Cover

Als Krepi damals noch ein lebensfreundlicher Planet war, flirrte eines Tages das Bild der Überwachungssatelliten wie eine Teerstraße im Sommer. Doch dort gab es keine Luft, nur kaltes, gleichgültiges Vakuum. Dennoch waberte die Realität wie Götterspeise im freien Fall. Die Formlosen waren gekommen und die Menschen hatten sie erwartet. Die Jofaiden traf es allerdings ohne die geringste Vorwarnung, als die Hälfte der menschlichen Bevölkerung längst evakuiert wurde und der Rest eine waffenartige Maschinerie in Stellung brachte. Das Geschütz wurde geladen, mehrere Fusionsreaktoren pumpten schwer zu bändigende Energie in das kondensatorische Magazin. Die Umgebung knisterte, die Naturkonstanten beugten sich in Richtung Waffe und der erste, unsichtbare Schuss ließ die räumlichen Dimensionen wie in einem Spiegelkabinett verzerren. Nachdem sich der Ereignishorizont kurz darauf - oder nach Jahren - wieder stabilisiert hatte, war von der Flotte der Evakuierten nichts mehr zu sehen oder zu hören. Ob die Menschen sie selbst durch ihre Waffe oder die Formlosen in Vergeltung ausgelöscht hatten, blieb bis zum heutigen Tag ungeklärt. Immer mehr Formlose verlagerten ihre Aufmerksamkeit auf die Raum-Zeit-Koordinaten von Krepi und in einem verzweifelten, letzten Versuch rekonfigurierten die Menschen ihre Waffe und feuerten erneut. Genügend Energie um unzählige Schwarze Löcher aus zu leuchten schnitt durch die begreifbare Realität und tötete einen der Formlosen. Das Gefüge der Wirklichkeit brach, der Formlose kristallisierte als kugelschalige Membran um einen Teil des Stadtkontinenten von Krepi und der Rest des Planeten stülpte sich wie Popcorn um diesen neuen Kern. Unzählige Menschen und Jofaiden, sowie ein nicht geringfügiger Teil des Planeten, die sich nicht innerhalb der Sphäre befanden, verließen diese Dimension auf eine unfreiwillige und nihilierende Art und Weise und die übrigen Formlosen waren verschwunden.


