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Nach dem Besuch des Kurators in der Sternennadel, war die Stimmung wie auf einer Geburtstagsfeier. Manische Ausgelassenheit und leichte Verunsicherung, da die Ehrengäste sich offensichtlich verirrt hatten.

Hantikor war unfreiwilliger Gastgeber der Überraschungsparty und der Kurator wollte in letzter Sekunde noch ein angemessenes Programm auf die Beine stellen.

Mit dieser Aufgabe bedachte er die Forscher in der obersten Etage der Sternennadel. Danach verabschiedete er sich so schnell, wie die Invasoren gekommen waren. Offensichtlich arbeitete das Observatorium an einer ersten Defensivmaßnahme und der Kurator rief dem unbeschlagenen Krisenstab noch im Gehen zu, dass er sie über die Fortschritte der Eindämmungsfelder auf dem Laufenden halten werde.
Konfrontiert mit der ersten praktikablen Aufgabenstellung ihrer gesamten Laufbahn waren die anwesenden Wissenschaftler offenkundig überfordert. Eine theoriebezogene Problematik kennt keine zeitkritische Tagesordnung. Die allgemeine Ratlosigkeit war beinahe greifbar und drohte zur absoluten Handlungsunfähigkeit auszuwachsen.


Kurz vor der Finsternis ist es immer am dunkelsten


Um weniger aufzufallen hatte Honta sich einen der herumliegenden Kittel übergezogen und dachte nun bereits seit geraumer Zeit über die Situation nach. Hier saß er nun, ein kleiner Kurier, im Dachgeschoss von Hantikor. Während die Abenddämmerung draußen langsam der milchigen beinahe Dunkelheit einer Großstadt wich, konnte Honta sich nicht so richtig erklären, wie es soweit gekommen war. Um ein Haar hätte er an Schicksal geglaubt und erahnt, was es mit ihm vorzuhaben schien. Doch diesem Gedankengang wusste er schon seit seiner Kindheit erfolgreich den Weg in die Manifestation zu versperren. Fast sein ganzes Leben dräute ihm eine Begegnung mit einem mythischen Feind. Ängste, Befürchtungen oder dunkle Vorahnungen? Er war diesem Gebilde nie zu seiner Quelle gefolgt, aus Angst, dass ihn eine unaufhaltsame Finsternis findet und überwältigt. Ben hatte ein Gespür für die Gemütslage seines menschlichen Freundes. Er war es, der ihn mit immer neuen Abenteuern von seiner Trübsal ablenkte. Honta stellte sich zahllosen Facetten seines persönlichen Phantoms - die Sorge einmal macht-, mittel- oder willenlos in Mitten der Krise zu versagen. Ob dieser dunkle Feind außerhalb, in seinem unmittelbaren Umfeld oder in den Tiefen seiner Seele zu finden wäre, wagte er sich nicht auszumalen. Eine Myriade an äußeren Konstellationen hatte Ben erdacht und mit ihm zusammen gemeistert. Sie hatten Aliens, interstellare Desaster (Supernovae, Schwarze Löcher, Meteoriten) und das unabwendbare Schicksal ein ums andere Mal bekämpft, oft beinahe gescheitert und letztendlich immer obsiegt.
Nun brach mit kalter Unwirklichkeit die Realität in seine Tagträume - oder waren seine Tagträume dabei, sich an die Oberfläche der Wirklichkeit zu drängen?
Wie es auch sein mochte - die Gegenwart ein wenig surreal, die Vergangenheit Vorbote einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung - hier und jetzt saß Honta bei den Leuten, die sich mit einem Problem befassten, das er schon (zugegebener Maßen fiktional, aber nichtsdestotrotz) hunderte Male gelöst hatte. Wissenschaftler, die sich bis dato ausschließlich mit astronomischen Feinheiten des Gemini-Sonnensystems beschäftigt hatten, waren mit den Finessen von Superwaffen, Ablenkungsmanövern und Heldentaten einfach zu wenig vertraut. Mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit stammte die Idee der Kraftfelder (wie blöd "Eindämmungsfeld" auch schon klang, musste es ein Wortkonstrukt des Kurators sein) von Ben und das ließ Honta aufatmen. Er wusste seinen Freund an seiner Seite, er hatte ihn gehört, als dieser vor lauter Überraschung die Fremden begrüßte und nun war er mitten drin in einem seiner eigenen Abenteuer. Honta, allerdings, saß noch am Spielfeldrand, na gut, eigentlich mittendrin, aber trotzdem nur als Beobachter.


