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7

Plötzlich (es passte nicht ins Konzept des PTRÖGBLT, aber sie konnte die Idee nicht aus ihrem Kopf verbannen) hatte Bibiana den Verdacht, Dan würde sagen: „Die Zeit ist gekommen, da du deiner Bestimmung folgen musst, Bibiana Epon. Deine Eltern waren König und Königin der Rubininsel, und du wurdest als Kind entführt. Du musst den Thron zurückerobern und dein Volk aus den Klauen des Tyrannen befreien. Es ist nun an der Zeit.“
Na, so was kam doch vor, oder? In der Schule hatte sie einen Jungen getroffen, der einen Cousin hatte, der einen Freund hatte, der einen Freund hatte, der eine Tante hatte, die SCHWOR, ihrem früheren Nachbarn sei so etwas ähnliches passiert.
Aber Dan Izén zückte keine Krone, sondern nur das Tentarium. Er schlug eine Seite nah am Ende auf - dort, wo die Visionen der Propheten aufgelistet waren - und las vor.

An einem Sommertag wird eine Entscheidung fallen.
Und Konflikte und Kämpfe werden kommen.
Der blutige Boden wird beben, bleiche Leichen werden in den Gräsern kleben und schwarze Schlangen werden Schande spucken.
Den Wonnen sanfter Sonnen werden Niedertracht und Not nachfolgen.
In der Toten Stadt wird ein Geschöpf sein, halb Tier und halb Mensch, mit harten Füßen und langem Haar.
Durch sie wird die Wahrheit ans Licht kommen.
(Aus: Teil 10: Die Prophezeiungen des Keráton, Nr. 137.)



