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Mira machte sich Sorgen um ihre neue Freundin. Sie hatte diesen wildfremden Jungen einfach mit ins Haus gebracht. Sie hätte gut verstanden, wenn er auf Rache für die vielen Toten Ketari aus war, von denen ihr Jubilee erzählt hatte. Sie schämte sich für Gungmar und sein Gefolge. Da waren die Hageten dabei in ein Zeitalter des Fortschritts und der Aufklärung auf zu brechen und irgendwie zum Trotz mussten die Torsch beweisen, wie sehr sie zurückgeblieben waren. Dennoch war in ihr ebenso die Neugier geweckt. Zum einen wollte sie die Ketari näher kennen lernen und zum anderen brachte er die von Jubilee gesuchten Informationen mit. Der junge Mann hatte sich als Ben vorgestellt und begann mit seinen Fragen. Er wollte alles über Jubilees Herkunft, ihre Reise und Suche wissen. Mira hörte nur mit einem halben Ohr hin, während Jubilee von der Erde, der Milchstraße, Krepi und ihrer Reise berichtete. Sie hatte das alles schon gehört und konzentrierte sich nebenbei auch noch auf ein paar Kleinigkeiten zum Knabbern, die sie aus Gastfreundlichkeit zubereitete. Mira gefiel dieser Ben. Er war höflich und intelligent und es entging ihr nicht, dass auch Jubilee diesen jungen Mann ansprechend fand. Ihre Körpersprache und die Intuition einer Frau ließen sich nicht von aufgesetzter Ironie und Ungeduld blenden. Ihre gespielte Feindseligkeit und seine unverhohlene Verehrung ließen Mira innerlich lächeln und es erinnerte sie an ihre Jugend. Sie war keineswegs die schüchterne Streberin gewesen, aber auch nicht unbedingt von Selbstsicherheit geplagt. Sie erinnerte sich an ihre Schwärmereien und an den Strudel der Unbekümmertheit jener Tage. Dann nahm ihre große Liebe immer mehr Raum ein. Die Liebe zur Wissenschaft. Nicht zu einer im Speziellen, sondern dem Erwerb von Wissen und die Faszination des Verstehens im Allgemeinen. Unmerklich hatte sie immer weniger Zeit und immer weniger Freunde. Sie sah ihren Freundeskreis von einst nur noch selten und immer weniger Menschen konnten ihren Gedankengängen folgen. Sie verstand sich nie als Genie oder Außergewöhnlich, bekam aber dieselbe Einsamkeit in aller Deutlichkeit zu spüren. Dann war Jubilee aufgetaucht und sie teilte denselben Wissensdurst, den aufgeweckten Verstand und die Suche nach einem Sinn und Zweck. Mira hatte immer gehofft, dass sie diesen Sinn ihres Lebens beim enträtseln der Geheimnisse des Universums finden würde und Jubilee bei der Suche nach ihres Gleichen. Sie beschlich ein Gefühl, dass die langersehnten Antworten auf ihre elementaren Fragen in diesem Raum, in diesem Kristall zu finden waren. Sie lag nur knapp daneben.


Der Sturm im Uhrglas


"Du glaubst also auf diesem Kristall den Verbleib der Menschen von Krepi zu finden?"

"Das hoffe ich zumindest. In den zurückgebliebenen Aufzeichnungen beschreibt man sie als unsterbliche, intelligente, fliegende Freunde der Jofaiden. Sie hatten Fähigkeiten wie ich sie besitze und waren zu noch viel mehr im Stande. Die Menschen unter denen ich aufgewachsen bin, ähneln sehr stark den Menschen auf Ketar, aber bei allen Unterschieden ist Krepi ihr gemeinsamer Brennpunkt, da bin ich mir sicher." Jubilee sprach mittlerweile völlig unbefangen, wahrscheinlich, weil sie in Bens Augen tief empfundenes Mitgefühl und aufrichtiges Interesse lesen konnte. Seine Spezies stammte ursprünglich eindeutig aus den Meeren von Ketar. In der erdrückenden Dunkelheit der Tiefsee vermochten diese klaren Augen Licht zu finden, wo es niemand sonst fand, zu absorbieren und an die nach Licht lechzende Umgebung aus zu strahlen.

