Cover

Das Spiel hatte begonnen und die Beteiligten hatten ihre Eröffnungszüge vorgenommen. Die Protagonisten befanden sich in unterschiedlichen Positionen und ihre Stellungen ließen nur erahnen wohin ihre nächsten Schritte führen würden. Eröffnet hatte Jubilee diese Partie mit ihrer Notlandung auf dem ketarischen Mond. Die Achaten - aka Hageten - hatten durch ihre Invasion die Ketari ins Spiel gebracht und Honta und Ben waren mittendrin. Ihre Kreationen von Modifikanten und Schutzschildern waren die Trümfe gewesen, auf der Jagd nach dem eigentlichen Gral. Der Kristall war Quelle des Konflikts, besaß verklärte Eigenschaften und sollte erlösende Informationen für den geduldigen Suchenden bereithalten. Der Kurator Bondise, Gin, Inidi und Osande tauchten im Verlauf des Geschehens immer wieder auf und hatten verschiedene Rollen übernommen. Mit Bravur verkörperten sie Berater, Freunde, Mitwisser, Verschwörer, Nebendarsteller und Ahnungslose, wenn auch so mancher dafür mehr schauspielerisches Geschick benötigte, als die Übrigen. Das Netz war zwischen Ketar, Krepi, Haget und der Erde gespannt und in der Mitte lauerten, wie eine schwarze Spinne, die Formlosen. Für die Menschen, Husru und Jofaiden hieß es, das Wirrwarr zu beheben, bevor man selbst in den Fallen der Täuschung zum Opfer der Spinne wird. Diese Spinne war bisher nur Ausgeburt vergangener Legenden und inwiefern die eigenen Mitstreiter Beute oder Parasit waren, ließ sich nicht mit Sicherheit sagen. Der Kristall war bisher der einzige Lichtblick im Schatten der Unheil verkündenden Fäden. Die Stränge verwebten die Schicksale der Lebenden mit den Toten und den Unsterblichen. Wohin man auch blickt, sieht der Betrachter im schummrigen Licht der Ungewissheit nur Sorge, Angst und Trauer, aber der Krieg zieht auf und wird schon bald das Spiel beherrschen. Diejenigen, die sich dann im Netz verfangen und aufgegeben haben, werden Verzweiflung, Wut und Hass in ihren Augen tragen, wie Atlas die Welt.