Wandel


Asrael war sich bewusst, dass er und seine sechs Freunde zur Rettung Ketars erschaffen wurden. Es war eine Wiedergeburt mit unwiderlegbaren Vorzügen und Nachteilen. Fast schon ironisch muteten ihm jetzt die Zusammenhänge an. Eine bedrohliche Schöpfung der Jofaiden sollte durch eine weitere beseitigt werden. Nach getaner Arbeit sollte sich diese neue Schöpfung selbst beseitigen, indem man ihm und den übrigen Modifikanten das Terminator-Gen implantiert hatte. Letzten Endes hatte dieses Gen aber dazu beigetragen, dass diese unliebsamen Kreaturen sich weiter entwickeln sollten und somit wiederum eine Bedrohung für die Jofaiden wurden. Asrael fragte sich, ob sie weitere Modifikanten erschaffen würden, nur diesmal ohne Funktionsstörung, um die vorhergehende Panne auszubügeln. Den Jofaiden musste Einhalt geboten werden. Sie waren die wahre Gefahr für Ketar und dadurch Ziel der obersten Direktive der Modifikanten. Durch Gins Aufzeichnungen hatte er herausgefunden, dass die Jofaiden nicht wirklich Teil von Ketar waren. Sie waren Flüchtlinge, nachdem sie ihre eigene Welt durch Leichtsinnigkeit eingebüßt hatten. Seitdem - und allem Anschein nach schon davor - mischten sie sich permanent in die Angelegenheiten, die Entwicklung und nicht zuletzt in das Erbgut der Ketari ein. Gin hatte sie in den vergangenen Tagen hintergangen. Er hatte Kooperation vorgetäuscht und ihm wäre nahezu gelungen, es vor Asrael zu verbergen und die Modifikanten zu eliminieren. Er hatte Bestürzung geheuchelt und Bondise für diesen Verrat an Menschen und Husru verurteilt. Zu erst sah es so aus, als ob er ihnen zu helfen versuchte, aber Asrael misstraute ihm. Gin beteuerte, dass er in seinem privaten Labor ein Heilmittel erarbeiten konnte, außerhalb der Reichweite des Kurators. Aufgrund seiner begründeten - daher seiner Ansicht nach gesunden - Paranoia überwachte Asrael jeden Schritt des Dr. Hazaget. Das geheime Labor weckte sein Interesse und er stellte Nachforschungen an. Langsam ergab sich ein Bild, dass die gesamte Menschheit in das Zentrum eines ungeheuerlichen Experiments rückte. Sie waren die Laborratten und Versuchskaninchen der Jofaiden gewesen. Gin und Bondise trugen einen Großteil der Verantwortung. Die Freundschaft zwischen den beiden bedeutendsten Biologen der Vorketarzeit ließ sein unruhiges Misstrauen in einen Orkan der Unheil verkündenden Vorahnung entarten. Asrael fand verschlüsselte Tagebücher aus der Zeit, da die Jofaiden auf Ketar eingetroffen waren. Als er Gin damit konfrontierte, dass er aus Gins geheimen Aufzeichnungen im telepathischen Netzwerk wusste, dass die Hageten sein kleines Experiment waren und er sie - als er seine Schöpfung ohne die gewünschten Ergebnisse erreicht zu haben, aufgegeben hatte - mit einem ähnlichen Terminator-Gen infiziert hatte, um ihre Lebensspanne zu begrenzen, begriff der Beschuldigte, dass weiteres Leugnen zwecklos war. Damit war ihr Problem der unbeirrbaren Degeneration aber immer noch nicht gelöst. Seine eigenen Versuche in Sachen Genetik würden vielleicht irgendwann zum Ziel führen, denn schließlich war er immer noch das Genie von einst, aber die Zeit lief ihnen davon. Gin konnten sie unter keinen Umständen weiter vertrauen und damit war dies sein Todesurteil. Honta war ihre letzte Hoffnung. Er war durchaus hochbegabt und, soweit Asrael die Ereignisse rekonstruiert hatte, unschuldig und unwissend. Außerdem erwiesen sich die Einrichtung und Ausstattung des geheimen Labors als wahrer Glückstreffer. Hier würden sie zusammen mit Honta eine Lösung finden. Der Junge musste nur geschickt angeleitet und ahnungslos gehalten werden.

Penuel und Ramiel betraten das große Labor und fanden einen in seine Unterlagen vertieften Gin Hazaget an seinem Schreibtisch. Das blaue Licht tauchte die Inkubatoren, deren Inhalt, sowie drei der anwesenden Personen in einen kalten Glanz, nur die vierte Person vermochte es nicht zur Reflexion bewegen, da diese den Tarngürtel des Alten Schin trug.

"Wir haben im Lager nachgesehen, aber da ist alles ruhig. Die übrigen Roboter schlafen und es gibt keine Spur von weiteren Eindringlingen", informierte den Penuel den Doktor. Dieser erhob sich nun langsam und sagte mit einer - für Jofaiden untypischen - akustisch hörbaren Stimme:

"Die Gefangenen sind ebenfalls noch in ihrer Zelle?"

"Gabriel hat Stellung im Überwachungsraum bezogen, als Ramiel und ich uns auf Patrouille machten. Er hätte sich gemeldet, sobald unsere Gäste einen Fluchtversuch unternommen hätten."

"Die Roboter arbeiten wieder?"

"Ja. War vermutlich nur ein Wackelkontakt. Immerhin ist diese Anlage fast so alt wie unsere gesamte Zivilisation."

Gin schaute sich um, als ob er jemanden suchte. Nach einem Blick in alle Winkeln des Labors veränderten sich in wenigen Sekunden die Physiognomie und anatomische Merkmale unter dem blauen Kittel und dort wo eben noch ein phantomhafter Mund gesprochen hatte, lächelten nun die bläulichen Mundwinkel von Asrael.

"Vermutlich hast du recht. Ich werde mich trotzdem persönlich vergewissern, dass der letzte Abschnitt der Bauarbeiten reibungslos beendet wird. Morgen können unsere Brüder und Schwestern dann höchstwahrscheinlich in ein größeres Gemach umziehen und wir werden Platz für weitere Inkubatoren haben. Ich habe die Hagetia überprüft und startklar gemacht. Morgen wird der ideale Tag sein, um einen kleinen Auslflug auf den Mond zu machen und die dort lagernden Inkubatoren einzusammeln." Mit Rührung in Stimme und Augen trat er an einen Inkubator und betrachtete das noch nicht vollständig ausgebrütete Gesicht einer zweiten Penuel.