"Erhoffst du dir Antworten oder eine Familie zu finden?"

"Irgendwie beides. Ich fühlte mich immer allein und verlassen. Vielleicht habe ich nie so richtig mich selber kennen gelernt, weil ich erst wissen wollte, warum man mich zurück gelassen hatte. Womöglich möchte ich mich gar nicht besser kennen lernen. Bisher gab es auch nichts mit dem ich mich an Stelle dessen hätte identifizieren hätte können, keine Gruppe der ich mich verwandt, zugehörig oder verpflichtet gefühlt hätte. Ich lebte vor mich hin, ohne Antworten und bis vor kurzem, sogar ohne Fragen. Dann entdeckte ich den Mond Krepi und womöglich so etwas wie eine entfernte Familie, wenn du es so nennen willst."

"Hast du nicht einen Bruder erwähnt. Ist er nicht deine Familie?"

"Schon, aber er hat ebenso wenig Antworten zu bieten und findet sich damit ab. Er verarbeitet seine Identitätslosigkeit in dem er sich isoliert und mit sich selbst zu frieden ist. Ich weiß nicht, ob er wirklich mein leiblicher Bruder ist; wir teilen unsere Andersartigkeit, aber darüber hinaus haben wir nicht viel gemeinsam."

Ben dachte über seine Familie nach und wie er ohne Honta nicht vollständig wäre. Während dessen trat Mira ins Zimmer, stellte die Schüsseln auf den Tisch und setzte sich zu Jubilee.

"Und? Wie weit seid ihr? Hat dir Jubilee schon erzählt, wie sie das mit dem Fliegen macht?"

Ben schaute sie verwundert? "Nein, würde mich aber auch interessieren."

"Oh, das ist ganz einfach. Sie hat mir gesagt, dass sie hinfällt und den Boden verfehlt."

Etwas entgeistert blickte er zwischen Jubilee und Mira hin und her, doch bevor er begriff, brachen die beiden schon in schallendes Gelächter aus.

"Tut mir Leid, Ben. Ich hab genau so dumm ausgesehen, als ich diese Antwort bekam und wollte nur sicher gehen, dass ich nicht die einzige bin, die diesen merkwürdigen Erdenhumor nicht versteht."

Ben musste ebenfalls lachen und es störte ihn nicht, dass sie über ihn lachten. Es gefiel ihm, dass sie ihm vertrauten und schon eine Art freundschaftliches Verhältnis in dieser kurzen Zeit aufgebaut hatten. Mira war zu Bens Überraschung das komplette Gegenteil der Torsch. Sie war weder ignorant, arrogant oder aggressiv. In ihren Regalen standen unzählige Bücher, die meisten hatte sie selbst geschrieben und handelten zu Bens Freude unter anderem auch von Astronomie. Sie sprach die Sprache der Alten fließend und hatte zwar auch einen kleinen Akzent, aber einen äußerst liebenswürdigen. Er fühlte sich wohl und bemerkte, dass Jubilee sich ebenfalls immer mehr entspannte. Als er sie jetzt betrachtete fiel ihm auf, dass sie von dem ausgelassenen Lachanfall wesentlich erschöpfter war als Mira. Anscheinend bereitete das Lachen ihr viel Mühe und er wunderte sich, ob sie einfach nur selten Gelegenheit zum Lache hatte. Sie griffen sich jeder eine Schüssel, jede gefüllt mit verschiedenen Nüssen und getrockneten Früchten und sahen Jubilee erwartungsvoll an. Die kleine kristallene Pyramide lag auf dem Tisch und die Vorführung konnte beginnen.