Tod den Verrätern


Der Winter in Hantikor ist meistens kurz, schneereich und eiskalt. Dieser Winter bildete da keine Ausnahme. So schnell wie die ganze Stadt unter Zentimeter dicken Schneewehen begraben war, schmolz sie nun wieder darunter hervor. Die Konturen der Zivilisation kamen nach und nach zum Vorschein und die Wahrnehmung der Bevölkerung wurde nicht mehr durch schallschluckenden Schnee und diesiges Gestöber gedämpft. Die Freunde des Wintersports verließen die Stadt - und zwar unverrichteter Dinge, auf Grund der bedrückenden Ereignisse - nach nur zwei Wochen, denn selbst auf den höher gelegenen Hängen des Zarfet verlor der Schnee das Kräftemessen gegen die kriechende Wärme der Sonnenstrahlen von Bernar und Bianca und die gespeicherte thermische Energie des Gesteins. Die roten Vögel der Uhube-Ebene kehrten zusammen mit dem Euros - dem Südostwind aus der Ebene - zurück in die Giebel der Stadt. Die Ketari krochen aus den Höhlen ihres kurzen Winterschlafs, welcher sie die dramatischen Ereignisse der jüngeren Vergangenheit vergessen lassen sollte. Könnten sie es jemals verdrängen oder gar überwinden? Wahrscheinlich hieß die Antwort auf diese Frage wohl eher: "Nimmermehr", denn nach der Verdrängung kam bei den Husru die Melancholie und bei den Menschen die Betroffenheit. Während die meisten noch aus Gewohnheit den Hals in die Mäntel zogen und die Augen zusammen kniffen, schlenderte Ben im Sonnenschein des Frühlings durch Hantikor. Die Brunnen der Stadt waren noch trocken und die unzähligen Skulpturen verhüllt. Er folgte den Rufen der Vögel und bewunderte das rote Gefieder. Die Vögel der Uhube-Ebene hatten charakteristische, lange Schwanzfedern, so dass es aussah, als ob Kinder ihre roten Drachen im würzigen Wind der Ebene steigen lassen. Besonders viele kreisten um die Sternennadel und Ben blieb noch einen Augenblick stehen, bevor er die Eingangshalle betrat. Der große Saal im Erdgeschoss war so gut wie ausgestorben. Die Inidium stand die meiste Zeit in der Nähe des Observatoriums oder vor Miras Haustür. Niemand hatte die Schlüssel zurück verlangt und so hatte Ben ausgiebig Gebrauch von seinem Privatshuttle gemacht. Damit fehlte aber der Sternennadel die Hauptattraktion und die Kinder der Schulausflüge blieben bis jetzt auch noch aus. Ob sie Ferien hatten oder nach den schrecklichen Ereignissen noch so etwas wie Staatstrauer herrschte, wusste Ben nicht. Er hatte die letzten Tage in einer anderen Zeit und Welt gelebt. Der Kristall an sich war schon faszinierend genug, aber die neue Freundschaft mit Jubilee und Mira und Jubilee im Besonderen war genug um seine kleine Gefühlswelt auf den Kopf zu stellen. Er schwebte vorbei an den Exponaten ketarischer Geschichte und würdigte die Sternenbilder, Planeten und sonstigen astronomischen Sehenswürdigkeiten keines Blickes. Er hatte Honta soviel zu erzählen und freute sich schon darauf seinen Freund wieder zu sehen. Das letzte Mal war Honta mit seinen Modifikanten beschäftigt gewesen und hatte selbst einiges zu berichten. Sie wollten sich auf eine der Terrassen der Sternennadel setzen und in aller Ruhe die Ereignisse der letzten Wochen Revue passieren lassen, sich austauschen und auf den neusten Stand bringen. Ben nahm einen der Fahrstühle, die nur zwischen dem Erdgeschoss und den Laboren im obersten Stockwerk pendelten. Während die übrigen Fahrstühle in Spiralen um die Sternennadel fuhren, beförderten diese ihre Insassen im Inneren des Gebäudes gerade nach oben. Mit gemütlichen 10 Metern pro Sekunde dauerte es nur eine reichliche Minute bis man ganz oben war. Ben wollte sich bei Honta ankündigen, doch im selben Augenblick bemerkte er, dass hier etwas nicht stimmte. Seine Verbindung zu Honta wurde schwächer und er verspürte die Bestürzung, Angst und Panik seines Freundes. Ben traute sich nicht laut zu rufen, weder akustisch, noch telepathisch. Langsam spähte er in den Saal, welcher zum operativen Hauptquartier der Modifikanten umgestaltet worden war. In einem Quadranten standen die Inkubatoren und Einrichtungsgegenstände der genetischen Forschungsarbeiten an den Modifikanten. Im nächsten sah en taktische Auswertungen ihrer ersten Mission. Einige Stühle, Tische, Papiere und Tafeln lagen verstreut, umgeworfen oder zerbrochen in der Gegend. Sie zeichneten die Spur einer Flucht, oder zumindest eines überstürzten Aufbruchs. Im nächsten Quadranten war der Pausen- und Erholungsbereich der Wissenschaftler. Zu Bens Bestürzung war dieser nicht ganz so verlassen, wie die ersten beiden Quadranten, die er durchquert hatte. Offenbar hatten die meisten versucht hierher zu fliehen und der Rest hatte gerade eine Mahlzeit zu sich genommen. Die nieder gestreckten Husru und Menschen hatten tiefe Fleischwunden. Einige sahen aus wie große Schnitte, andere wie Einschusslöcher. Ben sah auch Verbrennungen an den Leichen und Wänden, die von einer Energiewaffe stammen mussten und hätte er sich mit solcher Art Verletzungen ausgekannt, wäre ihm aufgefallen, dass auch viele ge- und erschlagen wurden. Sein Gehirn wollte ihm schon einreden, dass Gungmar seine Rache gesucht und gefunden hatte, aber sie hatten Raumschiff mehr und wären nicht an Jubilee, seinem Schutzschild und den Modifikanten vorbeigekommen. Bei seinem letzten Gedanken beschlich ihn eine düstere Ahnung, doch bevor er sie formulieren konnte, sah er etwas im letzten Quadranten und erstarrte in seiner Bewegung. Hier war ein kleiner Hörsaal eingerichtet. Vermutlich für interne Konferenzen und Schulungen, aber im Zentrum der ungeteilten Aufmerksamkeit der Stühle befand sich etwas Befremdliches. Ein Jofaide stand in der Luft und Ben glaubte unter den blauen Flecken Dr. Gin Hazaget zu erkennen.

