Das Licht veränderte sich.
Sie merkte es nicht sofort, zuerst dachte sie, es sei nur Einbildung. Eine Hoffnung vielleicht, oder eben wieder ein Traum. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass es tatsächlich heller wurde. Die Wände waren kalt, genauso wie der Boden. Sie hatte an einen Keller gedacht, oder eine Höhle.
Und doch musste von irgendwoher Licht kommen. Sie tastete sich am Boden entlang, auf den Knien, da sie ihren Augen nicht vertraute. Plötzlich spürte sie etwas an ihrer Hand. Was war das? Karton. Ein Umzugskarton. Nicht zugeklebt. Sie klopfte sich daran entlang und brauchte nicht lange, um die Klappen zu öffnen. Was war das? Papier. Eine Kiste voller Papier? Sie fühlte einzelne Blätter. Schweres, starkes Papier. Für Aquarelle vielleicht. Zeichenpapier, ausgerechnet. Wie die Skizzenblöcke ihres Mannes.
Sie kletterte weiter. Und rammte sich das Knie blutig. Na toll. Der Boden war nachlässig betoniert worden. Angst überkam sie.
Was wenn er nicht mehr zurückkam?
Wenn er sie einfach hier unten sterben ließ?
Wenn ihr Mann kein Lösegeld zahlte?
Wenn er eigentlich kein Lösegeld wollte?
Sie wusste zu viel. Er musste sie töten, wenn er sicher sein wollte, dass er glücklich aus der Sache herauskam. Sie wusste, wer er war.
Sobald er ihren Mann erpresste, würde er es auch wissen.
Wenn er sie tötete, hätte ihr Mann nichts mehr zu verlieren und könnte ihn verraten. Aber dann wäre sie tot.
Denk an etwas anderes, verdammt!
Sie dachte an ihre kleine Tochter. Liebste Savannah. Wenn ich jetzt sterbe, wird sie sich gar nicht an mich erinnern, dachte sie und bekam wieder Panik.
Es wurde immer heller. Irgendwo musste es ein Fenster geben. Oder eine Tür. Es war Tag, ein Anhaltspunkt. Wie lange war sie im Dunklen gelegen? Bewusstlos, dann schlafend. Gegen Panik half Schlafen am besten, doch irgendwann musste sie ja herausfinden, was sie gegen die Verzweiflung machen konnte.
Sie krabbelte weiter und schließlich hatte sie das Ende des Raumes erreicht. Sie stieß auf Holz. Eine Holztür. Sie ließ sich öffnen. Hinter der Tür war ein weiterer Raum. Hell. Sonne. Ganz oben waren Fenster. Kleine, schmale Fenster. Sie suchte mehrere Umzugskartons zusammen und versuchte sie aufzustapeln. Sie verfluchte ihre Eltern, die ihr mit ihren Zwergengenen zehn zusätzliche Zentimeter Körpergröße verweigert hatten. Sie konnte die Fenster erreichen, aber nur mit der Hand. Sie ließen sich nicht öffnen.
Wer baut denn Fenster, die sich nicht öffnen lassen? Sie klopfte dagegen, hämmerte mit den Fäusten. Irgendjemand musste sie doch hören? Sie suchte die Kisten nach schweren Gegenständen ab. Papier. Messer. Bücher. Womit schlägt man denn Fenster ein? Als sie zehn Jahre alt war, hatte sie mit einem Fußball ein Fenster zertrümmert, aber das zählte wohl nicht. Ihr Mann hätte gewusst, wie man ausbricht. Er war jähzornig, er schlug alles kaputt. Fenster zwar noch nie, aber es gab für alles ein erstes Mal. Spiegel und Bilderrahmen standen auf seiner alltäglichen To-Do-Liste. Da würde er auch ein Fenster schaffen. Erschöpft ließ sie sich auf eine der Kisten sinken.
Später.
Ich habe es nicht eilig.
Ich kann es später weiterversuchen.
Ich will zu meiner Savannah. Mein kleines Mädchen hat es gut. Sie ist in Sicherheit. Alles ist gut.
Texte: Patricia Radda
Tag der Veröffentlichung: 02.09.2012
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