"Also, Juby", meinte Mira, "Worauf wartest du noch? Du hast gesagt du kannst uns zeigen, was auf diesem Kristall gespeichert ist." Sie vergewisserte sich noch bei Ben, dass er ebenfalls einverstanden war und vorerst keine Fragen mehr hatte. Jubilee rückte den Kristall zurecht und erklärte kurz, dass sie nur Bilder sehen würden und telepathisch die Erzählung verfolgen konnten, aber sie versicherte Mira, dass sie ihr die wichtigen Einzelheiten vortragen würde. Sie richtete ihre Hand auf den Kristall und modulierte einen Laser solange, bis sie eine farbechte Holographie von Krepi über dem Tisch erscheinen sahen. Das Bild fokussierte ein eintreffendes Raumschiff und vergrößerte in die Landezone. Die Aufzeichnung präsentierte einen begeisterten Inidi. Jung und dynamisch berichtete er von seiner Entdeckung. Er hatte eine Welt gefunden, die im Begriff der Hominisation war. Das genetische Material dieser Rasse war weitestgehend mit den Jofaiden kompatibel und man erhoffte sich damit die allgemeine Sterilität der Jofaiden beheben zu können. Er hatte einige Proben in Form von Frühmenschen mitgebracht und sie den Genetikern zur Verfügung gestellt. Die Eintragungen wurden von Gin und Bondise fortgeführt und im Zeitraffer sah man die Ergebnisse ihrer Bemühungen. Der Mensch entwickelte sich vor den Augen von Mira, Jubilee und Ben vom primitiven Säugetier zur aufrecht gehenden Spezies. Die Gruppe der Versuchsmenschen wuchs, als Inidi von weiteren Besuchen von der Erde zurück gekommen war und die Labormenschen sich anfingen zu vermehren. Das Projekt wurde "Der zweite Anfang" genannt und bald bezogen hunderte Menschen in Krepi ein eigenes Quartier. Fortschritte in Kommunikation, komplexem Denken, Telepathie und anderen Merkmalen einer hochentwickelten Spezies wurden gefördert durch genetische Optimierung und Implantierung. Von Generation zu Generation wurden sie den Jofaiden immer ebenbürtiger und begannen schon bald, dabei mit zu helfen, ihre Entwicklung zu beschleunigen. Als Gin und Bondise sich an ihrem Ziel wähnten, unternahmen sie Versuche die eigene Sterilität durch das mittlerweile 95% kompatible, menschliche Fruchtbarkeitsgen zu beheben. Der Erfolg ließ lange auf sich warten und die Menschen nutzen ihre neugewonnen Fähigkeiten um nach zu hohlen, was sie in der Evolution übersprungen hatten. Sie waren wissbegierig und erkundeten zuerst ihre neue Heimat und kurz darauf den Weltraum. Sie besahen sich die Erde und staunten ehrfürchtig über die Metamorphose, welche sie innerhalb von Monaten erlebt hatten und welche den anderen Menschen, ihren Verwandten, erst in einigen Jahrtausenden bevor stehen würde. Sie gründeten schon bald Kolonien auf verlassenen oder unbewohnten Planeten, jedoch fernab ihres ursprünglichen Sonnensystems. Dies war die einzige Auflage der Jofaiden. Die Menschen auf der Erde sollten ohne Eingriffe von Außen sich weiter entwickeln. Wahrscheinlich wollten sie sich aber auch eine Reserve sichern, falls sie bei dem Fruchtbarkeitsgen noch Mal von vorn anfangen müssten. Die Menschen bauten auf dem unermesslichen Wissen der Jofaiden immer weiter auf und überflügelten diese innerhalb der nächsten Jahrhunderte. Sie gründeten ihre eigenen Forschungseinrichtungen, erschufen ausgefeilte Maschinerien zum Terraforming, zur Kommunikation, zur Fortbewegung durch Teleportation und Energiegewinnung. Ihre Erfolge wurden von den Jofaiden mit dem Stolz zufriedener Eltern betrachtet und lange Zeit mit Wohlwollen gefördert. Doch die Menschen ignorierten die Probleme der Jofaiden und experimentierten selbst an ihrem Genom. Sie befanden sich im Rausch der nicht abreißenden, neuen Erkenntnisse und taumelten von Entdeckung zu Entdeckung, immer weiter, immer mehr. Irgendwo unterwegs war den Jofaiden aufgegangen, dass sie bei der Veränderung und beschleunigten Entwicklung der Menschen vergessen hatten, ihnen Werte und Moral zu vermitteln Die Menschen waren in dieser Beziehung auf sich allein gestellt gewesen und kannten nur noch das Streben nach mehr ohne Sinn und Verstand. Sie kannten weder ethische Skrupel bei ihren Experimenten, noch Bescheidenheit bei ihren Vorhaben. Kurzum, sie verfielen dem Größenwahn. Sie waren selbst mittlerweile so unsterblich wie die Jofaiden und man vermutete sogar wesentlich intelligenter als ihre Schöpfer. Das Gerücht hält sich hartnäckig, dass wäre in den Menschen ein Funke Mitgefühl oder Dankbarkeit zu finden