"Bleib wo du bist", rief ihm der geschundene Arzt zu, doch Ben trat mechanisch näher, um sich Gewissheit zu verschaffen. In diesem Moment seufzte Gin einen verängstigten Fluch und streckte seine Arme und Beine mit aller Kraft von sich.

"Sie haben mich in ein Kraftfeld gesperrt und ich glaube, du hasst so eben mein Ende ausgelöst."

"Was ist hier passiert", brachte Ben endlich heraus, während ihm immer noch nicht ganz klar war, was Gin hier eigentlich machte.

"Asrael ist durchgedreht und seine Modifikanten haben die Wissenschaftler getötet."

Ben hatte das bereits vermutet, aber die Bestätigung durch Gin, der seine Arme und Beine nun langsam anzog, raubte ihm fast den Verstand.

"Wo ist Honta?" Er hatte ihn nicht unter den Toten gesehen und schöpfte Hoffnung.

"Sie haben ihn mit in mein Labor genommen, aber könnten wir das auf später verschieben. Ich stecke hier in einer ziemlich vertrackten Situation. Dieses Kraftfeld wird mich bald zerquetschen und ich wäre dir sehr verbunden, du würdest das verhindern."

Mit Schrecken erkannte Ben die tödliche Gefahr in welcher sich Gin befand und suchte nach den Kontrollen für das Kraftfeld. Als er es gefunden hatte, erkannte er, dass die Bedienelemente zerstört worden waren.

"Du musst den Feldgenerator zerstören", rief ihm Gin zu, der mittlerweile in die Knie gegangen war. Ben fand den Generator ebenfalls mit einem Kraftfeld geschützt und wusste, dass Gins Schicksal besiegelt war.

"Es lässt sich weder abschalten, noch zerstören."

Gin resignierte innerlich und sprach jetzt im Sitzen.

"Dann ist es wohl jetzt vorbei. Der Kurator dürfte bald hier sein, denn ich glaube diese kleine Vorstellung war für ihn gedacht. Sag ihm, dass die Modifikanten die Hintertür gefunden haben."

Ben wollte Gin irgendwie befreien und schlug vollkommen unbeholfen mit einem Stuhl gegen das Kraftfeld. Der Stuhl zerbrach und das Kraftfeld schrumpfte weiter. Die unmittelbare Konsequenz der voran schreitenden Ereignisse versuchte Ben so gut wie möglich aus zu blenden, doch das kugelförmige Feld war inzwischen so klein geworden, dass Gin schon alle Gliedmaßen und seinen Kopf einziehen musste. Ben wurde schlecht, als die ersten Knochen brachen und er wandte sich von Gins schwarzen Augen ab, als diese erloschen. Hinter sich hörte er das grauenvollste Geräusch seines Lebens und kurz darauf hörte der Feldgenerator auf zu summen und die komprimierten Reste, welche einmal ein genialer Genetiker waren, klatschen ungefähr zeitgleich mit Bens Mageninhalt auf den Boden. Als der Kurator den Saal betrat, erblickte er den Husru - das Gesicht in den Händen vergraben auf einem Stuhl sitzend - und las, was Asrael als Nachricht in blutiger Schrift an den Buntglasfenstern hinterlassen hatte: "Tod den Verrätern"