Die Stimmung im großen Dachgeschoss der Sternennadel wankte ein wenig in Richtung Ordnung. Irgendjemand hatte sich seiner analytischen Fähigkeiten besonnen und die Gruppe von etwa 2 Dutzend Forschern aufgefordert sich in Gruppen zu Organisieren. An einer hastig freigewischten Tafel wurden die Wörter "Momentaner Status", "Mond", "Mögliche Implikationen" und "Maßnahmen" von den Resten der elliptischen Laufbahn des achten Planeten samt Trabanten eingerahmt.

"Welches ist ihr Spezialgebiet, Kollege?"

Honta schreckte auf, als er unvermittelt von einem "Kollegen" angesprochen wurde. Er schaute sich um, musste über die Tafel lächeln (typisch Eierköpfe - chaotisch, aber eine Alliteration musste es sein) und antwortete seinem Gegenüber ohne nachgedacht zu haben: "Genetik."

"Tja, keine Ahnung in welcher Gruppe sie da am Besten aufgehoben wären."


Die Ehrengäste


Während der mobile Invasionstrupp immer tiefer in den Tempel der Jofaiden vordrang, schlummerte die Lagerwache beim Raumschiff der Achaten. Die Erschöpfung einer anstrengenden Reise hatte über die Vorsicht von zwei Achaten gesiegt und der Dritte war kurz davor eine Niederlage hinzunehmen. Diese jämmerlichen Ketari hatten ohnehin schreiend das Weite gesucht, also wozu quälen, wenn die Bewegungsmelder ihn sowieso schrillend wecken würden, wenn ein neugieriges Opfer sich auf 500 Meter näherte.

Das vermeintliche Opfer brauchte sich allerdings auf nicht einmal 30000 km annähern. Auf einer geostationären Umlaufbahn richteten sich drei der neun Satelliten des Meteoritenwarnsystems neu aus. Ihr gemeinsamer Brennpunkt lag direkt in der Suppenschüssel des wachhabenden Achaten und ehe diesem die Augen gänzlich zufallen konnten, nahm er ein kurzes Aufleuchten der Luft war. Wie ein großes Tuch hatte die Luft, nur wenige Meter von ihm entfernt, Licht reflektiert oder von selbst geleuchtet. Er musste es sich eingebildet haben, war aber trotz dieser beruhigenden Erkenntnis wieder hellwach. Daraufhin beschloss er sich die müden Beine zu vertreten, um seinen Kreislauf ebenfalls aufzuwecken und machte sich mit seiner Laterne auf den Weg. Im vorbeigehen hörte er seine Gefährten arglos schlafen und patrouillierte weiter entlang des Raumschiffs. Alles in bester Ordnung und doch hatte er unterbewusst irgendeine Veränderung wahrgenommen, die ihn nun mit einem wachsamen Blick die Umgebung mustern ließ. Nichts. Hatte er vielleicht etwas Verräterisches gerochen? Nachdem er ein paar Mal in verschiedene Richtungen geschnuppert hatte, war er überzeugt, dass es das auch nicht gewesen sein konnte. Es war absolut windstill und außer dem Geruch des Lagerfeuers, von dem jetzt nur noch die Glut übrig war, wurden keine sonstigen Aromen an seine Nase getragen. Er ging weiter und wollte sich das Lager aus einiger Entfernung ansehen. Windstill? Hatte vorhin nicht noch ein steter Luftstrom geweht? Wahrscheinlich ein Wetterumschwung, der ihn geweckt hatte. Mit dieser fadenscheinigen Erklärung zufrieden, knallte er mit voller Wucht gegen das Kraftfeld. Sein Nasenbein knirschte und ihm wurde augenblicklich schwarz vor Augen. Das weckte auch den schlafenden Teil der Lagerwache und ließ sie mit gezogenen Waffen zu ihrem Kameraden eilen. In der Verfolgung eines imaginären Ketari senkten sie kurz im vorbeilaufen die Blicke auf den Bewusstlosen, was ihnen eine gebrochene Nase ersparte. Beide stießen mit Knie, Waffe und Kopf gleichzeitig gegen die unsichtbare Barriere und fielen benommen zu Boden.
Der eine hatte sich eine dicke Beule an der Schläfe zugezogen, der andere an der Stirn.