"Sie wird genauso schön wie ihre große Schwester werden. Schon bald sind wir genug und werden der Unterdrückung durch die Jofaiden ein Ende setzen und glaubt mir, allein schon die Tatsache, dass wir ewiges Leben zu bieten haben, wird uns die Sympathie der Menschen und Husru garantieren."

"Darauf sind sie alle immer ganz heiß", murmelte Ramiel und trottete zurück in sein Quartier.

Penuel wandte sich besorgt an Asrael: "Ich glaube unserem Muskelberg geht es zusehends schlechter. Er kann es noch ziemlich gut verbergen, aber das Zittern nimmt zu."

"Keine Sorge, die regenerativen Proteinstrukturen des weißhaarigen Mädchens haben wir so gut wie entschlüsselt und ein paar der antioxydativen Enzyme testen wir bereits an den Klonen. Wenn alles gut geht, können wir somit bald den degenerativen Prozess stabilisieren."

"Es ist grausam, wenn man sich vorstellt, dass wir uns freiwillig gemeldet haben, um diesen Planeten zu schützen und als Dankeschön demyelinisieren sich die Axone unsere Nervenzellen. Dieser verdammte Parasit hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Ich hoffe du hast recht und ihr findet noch rechtzeitig ein Heilmittel, denn wenn es so weiter geht, dann werden Tremor und Rigor unsere geringsten Probleme sein."

"Ich verspreche dir, dass sobald die Klone positiv reagieren, wir die Medikamente uns selbst verabreichen werden. Hast du irgendwelche Symptome bemerkt?"

"Müdigkeit und Hyposmie. Vielleicht hab ich mich aber auch nur an den muffigen Geruch in den Höhlen gewöhnt."

"Sei unbesorgt, Penuel, alles wird gut." Er streichte ihr sanft über ihr makelloses Gesicht. "Ich hatte dich gebeten, deine Fähigkeiten zu trainieren. Wie stets?"

"So gut wie du bin ich noch lange nicht, aber überzeugend allemal."

"Sehr gut, dann schau doch nachher mal bei den Gefangenen vorbei und sieh dir den jungen Husru genau an. Honta wird früher oder später etwas Motivation durch seinen besten Freund gebrauchen können. Kann sein, dass wir uns vorher aber schon unserer Gäste entledigt haben."

Penuel schenkte Asrael ein verstehendes Lächeln und machte sich auf Richtung grünes Labor.