gewesen, dann wäre die Sterilität und somit das sichere Ende der jofaidischen Zivilisation längst als ein amüsanter Aspekt in die Geschichtsschreibung von Krepi eingegangen. Doch sie kümmerten sich herzlich wenig um ihre Zieheltern und hofften Erfüllung in kosmischer Ordnung und Perfektion zu finden. Der Kristall schilderte ihre Odyssey durch die Weiten der subatomaren Welt. Ihr Studium der Elementarteilchen und ihrer Handhabung, Erschaffung und Eigenschaften ließ ihren Hunger nach Energie von Dekade zu Dekade ins Unendliche anwachsen. Die Fusionsenergie der Jofaiden bot ihnen nicht mehr genug Energiedichte und sie lechzten nach mehr, immer mehr. Die Aufzeichnung zeigte die Denkmäler menschlicher Errungenschaften in der Wissenschaft und wurde in dem folgenden Punkt etwas vage. Offensichtlich verloren die Jofaiden immer mehr von ihrer Verbindung zu den Menschen. Sie wussten nur wenig über ihre momentanen Unternehmungen und hatten nur rekonstruieren können, was passiert sein muss. Der Bericht auf dem Kristall vermutete, dass die Formlosen geweckt wurden. Wie die Menschen das Interesse der Wächter der Galaxien auf sich gezogen hatten, war unklar. Einige der Jofaiden meinten die Arroganz der Menschen hätte den Zorn der Formlosen erregt, andere glaubten, dass die Wächter durch den unübertroffenen Fortschritt der Menschen neugierig geworden sind. Eindeutig konnte nur das Resultat festgehalten werden. Die Menschen hatten den Formlosen der Milchstraße geweckt. Er war aus seinem Schwarzen Loch gekommen und hatte Krepi zerstört. Da die Formlosen in den von uns wahrnehmbaren Dimensionen keine Gestalt annehmen - daher Formlose - ließen sich die apokalyptischen Ereignisse nur schwer verfolgen. Die Menschen bemühten noch irgendeine Art Verteidigungsmaßnahme, doch Krepi befand sich unwiderruflich im Zentrum einer mehrdimensionalen Explosion. Die letzten Bemühungen hatten die komplette Annihilation der Jofaiden und Menschen auf Krepi verhindert, doch der Planet war aus seiner Bahn geworfen worden. Der Kern und ein Großteil der Planetenmasse hatten sich um die Stadt gestülpt, sodass sie sich, geschützt von einem Kokon aus grünlichem Kristall, nun im Inneren der Überreste von Krepi befand. Irgendein anderer massereicher Planet hatte den aus der Bahn geworfenen Himmelskörper dann wieder eingefangen und so war aus Krepi ein Mond geworden. Der Jofaiden berieten sich. Der Schock stand allen in die schwarzen Augen geschrieben, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre Heimat zu verlassen und sich einen neuen Planeten zum Besiedeln zu suchen. Doch die Menschen waren ihr Werk und ihre Schuld. Sie hatten sie in diese Situation getrieben und ihr Verlangen nach mehr, immer mehr, lag in der Verantwortung ihrer Schöpfer. Man beschloss die Entwicklung rückgängig zu machen, um nicht erneut den Unmut der Formlosen zu riskieren. Es gab inzwischen einige Hunderttausend Menschen. Die Jofaiden suchten alle Kolonien auf und integrierten ihnen ein Gen zur Rückentwicklung. Es verminderte ihre geistigen Fähigkeiten und ihre Lebensdauer wieder auf den Stand jener Frühmenschen, die Inidi auf der Erde gefunden hatte. Die Sterilität nahmen die Jofaiden als ihr Schicksal an, denn ihr Versuch der Behebung hatte in einem Desaster geendet. Die Katastrophe von Krepi hatte zusätzlich vielen Jofaiden das Leben gekostet und wäre beinahe der Untergang ihrer Zivilisation gewesen. Der Kristall machte wieder einen Zeitsprung. Die letzte Kolonie der Menschen war in einer weitentfernten Galaxie. Alle übrigen Menschen hatte man nach Umkehr der Evolution wieder zurück zur Erde gebracht, doch diese degenerierten Menschen lebten mittlerweile friedlich in einer primitiven Gesellschaft mit den Ureinwohnern. Der Planet war schön und bot den Jofaiden Frieden und Erholung. Man beschloss hier die neue Heimat der Jofaiden auf zu bauen und konnte gleichzeitig die Menschen im Auge behalten, sozusagen als Kontrollgruppe. Man würde ihre natürliche Entwicklung beobachten und, falls nötig, einen Eingriff hier und auf der Erde tätigen. Die Aufzeichnung endete mit einem Blick auf den Zufluchtsort. Alle erkannten Ketar und sein Anblick hing wie ein böser Schatten im Raum, während er gleichzeitig aus dem Fenster in Miras Haus zu sehen war. Mit den nur telepathisch hörbaren Worten "...und sie nannten diese Welt Ketar" erlosch der Kristall und Stille umarmte die fröstelnden Zaungäste.