Schläfenbeule setzte sich auf und besah sich mit großäugiger Ungläubigkeit die Lage. Stirnbeule rollte sich auf alle Viere und verharrte in dieser Position um seine Kräfte zu sammeln. Der Bewusstlose atmete zumindest regelmäßig und nun suchte Schläfenbeule wieder die Umgebung nach ihrem Angreifer ab. Mit der Waffe im Anschlag konnte er trotz einem leuchtenden Nachthimmel niemanden ausmachen. Ein Warnschuss, schräg nach oben, kam unaufgefordert zurück und riss einen kleinen Krater direkt neben sein rechtes Bein. Er stand vorsichtig auf und tastete sich langsam vorwärts bis seine Hand auf einen Widerstand stieß. Es war weder kalt noch warm, glatt oder rau, hart oder weich. Es ging einfach nicht weiter. Auch Stirnbeule stand jetzt neben ihm und wunderte sich über die Blockade. Als würde sein Arm ab einer bestimmten Stelle den Dienst quittieren und dann sahen sie beide plötzlich zwei Personen aus dem Schatten treten.


Das Verhör


Ben war ein Husru und besorgter Praktikant. Selbstverständlich hätte er niemanden sonst sich in diese gefährliche Lage begeben lassen, schließlich war es ja seine Idee gewesen. Dennoch war er froh, dass Osande als sein Mentor die Verantwortung trug und ihn begleitete. Die Computer hatten eine erfolgreiche Initialisierung bestätigt, aber trotzdem war es das erste Mal, dass ein Traktionsfeld auf diese Weise genutzt wurde und es gab keine Garantien, dass es auch halten würde. Natürlich gesellten sich auch Neugier und Aufregung zu seiner Besorgnis, denn schließlich war dies ein wahr gewordener Traum. Nun gut, die Achaten kamen nicht um Hilfe zu ersuchen und sahen seinen erdachten insektoiden Lebewesen nicht einmal im Entferntesten ähnlich, aber er würde tatsächlich als erster offizieller Vertreter von Ketar mit ihnen in Kontakt treten.
Osande und Ben hielten sich hinter einer üppigen Baumgruppe versteckt und warteten auf einen Hinweis für das einwandfreie Funktionieren des Kraftfeldes.
Ben hätte beinahe an diesem schrecklichen Ort (wo bis vor kurzem noch über Hundert Leichen anderer Ketari gelegen hatten) laut aufgelacht, als er sah, wie der erste Achat völlig ahnungslos gegen das Kraftfeld krachte. Bei Achat Nummer zwei und drei war es auch nicht besser, eher noch lustiger. Mit ihrem frappierten Gesichtsausdruck hätten sie Ben beinahe geschafft, doch Osande hieß ihn mit einem strafenden Blick schweigen. Sie liefen gemächlich auf die kleine Gruppe zu, als Ben ein plötzliches Entsetzen auf dem Gesicht des Achaten mit einer Beule auf der Schläfe erkannte. Die Sekundenbruchteile dehnten sich zu einer schrecklichen Zeitlupe, Ben folgte dem Blick von Schläfenbeule und erriet was Stirnbeule vorhatte. Doch bevor irgendjemand diesen hätte warnen, geschweige denn aufhalten können, feuerte Stirnbeule und wurde im selben Augenblick vom schräg nach unten versetzten Querschläger in den Magen getroffen und nach hinten geschleudert.

Reine Bestürzung stand in Osandes Augen geschrieben, da er Zeuge seines ersten Selbstmordes wurde. Es sollte nicht sein letzter sein.

"Nicht schießen!", brüllte Ben, "Ihr befindet euch in einem geschlossenen Kraftfeld."

Bens anfängliche Belustigung war in tiefempfundene Besorgnis umgeschlagen und er würde sich auch für diesen toten Achaten die Schuld geben, wie er schon mit deren Opfern getan hatte.
Als sie die beiden noch lebenden Achaten fast erreicht hatten, verlangsamten sie wieder ihren Schritt und hielten einen angemessenen Abstand, um nicht das Los der gebrochenen Nase zu teilen.

"Bitte nicht mehr schießen.", flehte Ben und hob beschwichtigend seine Arme. "Ihr seid in einem Kraftfeld gefangen, in einem Käfig. Wir wollen nicht noch mehr Tote, sondern einfach nur Reden."