Der Aufstand der Bauherren


Dann ging alles sehr schnell. 13 Roboter liefen Amok. Die roten Lichter im Lager erwachten mit dem Befehl zum Abriss und die beiden bereits arbeitenden Roboter standen ihnen an Eifer in nichts nach. Nachdem Jubilee zu dem Schluss gekommen war, diesen Zirkus zu verlassen - bevor diese Irren hier für die Anwesenden ernstlich zur Gefahr werden - hatte sie die lange Liste der möglichen Befehle überflogen und weit am Anfang den Befehl "Abriss" gefunden. Dieser bedurfte keiner weiteren Parameter und würde auf jeden Fall für die gewünschte Ablenkung sorgen. Einen kleinen Zusatz schickte sie dennoch an die Roboter: Lasst die Hagetia ganz! So schwärmten die 11 Roboter aus dem Lager aus. Anscheinend war dieser Befehl von Gin hauptsächlich dafür gedacht, belastendes Material im Notfall zu zerstören, denn die Mehrzahl der demolierenden Maschinen bewegte sich Richtung Museum. Als die ersten drei zeitgleich die Wand dorthin durchbrachen, als wäre es Papier, gingen Tausende Einweckgläser, Aquarien und sonstige Flüssigkeitspräparate zu Bruch. Eine Flut aus Scherben, konservierender Flüssigkeit und breiartiger Überreste der Ausstellungsstücke ergoss sich zwischen den Regalen. Eine andere Phalanx der wütenden Automaten zerlegte Stahlträger der stützenden Strukturen im Lager. Die urgewaltigen hydraulischen Pressen an den Greifarmen zerknickten Zentimeter dicke Tragbalken wie Knetmasse. Die Gruppe der Roboter, welche die Quartiere im Visier hatte, erfuhr als Erste Widerstand durch die Modifikanten. Nach erschrockenen Bruchteilen einer Sekunde sprang Ramiel zu seiner Nietpistole und feuerte bereits in das klaffende Loch, noch bevor sich der Staub der zerbröselten Felsen gelegt hatte. Zuerst sah man lediglich die roten Lichtpunkte. Als Nächstes kamen grobe Umrisse von mechanischen Titanen zum Vorschein. Ramiels bleierne Geschosse fanden nach kurzen Orientierungssalven ihr Ziel, prallten jedoch von dem faserverstärkten Torso des wütenden Ungetüms ab. Erst als er sich auf den Kopf einschoss, zerbrach der Fischglaskopf und der erste Roboter war außer Gefecht. Scheppernd ging der Koloss zu Boden. Uriel und Michael waren aus ihren Gemächern gestürmt gekommen und hatten ihren ersten Schock überwunden, als sie die wabernde Kopfeinheit des Roboters explodieren sahen. Uriel streckte ihre Arme aus und das gleißende Licht aus ihren Händen schnitt durch Roboter Nr. 2. Weitere Roboter tauchten hinter ihren gefallenen Kameraden auf und rissen im vorbeigehen tiefe Furchen in die Felswände. Die Decke begann bereits einzustürzen, als Michael mit schnellen Sprüngen den ersten Trümmern auswich und mit seinem Schwert die randalierenden Gliedmaßen abschlug. Offenbar verfügten die Bauherren des Laborkomplexes über rudimentäre Verteidigungsmechanismen, denn nachdem er anfänglich ohne Gegenwehr drei Gliedmaßen entfernt hatte, musste er zu seiner Überraschung feststellen, dass die übriggebliebenen Arme durchaus mörderische Absichten hegten. Während er sich nach hinten beugte und so nur knapp der ersten Attacke entging, musste er sich auch schon mit seiner freien Hand abstützen und einen akrobatischen Überschlag zu vollführen, um dem hammerartigen Hieb des zweiten Roboters auszuweichen. Uriel und Ramiel kamen ihm umgehend zur Hilfe, und als Roboter Nr. 3 wieder ausholte, um Michael zu neutralisieren, klaffte unverwandt ein glühendes, faustgroßes Loch in der Mitte seines kegelförmigen Körpersund und er sackte zu Boden. Ramiel hielt Roboter Nr. 4 in Schach, doch dieser schützte mit seinen armierten Greifern erfolgreich seine gläserne Murmel vor dem beißenden Hagel der Nietpistole. Uriel wollte gerade auch auf diesen anlegen, als Michael mit einem Satz über einen Teil der eingestürzten Wand hochsprang und mit seinem Schwert das Gelee aus der Kugel beförderte.


Kollektiver Ausbruch


Osande sinnierte gerade über seinen Status als einer der letztgeborenen Jofaiden. Wenn die Zeit wie Quecksilber im Uhrglas verrinnt, sind Geburtstage und deren chronologische Abfolge für eine unsterbliche Zivilisation nicht wirklich von Bedeutung. Erfahrung durch Alter eignete sich in dieser Hinsicht nicht zur sozialen Strukturierung, da diese subjektive Größe sich ohnehin bei allen Jofaiden mehr oder weniger auf den selben Wert angeglichen hatte. Doch die letzte Generation vor der allgemeinen Sterilität erfuhr eine besondere Aufmerksamkeit. Waren sie Teil der Lösung oder Teil des Problems? Konnte man an ihnen irgendwelche neuen Erkenntnisse über den Zusammenbruch der Fortpflanzungsfähigkeit beobachten oder waren sie einfach nur die Vertreter ihrer Art, denen das Glück bzw. Unglück zuteil wurde, dass das trennende Schwert der Evolution erst nach ihrer Existenzwerdung gefallen ist. Osande hatte sich nie viel aus diesem ungewollten Ruhm gemacht, der besonders in der ersten Zeit ihm und seinen Leidensgenossen gegolten hatte, als das Phänomen noch eine herausfordernde Aufgabe war und nicht wie später ein unlösbares Problem. Am meisten bedrückte ihn die Vortstellung, dass er als Symbol der Stagnation aller Jofaiden gehandelt werden würde, wenn auch er jemals aufgeben sollte. So viele schienen vergessen zu haben, dass sie Zeit und Erfahrungen aus Äonen auf ihrer Seite hatte, dass sie nicht allein im Universum waren und durchaus auf die Errungenschaften weiterentwickelter Lebensformen zurückgreifen könnten, wenn sie nur nach diesen suchen würden. Das Projekt Menschheit hatte vielleicht einen Rückschlag erfahren, aber es deswegen vollständig abzuschreiben, dagegen hatten er und Gleichgesinnte sich immer ausgesprochen. Einer dieser Gleichgesinnten war Gin gewesen, doch erst im inneren dieses Laboratoriums verstand Osande die Absichten eines alten Freundes. Gin hatte auf seine Art und Weise versucht, diese weiterentwickelte Intelligenz zu finden. Während Osande mit fanatische Akrebie den Sternenhimmel nach bewohnten Welten und deren Signale absuchte, wollte Gin diese Intelligenz selbst erschaffen oder bzw. und einen Weg finden, um mit einer bereits entdeckten höheren Lebensform Kontakt aufzunehmen. Innerhalb dieser Höhle hatte er telepathischen Zugriff auf Gins Aufzeichnungen erhalten. Dessen privates Netzwerk war durch eine lokale Begrenzung im telepathischen Netzwerk geschützt vor dem allgemeinen Zugriff von außerhalb. Die ganze Nacht über hatte Osande nun Notizen, Bemerkungen, Gedankengänge und Auswertungen des Dr. Hazaget studiert und gesichtet und erfahren, dass er nicht der einzige war, der nicht aufgegeben hatte. Wie moralisch fragwürdig und wissenschaftlich zielführend Gins Vorgehensweise auch sein mochte, es war eine Trotzreaktion gegen die allgegenwärtige Resignation.

