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Als Gin Hazaget vor langer Zeit dem Lauf des Tubundo hinab ins invertierte Gebirge gefolgt war, kam er an diesen Ort, um seine stagnierte Existenz zu betrauern und zu beenden. Er hatte seine Familie, seine Rasse verraten und enttäuscht. Sie würden alle sterben durch und vor allem trotz seiner Bemühungen. Er hatte diesen Ort bei Anbruch des Tages gefunden, doch ließ er sich nicht von dem trügerischen Erwachen der Hänge, dem erwatungsfrohen Glühen der Felsen und dem Aufleben der lärmenden Tierwelt beirren. Alle Hoffnung hatte er längst fahren gelassen, denn ohne Fortschritt war das bloße Verbleiben in einem jämmerlichen Zustand, ohne Aussicht auf die Anziehungskraft einer höheren Daseinsstufe, gleichbedeutend mit dem Tod. Ihre letzte Chance, in Gestalt der Menschen, hatte sich als unreif erwiesen. Ihre Aufgabe war es gewesen, die Jofaiden neu zu beleben und ihren Fortbestand und Fortschritt zu sichern, stattdessen hätten sie um ein Haar für die vollständige Annihilation von Menschen und Jofaiden gesorgt. Übermut, Stolz, Selbstüberschätzung und unersättliche Neugier und Unruhe waren ihr Antrieb im Wettrennen mit sich selbst. Gin hatte versagt, als die Jofaiden nach einem Heilmittel für ihre ungewollte Sterilität gesucht haben und dachte Erlösung in durch das unverbrauchte Blut der Menschen zu finden. Er hatte wieder versagt, als die Menschen sich seiner Kontrolle entzogen und letztendlich einen Krieg herauf beschwörten, den sie nicht überleben hätten dürfen, denn die Grundfesten des Universums hatten gebebt und nur schwer beschädigt trugen die Pfeiler dieser Dimension die Reste einer zerbrechlichen Realität. Irgendwo entlang seines Weges hatte Gin aufgehört die Harmonie seines Lebens wahrzunehmen. Das Lied seines Schicksals war verklungen, als er ihm keine Beachtung mehr geschenkt hatte. Diese unerträgliche Stille übertönte nun das markerschütternde Brausen des Tubundo. Der willkommene Lärm überlagerte alle Zweifel und die Gischt ließ die Grenze zwischen Luftfeuchtigkeit und flüssigem Element verschwimmen. Den Übergang von Luft zu Wasser bemerkte Gin durch diese weiche Phasengrenze nicht einmal. Ein plötzlicher Sog überraschte ihn. Trotzdem diese Kraft ihn zu zerreißen drohte, fühlte er in dieser kalten Schwärze zum ersten Mal wieder eine Gefühlswelt, die seiner täglichen Lethargie vollkommen entgegengesetzt war. Für seinen Geschmack war es viel zu schnell wieder vorbei und die Stille spie ihn unverhofft in einen dunklen See. Nur eine kurze Kollision mit den Felsen im Fluss oder eine etwas längere Unterwasserirrfahrt und Gin hätte sein Vorhaben seinem Dasein ein Ende zu setzen erfolgreich in die Tat umgesetzt. Wut keimte über sein erneutes Versagen in ihm auf, bis sich seine Überlebensinstinkte aus der hinteren Region seiner grauen Eminenz verhalten zu Wort meldeten. Er könne ja später beenden, was er so spektakulär in den Sand bzw. ins Wasser gesetzt hatte, doch zum Nachdenken, sollte er sich lieber ein trockenes Plätzchen suchen. Ohne die Anwesenheit eines einzigen Photönchens erreichte er, nach einigen frontalen Zusammenstößen mit den von der Höhlendecke hängenden Gesteinszapfen, das Ufer. Die Schwerkraft zerrte den entkräfteten Jofaiden mit aller Gewalt wieder an sich und so lag er ohne die Fähigkeit einen müden Muskel zu heben am Rande des Meeres der Stille. Dort verharrte er lange und kurz, bewusstlos und hellwach, entschlossen und hilflos. Sein erstes Lebenszeichen war ein kurzes Zucken seines Kopfes. Diese Bewegung ließ einen kleinen Kiesel unter Gins Gesicht am abschüssigen Hang zurück ins Wasser rollen. Langsam sank der Stein zu Boden und als er nach einigen Zeitaltern den Grund erreichte, stieß er auf einen großflächigen Organismus, der diesen Impuls als Anlass nahm, um seine gesammelte Energie mit einem Mal freizusetzen. Der See erstrahlte im gleißenden Weiß und die Facetten der ausgefällten Kristalle in der Höhle reflektierten die Lichtflut einer Sonnenkadenz. Durch seine schwarzen Augen erblickte Gin das Land der weißen Wasser. Jenes sagenumwobene Land, welches jede Zivilisation in ihrem genetischen Gedächtnis mit der Quelle aller Weisheit verbindet, wo in friedlicher Abgeschiedenheit die Heiligen und Bewahrer des vollkommenen Wissens leben. Hier würde er mit Sicherheit auch die Antwort auf seine Fragen finden, die Lösung seiner Probleme, die Richtung seiner wieder erstehenden Forschung.


