Cover

Perfekte Sätze




Es waren einmal zwei Schwestern, die mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf im fernen Orient lebten.
Die ältere Tochter war ein braves Mädchen, wunderschön und geduldig. Alle Männer, die sie einmal zu Gesicht bekommen hatten, wollten sie heiraten.
Die jüngere Schwester jedoch hatte ihren ganzen Kopf voller Fantasie. Oft saß sie am Fluss und träumte vor sich hin, anstatt ihre Hausarbeit zu erledigen.


Eines Tages kam ein reicher Mann ins Dorf, der von der Schönheit der älteren Tochter gehört hatte. Sogleich verliebte er sich in das Mädchen, wollte sie heiraten und sie mit sich hinfort nehmen.
Das beunruhigte die Jüngere sehr, denn sie liebte ihre große Schwester und wollte nicht von ihr getrennt werden.


Am Tag der Hochzeit ging die Jüngere zum Bräutigam und bat ihn, die große Schwester nicht in die nächste Stadt zu bringen, sondern hier bleiben zu lassen. Dem Mann gefiel die jüngere Schwester auch und er beschloss, sie ebenfalls in sein Haus mitzunehmen. Vielleicht konnte er sie später mit einem Freund verheiraten.

In der großen Stadt war alles anders als in ihrem kleinen Dorf.


Die ältere Schwester hatte einen großen Haushalt zu führen und wurde bald ganz von ihren Pflichten vereinnahmt. Die Jüngere strich durch das Haus und den Hof. Oft wagte sie sich sogar auf die umliegenden Straßen.


Manchmal sah sie auf einem ihrer Ausflüge andere Kinder. An diesem Tag ließ ein Junge etwas fallen, als er an ihr vorbei rannte. Sie hob es vom Boden hoch. Es war ein Buch, aber sie hatte so etwas noch niemals zuvor gesehen. Sie blätterte durch die Seiten, aber sie verstand die seltsamen Schriftzeichen nicht, die sie vor sich sah. Da kam der Junge zurück und verlangte sein Buch.

„Was ist das?“, fragte sie.
„Das sind Buchstaben“, sagte er.
„Wozu braucht man Buchstaben?“, fragte sie.
„Um etwas aufzuschreiben, damit man es nicht vergisst“, sagte der Junge.
„Was wolltest du nicht vergessen?“, fragte das Mädchen und deutete auf das Buch.
Er fing zu lachen an.
„Das habe nicht ich geschrieben. Das war ein weiser Schriftsteller, ein Dichter.“
„Was ist ein Dichter?“, fragte sie.
„Ein Dichter ist ein Mann, der sich den ganzen Tag Geschichten ausdenkt und sie aufschreibt, damit andere sie auch lesen können.“ Der Junge wurde langsam ungeduldig, er musste weiter.

Am nächsten Tag ging das Mädchen zu seiner Schwester. „Ich will lesen lernen!“, sagte sie. Der alte Diener des Hausherrn hörte es und die Schwester schaute ganz erschrocken. Doch der Diener mochte das kleine Mädchen und bewunderte seine Fantasie.
So kam es, das der Diener und das kleine Mädchen jeden Abend beisammen saßen und der alte Mann zum Lehrer wurde.

Nach drei Jahren war das kleine Mädchen zu einer wunderschönen Frau geworden und hatte ihren Lehrmeister an Fähigkeiten übertroffen. Sie dachte sich die wunderschönsten Geschichten aus, die achtbarsten Gedichte und schrieb sie mit großer Sorgfalt nieder. Der alte Mann brachte die Geschichten zum einzigen Ort, an dem aufgeschriebene Geschichten damals gesammelt wurden: Zum Palast der Könige.


So kam es, dass der jüngste Bruder des Königs die Geschichten las und von den perfekten Sätzen und treffenden Worten des Mädchens verzaubert wurde. Jede Woche bat er den alten Mann, den großen Dichter zum Palast zu bringen; jedes Mal lehnte der Diener ab. Schon bald gingen ihm die Ausreden aus, denn Prinzen und Könige sind ja gewohnt, das zu bekommen, was sie verlangen.

Zur gleichen Zeit, als dem Diener die Ausreden ausgingen, fand der Schwager des Mädchens heraus, dass es schreiben konnte. Entsetzt stellte er sie zur Rede.
Ein Mädchen, das sich Gedichte ausdachte!
Und das auch noch in seinem Haus!

Alles Flehen der beiden Schwestern nutzte nichts. Der entehrte Mann schleppte das Mädchen zum Richter. In dem Moment, als der sein Urteil verkünden wollte, riss sich das Mädchen los und stürmte auf den Richter zu.
Dort angekommen, warf sie sich vor ihm nieder und betete. Dann hob sie den Kopf und kam noch einen letzten Schritt näher an den Richter.
Sie murmelte eine Folge von Worten, die niemand außer dem Richter verstand und ließ sich wieder zur Erde sinken.

Der Richter wusste nicht, was er tun sollte. Es waren die schönsten Worte, die er jemals gehört hatte. In der perfekten Reihenfolge, welche noch tiefer in seinen Kopf drang, um für immer dort weiter zu bestehen.

Der Richter konnte sein Urteil nicht mehr verkünden. Niemals sollte jemand dem Mädchen Schaden zufügen, welches so wunderschöne Sätze bilden konnte.

Der Schwager des Mädchens war am Verzweifeln.
Wie sollte er seine Ehefrau beruhigen und seine Ehre wiederherstellen, wenn niemand anderer das Mädchen verurteilte?
Er überlegte sich, dass er sie doch liebgewonnen hatte und sie nicht einfach umbringen könnte.
Also beschloss er zum König zu gehen.


So geschah es, dass das Schicksal wieder einmal seine Finger in das Leben der Menschen streckte.
An dem Tag, an dem der Schwager das Mädchen zum König brachte, sprach der Diener mit neuen Geschichten beim Bruder des Königs vor.
Als der junge Prinz, der ja schon so ungeduldig war, nun verlangte, den Dichter kennen zu lernen, zeigte der alte Diener auf das Mädchen und sprach:
„Rettet sie und rettet ihre Worte, mein Herr. Sie lebt die Worte.“

Der Prinz war natürlich fassungslos, dass eine Frau so schön schreiben konnte und bat den König, das Mädchen zu sich in den Palast zu holen.
Bereits am nächsten Tag befahl der König, dass alle Kinder – egal, ob Mädchen oder Jungen – das Schreiben und Lesen erlernen müssten.
Er wollte nicht das Risiko eingehen, eine gute Geschichte zu verpassen und ließ alle Schriftstücke in der Bibliothek sammeln.

Die Bibliothek wurde bald die größte auf der Welt.

Das schreibende Mädchen jedoch lebte jahrelang im Palast. Ihre Aufgabe war es, dem Prinzen Geschichten zu erzählen. Nur wenige schrieb sie noch auf, denn das konnten nun andere tun.

Impressum

Texte: das Bild zeigt einen Jasmin. Verwendet wurde das Bild dieser Seite: http://gaertnerblog.de/blog/2007/stauchungsmittel-wachstumshemmer/
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Menschen, die nicht schreiben dürfen

Nächste Seite
Seite 1 /