Die Suche


Ben gab sich einsilbig gegenüber dem Kurator. Er hatte ihm bisher nicht viel erzählt und wollte es auch aus irgendeinem unerfindlichen Grund so beibehalten. Immerhin war das Ausmaß der Informationen auf dem Kristall einfach zu faszinierend und steckte voller Rätsel, als dass er ihn schon hätte zurückgeben wollen. So ließ er den Kurator lediglich wissen, dass Gins letzten Worten ungefähr lauteten, dass die Modifikanten eine ominöse Hintertür gefunden hätten. Noch reichlich blass um die Nase, ließ er Kurator und Sternennadel so schnell wie möglich hinter sich und kehrte ins Observatorium zurück. Hier warteten Mira und Jubilee, denn der eigentliche Plan war es gewesen, dass Honta sich zu dem Zirkel des Kristalls gesellt. Durch sein Spezialgebiet und die Erfahrungen der letzten Tage hätte er ihnen helfen sollen, die Verflechtungen dieser Geschichte in ihrer ungeheuerlichen Tragweite zu verstehen. Doch Ben kehrte allein zurück. Miras und Jubilees Fragen nach Hontas Verbleib echoten an ihm vorbei. Der Schock legte sich langsam, seine Umgebung wurde zusehends schärfer und die Gegenwart rückte wieder in den Mittelpunkt seiner Wahrnehmung.

"Wir müssen Gins geheimes Labor finden."

Seine Freunde starrten ihn etwas verwundert an. Auf ihre Fragen nach dem Sinn seiner Aussage und was geschehen war, ging er nicht ein, denn seine Gedanken kreisten um mögliche Verstecke für eine Einrichtung, die sicherlich etwas mit Gins genetischer Arbeit zu tun haben musste. Er erinnerte sich an die labyrinthartigen Gänge im Tempel der Jofaiden und meinte, dass es ein idealer Standort für das geheime Labor sein müsste. Allerdings würden sie Wochen brauchen, um sich dort unten halbwegs zu Recht zu finden. Sie brauchten einen Führer. Sie brauchten Inidi. In seiner manischen Handlungswut wurde er jäh von Osande gestoppt.

"Wo willst du denn hin, meiner junger Freund?", fragte ihn sein Mentor und Ben antwortete ihm eher unterbewusst: "Ich muss Inidi finden. Er wird mir helfen Honta zu finden."

"Jetzt setzt du dich erst einmal hin." Sein Mentor zwang ihn liebevoll auf einen Stuhl, ließ ihn zur Ruhe kommen und sich berichten was vorgefallen war und wohin er mit Inidi wollte. Ben entspannte sich nur langsam, aber der therapeutische Effekt blieb durch Osandes Vorgehen nicht aus. Nachdem er ihnen alles erzählt hatte, ließ Bestürzung die Unterhaltung für geraume Zeit verstummen (und er hatte wirklich alles erzählt, was Jubilee erröten und Mira verhalten kichern ließ, als er von seiner Absicht erzählte Jubilee Honta vorzustellen, um die Meinung seines besten Freundes bezüglich seiner neuen Bekanntschaft einzuholen, um beiden kurz darauf alle Farbe aus ihren Gesichtern zu vertreiben, als er in die schrecklichen Details seiner Entdeckungen in der Sternennadel ging). Auch Osande verschlug es den Atem, als Ben den Kristall erwähnte und ihm bewusst wurde, was diese Drei nun alles wussten. Er brach nach einigen Minuten das Schweigen.

"Ich habe gerade Inidi kontaktiert und ihn gefragt, ob er bei seinen Streifzügen durch die Höhlen Gin begegnet wäre oder etwas gefunden hätte, was einem Geheimlabor nahe kommt. Beides hat er verneint, womit wir recht zuverlässig die Höhlen des Tempels ausschließen können. Mir ist allerdings etwas eingefallen, was schon viele Tausend Jahre zurück liegt. Kurz nachdem wir auf Ketar angekommen waren, habe ich auf dem Zarfet das Observatorium errichtet. Damals war es noch recht primitiv und rudimentär eingerichtet, aber anfänglich beobachtete ich weniger die Sterne als das vor mir liegende Tal und die Weite des Großen Kontinenten. Vor meinen Augen entstand die wunderschöne Stadt Hantikor, die Menschen, Husru und Jofaiden gemeinsam errichteten. Es war ein Ehrfurcht gebietender Anblick. Etwas ist mir damals aufgefallen, dem ich jedoch keine Bedeutung beigemessen habe. Ich nahm an, dass Gin einfach gelegentlich den Wunsch verspürte, die Uhube-Ebene mit ihren weiten Steppen und Wäldern zu erkunden. Manchmal kehrte er tagelang nicht zurück, manchmal werde ich ihn auf einfach nicht bemerkt haben, aber jetzt, betrachtet unter diesen neuen Gesichtspunkten, würde ich sagen, dass er damals irgendwo in der Uhube-Ebene ein Labor eingerichtet haben muss und es regelmäßig frequentierte. Ihr müsst wissen, dass die Genlabore hier in Hantikor erst vor wenigen Jahrhunderten entstanden sind, als die strengen Vorschriften bezüglich genetischer Forschung allmählich gelockert wurden. Zumindest in Richtung der Bekämpfung jofaidischer Zellregeneration. Vor unserer Ankunft auf Ketar war Gin ebenfalls ein führender Genetiker gewesen und wie es klingt hat er sich nicht an die Einschränkungen halten wollen."