Im Kabinett der Kuriositäten


Jubilee hatte sich nur unweit des Einzugsbereichs der spärlichen Lichtquellen wieder rematerialisiert. Sie wandte sich vom grünen Schein des "alten" Labors ab und blickte ins Nichts. Verdrängte Erinnerungen an ihre Zeit im Nichts krabbelten wie tausend kleine Spinnen über ihre Lunge Richtung Herz. Schnell schüttelte sie diese Gedanken wieder ab und suchte mit ihren Restlicht verstärkenden Pupillen nach dem "neuen" Labor. Die biochemischen Funktionen liefen automatisch ab und ihre Gedanken schweiften wieder zum Nichts, ihrer Rückkehr ins Leben und die seit jeher andauernde Suche nach Ursprung, Heimat und Bestimmung. Es lag eine lange Reise bereits hinter ihr und noch war sie nicht wirklich weit gekommen. Ein paar Puzzleteile hatten sich zu dem Scherbenhaufen ihrer Existenz gesellt, aber das Gesamtbild hatte sich ihr noch nicht so richtig erschlossen. Zu allem Überfluss war sie jetzt hier gelandet. Nicht das ihr dieses kleine Abenteuer missfiel, aber die Situation war anders als die unzähligen Herausforderungen auf ihrer Odyssee durch die Galaxien. Sie hatte bereits viele Freunde gewonnen, auch einige verloren, doch romantische Beziehungen standen bisher nie zur Debatte. Ihr fehlendes Interesse an Männern und Beziehungen dieser Art im Allgemeinen führte sie auf ihre Andersartigkeit zurück, auf ihr fortgeschrittenes Entwicklungsstadium. Diese albernen Gefühlsausbrüche und hormongesteuerte Unzurechnungsfähigkeit waren unter ihrem Niveau. Bis jetzt. Nun war es an ihr, sich wie ein Teenager zu benehmen; verliebt, verwirrt, vollkommen unberechenbar. Dabei hielt sie diesen jungen Alien anfänglich für naiv und lästig. Seine Hartnäckigkeit, sein Einfühlungsvermögen, seine Aufgeschlossenheit, sein Humor, sein Verstand. Diese Eigenschaften schätze sie sehr an ihm, aber seine Ehrlichkeit hatte sie entwaffnet. Er heuchelte kein Verständnis, er wusste, was in ihr vorging. Er täuschte kein Interesse an ihr vor, sondern war aufrichtig neugierig auf ihre Geschichte, ihre Absichten und ihre Gefühle. Er versteckte nicht, wie er für sie empfand und das machte sie ein wenig verlegen, nicht so sehr allerdings, wie es ihr schmeichelte und ihr ein behagliches Gefühl gab. Dieses Gefühl war ihr bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannt. Es fühlte sich wie eine lang ersehnte und verzweifelt gesuchte Erinnerung an eine bessere Zeit an. Es gab ihr mehr Kraft und Mut, als sie jemals verspürt hatte und ließ gleichzeitig ihre Knie schwach werden. Es ließ sie glauben endlich angekommen zu sein, obwohl sie doch nichts in der Hand hatte, kein Ergebnis ihrer Suche vorweisen konnte und statt Antworten, viele neue Fragen erhalten hatte. Jetzt lenkte sie die Sorge um Mira und Ben mehr ab, als sie wollte und gleichzeitig war es ihr egal. Bei diesem Gedanken fand sie endlich einen Hinweis auf einen weiteren Bereich der versteckten Laboranlage. Ein schwacher, schmaler Lichtstreifen. Sie schwebte darauf zu und bei näherer Betrachtung erwies sich dieser als eine Tür auf einem kleinen Plateau, getarnt als Felsgestein, jedoch unnatürlich rechteckig und mit Griff. Eine Weile lauschte sie auf Stimmen hinter der Tür, doch da war nichts zu hören. Sie suchte noch eine Weile nach einem alternativen Eingang, aber entschied sich letztendlich dafür, das Risiko einfach einzugehen. Ihre Nerven und Muskeln waren gespannt, ihre