Inmitten dieser Gedanken meldete sich Jubilee und Osande schritt - belebt durch den Enthusiasmus seines unverhofften Mitstreiters - zur Tat. Jubilee hatte ihm bestätigt, dass sie einen Fluchtweg gefunden hatte und so sah es der Plan nun vor, dass sie ausbrachen, für Ablenkung sorgten und zu Jubilee aufschlossen. Zu ihrem Vorteil war ihr Wachhund vor Stunden abkommandiert worden und seither auch nicht wieder aufgetaucht. Die rostigen Stäbe wären kein Hinderniss für einen kräftigen Tritt gewesen, doch nachdem Osande von Inidi erfahren hatte, wie dieser seinen Weg durch die Tunnel des Tempels gekämpft hatte, empfand er diese Möglichkeit der körperlosen Gewalt als wesentlich kultivierter. Osande erhob sich langsam und Ben und Mira verstanden, dass der Zeitpunkt gekommen war. Sie unterbrachen ihr seit Stunden andauerndes Gespräch, denn Ben hatte ebenfalls Gins Netzwerk durchstöbert und Mira berichtet, was er über den Alten Schin und Haget herausgefunden hatte. Sie war recht bleich, hatte es aber allem Anschein nach mit Fassung getragen und stand nun so entschlossen neben Ben, dass Osande sie nur bewundern konnte. Er war sich absolut sicher, dass unzählige Jofaiden an ihrer Stelle gelähmt und, sich selbst bemitleidend, zu nichts mehr zu gebrauchen wären. Sie schalteten Jubilees Projektion ab, welche in asketischer Selbstbeherrschung sich keine handbreit aus ihrer Position bewegt hatte und rüsteten sich mental auf das Aufschrillen der Sirenen. Osande fokussierte seine telepathischen Fähigkeiten auf die maroden Gitterstäbe und auch wenn sein erster Versuch nicht ganz die gewünschte Intensität erzielte, genügte es doch, um das rostige Schloss zum Nachgeben zu bewegen. Der Alarm blieb aus und er vermutete, dass die Modifikanten dank Jubilee anderweitig beschäftigt waren. So aktivierte Osande ihre beiden wartenden Gleiter, welche einen vorprammierten Kurs antraten, der hoffentlich für die nötige Ablenkung sorgen würde.