„Die hab ich noch nie gelesen“, meinte Bibiana. „Stand auf Alliterationen, wa?“
„Offenbar“, sagte Contumelia. „Aber davon unabhängig glauben wir, dass die Prophezeiung für uns alle wichtig werden könnte.“
„Besonders für Sie“, krähte Igny.
„Was heißt das?“
Bibiana stellte fest, dass alle sie mit vielsagenden Blicken ansahen. „Augen- blick, ihr meint doch wohl nicht ...“
„Doch, genau das“, sagte Izén. „Du weißt doch, was gemeint ist, oder? Die Tote Stadt ist Thanaton, bald ist das Große Fest, und du bist doch schließlich, äh ...“
Sie nickte. „Halb Tier halb Mensch, Hufe und lange Haare, ja. Ich hab‘s kapiert. Ihr wollt mir ernsthaft erzählen, ich komme in dieser Prophezeiung vor?“
Dan Izén seufzte. „Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Wir denken, dass die Prophezeiung bedeutet: Wenn wir die Entscheidung zwischen den zwei Göttern fällen wollen, also das Duell durchgeführt wird, kommt es zu einem Religionskrieg; es werden Schande, Niedertracht und Not herrschen, und viele Wesen werden sterben und zu bleichen Leichen werden. Und du kannst das verhindern.“
„Bitte?“
„Oder uns wenigstens helfen, es zu verhindern.“
„Was soll ich denn machen? Warum soll ich für so was bestimmt sein?“
„Ich weiß nicht, ob du dafür bestimmt bist, aber das mit dem Pferd passt so gut. Es könnte doch sein, dass du eine wichtige Rolle spielst. Die apokalyptischen Reiter und so.“
„Ach so, ich bin Reiterin und Pferd in einer Person, meinst du. Und welche Aufgabe soll ich übernehmen? Hunger? Tod? Oder bin ich gleich alle vier auf einmal?“
„Das müssen wir noch rausfinden. Ist dir in letzter Zeit zufällig was Bemer-kenswertes passiert?“ fragte Dan.
„Wie, passiert?“
„Na, hattest du eine Erleuchtung, eine Vision? Hast du die Götter gesehen oder gehört? Hast du in fremden Zungen gesprochen oder plötzlich Sachen geschrieben, ohne es zu wollen? Oder gab es irgendwelche Omen, du weißt schon, schwarze Katzen und einstürzende Dächer? Hast du merkwürdige Träume gehabt?“
Bibiana HATTE merkwürdige Träume gehabt, aber die hatte sie immer. Sie war ziemlich sicher, dass ihre Träume keinen Einfluss auf religiöse Feste ausüben durften. Und was die anderen Sachen anging ...
„Mir fällt nichts ein. Bisher haben sich die Götter mir nicht offenbart ... geoffenbart ... offengebart ... haben sie jedenfalls nicht.“
„Na, das kann ja noch kommen“, sagte Igny.
Bibiana fiel etwas ein. „Haben Sie mich deswegen angesprochen, Contumelia? War unser Treffen gar kein Zufall?“
„Doch, das war es. Ehrlich. Ich hab Sie angesprochen, weil ich ... na, weil Sie da waren. Und gerade als Sie das Todesbrot gekriegt haben, ist mir eingefallen, wo ich schon mal so etwas gelesen hatte.“
„Sie hat ein Gedächtnis wie ... wie ... na, ein gutes halt“, kommentierte Igny.
„Ich habe im Tentarium nachgeschlagen und festgestellt, dass es stimmte, und da hab ich Dan Bescheid gesagt.“
„Und dann habt ihr euch an mich rangemacht.“
Alles verzog das Gesicht.
„Nicht RANGEMACHT. Aber wir konnten dir doch nicht sofort sagen, was wir von dir wollen“, sagte Dan. „Wir mussten dich erstmal kennen lernen und ...“
„Und abchecken.“
„Und abchecken, wie Igny so schön sagt.“
Bibiana seufzte. „OK, das hab ich verstanden. Und was genau wollt ihr von mir?“
„Am Tag des Duells werden wir eingreifen, und wir glauben, dass du uns dabei helfen kannst.“
„Ja, schon, aber wie?“
„Gute Frage“, meinte Dan. „Genau darum geht es. Wir wissen immer noch nicht genau, was Scoria und Lionel vorhaben. Wir werden die Zeremonie stören, aber wir wissen noch nicht genau, wie.“
„Ich hab doch gesagt ...“
„JA, Igny, aber wir wollen nicht nur blinden Aktionismus.“
„Ich ja.“
„Aber der Rest von uns nicht. Wir haben uns darauf geeinigt, einen inhaltlichen Protest zu vermitteln, und das können wir erst dann, wenn wir genau wissen, wie die Zeremonie ablaufen wird. Bis dahin werden wir warten und viel im Tentarium lesen. Ich tue, was ich kann. Und jetzt bleibt nur noch eine Frage ...“
„Er meint, ob Sie uns helfen“, sagte Igny. „Ich glaube es zwar nicht, aber es kann schließlich sein, dass Sie verdammt wichtig sind. Machen Sie bei uns mit?“
„Genau.“ Dan warf dem Pyroton einen finsteren Blick zu. „Bibiana Epon, der Positro-Thanatistische Radikal Ökumenische Geheime Bund von Leben und Tod bittet dich hiermit feierlich, deiner Bestimmung gerecht zu werden, mit uns für einen wahren, wesenfreundlichen und toleranten Glauben zu arbeiten und ein gefährliches Duell zu verhindern.“
Bibiana fiel keine intelligentere Antwort als „Oh“ ein, und sie verzichtete darauf, das zu äußern.
„Sie haben vielleicht eine einmalige Chance, uns allen zu helfen“, sagte Contumelia. „Wollen Sie das tun?“
„Ihr meint ernsthaft, ich soll den Streit der Religionen beilegen? Ausgerechnet ich soll die Auserwählte sein? Diejenige welche?“
„Sie brauchen nicht DIEJENIGE WELCHE zu sein“, korrigierte Contumelia. „Wir sind schon zufrieden mit EINE, DIE. Eine, die die Aufgabe erledigt - welche es auch sein mag - und die diese idiotischen Streitereien beendet.“
„Das klingt alles etwas bizarr, und die Prophezeiung ist so wahnsinnig vage.“
„Ich weiß, aber es ist der beste Anhaltspunkt, den wir im Moment haben.“
„Was ist denn nun?“ fragte Igny. „Machst du mit?“
„Normalerweise trete ich nicht in Geheimgesellschaften ein ...“
„Stellen Sie sich die Alternative vor“, sagte Contumelia. „Was passiert, wenn eine Seite gewonnen hat?“
Bibiana stellte es sich vor. Was würde passieren, wenn jemand gewann? Wie immer das funktionieren sollte - angenommen, es klappte? Angenommen, die Götter kamen tatsächlich in den Gehirnwald, kämpften miteinander, es gab einen Sieger, und es gab genug Überlebende, die ihr Leben danach ausrichten konnten - angenommen, sie fanden so etwas wie die wahre Religion? Die Wesen (erstmal die von Positron und Thanaton, aber dabei würde es wohl nicht bleiben) würden entweder für Hochmut büßen müssen oder für Zweifel, die Gewinner würden die Verlierer mit aller Gewalt von der Güte Noxanas oder der Wesenfreundlichkeit Serpígios überzeugen. Es würde immer einen Grund geben, dass alles war, wie es war, und es würde dem Willen der wahren Gottheit widersprechen, es zu kritisieren. Und angenommen, die Götter existierten tatsächlich und wollten sich für das Duell (oder irgend etwas anderes) rächen? Strafen schicken? Nein ...
Wahrscheinlich war das der Grund, dachte sie später.
„Du weißt doch sicherlich, dass man Prophezeiungen nicht ignorieren kann, ohne dass das Raum-Zeit-Dingsda in Gefahr gerät, oder?“ Dan Izén beugte sich über den Tisch, seine giftgrünen Augen glitzerten. „Machst du mit?“
Bibiana lachte. „Diese Geschichte ist so bekloppt, dass was dran sein muss. In Ordnung.“
„Sehr schön“, sagte Dan erleichtert und schüttelte ihr die Hand. Contumelia lächelte. „Freut mich.“
„Na ja.“ Igny hüpfte auf den Tisch. „Ich halt ja nich viel von dem Prophezei-ungskram, aber trotzdem: Willkommen an Bord.“
Das war alles sehr merkwürdig, aber immerhin: Der PTRÖGBLT wollte niemanden umbringen und niemanden foltern, und das war schon mal gut.
So also trat Bibiana in ihren ersten (nicht einzigen) Geheimbund ein.
Sie diskutierten noch lange. Es ging nicht unbedingt immer um das Duell, auch nicht immer um Religion, Politik oder sonst Fragen von irgendwelcher Relevanz, aber es war doch ganz interessant. Leider konnten sie sich immer noch nicht auf eine Aktion einigen, sondern kamen nicht über „Wir stören die Zeremonie“ hinaus. Die Preisfrage war natürlich: Wie konnten sie ihren Protest ausdrücken, bevor sie von den Wächtern oder empörten Bürgern überwältigt wurden? Es musste möglichst schnell gehen.
Igny wollte nicht mehr durch die Gegend laufen und alles anzünden, meinte aber, ein KLEINER Brand sei eine perfekte Methode, Unruhe zu stiften. Contumelia wollte ihre Erfahrungen aus dem Rest der Welt einbringen - sie war dafür, ein Spruchband zu entrollen, Parolen zu rufen, Bäume zu besetzen oder eine Wesenkette zu bilden, die es Scoria und Lionel unmöglich machen sollte, die Beschwörung durchzuführen. Und Dan war für einen Gegenzauber, der die Hybris der Götterbeschwörung unschädlich machen und den Wesen geistige Klarheit und Toleranz bringen sollte. Außerdem wollte er die Prophezeiung von Keráton vortragen, um die Gefahren des Duells deutlicher zu machen.
Problematisch war, dass sie gar nicht wussten, wie die Zeremonie ablaufen würde. Wann es losging ... ob sie überhaupt die Chance kriegen würden, in die Nähe der beiden religiösen Oberhäupter zu kommen, oder ob sie den Bezirk für die Zeremonie absperren würden ... ob sie ein Spruchband oder ähnliches mitbringen konnten oder ob man die Besucher durchsuchen würde ...
Bibiana tendierte zu Contumelias Methode, sofern sie es schafften, schnell und laut genug zu sein, aber die anderen beiden waren nicht dazu zu überreden: Das sei zu langweilig (Igny) und zu wenig spirituell (Dan).
Um zwei Uhr nachts beschlossen sie, für heute Schluss zu machen und sich in drei Tagen wieder zu treffen, gleicher Ort, gleiche Zeit. Igny ging nach Hause, und Dan zog sich zurück, er hätte noch viel zu lesen.
Contumelia sah Bibiana an. „Du lebst also jetzt in der Arnikastraße?“ Irgendwann im Lauf des Abends waren sie dazu übergegangen, sich zu duzen.
„Mmh.“
„Wir haben den gleichen Weg bis zur Kristallgasse, oder? Gehen wir zusammen?“
„OK.“