Ben wusste nicht, ob Schläfenbeule ihn verstanden hatte, aber während der Bewusstlose allmählich wieder zu sich zu kommen schien, lief sein Kamerad zu Stirnbeule und befand ihn für tot. Daraufhin kam er mit gestreckter Hand zu Ben und Osande zurück. Er begann entlang des Kraftfelds zu laufen, indem er eine Hand über die Barriere streifen ließ. Erst langsam und dann immer schneller und da das Kraftfeld in Form einer Kuppel über den Achaten lag, beschrieb er im Laufen einen Kreis und kam nach kurzer Zeit wieder bei seinem Ausgangspunkt. Der Kreis hatte einen Durchmesser von ca. 50 Metern, vielleicht etwas weniger, und umschloss das komplette Lager samt Raumschiff. Ben ging immer noch davon aus, dass sie die Sprache der Ketari nicht verstanden und holte seinen Computer heraus, um sich mittels Piktogrammen zu verständigen, als sich Schläfenbeule an Osande wandte:

"Lasst uns unverzüglich frei!"

Seine Stimme klang ruhig, aber überzeugt, sein Akzent ein wenig verspielt.

"Ich heiße Ben und dies ist mein Mentor Osande. Ihr habt uns angegriffen und befindet euch nun in unsere Gewalt, daher stellen wir hier die Forderungen. Wer also seid ihr?"

Das wollte Ben schon immer einmal sagen. Es war, als ob er Teil seines eigenen Theaterstücks geworden war. Der Achat funkelte Osande immer noch finster an, wandte dann aber langsam den Kopf zu Ben. Er besah sich den jungen Husru und bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. Er überlegte noch eine Weile bis er schließlich wieder sprach.

"Mein Name ist irrelevant. Mein Klan, die Torsch, sind hier in einer bedeutenden Mission für unseren Heimatplaneten und wenn ihr uns nicht gehen lasst, werden wir nicht nur die Jofaiden stürzen, sondern auch noch euer Volk auslöschen, was immer ihr auch sein möget."

"Was ist das für eine Mission und woher kennt ihr unsere Sprache?"

Ben hatte noch Tausend andere Fragen, doch er beschränkte sich vorerst auf diese. Woher kannten sie die Jofaiden, jedoch nicht die Husru? Wieso wollten sie die Jofaiden stürzen? Wo hatten sie das nötige Wissen für die bemannte Raumfahrt und diese Waffen erlangt? Irgendwie passte ihr primitives Erscheinungsbild nicht zu dem Stand ihrer Technologie.

"Wir haben unsere Quellen und unsere Mission wird sich euch noch früh genug offenbaren. Ich rate euch allerdings, nicht mehr hier zu sein, wenn meine Männer zurückkommen. Sie werden diesen Käfig zerstören und euch töten."

Mit diesen Worten ließ er Ben und Osande stehen, hob seinen immer noch aus der Nase blutenden Kameraden auf und trug ihn ins Raumschiff.

"Ich glaube, wir sollten gehen", sagte Osande und legte seine Hand auf die Schulter seines verwirrten Praktikanten.

"Aber wir wissen noch immer nicht, was sie wirklich wollen."

"Genug, um weitere Schritte zu planen. Sie sind uns eindeutig feindlich gesinnt, sie verfolgen einen höheren Zweck mit ihrem Angriff und wir beide sollten nicht mehr hier sein, falls es dem Kurator nicht gelingen sollte, sich um die restlichen Invasoren zu kümmern."

Widerwillig ließ sich Ben vom Kraftfeld wegführen. Es war so frustrierend. In seinen Tagträumen waren die Ersten Kontakte mit fremden Lebensformen hoch dramatisch oder feierlich. Die Freundlichgesinnten stellten sich ausschweifend vor und die Feindlichgesinnten hatten zu mindest den Anstand ihren Namen zu nennen und ihren Plan bis ins Detail zu verraten. Doch Osande hatte Recht, sie mussten hier weg und gänzlich ohne neue Anhaltspunkte würden sie auch nicht zum Kurator zurückkehren.