Laser feuerbereit und sie erwartete jeden Augenblick einen Alarm auszulösen. Die Tür bewegte sich ganz sanft gegen einen leichten Sog und das strahlende Licht ließ Jubilee für ein paar Sekunden ihre Augen zusammenkneifen, bis diese sich an die Lichtflut gewöhnt hatten. Es war ein großer Saal im warmen Licht orangener Beleuchtung und alles was sie sah waren Regale, Regale und Regale. Hier und da mischten sich noch ein paar Podeste und Vitrinen zwischen die Regale, aber alles in allem erinnerte sie die Szene vor ihr an eine Mischung aus Kaufhaus und einem alten Kupferstich von einem absurden Museum, einem Kuriositätenkabinett. Bilder, Skulpturen, Präparate, ungewöhnliche Utensilien und Hologramme füllten den riesigen Saal bis unter die Decke. Die Exponate waren bunt durcheinander gewürfelt, in den verschiedensten Größen und zeigten reichlich Sonderbares. An der Decke hingen Skelette, Korallen und Muscheln, ein Fresko aus Kalk. Jubilee trat benommen weiter hinein und jeder Schritt veränderte ihre Perspektive und gab neue Wunder Preis. Sie erkannte, dass an drei Wänden (zu ihrer Linken, vor ihr und rechts) eine 3-geschössige Galerie verlief. Unten standen Massen an Gläsern, Aquarien und weitere Gefäße. Einige Flüssigkeiten waren klar, andere grün oder gelb. In einigen befanden sich Vertreter einer - Jubilee unbekannten - Fauna und manchmal auch nur deren Organe. Die größeren Glastanks erinnerten Jubilee an ihre Vergangenheit und dass sie selbst einmal längere Zeit in solch einer Flüssigkeit verbracht hatte, allerdings waren die hiesigen Inhalte allesamt leblos. Lebewesen, teils Tiere, teils Humanoide schwebten schwerelos in trüben Säften. Einige dieser reglosen Flüssigkeitspräparate sahen aus wie bizarre Variationen und ungewollte Mutationen ihrer schlummernden Nachbarn, andere waren deformiert und entstellt. Jubilee hob den Blick zur nächsthöheren Galerie und entdeckte Werkzeuge, Apparaturen und Maschinen. Die oberste Galerie hatte anders als die mittlere keine Balustrade aus marmorähnlichem Gestein, sondern Holz. Die Baluster waren reich verziert und ihre Ornamente fanden sich auch in den dahinter stehenden Bücherregalen wieder. Dort lagen und standen Bücher, Folianten und Schriftrollen. Myriaden von offensichtlich historischen Manuskripten. Jubilee Entsetzen über die Schrecken in den Einmachgläsern wich der Neugier auf das versammelte Wissen dieser Bibliothek. Ein Regal direkt vor ihr versperrte Jubilee den Weg zum nächsten Aufgang. Sie wollten schon einfach über das Hindernis hinweg schweben, als sie jetzt auch die Exponate im Saal zu ebener Erde etwas genauer wahrnahm. Grafiken und Fotografien, Filme und Holografien, nachgestellte Szenen mit ausgestopften Lebewesen und Modelle aller Art. Trat sie an Vitrinen oder Bildschirme näher heran, tauchten beschreibende Hinweise und audiovisuelle Kommentare auf. Den wenigsten schenkte sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, da die Flut von immer neuen Kuriositäten keine Konzentration erlaubte. Wie ein Kind im Spielzeugladen lief Jubilee kreuz und quer durch den Saal. Jeder Gang, jeder Schritt offenbarte neue Skurrilitäten, genug, um sich ein ganzes Leben der bloßen Erkundung dieses seltsamen Sammelsuriums zu widmen. Ein Speicherkristall in ihrer unmittelbaren Umgebung erwachte zum Leben und ließ sie endlich innehalten, denn der Inhalt schien vielversprechend.