Bibiana schwieg einen Großteil des Weges, sie war immer noch sauer. Es war so deprimierend, von ihren Freunden (wenn es Freunde waren) auf ihre Funktion als möglicherweise Auserwählte reduziert zu werden. Sie hatte angenommen, dass Dan sie einfach mochte, aber jetzt ...
„Nimm‘s uns nicht übel“, sagte Contumelia, die anscheinend ihre Gedanken las. „Ich weiß, es muss dir so vorkommen, als ob wir dir die ganze Zeit lang was vorgemacht haben. Wir fanden es nicht schön, dir das Duell zu verheimlichen und so zu tun, als sei alles ganz normal, aber wir mussten dich erstmal kennen lernen.“
„Ja.“
„Wir konnten dich doch nicht einfach so fragen, ohne zu wissen, ob wir dir vertrauen können. Weißt du, als wir an diesem Abend im Restaurant waren, ist mir eingefallen, dass etwas an dir mich an eine Prophezeiung erinnert, ich wusste nur nicht mehr genau, welche. Also wollte ich ...“ Contumelia schluckte „dich im Auge behalten“ gerade noch runter und sagte statt dessen „... in deiner Nähe bleiben. Ich wollte wissen, worum genau es ging. Deswegen habe ich dich eingeladen, in den Laden zu kommen - auch deswegen. Als du weg warst, hab ich im Tentarium nachgeschlagen und bin dann zu Dan gegangen, um ihm von der Prophezeiung zu erzählen. Er hat dich beim Gottesdienst kennen gelernt, beim nächsten Treffen haben wir mit Igny darüber gesprochen, und danach haben wir, vor allem Dan, dich eine Weile beobachtet. Als wir wussten, dass du in Ordnung bist, haben wir beschlossen, es dir zu erklären. Zu fragen, ob du uns hilfst.“
Bibiana wich einer Efeuranke aus, die eine Hauswand neben ihr herunter gekrochen kam und sich eilig über den Bürgersteig schlängelte. „Und ich dachte, ihr fandet mich einfach nett.“
„Das tun wir auch. Dan mag dich, er hat es mir gesagt. Igny ... gewöhnt sich schon noch an dich.“
„Wow, toll.“
„Guck mal, es wollte einfach nur so durch die Gegend rennen und Sachen anzünden, weil es Chaos mag. Es hat nicht erwartet, dass die Aktion tiefgründiger wird, und es hat was gegen Prophezeiungen. Aber es wird dich schon noch mögen. Und ich hätte dich schließlich gar nicht erst angesprochen, wenn ich nicht ...“ Contumelia lächelte ihr herzzerreißendes Schauer-über-den-Rücken-Lächeln. Sie unterbrach sich, blieb stehen und zeigte auf ein verwittertes Straßenschild. „Aber hier musst du rechts abbiegen, oder?“
Bibiana nickte.
„OK. Schön, dass du mitmachst, ehrlich. Wir sehen uns also in drei Tagen, oder? Spätestens?“

***

Während dieser drei Tage liefen die Vorbereitungen für das Große Fest richtig an. Positron und Thanaton wurden eifrigst mit Luftschlangen, schwarzen Samtbändern, Blumen, Knochen und so weiter geschmückt; es wurden Werbeplakate und Schilder für die beiden Religionen gemalt und Essen geliefert.
Die Nachricht von dem Duell hatte sich blitzartig verbreitet. Auch in anderen Städten erschienen Berichte über die Zeremonie: „Die Götter kehren zur Erde zurück“, „Das himmlische Duell“, „Drehen die Fundamentalisten jetzt ganz durch?“ und so weiter. In den Lokalzeitungen erschienen einige Leserbriefe in der Art von „Es wurde auch Zeit, dass mal was passiert“ und „Hoffentlich wird dieses Duell die verbreitete falsch verstandene Toleranz beenden“. Es gab auch Briefe in der Art von „Ich halte dieses Duell für sinnlos und gefährlich“ oder „Warum hat man uns nicht wenigstens vorher gefragt?“, aber der größte Teil der Bevölkerung (oder wenigstens der Wesen, die Leserbriefe schrieben, die auch veröffentlicht wurden) schien das Duell positiv zu sehen.
Am Dienstagmorgen erschien eine genaue Beschreibung der geplanten Zeremonie in den Zeitungen der beiden Städte. Um drei Uhr am Nachmittag würde man einen großen Kessel in den Gehirnwald transportieren, ihn auf das Grab von Tentarius stellen und ihn bis zum Rand mit einer Mischung aus Wasser und Wein füllen. Lionel Debar und Scoria würden magische Kräuter mit positiven Effekten hineinwerfen, um eine entspannte Stimmung zu bewirken, das Publikum mental vorzubereiten und die Götter allgemein gnädig zu stimmen. Die Oberhäupter der Städte würden zuerst für ihren jeweiligen Gott Opfergaben in den Kessel werfen, dabei würde das Publikum ein Mantra sprechen und seine gesamten positiven Energien auf den Kessel fokussieren. Die Serpígionisten sollten vorzugsweise Grün und Gold, die Noxanen Schwarz, Grau oder Silber tragen. Nachher würden die religiösen Oberhäupter eine sorgfältig ausgearbeitete Beschwörung aussprechen, um die Götter zu rufen, und dann war es Zeit, zu warten.
Wenn die Götter tatsächlich erschienen, war es selbstverständlich ausschließlich ihre Entscheidung, ob und wie sie kämpfen wollten. Aber falls sie die religiösen Oberhäupter fragten, welche Art von Kampf die sich vorgestellt hatten, würden Scoria und Lionel verschiedene Möglichkeiten vorschlagen: Wunder wirken, einen Fechtkampf, ein Rededuell, einen Ringkampf ...
Niemand sollte behaupten können, man hätte den Göttern keine guten Angebote gemacht.

***

„Parole?“
„Dies ist eine Parole.“
„Dies ist ein geheimer Treffpunkt.“
„Ich begehre Einlass.“
„In Ordnung. Ich meine, er sei dir gewährt.“
Eine Minute später stand Bibiana wieder in Dan Izéns Wohnzimmer. Die anderen Mitglieder des PTRÖGBLT waren schon da.
Es war Dienstag, der 8. Juli.
Noch vier Tage bis zum Fest.
„Hallo, Bibiana.“ Igny hüpfte aufgeregt auf und ab. „Wir haben ‘ne Idee, wir haben eine Idee!“
„Ich glaube, wir kennen jetzt unsere Mission“, sagte Dan. „Inzwischen wissen wir ja, wie die Zeremonie ablaufen soll. Und mir ist eine gute Möglichkeit eingefallen, sie zu stören. Gestern habe ich mich nämlich daran erinnert, dass ein Einsiedler mir erzählt hat, in den Düsteren Sümpfen wüchse die Krone der Pestilenz.“
„Die was bitte?“ fragte Bibiana. Hm. Ich hätte mir eigentlich denken sollen, dass sich hier auch ein weiser Eremit rumtreibt. Der Quoteneinsiedler?
„Das ist eine Orchidee namens ... “ Dan sah auf einem Zettel nach. „Bulbophyllum beccarii