Mit Zugang zu Gins Dateien verfügten sie auch über einen groben Grundriss des Laborkomplexes. Am Rande des Stillen Sees waren sieben große Kammern, Gänge die alles verbanden und ein paar kleinere Alkoven in den massiven Felsen geschlagen worden. Am Ufer des Sees lagen von der Anlegestelle kommend die drei Hauptkammern: Grünes Labor, Blaues Labor und das Museum. Jeweils dahinter lagen, tiefer hinein ins Gestein gegraben, drei weitere Räumlichkeiten: Ein Raum der immer nur das Kürzel KSM trug, daneben die Quartiere und zuletzt das Lager. Die siebente Höhle lag unter dem blauen Labor und wurde derzeit von Asrael und Co. ausgebaut. Das Grüne Labor war der älteste Abschnitt und wahrscheinlich einst eine natürliche Höhle gewesen, die Gin bei seinem ersten besuch gefunden und ausgebaut hatte. Die Aufzeichnungen enthielten Pläne seines ersten Arbeiterroboters, mit dessen Hilfe er die konstruktiven Aufgaben bewältigen konnte. Dieser war jedoch längst nicht so spezialisiert wie die gegenwärtige Generation. Nachdem grundlegende Strukturen geschaffen waren und die ersten Anlagen im Grünen Labor liefen, verunglückte dieser treue Gesell bei einem Höhleneinstürz im heutigen KSM-Bereich. Die Gesteinmassen hatten ihn einfach zerquetscht und so machte sich Gin mit Hilfe erster geklonter Hageten daran verbesserte Roboter und zu bauen. Er baute von denen nur zwei per Hand, die übrigen wurden von den ersten beiden zusammengebaut. Diese Reproduktionsfähigkeit, eine spezielle Legierung und eine gesteigerte künstliche Intelligenz gegenüber dem ersten Modell, machten sie zu idealen Bauherren seiner groß dimensionierten Projekte in den Tiefen des Invertierten Gebirges und auf dem Haget. Als vor 17 Tagen die Hageten in Gestalt von Gungmar und Konsorten auf Ketar gelandet waren, hatte Gin erwogen seine Roboter als Armee anzubieten, doch die Möglichkeit wieder mit gentischem Material der Menschen und Husru spielen zu dürfen war wesentlich verlockender und würde ihn nicht in Erklärungsnot bringen.

Jetzt sorgten Gins Roboter dafür, dass die Höhlen erzitterten und die Einrichtung in zunehhmenden Maße das Zeitliche segneten. Mira, Ben und Osande wollten durch die Tunnel fliehen, welche das Grüne Labor mit dem KSM-Bereich vernetzten. Von dort führte ein Gang zu den Quartieren und ein weiterer noch tiefer in das Massiv hinein. Vermutlich hatte Gin hinter den Quartieren noch weitere Kammern geplant, doch, noch unvollendet, führte dieser Tunnel einfach in einem Halbkreis vom KSM-Bereich zum Lager. Ein idealer Fluchtweg ohne Gefahr zu laufen, den, sicherlich in den Quartieren untergebrachten, Modifikanten zu begegnen. Die Zellen, in welchen sie die Nacht verbracht hatten, lagen am hinteren Ende des Grünen Labors und zwischen zwei Käfigen öffnete sich der gewünschte Tunnel. Diesen wollten sie soeben betreten, als eine knatternde Salve von tödlichen Nieten über ihren Köpfen einschlug und ihnen scharfe Gesteinssplitter entgegen schleuderten.

"Keinen Schritt weiter!"

Osande drehte sich langsam um. Er hatte bereits damit gerechnet, dass sie vor ihrer Flucht noch eine Wache zu überwältigen hätten. Dass diese Modifikantin erst jetzt auftauchte, verdeutlichte ihm einfach nur, dass ein Aufeinandertreffen mit dem Feind unausweichlich war. Mit erhobenen Händen und bedächtigen Schritten zog er sich als Letzter in den Tunnel zurück. Ben hatte er telepathisch zu verstehen geben, dass er sich und Mira ohne schnelle Bewegungen aus der Schusslinie bringen sollte.

Dass Osande seine Hände in Luft hielt, deutete Penuel zuerst fälschlicherweise als Aufgabe, doch als er sich immer weiter von ihr entfernte, beschloss sie, dass es an der Zeit war, sich von ihren Gästen zu verabschieden.