Wahre Legenden


Jetzt, da sie so über ihre Situation nachdachte, war alles doch ein wenig surreal. Hier saß sie hinter Gittern, bewacht von einem Mutanten. Mit ihr in der rostigen Zelle saßen ein Husru, ein Jofaide und die Projektion eines Menschen. Vor wenigen Minuten war sie mit einem Soziopathen konfrontiert worden und, wenn mann diesem irgendetwas glauben durfte, dann befand sie sich in der Wiege ihrer Spezies. Wahrscheinlich das Produkt eines größenwahnsinnigen Wissenschaftlers, gezüchtet, studiert und letztendlich im Stich gelassen worden. Sie hatte die Legenden nach rationalen Gesichtspunkten bewertet und sortiert. Viele Geschichten waren unglaubwürdig, Produkte der Mythenbildung durch Überlieferung oder einfach ganz weit draußen. Nun machten einige davon überraschenderweise mehr Sinn und selbst ein paar der ausgefalleneren Anekdoten wurden plausibel. Der alte Schin war also niemand Geringeres als "Dr. Gin Hazaget" und wenn man so darüber nachdachte, dann konnte man durchaus eine gewisse phonetische Verwandtschaft zwischen dem Schöpfer ihrer Vorfahren und dem Namen ihres Heimatplaneten erkennen. Dass er einen sprechenden Stab mit sich herumgetragen haben soll, hatte Mira stets als Erfindung abgetan, doch angesichts des mundlosen Jofaiden zu ihrer Linken wurde dieses Szenario nachvollziehbar. Mira hatte diese Geschichten nie mit tatsächlicher Geschichte verwechselt, empfand sie aber als bedeutende Quellen bei ihrem Studium der Herkunft ihrer Zivilisation. Mit einem Schlag hatte sie jetzt mehr verstanden, als in den unzähligen Stunden in Bibliotheken und im Gespräch mit den Alten und Weisen. Am verstörendsten war allerdings die Tatsache, dass sie den alten Schin um ein Haar getroffen hätte. Sie wäre einer Legende begegnet, dem großen Wohltäter ihres Volkes, dem verklärten Mysterium und in letzter Konsequenz ihrem Schöpfer. Hätte sie Fragen an ihn gehabt, hätte sie ihn verehrt, hätte sie sich desillusioniert abgewendet, hätte sie es überhaupt berührt? Sie fühlte Neugier, Zweifel, Leere, Geborgenheit und noch ein paar weitere widersprüchliche Emotionen, doch das alles war zu viel, zu groß, zu bedeutend, um es am Boden einer Zelle zu kontemplieren. Vielleicht gab es aber auch keinen geeigneteren Ort dafür? Zu ihrer Überraschung wurde Mira bewusst, dass die Fragen nach dem Grund ihrer Erschaffung und dem Zweck seiner Untersuchungen sie nicht wirklich interessierten, vielmehr hätte sie ihn gerne gefragt, warum er sie aufgegeben hatte. Sie waren seine Schöpfung, seine Kinder und dass er sich von ihnen abgewandt, sie verlassen, sie vergessen hatte, nahm Mira persönlich. Es ließ - nur zu schmerzlich vertraute - Gefühle durchleben, welche sie als Waisenkind mit unbekanntem Verbleib der Eltern über Jahre kultiviert hatte.