. Im Ernst, das wäre ziemlich gut. Sie stinkt enorm nach Aas. Wenn jemand von uns an den Kessel rankommt und das Zeug in die magische Flüssigkeit wirft, reicht das auf jeden Fall aus, um die Zeremonie zu stören.“
„Nicht schlecht“, sagte Bibiana anerkennend.
„Danke. Ich würde also sagen, wir ziehen am Morgen des 13. los und holen sie aus dem Moor. Dann sind wir nachmittags zum Duell wieder da und können unsere Aktion veranstalten. Und vielleicht eine Katastrophe verhindern.“
„Alle außer mir“, sagte Igny.
„Warum?“
„Ich bleibe im Gehirnwald und gucke, wie die Vorbereitungen so laufen. Dann kann ich euch gleich Bescheid sagen, wie es aussieht, wenn ihr zurückkommt. Samstag bin ich sowieso mit Eld in Positron, um zu gucken, was die ohne uns so anstellen, und außerdem will ich nicht in die Sümpfe.“
„Hast du Angst?“ fragte Bibiana ungläubig.
„Nee, aber du weißt doch, was Wasser mit Feuer macht.“
„Ach so. Und was passiert, wenn wir zurück sind?“
„Dann versuchen wir, uns zum Kessel vorzuarbeiten“, antwortete Dan. „Und zwar glaube ich, dass wir jetzt deine Mission gefunden haben. Du machst doch gerne Zäune kaputt, oder?“
Ja, das hatte sie ihm gesagt.
„Der Kessel steht auf dem Grab von Tentarius, also innerhalb des Zaunes. Jemand muss sich da einschleichen. Hast du nicht Lust ...?“
„Na, Lust würde ich es nicht nennen, aber ich mach‘s.“
„Bist du sicher, dass du das willst?“ fragte Contumelia.
„Klar. Hat jemand eine Kettensäge? Ach, schon gut.“

Es war ihr letztes Treffen vor dem Fest. „Wir sollten uns in den nächsten Tagen nicht treffen“, sagte Contumelia.
„Warum nicht? Müssen wir nicht noch irgendwas vorbereiten?“
„Ich möchte lieber alles heute abend noch erledigen. Ich traue es Scoria glatt zu, dass sie uns ausspioniert, sie hat mich neulich sehr merkwürdig angeguckt. Außerdem ist Dan ihr aufgefallen, weil er das Duell kritisiert hat, und ich würde mich nicht wundern, wenn sie sein Haus beobachten lässt.“
„Ich schon“, sagte Dan. „Aber wer weiß. Dann bereiten wir das lieber jetzt schon vor.“
Und im Lauf des Abends schafften sie es sogar noch, all ihre Methoden in den Plan zu integrieren.

a) Wenn die Zeremonie beendet ist und die religiösen Oberhäupter den letzten Zauberspruch vortragen, springt Dan auf den Findling, trägt die Kritik des PTRÖGBLT vor und verliest die Prophezeiung von Keráton.
b) Während die anderen dadurch abgelenkt sind, arbeitet Bibiana sich zum Kessel durch und wirft die Orchidee hinein.
c) Währenddessen erklärt Contumelia den zugänglicheren Wesen die Hinter-gründe des Protestes und versucht die Ordner und so weiter vom Kessel fernzuhalten. Und wenn es
d) echte Probleme gibt oder jemand gewalttätig wird, bleibt uns immer noch eine wilde Aktion als Möglichkeit. In diesem Fall kann Igny durch den Gehirnwald rennen, schreien und Dinge in Brand setzen.
„Yeah!“
e) Und wenn wir nachher verhaftet werden, haben wir eben Pech gehabt.



***

Die nächsten Tage über liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Es reisten interessierte Besucher an, im Gehirnwald standen schon einige Zelte und Stände, und in den Geschäften beider Städte wurden Kleidung, Talismane, Amulette und andere Großes-Fest-Souvenirs angeboten. Die Herbergen, Gasthäuser, Zeltplätze, Liegewiesen und leerstehenden Gebäude waren gut besucht, diesmal kamen mehr Besucher als je zuvor. Scoria und Lionel hatten recht gehabt, das Duell war ein echter Verkaufsschlager. Diese Tage verliefen also etwa so wie üblich, allerdings war es diesmal natürlich spannender als sonst.
Dan und Bibiana entwarfen Parolen, die sie während ihrer Protestaktion vortragen würden. Und Bibiana machte am Freitag einen Abstecher zum Gehirnwald und sah sich möglichst unauffällig den Zaun um Tentarius‘ Grab an - es war ein verdammt hoher Holzzaun, den sie sicher nicht überspringen konnte. Aber mit etwas Werkzeug und ein bisschen Geduld war es machbar. Wenn der Platz nicht immer noch ständig von den Waranwächtern bewacht würde, könnte sie ja schon daran arbeiten, den Zaun zu sabotieren, aber er wurde, und sie konnte nicht.
Bartloser Harry lief durch die Stadt wie ein Zombie, verletzte sich erstaunlich wenig, hörte nichts und sah nichts.
Er würde die Wahrheit erfahren. Endlich. Jetzt war es soweit, Der Tag Kam, und die Götter würden ihm den Sinn des Lebens zeigen, den Grund für alles, seine Erlösung. Diesmal würde er das Fest besuchen, und diesmal würde es ihm helfen. Er würde wissen, welcher der wahre Glaube war, statt zwischen zwei Göttern zerrissen zu sein. Sie würden ihn endlich so bestrafen, wie er es verdiente, wie er es nie geschafft hatte. Oder sie würden ihm sagen, was das Besondere und Bemerkenswerte an ihm war, das, worum es die ganze Zeit gegangen war. Diesmal würde er das Fest besuchen, und diesmal würde es ihm helfen.
Der Tag Kam.

Mit anderen Worten: Alle waren gut beschäftigt.
Und dann war der 12. Juli.