Inidi


In der Sternennadel hoch über Hantikor saßen 14 Husru und 10 Menschen, einer von ihnen Honta. Die Abwesenheit von Jofaiden im Allgemeinen und deren mangelndes Interesse am Weltraum war schon etwas befremdlich und hatte sich über Dekaden auch auf die meisten Menschen und Husru ausgeweitet. Ausnahmen lediglich die hier Anwesenden, sowie Ben, Osande und Inidi Kilion. Trotz ihrem beharrlichen Streben nach Wissen und der permanenten Suche nach der Erkenntnis über die Bedeutung des Lebens in diesem Universum, ignorierten sie die Weiten ihrer eigenen und die aller anderen Galaxien auf eklatante Art und Weise. Die Unendlichkeit schien sie geradewegs zu langweilen, als hätten sie alles gesehen, was es zu sehen gab, alles probiert, was es auszuprobieren galt und bereits ein Souvenir für ihre Kinder mitgebracht.
Als Inidi sich vor vielen Jahren daran gemacht hatte, ein Raumschiff auf Ketar bauen zu wollen, beäugten ihn die übrigen Jofaiden und nicht wenige der Menschen und Husru äußerst kritisch.

Was gab es dort schon, was Ketar nicht zu bieten hätte. Dieser Planet, unsere Heimat beherbergt mehr Schönheit und Leben, als auf allen restlichen Planeten des Gemini- und der zehn nächstgelegenen Sonnensysteme dieser Galaxie zusammen.
Und doch sprach Inidi von einer urgewaltigen Sehnsucht, die ihn antrieb auf seiner Rückkehr in den Weltraum. Seine Wortwahl hatte nie jemand auf eine Goldwaage gelegt, man vermutete viel mehr, dass er seine Inidium schon lange im Geiste konstruiert und das Sonnensystem bereits unzählige Male bereist hatte. Soweit man sich erinnern konnte, war schließlich nie zuvor ein Ketari im All gewesen. Inidi war der große Pionier und gleichzeitig letzte seiner Art.

Heutzutage sah man ihn nicht mehr oft. Manchmal konnte man ihn dabei beobachten, wie er einen kleinen Spaziergang durch die große Halle in der Basis der Sternennadel macht, wie er seine Geliebte streichelt und ihr einen traurigen Blick zum Abschied zuwirft. Seinen Bruder (Schwester, Verwandten - was soll's, sie sind halt ohne Geschlecht, aber eher männlich, als weiblich) Osande hatte er niemals im Observatorium besucht. Vielleicht war es einfach nicht dasselbe, den Mond per Teleskop zu betrachten, wenn man ihn aus unmittelbarer Nähe aus dem Sichtfenster des eigenen (getarnten) Raumschiffs gesehen hatte. Vielleicht fürchtete Inidi aber etwas zu sehen, das er immer befürchtet und sich heute bewahrheitet hatte.
Im selben Maße wie sie den Weltraum mit Ignoranz straften, brachten sie der Genetik unübertroffene Liebe entgegen. Dort war das Bild ein gänzlich anderes. Saßen in der Sternennadel ausschließlich Menschen und Husru, gab es in den Genlaboren überwiegend Jofaiden. Auf diesem Gebiet hatten sie sich durch Bank zu Koryphäen entwickelt und kaum ein Geheimnis ungelüftet gelassen. Umso mehr war Honta überrascht, als sein Vorschlag auf solchen Widerstand stieß.


Die Modifikanten


Mittlerweile war es kurz nach Mitternacht. Kurator Bondise schritt der Reihe nach die von den Forschern gebildeten Grüppchen ab. Die Gruppe "Mond" würdigte er nicht eines Blickes, da er kaum annahm, dass diese beiden Ketari wirklich etwas Interessantes zu seinem umfassenden Wissen über den Ketartrabanten hinzu zu fügen hatten. Die Gruppe "Momentaner Status" war damit beschäftigt gewesen, das Offensichtliche neu zu formulieren, aber hatten auch immerhin festgehalten, über welche Ressourcen Hantikor derzeit verfügte. Tolle Leistung für ein halbes Dutzend Wissenschaftler.
Die meisten fühlten sich allem Anschein nach zur Gruppe "Mögliche Implikationen" hingezogen. Hier wurde nach Herzenslust spekuliert, was die Aggressoren hier wollten, was ihre nächsten Schritte sein würden, wie sie auf verschiedene Reaktionen seitens der Ketari reagieren würden und was es wohl für die Zukunft der Forschung in der Sternennadel bedeuten würde. Diesen 13 Ketari schenkte er der Höflichkeit halber volle zehn Minuten, obwohl er sich eigentlich bereits vorstellen konnte, warum die Invasoren hier waren.
Zwei Husru und ein Mensch bildeten die Gruppe "Maßnahmen" und diese bereiteten auch dem Kurator die meisten Kopfschmerzen. Er setzte sich zu den beiden Husru in ihren hellblauen Kitteln und sah erwartungsvoll zu Honta an der Tafel. Auf die Fläche der Tafel wurde eine kurz Übersicht projiziert und Honta kam ohne Umschweife zum Punkt.