Exkursion Nr. 319


Zwischen dem sprechenden Stab und verschiedenen Generationen von Trikordern verharrte Jubilee vor der Wiedergabe eines Speicherkristalls. Das beschriebene Objekt war auf eine lebensgroße Figur mit symbolischen Armen und Beinen drapiert und hatte den Charme einer vorsintflutlichen Dampfmaschine. Messingfarbene Beschläge, Gurte und kugelförmige Gefäße mit offenliegender Mechanik und analogen Schaltern, Schläuchen, Knöpfen und Zeigern ließen vermuten, dass ein längst vergessener Tüftler mit Superheldenambitionen diese Ausgeburt der umständlichen Funktionalität entworfen hatte. Die holografische Beschreibung schwenkte ausgiebig über eine steppenartige Ebene. Zwischen hohem Gras und vereinzelten Bäumen waren Hütten und Feuerstellen gut zu erkennen. Über dem Horizont hing Ketar wie ein blasses, allsehendes Auge. In das entfernte Vogelgezwitscher mischte sich nun eine telepathische Stimme.

"Exkursion Nr. 319, Dr. Gin Hazaget."

Das Bild schwenkte um 180° und ein Jofaide, angetan mit dem hier ausgestellten Gurtzeug, blickte mit seinen Obsidian schwarzen Augen ernst in die Kamera.

"Während meine Brüder es sich auf Ketar gemütlich machen und so tun, als wäre nichts geschehen, werde ich mich nicht mit der Ungewissheit zufrieden geben. Jegliche genetische Forschung wurde untersagt und die ketarische Population von Menschen und einer von Amphibien abstammenden Spezies wird, bis auf einen allgemeinen Inhibitor zur Beschränkung der Lebensspanne, vollkommen unkontrolliert ihrer Entwicklung überlassen. Ich glaube nicht, dass wir den Formlosen einfach davon laufen können, geschweige denn, dass wir Grund zur Furcht vor ihnen haben. Viel wichtiger ist die Frage nach ihren Beweggründen. Wollten sie Krepi mutwillig zerstören, haben die unüberlegten Handlungen der Menschen und somit auch unsere Ignoranz sie provoziert, stehen sie hochentwickelten Zivilisationen im Allgemeinen feindlich gegenüber oder war die unglaubliche Entladung von Energie ein Versehen, ihr unbeholfener Versuch mit uns zu kommunizieren? Ich persönlich tendiere zur letzten Variante der Ereignisse, werde aber, um sicher zu gehen, die Entwicklung der Menschen hier auf dem Mond von Ketar noch einmal unter kontrollierten Bedingungen wiederholen. Zum einen möchte ich ausschließen, dass die bloße Evolution der Menschen zwangsläufig die gleichen Konsequenzen wie auf Krepi heraufbeschwört, um mein Gewissen zu beruhigen, dass ich nicht höchst persönlich für unseren Untergang verantwortlich war. Zum Anderen muss es irgendeine Schnittstelle zwischen Menschen und Formlosen geben, die wir nicht ignorieren dürfen. Die Formlosen müssen erforscht und verstanden werden, denn vielleicht liegt gerade in diesem Unterfangen die einzige Hoffnung auf Heilung für mein Volk."