8

Es war Samstag, zwölf Uhr mittags. Igny und sein Ehegespons standen vor dem Kupfernen Rathaus, um sich Lionel Debars Einleitungsrede anzuhören. Sie standen ganz vorne und bemühten sich, niemanden anzuzünden. Igny musste sich außerdem noch bemühen, nicht allzu sehr aufzufallen.
„Warum bist du heute so still?“ fragte Eld, das noch nichts vom Positro-Thanatistischen Geheimen Bund von Leben und Tod wusste.
„Bin ich doch gar nicht.“
„Doch, bist du.“
„Bin ich nicht.“
„Doch.“
„Nein.“
„Doch.“
„Nein.“
„Doch.“
„Würde es ausreichen, wenn ich dir sage, dass es um eine wichtige geheime Angelegenheit geht und ich es dir später erkläre?“
Eld blieb die Antwort erspart, weil Debar auf dem Balkon des Kupfernen Rathauses erschien, strahlend und aufgeregt.
„Serpígionisten! Ich bin froh, euch hier zu sehen. Es freut mich, dass sich so viele dem Kult angeschlossen haben und sich mit unserer Stadt, unserer Provinz und unseren Bräuchen beschäftigen. Und ich freue mich, dass auch Andersgläubige gekommen sind. Ich danke euch allen für euer Kommen. Bitte zögert nicht, zu sagen, was ihr empfindet.“
Da brauchte er sich kaum Sorgen zu machen. Serpígionistische Schulen ermutigten einen gern dazu, offen zu sprechen, zu sagen, was man dachte, und alle anderen zu überschreien. Das war natürlich ein guter Beweis für einen energischen Geist. Und so wurde denn auch sehr laut geschrien.
Debar hob die Hände. „Ich weiß, dass ihr Fragen zum Duell habt, aber bitte wartet ab. Ich werde alles noch genauer erklären, lasst uns nur erst in die richtige Stimmung kommen. Also: Wer kann mir sagen, warum wir Serpígio lieben?“
„Weil er die Welt schöner gemacht hat!“
„Ja, schon sehr gut. Wer kann mir noch einen anderen Grund sagen?“
„Weil er Leben und Stärke bedeutet!“
„Weil er gegen das Schlechte kämpft!“
„Auch vollkommen richtig. Und was noch?“
„Weil er der wahre Gott ist!“
„Genau, Serpígio ist das stärkste Wesen dieses Universums. Ich verspreche, ich verspreche, dass ihr alle das perfekte Glück erreichen könnt. Serpígio will, dass ihr lacht und lächelt und die Schönheit des Lebens bewundert. Das Leben ist das, was ihr daraus macht und was Serpígio daraus macht. Das Wichtigste ist, sich selbst zu lieben und sich selbst zu vertrauen. Erst dann könnt ihr auch andere lieben. Arbeitet an euch, und dann seid ihr selbst. Serpígio liebt euch so, wie ihr seid. Ihr alle könnt das Richtige tun. Seid ihr selbst, und der Rest wird kommen. Wenn ihr ehrlich seid und euch selbst, den guten Wesen und vor allem dem Wahren Gott vertraut, könnt ihr alles schaffen. Glaubt an euch, vertraut Serpígio und tut, was er will. Und am Ende werdet ihr reich und stark sein, und Armut und Hunger werden euch nicht mehr bedrohen, denn er wird euch belohnen. Und für all unsere Probleme gibt es Lösungen.“
„Aber ich glaube, ich verliere meinen Glauben“, rief eine Stimme aus den hinteren Reihen.
Debar hob die Augenbrauen und lächelte. „Sie möchten eine Beratung? In Ordnung, es ist mir eine Freude. Lassen Sie mich das Werkzeug sein, das Ihnen hilft. Also - warum verlieren Sie Ihren Glauben?“
„Weil in letzter Zeit alles schiefgeht. Ich bin hässlich und arm, und meine Freundin hat mich verlassen.“
„Das tut mir sehr leid, aber es gibt keine hoffnungslose Situation. Alles kann wieder in Ordnung kommen. Vielleicht ist Ihre Situation jetzt ja viel besser.“
„Nein, ist sie nicht. Meine Freundin ist weg, und meine Kinder hassen mich.“
„Nein, das tun sie sicher nicht. Und wenn doch - dann gibt es einen Grund dafür. Finden Sie heraus, wo das Problem liegt. Arbeiten Sie an sich. Sie können die anderen nicht ändern, aber Sie können sich selbst ändern. Dann werden Sie mit sich zufrieden sein. Sie können ein großartiges, ein perfektes Wesen werden. Versuchen Sie‘s!“
„Aber ich werde nie so sein, wie ich sein will, und auch nicht so, dass Serpígio mich liebt. Und mein Leben ist nicht schön“, kritisierte die Stimme.
„Es wird schön sein, wenn Sie sich Serpígio überlassen. Wenn er eine Tür schließt, öffnet er ein Fenster. Werfen Sie sich ihm zu Füßen, schließen Sie die Augen und glauben Sie. Er wird Sie in die Arme nehmen und Ihnen den Weg zeigen. Wenn er gewonnen hat, wird er eine schöne Welt schaffen, und wir werden perfekt sein. Er wird die Getreuen belohnen, aber die Zweifelnden und Ängstlichen strafen, wie sie es herausgefordert haben.“ Lionel Debar dachte über den letzten Satz nach, fand ihn unhöflich und zuckte mit den Schultern. „Womit ich natürlich niemanden beleidigen will.“
„Kann ich jetzt was zu dem Duell fragen?“ fragte jemand. Debar nickte. „Wenn wir gewinnen, was machen wir dann mit den Noxies? Bestrafen wir sie? Müssen wir sie verbrennen oder foltern oder so was?“
„Meine Güte, nein. Bitte keine solchen Bemerkungen. Prinzipiell respektieren wir doch die religiösen Überzeugungen anderer Wesen. Wir wollen herausfinden, ob sie - nun - glaubwürdig sind. Nachher werden wir wissen, wer im Recht ist. Wie wir damit umgehen, entscheiden wir dann.“
„Aber wir werden doch gewinnen?“
„Ich bin davon überzeugt, dass wir gewinnen werden. Ja, wir glauben daran, dass es die Götter gibt und dass sie kämpfen können, wir glauben, dass wir so den wahren Glauben finden. Wenn wir gewonnen haben - das heißt, wenn Serpígio gewonnen hat - kennen wir den Sinn des Lebens, wir werden Verzweiflung, Trauer, Hoffnungslosigkeit und Furcht besiegen.“ Debars Blick wurde zunehmend enthusiastisch-entrückter. „Wir werden den Zweifel, das größte Hemmnis im Universum, eliminieren. Nie wieder zögern müssen, nie wieder Angst haben, niemals zurückweichen, sich nie korrigieren müssen und nie aufgeben. Es wird keine ungeklärten Fragen geben, keine Widersprüche und keine Sorgen. Jetzt wissen wir noch nicht genau, wie die Welt aussehen wird, aber wenn Serpígio tatsächlich zu uns kommt und Noxana besiegt, wird er uns alles ermöglichen. Wir werden uns immer weiter entwickeln, immer besser werden ... wir werden stärker und schneller werden, klüger und sicherer ... und eines Tages werden wir den Tod selbst besiegen.“
Igny sah genau hin und fragte sich, ob er anfangen würde zu sabbern. Aber es wurde nichts daraus.
„Also ...“ rief Debar. „Serpígionisten, werdet ihr euren Gott unterstützen? Nehmt ihr an der Zeremonie teil?“
„Wir unterstützen ihn.“
„Wir nehmen teil.“
„Serpígionisten - vertraut ihr auf euren Gott? Wer an Serpígio glaubt, muss auch glauben, dass er gewinnen wird. So wie ich das glaube. Vertraut ihr ihm?“
„Ja!“
„Ja, wir vertrauen ihm.“
„Wir vertrauen ihm.“
„Serpígionisten - morgen abend geht es los. Am Tag der Toten werden wir alle die Wahrheit kennen lernen. Und dann ZEIGEN wir‘s ihnen!“