Die Formlosen


Jubilee unterbrach das kontemplative Schweigen.

"Sprich, welch’ stolzen Namen führst Du in der Nacht pluton’schem Heer?
Sprach der Rabe: "Nimmermehr"."

"Wie bitte?", erkundigte sich Ben und auch Mira blickte sie fragend an.

"Ach nichts, aber es hat mich an dieses antiquierte Gedicht erinnert. Das alte jofaidische Wort "Ketar" bedeutet wörtlich übersetzt "Nimmermehr". Ich glaube, sie wollten diesen Ort als lebendiges Mahnmal für Krepi gestalten und haben irgendwann begonnen sich hier heimisch zu fühlen."

"Hast du nicht gesagt, dass du von der Erde stammst?", fragte Ben nach dem er wieder ein bisschen mehr der neuen Informationen verdaut hatte. "Aber dorthin wurden doch alle Menschen von Krepi wieder zurück gebracht. Ihre Entwicklungsstufe wurde zurückgestellt und demnach ist deine gesuchte Familie die ganze Zeit auf der Erde gewesen, aber dich dürfte es eigentlich gar nicht geben." Es sprudelte einfach aus ihm heraus. Ben machte sich keine Gedanken über Reinfolge und Sinn seiner Aussage, so viel Zeit hatte er noch nicht gehabt, aber eine Konsequenz dämmerte allmählich in seinem Kopf herauf. "Das bedeutet, dass du immer noch nicht weißt, was es mit deiner Herkunft und deinem Zweck auf sich hat. Tut mir Leid, Jubilee."

"Danke, Ben, aber ich weiß wieder ein paar Details mehr und aufgeben werde ich deswegen noch lange nicht. Mich beunruhigen ein paar andere Dinge. Ich glaube, wenn Gungmar das hier hören und würde, dann sehe er sich bestätigt in den Anschuldigungen die er gegen die Jofaiden vorgebracht hat. Eure großen Vorbilder haben den Menschen tatsächlich ihre Unsterblichkeit genommen und ich wette, dass sie sicher gestellt haben, dass sich das auch nicht all zu bald wieder ändern wird."