Jubilee beobachtete, wie Gin ein paar Schalter an der abenteuerlichen Apparatur umlegte. Die Mechanik erwachte zum Leben. Geräuschvoll und lichtstark rumorte es in einem industriellen Crescendo. Mit letzten Justierungen verstarben die Geräusche und einzig ein grünes Lämpchen leuchtete ungeduldig.

"Die frühmenschliche Generation dieser Forschungsobjekte ist jetzt seit 920 Tagen stabil. Ihre beschleunigte Evolution wird allmählich auf beinah normales Niveau gebremst. Bis sie ihre zivilisatorische Identität entdeckt und einigermaßen kultiviert haben werde ich mich noch bedeckt halten. Ich vermute aber, dass ich in wenigen Monaten diese kleine Spielerei nicht mehr benötigen werde."

Mit diesen Worten verschwand Gin vor dem Hintergrund der hagetischen Steppe und die Kamera setzte sich im wiegenden Schritt des Jofaiden in Bewegung, um zum Dorf seiner Schöpfung zu pilgern.

Jubilee hatte genug gesehen. Sie entfernte den Kristall aus seiner Halterung und steckte ihn ein, um ihn später Mira zeigen zu können. Als nächstes bemächtigte sie sich der transportablen Tarnvorrichtung und machte sich auf die Suche nach Honta.


Die Bauherren des geheimen Labors


Hinter dem Museum lag eine weitere Kammer und Jubilee fand Gins Transfershuttle. Eine interplanetarische Kurzstreckenrakete. Statt einer Spitze saß ganz oben die Steuereinheit in Form einer Kugel, darunter in zylindrischer, leicht gewölbter Gestalt ein Modul zum Transport von Ladung und Probanden und zuletzt in drei versetzten Tetraeder-förmigen Abschnitten die Brennkammern des Antriebs. Jubilee hatte sich schon gewundert, wie Gin zwischen Ketar und Haget gependelt ist und vermutete, dass dieses kleine Raumschiff auch über eine eigene Tarnkappe verfügte. Nachdem sie einmal um das Gefährt herum gelaufen war und den Schriftzug "Hagetia" auf dem mittleren Modul entdeckt hatte, nahm sie nun auch den übrigen verstaubten Inhalt dieser Kammer in Augenschein. Die Kammer war etwas kleiner als das Museum aber trotzdem größer als das alte Labor. Hier lagerten ein Gerüst zur Wartung der Hagetia, Baugerät mit welchem diese Höhlen vermutlich angelegt wurden und ausrangiertes Laborinventar. An den beiden seitlichen Wänden standen große, verhüllte Gebilde aufgereiht und neugierig zog Jubilee eine dieser Planen weg. Darunter kam ein 2 Meter großer Roboter zum Vorschein. Er stand etwas schräg auf seiner konvexen Bodenplatte an die Wand gelehnt und verfügte über Greifarme und Gliedmaßen mit verschieden Werkzeugen, die aus seinem kegelartigen Körper ragten. Eine schwarze, gläserne Kugel fungierte vermutlich als Kopf, Auge und Sensoreinheit in Einem. Es erinnerte sie an Osandes Augen, in welche sie zuletzt in der Zelle gesehen hatte. Sie schwebte näher heran und klopfte an das Fischglas, woraufhin die schwarze Flüssigkeit im Inneren glitzernd zu pulsieren begann. Sie suchte an dem Roboter nach einer Bedieneinheit oder einem Ein/Aus-Schalter, wurde aber erst an einer extra Konsole auf einem Tisch fündig. Es brauchte ein paar Minuten bis sich ihr die Bedeutung der Zeichen und Anzeigen ergab, aber dann benötigte es lediglich zwei Tasten und die 11 Roboter der Lagerhalle erwachten. Ein rotes Licht erstrahlte im schwarzen Gelee des Kopfes und alle 11 richteten sich auf Jubilee, wenn auch nur eins davon nicht durch eine Plane glimmte. Außerdem schwebten sie jetzt allesamt mit niederfrequentem Brummen wenige Zentimeter über dem Boden. Ein wenig erschrocken über das plötzliche Beleben dieser Ungetüme, schaltete Jubilee sie wieder aus, versetze sie zumindest in Standby, denn sie hatte eine nützliche telepathische Schnittstelle gefunden, womit diese Handlanger vielleicht noch Nutzen sein würden. 11 rote Lichter erloschen wieder und mit einem leisen Beben sanken 11 tonnenschwere Giganten wieder auf den Boden. Nicht zu früh, denn aus einem weiteren Gang zwischen den Robotern vernahm Jubilee schnelle Schritte. Sie betätigte denselben kleinen Schalter wie Gin und verblasste im trüben Licht der Lagerhalle. Von Geisterhand wurde die Plane des entblößten Roboters wieder an Ort und Stelle gezogen und als die zwei Modifikanten die Kammer erreichten, regte sich kein Staubkorn mehr.