"Das bedeutet also, dass wir die riesige Uhube-Ebene durchkämmen müssen. Kannst dich wenigstens an die Richtung erinnern?", wollte Ben wissen.

"Leider nein."

Jubilee mischte sich ein. "Ich habe die letzten Jahre mit Suchen verbracht und einfach drauf los zu suchen ist definitiv keine Lösung. Wir sollten uns sein Domizil und seinen Arbeitsplatz näher ansehen. Er hat mit Sicherheit irgendwelche Hinweise hinterlassen."

Nachdem sie allerdings stundenlang sein Büro in den Genlaboren und sein Domizil durchforstet hatten beschlichen Jubilee begründete Zweifel an ihrer eigenen Aussage. Sie hielt die Ketari für das argloseste Völkchen, dem sie je begegnet war und hätte schwören können, dass Gin irgendwo ein verräterisches Indiz hinterlassen hat. Werder Abbildungen, Karten oder Tagebucheintragungen gaben das Geheimnis Preis. Als letztes blieb noch sein Schreibtisch in der Sternennadel, welchen er erst vor kurzem bezogen hatte. Allein deswegen und weil der Kurator sicherlich alles absperren lassen hatte, machten sie sich keine großen Hoffnungen ausgerechnet hier fündig zu werden. Sie flogen in Osandes Gleiter von Gins Domizil in Richtung Sternennadel. Wie ein mahnender Finger erhob sich der riesige Turm am Rande von Hantikor und war der letzte Wachposten vor der weitläufigen Ebene. Das Labor konnte sich überall befinden. Auf gut Glück durch die Wälder zu wandeln war illusorisch und Jubilee senkte entmutigt den Kopf. Ihr Blick glitt im eiligen Tempo des Gleiters über die Straßen, Grünanlagen, Brunnen, Denkmäler und Gebäude von Hantikor. Es erinnerte sie an New Berlin auf dem Mars. Für einen Augenblick schloss sie ihre Augen und dachte daran, wie sie mit ihrem Bruder diese aufregende Stadt auf dem roten Planeten besichtigt hatte. Mitten auf dem Olympus Mons hatte das Terraforming nach vielen Jahren eine der blühensten Städte ihres Sonnensystems hervor gebracht. Sie waren damals allerdings selbst in der Luft unterwegs und flogen alle Sehenswürdigkeiten auf ihrer privaten Besichtigungstour selbst an. Jetzt saß sie mit ihren neuen Freunden in einem schicken, kleinen Gleiter. Sie sah sich die verchromte Formgebung dieses schnittigen Gefährts bewundernd an und stellte erst in diesem Augenblick fest, dass es gar keine Armaturen gab.

"Wie steuerst du eigentlich diesen Gleiter, Osande? Telepathisch?"

"Ich könnte ihn sozusagen manuell via Telepathie steuern, aber wenn er das Ziel kennt, fliegt mich mein treuer Gleiter ganz automatisch ans Ziel. Wieso fragst du? Möchtest du ihn fliegen?"

"Nein, aber mir kommt da gerade so eine Idee. Sag mal, als du Gin auf seinen Streifzügen Richtung Uhube-Ebene beobachtet hast, da war er doch nicht zu Fuß unterwegs, oder?"