***

Überall in Thanaton hingen Lampions, künstliche und auch echte Totenschädel und Skelette. Es war achtzehn Uhr, die große Glocke hatte sechs Mal geläutet, und ein Großteil der Bevölkerung hatte sich vor dem Schuldturm versammelt und wartete schweigend.
„In Ordnung, wir sind alle da“, begann Scoria, die im offenen Tor des Turmes stand. „Noxana, deine Diener haben sich demütig versammelt, um ihre Fehler zu gestehen und deine Vergebung zu erflehen, um deiner Wohltaten zu gedenken und deine Gnade zu preisen. Gib uns ein Zeichen, wenn unser Plan falsch ist. Denn, Geschöpfe Thanatons, morgen werden wir die wahre Religion kennen.“
Scoria hielt eine Eröffnungsrede, die natürlich Debars Rede entsprach, abgesehen von der Ausdrucksweise, der Definition von „wir“ und „richtig“ und der Vortragsform. Sie sprach sehr viel kürzer und knapper als er und so unterhaltsam wie eine Grabrednerin. Die letzten Sätze lauteten:
„Natürlich sind wir nur hoffnungslose schwache kleine Kreaturen, und der Ausgang des Duells liegt ausschließlich in Noxanas Händen. Vergesst das nie. Wir können nichts tun, als unser Vertrauen in sie zu zeigen. Aber lasst uns das tun. Beweisen wir Noxana, dass wir den Glauben bewahren. Mehr muss ich euch nicht erklären. Morgen wird alles sich so ergeben, wie die Große Göttin es will. Und jetzt lasst uns feiern. Im Namen des Todes!“
Sie trat zur Seite, und der Zug der Toten konnte beginnen.
Wie jedes Jahr warteten ungefähr dreihundert Wesen im Turm. Als Scoria das Tor freigab, strömten sie heraus: Skelette, Totengräber mit Spaten, Zombies, Gespenster, Scharfrichter mit Äxten, Leichen mit blutigen Wunden, Tiefverschleierte in Sack und Asche ...
„Gute Verkleidungen“, sagte Bibiana.
„Stimmt. Wenn du länger hier wohnst, erkennst du auch, welche davon Verkleidungen SIND“, meinte Contumelia.
Die beiden standen ganz in der Nähe des Turmes und hatten damit einen Logenplatz. Sie betrachteten die Leute, die vorbeigingen, ihre Kostüme und ihre ernsten Gesichter, und hörten sich an, wie sie leise vor sich hin murmelten, Todesfälle schilderten. Sie gingen nicht in Reihen, sondern liefen durcheinander und stolperten immer wieder. Sie hingen Erinnerungen nach, lasen Todesanzeigen vor, riefen die Namen verstorbener Angehöriger und beteten leise zu Noxana. Manche schrien, viele weinten, einige sangen auch.
„Nicht schlecht, oder?“ fragte Contumelia.
„Nein.“
Bibiana meinte das ernst. Wenn sie jetzt in Positron wäre, würde sie zusehen (oder würde sie mitmachen?), wie die Wesen auf der Straße tanzten und „Es lebe die Hoffnung“ riefen ...
Das hier war zumindest ganz und gar anders als die Feste, die sie in Positron miterlebt hatte, und das war ja auch schon mal was.
In Positron wehten grüne Fahnen mit goldenem Kreis, man umarmte sich und klopfte sich gegenseitig auf die Schultern, und viele Wesen warfen Blumen und Luftschlangen. Bibianas Familie wanderte durch Positrons Innenstadt, kaufte zu viele Andenken und fragte sich, was bei allen Dämonen Bibiana jetzt wohl tat. Catalpa eilte durch die Gegend, verteilte Pflaster und versuchte alle in die richtige Kampf- und Feierstimmung zu bringen. In Schaukämpfen wurde gezeigt, wie die Noxies morgen jämmerlich unterliegen würden.
In beiden Städten gab es ein paar Orgien, was das Tentarium nicht verlangte, aber auch nicht verdammte.
Und in Thanaton fand das Mahnmahl statt. Wer teilnehmen wollte, versammelte sich in einem Restaurant - welches das war, wechselte jedes Jahr. Die Erlaubnis, das Mahnmahl zu veranstalten, war heiß begehrt; diesmal hatte es der Versinkende Goldfisch am Platz der Angst geschafft. Und jetzt saß eine kleine exklusive Gruppe (die Eintrittskarten waren TEUER) im Keller des Restaurants, wo dicke violette Kerzen brannten, und wartete darauf, ihre Untaten bekennen zu dürfen.
„Meine Damen, Herren und anderen“, sagte der Wirt, während er Rotwein in einen großen Pokal schenkte, „ich bin froh, Sie in meiner abstoßenden und grauenhaften Lokalität begrüßen zu dürfen. Zögert nicht, der Großen Göttin eure Fehler zu gestehen. Lasset uns anfangen.“
Kurze Stille.
„Ich habe in einer Kneipe eine Schlägerei angefangen“, sagte jemand zögernd. Der Wirt nickte und reichte ihm den Pokal, er nahm einen Schluck und reichte den Wein weiter.
„Ich habe über jemanden gelacht, der in eine Pfütze fiel“, sagte der Nachbar rechts von ihm. „Es sah lustig aus, aber ich hätte es nicht tun dürfen. Es war unfair ... es war gemein ...“
Auch einen Schluck nehmen. Den Pokal weiterreichen.
„Ich hatte böse Gedanken meinem Nachbarn gegenüber.“
So ging es noch eine Weile weiter, bis alle mindestens einmal drangekommen waren und der Wein ausgetrunken war.
„Nun denn“, sagte der Wirt. „Es ist gut, dass ihr all das erzählt habt. Wenn man es ausgesprochen hat, ist es nicht mehr gefährlich. Noxana, wir flehen dich an, uns zu verzeihen. Wir bitten dich mit ganzem Herzen und ganzer Seele, in all unserer Schwäche und Armseligkeit. Wir flehen dich an, unser Leben erträglich zu machen und es zu beenden, wenn es richtig ist. Wir bitten dich, uns zu vergeben. Verzeih allen Wesen dafür, dass die Welt ist, wie sie ist, und vergib uns, dass wir sind, was wir sind.“
„Vergib uns ...“
„Vergib uns ...“
Und im Namen von Noxana und im Namen von Scoria, die ihm für diesen Abend die Erlaubnis dazu übertragen hatte, verzieh der Wirt seinen Gästen die Übeltaten. Sie waren jetzt geläutert und wenigstens eine Zeitlang gut und hatten die Erlaubnis, zu genießen. Jetzt gab es Todesbrot, Blutsuppe und den Wackelpudding des Grauens, dazu Erwürger, Blutende Wunden, Garotten und andere Drinks.

Bibiana und Contumelia bekamen vom Mahnmahl nichts mit. Sie folgten eini-ge Zeit dem Zug der Toten, der einmal um die ganze Stadt zog. Dann traf Contumelia einen Bekannten (einen Krokodildämon, der als verwesende Möwe verkleidet war) und verabschiedete sich fürs erste.
Bibiana ging allein durch die Straßen. Sie sah kurz Dan, der auf einem Balkon saß, sie sah den Kobold aus dem Steinernen Drachen, und sie unterhielt sich mit Wildfremden über die Hintergründe des Großen Festes und die Aussichten für morgen.
Und später am Abend ging sie wieder auf den Zentralfriedhof.