"Aber sie haben doch einfach nur den anfänglichen Stand der Entwicklung wieder hergestellt", warf Ben ein, "und außerdem taten sie es doch, um die Menschen und alle anderen Lebewesen vor den Formlosen zu schützen."

"Das bereitet mir ebenfalls Kopfzerbrechen. Wer sind diese Formlosen und was war der Grund dafür, dass sie die Menschen auslöschen wollten? Wenn dieser Bericht auf dem Kristall den Tatsachen entspricht, dann gibt es sie immer noch irgendwo da draußen und das gesamte Drama könnte sich jederzeit wiederholen."

"Als du vorhin dieses Gedicht zitiert hast, musste ich auch an eines Denken." Mira hatte die ganze Zeit nur auf den Kristall gestarrt und seither ihren Gedanken keine Ruhe gegönnt. Jetzt richtete sie den unbewegten Blick durch eine langsame Drehung ihres Kopfes auf Jubilee. "Der Schöpfungsmythos der Hageten hat die großen Sonnentrommeln zum Hauptthema. Durch ihre Musik soll unsere Welt erschaffen worden sein. Diese mächtigen Sonnentrommeln werden von den Wächtern oder Formlosen gespielt." Schwermütig begann Mira zu rezitieren.

Leise klingt es ohne Pomp
Wiegend nur die Melodie
Sacht und schlicht unhörbar fast
Ohne Knall und Explosion

Ohne Anfang ohne End
Unbemerkt verzaubernd klingt
Was beschienen jenes Licht
Das schon schien an andrem Ort

Orte ohne Zahl und doch
Einzig und einmalig
Jeder kennt die ersten Stunden
Klar besungen seit Äonen

Horcht es hebt der Rhythmus an
Mächtig schwingt der tiefe Ton
Sendet dort auf Wellen fort
Was er braucht zum Bau der Welt

Jene die vorangegangen
Lädt es ein sich einzubringen
Und aus Thema wird Musik
Wie aus Teilen Ganzes wird

So befreit sie was gebunden
Variiert der Zeiten Sog
Was zuvor war undurchdringlich
Gibt erneut die Quelle preis

Und so gründen sie und formen
Bauen teilen und verschönern
Einig unter seiner Hand
Der sogleich und vorher ist

Alles lässt er harmonieren
Fördert Freiheit und Akkord
Und so kommt es dass die Welt war
Tief verbunden doch allein