"Hier ist nichts und die Fernbedienung liegt auch noch da", Ramiel war offensichtlich nicht allzu glücklich über die Hetzerei.

"Mag sein, aber wieso haben die anderen beiden Arbeitsmaschinen in der untersten Ebene aufgehört die neuen Kammern zu graben?"

Penuel und Ramiel hatten nach ihrem Eintreffen im Lager alle Winkel mit ihren unhandlichen Nietpistolen kontrolliert. Während Ramiel mit seiner ungeheuren Masse den verhüllten Robotern schon recht nahe kam, war Penuels Schönheit hier gänzlich fehl am Platz. Von Jubilees unsichtbarer Position aus, wirkte sie wie ein künstlich eingefügtes Bild an diesem schmutzigen Ort. Am liebsten hätte sie ihre 11 Freunde aktiviert und
deren Diamantbohrer auf die beiden gehalten, doch sie wollte erst einmal abwarten. Dabei viel es ihr umso schwerer sich zu beherrschen, als sie sich mit einem eifersüchtigen Stich daran erinnerte, wie diese Schönheit Ben aufgefangen hatte - zugegebener Maßen etwas unfreiwillig.

"Warum benutzen wir eigentlich nicht die übrigen Roboter um die Kammern für unsere Klone zu vergrößern? Dann wären wir doch wesentlich eher in der Lage gegen den Kurator und die Jofaiden in die Schlacht zu ziehen."

Penuel antwortete mit einem müden Lächeln: "Weil diese Dinger für telepathische Steuerung ausgelegt sind und wir mit der manuellen Fernbedienung dort unten die Übersicht verlieren würden. Ich hoffe, Honta beeilt sich mit der Reparatur unserer genetischen Basisstrukturen. Ben, Gin und Raphael sitzen schon seit Tagen über ihren Reagenzgläsern und reparieren Schaden für Schaden, nur um fest zu stellen, dass dieser Parasit wieder neue Breschen geschlagen hat."

"Ich habe vorhin mit Raphael gesprochen und er meinte, dass diese Probe von dem weißhaarigen Mädchen die Antwort auf unsere Probleme sein könnte. Asrael will es zuerst an den Klonen testen, aber bald dürften wir wieder gesund sein."

"Du glaubst gar nicht, wie sehr ich das telepathische Netzwerk vermisse. Früher war ich jede Minute darüber informiert, wie es meiner Familie und meinen Freunden geht. Heute komme ich mit der erzwungenen Einsamkeit irgendwie klar, aber mir fehlt auch die Möglichkeit meiner Selbstreflektion durch meine Synchronisation mit dem Netz, um mit diesen ganzen neuen Informationen und Situationen zu Recht zu kommen."

"Keine Sorge, meine Kleine. Was uns der Kurator angetan hat wird er bitter bereuen."

Sie liefen wieder zurück in den Gang, woher sie gekommen waren und Jubilee schwebte ihnen geräuschlos hinterher. Irgendwie hatte sie so eine Ahnung, dass sie Honta nicht ohne weiteres ziehen lassen würden und dazu gesellte sich die Befürchtung, dass Honta auch nicht einfach mitkommen würde.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.03.2010

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