***

Ein Großteil der Bevölkerung von Thanaton war schon da, als sie ankam, und die Geräusche deuteten darauf hin, dass sie auf tragische und düstere Weise viel Spaß hatten.
Langsam ging Bibiana die halb überwucherten Wege entlang, die nur von den Grablichtern und den flackernden Laternen erhellt wurden. Die Bäume und die Grabsteine waren schwarz, die Sterne kalt, und die Wolken jagten äußerst angemessen über den Himmel. Der Mond war im Zunehmen begriffen.
Bibiana kam an Gruppen von Wesen vorbei, die zusammen saßen, sich leise unterhielten und illegale Substanzen kreisen ließen, an einzelnen, die schluchzend vor Gräbern hockten oder auf dem Boden lagen, an anderen, die von ihren Toten erzählten. Sie stieg die drei Stufen hinauf, überquerte den düsteren Platz vor dem Turm, sah Scoria, die an einem Denkmal lehnte und den Friedhof ruhig, stumm und gelassen betrachtete.
Bibiana schlich in den Turm, der im Moment fast leer war. Ein paar Wesen knieten auf dem Steinboden und murmelten vor sich hin oder standen und starrten bewegungslos auf die Magische Wand. Auf dem Altar standen mehrere große Kerzen, über denen ein enormer silberner Topf mit Opicaphin-Harz hing, und von dort aus zogen rote Rauchschwaden durch die ganze Halle. Bibiana ging durch den Raum und öffnete die Tür zur Kammer der Zeichen. Sie hatte Glück, es war niemand da.
Sie ging hinein, schloss die Tür wieder und holte tief Luft.
„Serpígio und Noxana - ich weiß nicht, ob das hier einen Sinn hat, und ich komme mir dabei etwas albern vor, aber ich muss euch um eure Hilfe bitten.“ Es war einen Versuch wert. Das hier war immerhin der magischste Abend im Jahr. „Vielleicht könnt ihr mich hören, und ich bitte euch, uns zu helfen. Ihr sollt morgen beschworen werden, und wir glauben, dass das extrem gefährlich ist. Wir möchten das verhindern. Könnt ihr mir vielleicht ein Zeichen geben, ob wir recht haben?“
Sie wartete. Versuchte es nach ein paar Minuten wieder, als nichts passierte.
„Wenn jemand von euch mich hört und mir gern sagen möchte, was wir tun sollen ... jetzt wäre ein guter Augenblick dafür. Oder könnt ihr mir ein Zeichen geben, ob ich tatsächlich die Auserwählte bin und morgen irgend was Gutes bewirken kann?“
Nichts passierte.
„Noxana, Serpígio, wenn ihr mich hören könnt, bitte antwortet mir . Bitte.“
Sie wartete. Sie fröstelte. Einmal glaubte sie ein Flüstern zu hören, aber sie war nicht sicher. Schließlich zuckte sie die Achseln und ging wieder nach draußen.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber es wäre schön gewesen, irgendeine Nachricht zu bekommen ... es wäre schön gewesen, auf die Unterstützung oder die Gnade der Götter vertrauen zu können.
In Positron hätte sie so etwas wie eben nicht getan, aber hier hätte sie eine Antwort nicht überrascht. Hier waren die Götter so allgegenwärtig, noch viel schwerer zu vergessen als zu Hause.
Haben Noxana und Serpígio mich nun nicht gehört? Oder haben sie mich gehört und bloß nicht geantwortet? Man kann aus der ganzen Angelegenheit nichts schließen. Sie können zum Duell kommen oder auch nicht, und sie können erzürnt sein oder auch nicht ... aber sie haben mir jedenfalls nicht geantwortet. Na, wir werden es allein schaffen müssen.
Bibiana ging durch die Halle; der rote Nebel des Opicaphin-Harzes quoll aus der Schale und umhüllte sie wie immer (wie immer - verdammt noch mal. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich so daran gewöhnen würde). Traurig ... ruhig ... sehnsüchtig ... und die Welt war so schrecklich und so schön, dass es weh tat. Nichts war wirklich richtig, und nichts war wirklich schlimm, und niemand konnte ihr was anhaben.
Bibiana ging wieder hinaus auf den Friedhof, passierte eine Gruppe von Wesen, die kollektiv als Erhängte verkleidet waren, wich einem weiblichen lebenden Schatten aus, stieg über Pärchen im Gras hinweg. Irgendwer spielte Mundharmonika. Ohne nachzudenken, ging Bibiana immer weiter, bis sie gegen jemanden lief.
„Verdammt. Ich meine, ‘tschuldigung.“
„Nein, es tut mir leid“, sagte der Riese. Er trug ein bodenlanges schwarzes Cape. „Ich hätte Ihnen nicht im Weg stehen dürfen.“
„Nein, ich hätte besser aufpassen müssen. Entschuldigen Sie bitte.“
„Nein, es war mein Fehler. Ich kann Sie nur um Verzeihung anflehen. Möchten Sie vielleicht mitmachen? Wir wollten gerade anfangen.“
„Wobei mitmachen?“
Der Riese wies auf eine Gruppe von etwa zehn Wesen, die am Rand des Platzes stand. Sie sahen äußerst entschlossen aus. „Wir sind die Flagellanten.“
Auf dem Boden bemerkte Bibiana eine Decke aus grünem Samt, auf der Skalpelle, Dornenzweige und Peitschen lagen.
„Na denn, Leute“, sagte der Versammlungsleiter oder was er war. „Wollen wir anfangen?“
Er kehrte in den Kreis zurück. Bibiana blieb erstmal am Rand stehen, weil sie nicht ganz sicher war, was Flagellanten überhaupt taten. Sie erfuhr es aber schnell.
„Ihr wisst, dass wir alle Sünder sind“, sagte der Riese. „Wir alle waren ungehorsam und böse. Nur wahre Reue wird euch retten, heißt es im Tentarium in den 'Auslegungen der noxanischen Grundsätze' von Galanta. Aber ist die Reue heute echt? Ist der Zug der Toten heute wirklich noch ein Ausdruck des Bedauerns und des Leides? Nein. Ist das Mahnmahl etwa mehr als eine ritualisierte Form der Buße und ein Vorwand, gut essen zu gehen? Nein, und noch dazu ist die Teilnahme nur den Reichen möglich. Ist das Große Fest mehr als ein Straßenfest in hübschen Kostümen? Für zu viele Wesen nicht. Aber wir wollen uns nicht damit zufriedengeben. Wir sind die Flagellanten, und wir wollen, wir fordern, wir umarmen den Schmerz. Es ist an der Zeit, für unsere Sünden zu bezahlen. Es reicht nicht, sie zu bedauern, es reicht nicht, um Vergebung zu flehen, und es reicht nicht, von Noxana die gerechte Strafe zu erbitten. Es ist an der Zeit, dass wir die Strafe erleiden, die sie uns in ihrer unendlichen Gnade nicht schickt. Wenn sie morgen zu uns kommt, müssen wir frei von unseren Untaten sein. Sind wir Sünder, Leute? Sind wir schuldig?“
„Wir sind fürchterliche Sünder“, rief eine Stimme aus dem Kreis. „Ich bin der Schlimmste von allen.“
Natürlich wurde diese Behauptung sofort bestritten. „Nein, ich bin die Schlimmste.“
„Ich.“
„Nein, ich.“
„Ich bin der schlimmste Sünder von allen, aber ich bin so schlecht, dass ich es nicht verdient habe, dass ihr mir glaubt. Hallo, Bibiana.“
Also war er diesmal doch zum Großen Fest gekommen. „Hallo, Harry.“
Der Riese hob einen langen, dicken Ast.
„Lasst uns leiden. Lasst uns Schmerzen haben - im Namen der Göttin, im Namen des Todes, im Namen der Wahrheit. Zeigen wir es uns!“
Er holte aus und schlug den Ast mit voller Wucht gegen seine Stirn, zuckte zusammen, schüttelte den Kopf.
„Ja, es tut weh. Und genau das ist das Richtige. Der Schmerz besiegt die Sünde. Der Schmerz zeigt, dass es uns ernst ist. Überlasst euch dem Leid und bezahlt für eure Taten.“ Wieder schlug er zu. „Wir bereuen. Wir bitten um Vergebung.“ Und nochmal.
Er zeigte auf die grüne Decke, die auf dem Boden lag.
„Überwindet eure Angst. Überwindet euch selbst. Bedient euch. Nehmt die Werkzeuge, die hier liegen, und umarmt den Schmerz. Besiegt eure Wut und gebt euch der Göttin hin.“
Und nochmal ... und nochmal ... gegen die Stirn, die Schläfen, die Arme ...
Zögernd nahmen einige der Wesen die Werkzeuge auf und probierten sie aus, begannen mit leichten Schlägen auf die Unterarme und Oberschenkel.
„Überlasst euch dem Schmerz.“
„Das fühlt sich gut an“, sagte jemand überrascht. „Das ist echt.“
„Es ist echt und wahr und das Mittel gegen die Schuld. Überlasst euch dem Schmerz und gesteht eure Taten.“
Und dann knallte eine Peitsche -
„Ich bin von Natur aus böse.“
„Ich bin eine Sünderin.“
„Ich bin schmutzig und verkommen.“
Stöcke zischten durch die Luft -
„Ich bin eine Schlampe.“
„Ich habe fünfzehn Morde begangen.“
und ein Dornenzweig traf Bibiana im Nacken.
„Meine Seele ist verrottet.“
„Ich bin böse, abstoßend, hassenswert, aggressiv, gemein, unfähig, grausam, langweilig, gedankenlos, rücksichtslos, widerlich, schmutzig, schuldig, geizig, jämmerlich, armselig, hässlich, feige, dumm, ein Stück Scheiße mit Rotz drauf.“
„Ich werde nie sein, wer ich sein sollte.“
„Ich habe keine Rechte - es gibt an mir nichts Gutes - ich mache nur Fehler - es tut mir alles so leid - es tut mir so leid ... “
Jemand schluchzte wild. Bibiana sprang zur Seite, als ein Peitschenstiel sich in ihrem Schweif verfing und jemand die Hand nach ihr ausstreckte.
„Komm mit, mach mit, komm zu uns!“
Ein glänzendes Messer fuhr über blasse Haut wie eine silberne Sternschnuppe, jemand schwenkte eine Fackel, sie beschrieb leuchtende Kreise in der Dunkelheit. Bibiana roch immer noch das Opicaphin und hörte die Mundharmonika ...
und da war Blut im Gras ...
und der rote Nebel war überall ...