"Verehrter Kurator, ihnen bleiben zwei Optionen: Erstens, sie betreiben diplomatische Verhandlungen mit den Invasoren, geben ihnen was sie wollen und kapitulieren vor ca. 40 unterentwickelten Nachbarn. Ihre zweite Option besteht darin sich zu wehren. Dabei wird es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Fremden und den Ketari kommen. Anders, als beim gestrigen Massaker, verfügen die Angreifer nicht mehr über das Überraschungsmoment, des Weiteren sind wir ihnen zahlenmäßig und technologische haushoch überlegen."

"Ich stimme zu, was schwebt ihnen also vor?"

Auf der Tafel verschwand das Wort "Diplomatie" und weitere Punkte erschienen unter "Gegenwehr". Honta fühlte sich wie elektrisiert und genoss die mitreißende Kraft endlich aktiv und nützlich zu sein.

"Nach einer oberflächlichen Analyse ihres Angriffs, besitzen sie lediglich einfache energie- und projektilbeschleunigende Waffen von kurzer Reichweite. Die Durchschlagskraft ist geringer, als das meiste Baugerät auf unseren Straßen, allerdings wirkungsvoll im Sinne von tödlich. Unsere Bauarbeiter tragen jedoch Schutzkleidung, die sie ohne weiteres vor diesen Waffen schützen würde. Eigentlich verbleibt ihnen nur ein entscheidender Vorteil: Sie sind gut organisiert und ausgebildet. Da wir davon ausgehen müssen, dass diese Eindringlinge nur die Vorhut sind, müssen wir eine langfristige Lösung finden."

"Haben sie die Eindämmungsfelder bedacht? Feindliche Verstärkung könnten wir fernhalten und die bereits gelandete Einheit einsperren bis sie sich ergeben."

"Beides hatten wir in Erwägung gezogen, jedoch bräuchten wir eine bei Weitem ausgefeiltere Technik, als das vorhandene Meteoritenwarnsystem. Es ist in seiner Kapazität derzeit noch stark beschränkt und ausgesprochen träge. Wir haben ebenfalls das Überraschungsmoment dieser Taktik eingebüsst und wären nicht in der Lage spontanes Vorgehen zu verhindern. Die Problematik uns vor möglicher Verstärkung zu schützen ist auf jeden Fall obligatorisch, allerdings befürchten wir, dass taktische Varianten unbedacht bleiben, da wir keinerlei Erfahrungen mit strategischen Auseinandersetzungen haben. Es wäre also möglich, dass sie einen umspannenden Schutzschild auf die eine oder andere Weise umgehen oder außer Kraft setzen könnten und wir ihnen wiederum schutzlos ausgeliefert wären."

Bondises Augen hüllten sich in Kontemplation. Das Adrenalin in Hontas Kreislauf ließ sein Herz rasen. Er war mit sich zufrieden, wusste, dass die eigentliche Herausforderung noch bevorstand. Er musste den Kurator von seinem Gedankengang überzeugen und das auf einem Gebiet, auf welchem die Jofaiden uneingeschränkte Vorherrschaft innehatten.

"Sie wollen die Einwohner dieser Stadt also mit Waffen ausrüsten. Halten sie das für weise?"

"Unter keinen Umständen. Es würde vermutlich mehr schaden, als nutzen. Die umfassende Friedfertigkeit und der Mangel an Erfahrungen mit Gewalt, würden eine Armee von Tausenden Ketari in keinerlei ernstzunehmende Bedrohung für eine kleine, kampferprobte Truppe verwandeln."

Um seinen Schlusspunkt Gewicht zu verleihen, legte Honta eine kurze, rhetorische Pause ein.