Der Eindringling


Asrael sollte eigentlich mit seinen Männern (und Frauen) die Höhlen durchsuchen. Der Kurator wollte unbedingt diesen Kristall haben und am Besten auch noch denjenigen, der ihn entwendet hatte. Doch er hatte die sechs übrigen Modifikanten unter der Leitung von Michael alleine losgeschickt. Eine Suchaktion war unter seiner Würde und er hatte wichtigere Probleme. Er ließ seinen Blick durch die buntverglasten Scheiben der Sternennadel über Hantikor schweifen. Das Prytaneion bot sich ihm als Fixpunkt und er schaltete hintereinander seine übrigen Sinne ab. Zuerst blendete er die Geräuschkulisse im Saal aus. Die Wissenschaftler um ihn herum waren nur noch Stummfilmakteure und Pantomimen. Ihre Unterhaltungen, ihr Geraschel und Gescharre verstummten. Als nächstes schaltete er seinen Geruchssinn aus. Die Ausdünstungen angestrengter Kopfarbeit und die Chemikalien der Labore belästigten ihn nicht mehr. Nun sagte er auch seiner "Spur" Lebewohl, denn wo er hin ging, würde sie ihn nur ablenken. Als letztes verschwand alles aus seinem Sichtfeld, was er dort nicht haben wollte. Zuerst die Wolken, dann die Straßen, die Bäume, die kleineren Wohnhäuser, die größeren Bürogebäude, die Berge und die umher fliegenden Fahrzeuge der Stadt. Zuletzt blieb nur noch das Prytaneion und mit einem letzen gedanklichen Zwinkern war auch dieses verschwunden. In absoluter Schwärze ersetzte sein genetisches Abbild die verschwundene Landschaft. Erneut machte er sich auf die Jagd nach diesem frevelhaften Makel, der an seinem Gesamtkunstwerk nagte. Er konnte dessen Spuren deutlich erkennen. Es zersetzte, beschädigte und ruinierte seine Struktur, seine harmonische Geometrie, seine Zellen und Fähigkeiten. Die Zeichen waren eindeutig, doch jedes Mal, wenn er glaubte es gefunden oder eingekreist zu haben, war es wieder unauffindbar. Inzwischen war sich Asrael sicher, dass sich hier jemand große Mühe gegeben hatte, ihn zu zermürben und von innen heraus außer Gefecht zu setzen, ohne dass es jemanden auffallen sollte. Ganz besonders hatte dieser Schädling bei der Reproduktionsfähigkeit seiner Zellkerne gewütet und nur unter großem Aufwand war es Asrael gelungen mit Hilfe der jofaidischen Inkubatoren seine DNA zu kitten, bevor sie ihre Integrität gänzlich verloren hatte. Es war ein regelrechter Anschlag auf seine Person, dessen war er sich sicher. Er versuchte ein Muster in der Fortbewegung seiner Beute aus zu machen, doch sie bewegte sprunghaft und willkürlich. Eine Weile betrachtete er wieder seine Gene. Er brauchte keine Vorlage mehr, denn in der Zwischenzeit kannte er seine Sequenzen auswendig und hatte ein Gespür für die verborgenen Vorgänge auf zellulärer Ebene entwickelt. Er war sich jeder Basenpaarung seines Körpers bewusst. Er registrierte jede Zellteilung, jede Mutation und jede Regeneration. Der Eindringling konnte sich unmöglich länger vor ihm verbergen. Er machte sich bewusst, dass er die Summe seiner Zellen war und somit in dieser Richtung sein Ich nicht auf rationale Denkweise beschränken musste. Er war hier Gott. Allgegenwärtig und mit einer Ausnahme allwissend. Er würde hier keine Spürhunde benötigen, sondern konnte seine Fühler in alle Richtungen gleichzeitig ausstrecken. Es dauerte seine Zeit und erforderte seine volle Konzentration, doch endlich gelang es ihm. Erst sah er einen zweiten Asrael durch die Zellen pirschen, dann einen dritten vierten und fünften. Jeder von ihnen nahm weitere Manifestationen seines Ichs wahr und bald erweiterte sich seine innere Wahrnehmung auf gewünschte Allgegenwärtigkeit. Asrael erkannte den Schädling nicht gleich, als er ihn sah. Molekulare Mimikry verbarg ihn vor den wachsamen Augen seines Verfolgers. Erst, als er das Endprodukt eines Ribosoms unter die Lupe nahm fiel ihm die Differenz auf und er besah sich das beteiligte Enzym genauer. Bevor auch nur eine Synapse ein verräterisches Signal zu viel abfeuern konnte, versiegelte er den betroffenen Zellverband und besah sich die provisorische Quarantänestation. Er schob da ein endoplasmatisches Reticulum nur weit genug zur Seite, um einen besseren Blick zu erhaschen und erkannte die synthetischer Struktur mit integriertem Quantenprozessor, der dem Schmarotzer offensichtlich zu künstlicher Intelligenz verhalf. Er warf ihm eine modifizierte Folge von Basen zu, ein Köder, der den Eindringling unbemerkt ein paar zusätzliche Eigenschaften hinzufügte. Die parasitäre Struktur koppelte an seine Falle an und verstand die eingehenden Befehle ohne Probleme. Viel wusste der elementare Prozessor nicht zu berichten, aber der selbstverliebte Entwickler seiner Subroutinen hatte ihn signiert. Kettenmoleküle aus Phosphor-Nanostäbchen formten auf einer inaktiven Struktur den Namenszug "Bondise".

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Tag der Veröffentlichung: 04.02.2010

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