Unendlich langsam sah Osande, wie Penuel ihren Finger um den Abzug krümmte. Er hatte sich für diesen Moment gewappnet. Noch während die ersten Projektile in Abständen von Millisekunden, durch Induktion beschleunigt, den Lauf der Nietpistole verließen, spannte er seine Armmuskulatur, um seiner mentalen Anstrengung Ausdruck zu verleihen. Was sein Bruder als Offensivwaffe verwendet hatte, wollte er nun zu seiner Verteidigung einsetzen. Er spürte, wie sich Kraft aus seinem Geist vor seinen Händen konzentrierte. Entsprechend seiner Vorstellung versuchte er eine Scheibe zwischen sich und Penuel zu manifestieren. Das Resultat war unsichtbar und Zweifel überkamen ihn, als das Blei mit Schallgeschwindigkeit auf ihn einstürmte. Mit dem Aufprall der Nieten auf seinem gläsernen Schild nahm Osande seine Umwelt trotz erhöhtem Adrenalinspiegel wieder in Echtzeit wahr. Deformierte Klumpen tropften nur wenige Zentimeter vor seinen Händen aus der Luft. Er hatte es geschafft und war nun selbst fast schon aus dem Tunnel und außerhalb Penuels gegenwärtiger Reichweite. Ein weiterer Schauer ging auf das Schutzschild nieder, aber noch bevor er seinen Fuß um die Ecke in die nächste Kammer ziehen konnte, wurde dieser von einem Projektil getroffen. Sein Schutzschild war vermutlich im Durchmesser nicht groß genug gewesen oder einfach unter der Belastung kollabiert. Während er sich noch darüber den Kopf zerbrach, war das Resultat, dass er nur stolpernd zu Ben und Mira aufschließen konnte. Seine schwarzen Augen suchten nach dem Ausgang aus der Kammer und registrierten, dass sich dieser seinem Blick entzog, da eine größere Maschine sich genau zwischen den beiden Tunnelöffnungen befand. Teilweise war diese durch planen verdeckt, aber ihr schieres Ausmaß füllte beinahe gänzlich die gewaltige Höhle. Ein Dutzend ovale Tanks an den Wänden speisten ein schwarzes Herz in der Mitte der Kammer. Die pulsierenden Plasmaströme hätten ebenso gut der überdimensionale Blutkreislauf dieses Laborkomplexes sein können. Offensichtlich war sie aber noch unvollendet oder befand sich in der Reparatur, da überall Gerüste standen und Werkzeug herumlag. Als Osande sich auf einer Konsole abstützte, um seinen verletzten Fuß zu entlasten, veränderte sich der Rhythmus der Maschine. KSM. Kälte-Schutz-Maschine? Kritische Schwungmasse? Was dieses Kürzel auch bedeuten mochte, sein mechanischer Herzschlag hatte sich erhöht. Am liebsten wäre Osande den Vorgängen auf den Grund gegangen, doch Ben und Mira zerrten ihn weiter, weg von der Konsole, weg von der Maschine, weg von der aufholenden Verfolgerin. Noch bevor sie auch nur annähernd den Verbindungstunnel zum Lager erreicht hatten, sah Osande über seiner Schulter, wie Penuel die Maschine umrundete und wieder auf sie anlegte. Er riss von seinen Begleitern los, suchte den Boden nach etwas Brauchbarem ab und fand neben einer Werkzeugkiste eine Dose, deren Inhalt seinen Zweck erfüllen sollte. Wieder streckte er überflüssigerweise seine linke Hand aus, um seine Gedanken zu fokussieren. Der Inhalt der Dose schwebte senkrecht nach oben. Penuel Begriff nicht, was sie da sah und während die Stahlkugeln eines zu befüllenden Kugellagers noch in Osandes Augenhöhe schwebten, vollführte er mit seiner rechten Hand eine stoßende Bewegung und die improvisierte Munition durchsiebte den schönsten aller Modifikanten mit tödlicher Geschwindigkeit.

Als sie kurz darauf die Hagetia erreichten, wartete Jubilee bereits im Cockpit. Ben sprang als Erster in die Besatzungskabine. An den Wänden waren schmale Bänke angebracht, sodass man sich mehr schlecht als recht dagegen lehnen konnte. Griffe und ein Gurt sorgten vermutlich für Sicherheit während des Transfers, nicht aber für Komfort. Mit irritiertem Blick sah Ben wie Mira Osande in das Shuttle half. Er schaute sich erneut um. Die Kabine war nicht größer als 3 Meter im Durchmesser und es gab nirgends einen Winkel zum verstecken, doch von Honta fehlte jede Spur. Panik kämpfte mit der Hoffnung ihm einfach im Cockpit übersehen zu haben, doch wenn seine Erinnerung ihn nicht trügte, war dort nur Platz für eine Person. Noch bevor er wieder aussteigen und Jubilee fragen konnte, ob sie seinen besten Freund vergessen hatte, wurde die Luke geschlossen und die vorgewärmten Triebwerke zündeten.

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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2010

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