"Natürlich nicht. Er benutzte seinen eigenen Gleiter. Guter Gedanke. Wir müssten nur seinen Gleiter finden und hoffen, dass es derselbe von damals ist."

"Es würde doch schon reichen, wenn er in letzter Zeit mit demselben Gleiter mit dem er zur Arbeit fliegt, auch im Labor gewesen ist."

Osandes Gleiter befand sich im Landeanflug auf die Dachplattform der Sternennadel. Jubilee zeigte auf eine Stelle, wo die Besucher und Angestellten ihre Gleiter abgestellt hatten. Sie brauchten nicht lange, um Gins Gleiter zu finden, da er seinen eigenen kleinen Parkplatz mit Schildchen bekommen hatte. Ben stieg in Gins Gleiter um und aktivierte den Antrieb. Er wusste nicht, wie er sein Ziel definieren sollte, also sagte er dem Gleiter einfach, dass er zum Geheimlabor fliegen soll, worauf dieser tatsächlich die Eingabe bestätigte und abhob. Osande folgte mit Mira, während Jubilee hinüber in Gins Gefährt geschwebt kam. Sie ließen die Stadt schnell hinter sich und flogen über die Uhube-Ebene mit zunehmendem Tempo in geringer Höhe. Ben bemerkte, wie sie hin und wieder den Kurs wechselten, so als ob Gin damit mögliche Verfolger abschütteln wollte, aber Osande blieb hartnäckig mit geringem Abstand hinter ihnen. Die Vegetation der Steppe wurde immer wilder und schon bald waren sie im Herzen der undurchdringlichen Wälder der Ebene. Schwärme kleiner Vögel stoben auseinander und wildes Geschrei der in den Baumwipfeln lebenden, affenartigen Geschöpfe wurde laut, als die beiden Gleiter vorbei flogen. Es wurde schon langsam dunkel, als sie das invertierte Gebirge erreichten.


Das flache Gebirge

Tubundo fließt eisblau aus den Quellen des Zarfetgebirges und rollt mit unaufhaltsamer Kraft durch die Uhube-Ebene. Diese Ebene ist dem Namen nach flach, aber trotzdem erstreckt sich tief verborgen im Zentrum ein Gebirge. Allerdings ragt es nicht hoch in den Himmel, sondern fällt in Tälern und Schluchten, in Rissen und Klüften, in Gruben und Gräben steil nach unten. Der Tubundo hat hier riesige Kalkablagerungen ausgespült und ein faszinierendes Naturschauspiel vor dem neugierigen Auge versteckt. Nur der Euros verrät dem Ankömmling, dass sich hier etwas verbirgt. Dieser ständig um diese Jahreszeit wehende Wind erzeugte ein Geräusch beim überstreichen dieser Vertiefungen, als würde man über Tausend Flaschenhälse blasen. Der Tubundo selbst hatte sich einige Hundert Meter tief in eine Klamm gegraben, um schließlich in einem unterirdischen See, tief im Gestein zu verschwinden. Hier lag, gut versteckt, das Labor von Gin Hazaget. Am Rande dieses gigantischen Sees gab es viele Höhlen und Vertiefungen, in denen große Bereiche zu wissenschaftlichen Zwecken ausgebaut waren. Kam man mit dem Fluss hinein getaucht, erreichte man zuerst den ältesten und verlassenen Abschnitt der Anlage. Das grünliche Licht erleuchtete zerbrochene Inkubatoren und alte Laborausstattung. Von Staub bedeckt lagen Kolben und Fläschchen verstreut. Einige Schlingpflanzen zogen ihre Bahnen von Inkubator zu Inkubator, hingen von Brüstungen und eroberten alte Rechen- und Stromversorgungsanlagen. Im Gegensatz zu diesem verwahrlosten Abschnitt, waren die übrigen Bereiche sterile, hochmoderne Labore mit Sicherheitsschotts, in denen bis vor kurzem kein unbefugtes Molekül zu finden war. Jetzt tummelten sich hier sieben Modifikanten und ein Mensch, die sich unerlaubter Weise Zutritt verschafft hatten. Von ihrem Besuch wussten sie noch nichts, aber die Sicherheitssysteme würden sie noch rechtzeitig informieren.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.02.2010

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