"Ich würde sogar soweit gehen, dass es den Ketari an einer genetischen Prädisposition zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mangelt, diese aber zumindest stark verkümmert ist. Daher ist es unser Vorschlag die bestehenden Einrichtungen der jofaidischen Gentherapie zu nutzen, um die Gefangenen auf diese Disposition hin zu analysieren, um sie einer ausgewählten Gruppe zu implantieren bzw. zu verstärken. Weitere strategisch wichtige Allele, wie Kraft, Sinneswahrnehmung und taktisches Denken sollten ebenfalls gesteigert werden. Damit würde Ketar über eine zu diesem Zweck gezüchtete und optimierte Armee verfügen, die ausgestattet mit unseren technologischen Vorteilen definitiv Herr der Lage wäre und das innerhalb kürzester Zeit. Wir haben den Aufwand abgeschätzt und benötigen lediglich 36 Stunden um aktiv zu werden."

Jetzt atmete Honta durch. Dies war seine Waffe der Wahl, wenn es in ihren Abenteuerfantasien darum ging, Ketar zu beschützen. Honta wusste durch sein Studium der Genetik über den nötigen Hintergrund und über die Einrichtungen der Jofaiden. Sie benötigten in regelmäßigen Abständen eine Gentherapie, um den körperlichen Verfall entgegenzuwirken, den sie durch Vernachlässigung ihrer Physis zugunsten ihrer Psyche über Äonen selbst verschuldet hatten.

Der Kurator hielt ihn für durch und durch irrsinnig. Aufgebracht schritt er im Saal der Wissenschaftler auf und ab. 'Was er sich dabei dächte', 'wie er wohl die Kontrolle über so etwas Gefährliches behalten wollte' und 'ob sich die Jofaiden nicht etwas dabei gedacht hätten, wenn sie den Menschen und Husru den Weg der Harmonie gelehrt hatten', wollte er von Honta wissen, ohne auf eine Antwort zu warten.

Die übrigen Wissenschaftler hatten schon längst eine neugierige Traube um Hontas Ausführungen gebildet und waren selbst nicht weniger überrascht vom Vorschlag ihres "Kollegen". War der eigentlich neu hier? Eine Vertretung? Wahrscheinlich sonst einfach nur unauffällig gewesen. In Ermangelung eines Bedürfnisses nach sozialen Kontakten, lebte es sich hervorragend ungestört in Gegenwart gleichgesinnter Eigenbrötler. Natürlich hatten sie diesen redegewandten Vertreter ihrer Zunft schon oft beim Kaffeetrinken gesehen und im vorbeigehen gegrüßt, oder? Selbstverständlich würden sie zu einem ihrer hellblauen Kittel stehen. Was hatte er noch vorhin über sein Spezialgebiet gesagt, Genetik? Kein Wunder, dass er wohl wenig mit den Astronomen und Ingeneuren zutun hatte. Ja, so musste es gewesen sein.

Nach einer kleinen Ewigkeit schien sich auch der Kurator wieder gefangen zu haben. Er hatte mit den verantwortlichen Jofaiden im Gentherapiezentrum telepathischen Kontakt aufgenommen, die Option abgewogen und sich letztendlich einverstanden erklärt. Das Kraftfeld über dem Lager der Achaten wurde für kurze Zeit aufgehoben und neu platziert, ohne das die beiden Achaten im Inneren des Raumschiffes etwas davon mitbekommen hatten. Der Leichnam ihres Kameraden lag nun außerhalb der Grenzen des Kraftfeldes und konnte zur Analyse geborgen werden. Honta wurde dem Leiter der genetischen Forschungsabteilung Gin Hazaget unterstellt und zusammen erarbeiteten sie in Windeseile ein modifiziertes Erbgut. Sie isolierten jenen Bereich zur Ausbildung dieser primitiven Verhaltensweise, welche die Kampflust, sowie die Verschlagen- und Gerissenheit der Achaten ausmachte. Gleichzeitig implantierten sie in das Erbgut der sieben Freiwilligen ein umfassendes Trainingsprogramm, optimierten ihre athletischen Fähigkeiten durch chemische Rekombination und verbesserten ihre fünf Sinne, ihre Anatomie und ihren Gehorsam. Dies alles war mit Hilfe der jofaidischen Inkubatoren erstaunlich einfach und ohne großartige Anpassungen an die genetischen Eigenheiten der fünf Menschen und zwei Husru schnell erledigt. Nach bereits 24 Stunden hatten Gin und Honta Ketars erste Armee erschaffen. Diese sieben Modifikanten sollten den Krieg mit den Achaten gewinnen.

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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2010

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