einen Laser in ihre Vagina gleiten, um das schmerzhafte Junfernhäutchen zu entfernen. Der Schmerz war nach einigen Sekunden vorbei, als hätte es ihn nie gegeben. Ihrer sehr spärlichen Krankenakte entnahm die Ärztin, dass Darina eine Leserin war, und obwohl ihre Hand schon danach gegriffen hatte, ließ sie die Spritze am Tisch liegen. 

»Die Injektion ist dazu da, dass die Gefühle verstärkt werden. Es ist nicht notwendig, sie dir zu geben. Wenn alle anderen diese Spritze bekommen haben, wirst du die Gefühle von allen anderen spüren. Reichen deine mentalen Blockaden aus, um sie zu dosieren?«, fragte die Ärztin nach.

»Nein, wahrscheinlich nicht«, flüsterte Darina. Genau davor hatte sie Angst.

»Das ist natürlich ein Risiko. Es tut mir leid, dass ich keinen richtigen Rat für dich habe, aber so eine Situation kenne ich nicht. Ich denke, es wäre das Beste, wenn du dich so weit wie möglich darauf einlassen könntest. Es sind schöne Gefühle, keine grausamen. Ich nehme an, du wirst es genießen. Wenn du willst, werde ich dich digital im Auge behalten. Dann kann ich dich herausbringen, wenn du überreagierst.«

Darina seufzte erleichtert. »Ja, bitte, mach das. Wenn ich zu viel auf einmal fühle, dann kann es sein, dass ich das Bewusstsein verliere und ... dann bin ich ungeschützt und finde alleine nicht wieder zu mir zurück.«

Die Ärztin nickte und band ein Metallband um Darinas Handgelenk. Alle medizinischen Daten erschienen auf einem kleinen tragbaren Monitor. 

Das erste und stärkste Gefühl, das Darina wahrnahm, als sie den großen Raum betrat, war Scham. Es kam von den Frauen, die mit ihr gewartet hatten, den anderen Jungfrauen, die sich zum ersten Mal hierher begeben hatten. Oder kam es nur von ihr selbst? Sie war sich nicht sicher. Doch auf einen Schlag nahm sie noch mehr wahr. Sehnsucht. Ungeduld. Diese Gefühle kamen ganz sicher nicht von ihr.

Sie drehte den Kopf, einer Fährte folgend, die sie nicht mehr loslassen wollte. Neugier. Ihre eigene Neugier. Einige Männer hatten auf die Jungfrauen gewartet. Ungeduldig. Darina mochte ihre Gefühle nicht. Sie waren zu laut in ihrem Kopf und zu aufdringlich. Sie machte ein paar Schritte nach vorne. Woher war das gute Gefühl gekommen? Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Einer der Männer legte sanft seine Hand auf ihre Schulter. Warm lag sie auf ihrer nackten Haut. Seine Haut-an-Haut-Erinnerungen strömten auf sie ein. Etwas in ihrem Unterleib zog sich zusammen. Ihre Brüste reckten sich erwartungsvoll vor. Ihr Atem ging schneller. Sie packte seine Hand und hob den Kopf ein weniger höher, um in seine Augen sehen zu können. Gier. Sehnsucht. Ungeduld. Lust. Sie legte beide Hände an seinen Kopf. Kein Schutzschild. Ich will dich. Ich will dich besitzen. Meine Lippen - deine Haut- mein Schwanz- du, nass, eng. Je länger er sie ansah, desto ungeordneter wurden seine Gedanken, desto schneller kamen Bilder. Es war ein bisschen, wie in die Zukunft zu schauen. Er malte sich aus, wie er in sie stoßen würde.

Er wollte sie besitzen. Sie wollte das nicht. Sie wollte ihn besitzen. Nein, er wollte sie besitzen. Aber war das nicht egal? Sie wollte seine Hände auf sich spüren. Und seine Lippen. Und die Erinnerung mit der Zunge hatte sich gut angefühlt. War es nicht egal, wenn sie seine nicht von ihren Gefühlen unterscheiden konnte? Sie machte noch einen Schritt, näher zu seinem nackten Körper hin. Seine Hände fuhren ihre Arme entlang, das verursachte ihr eine Gänsehaut, aber sie hatte keine Angst. Sie spürte seinen Penis an ihrer Hüfte, als sie noch einen Schritt näher trat. Sie ließ ihre Arme auf seine Schultern fallen und zog sich näher an ihn heran. Er keuchte überrascht auf, dann packten seine Hände ihren Hintern und hoben sie hoch. 

 

Milo betrat die Fruchtbarkeitshallen durch einen Hintereingang, wie immer. Die Kriegerklassen hatten Privaträume und eigene Ärzte. Seine letzte Untersuchung lag gerade drei Tage zurück, deshalb beschränkte sich der Arzt auf das Notwendigste. Die ganze Zeit spukte die Leserin in seinen Gedanken herum. Die Königin wusste es. Darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Die Leserin war so schön und er wollte sie. Auch daran sollte er lieber nicht denken.

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Tag der Veröffentlichung: 09.10.2015

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