9

Es war der Morgen des 13. Juli, die Sonne schien, und die Lichtung im Gehirnwald war voll. Heute würde das himmlische Duell stattfinden.
Die meisten Serpígionisten hatten sich an die Vorgaben der religiösen Oberhäupter gehalten und trugen Grün und Gold oder wenigstens Kleidung in allen Regenbogenfarben. Bei Noxanas Anhängern war es etwas gemischter. Viele trugen noch ihre Kostüme von gestern, und manche waren von Kratzern und Striemen bedeckt.
Lionel Debar saß auf einem Podium und erklärte in regelmäßigen Abständen, er sei sicher, dass sie gewinnen würden, niemand würde ihn vom Gegenteil überzeugen, und keiner dürfe sich Sorgen machen.
Scoria saß an einem Holztisch, und alle paar Minuten kam jemand, um ihr Fragen zu seinem Leben oder zu Sinn, Ausgang und Konsequenzen des Duells zu stellen. Dann erklärte sie beispielsweise, dass das Leid an sich läuternd wirkte, dass strenge Strafen aber unnötig waren, da ja sowieso alle weiterhin Fehler machen würden, dass Noxana gewinnen musste und woran das lag. Die Priesterin war recht zufrieden mit ihrem Erfolg und der Tatsache, dass sie sich nicht zu sehr darüber freute.
Die Mitglieder der beiden Stadträte hatten sich ernsthaft für das Duell erwärmt und engagierten sich ebenfalls. Sie verteilten nicht korrekturgelesene Flugblätter mit Informationen in der Art von:

Liebe Besucherin, lieber Besucher!!!
Bitte seien sie sich darüber klar, dass Sie heute Zeuge einer bemerkens-werten Zeremonie werden. Behandeln Sie diese, mit Respekt und Zurück-haltung.
Sie können uns helfen indem sie Ihre geistige Energie ganz auf ihre jeweilige Gottheit konzentrieren.
Verzichten Sie bitte auf Kritik, Spott, und zersetzende Gedanken.
Geraten sie nicht in Panik, und lassen Sie sich nicht von Ungläubigen aus der Fassung bringen.
Bleiben sie ruhig und leisten Sie ggf. den Anweisungen der Ordner Folge.
Seien Sie auch auf das unerwartete gefasst.
Danke!
Viel Spaß!!!


Es standen große Zelte bereit, in denen Konzerte und Theateraufführungen statt fanden, und es gab kleine Zelte, in die die Besucher sich zurückziehen konnten, wenn sie ein bisschen Ruhe haben wollten. Imbissbuden standen bereit, es wurde viel getrunken und noch mehr gegessen. Es gab „Ich war beim Duell“-T-Shirts und „MeinE [bitte Substantiv einsetzen] war beim Duell und hat mir nur dieses blöde T-Shirt mitgebracht“-T-Shirts und ähnliches; es gab kleine Strohpuppen, Bilder jeder Art, Büchlein mit Prophezeiungen, Zitate aus dem Tentarium auf Pergament, in Schönschrift und auf Buttons, religiöse Kultgegenstände und Nachrufe.
Es gab eine improvisierte Flagellations-Vorführung, die einigen Anklang und auch ein paar Nachahmer fand. Daraus resultierte eine unerwartet hohe Nachfrage nach Peitschen und Messern, etwas später auch eine nach Pflastern und Desinfektionsmittel, und um zehn Uhr waren schon drei Souvenirstände dazu übergegangen, Keuschheitsgürtel zu verkaufen.
Auf beiden Seiten wehten natürlich Fahnen, und wie immer hingen Plakate an den Bäumen.

Keine Hoffnung = kein Hirn
Bereut, ehe es zu spät ist
SERPíG iO - FüR DiE ZUVERSiChT
Bitte keinen Müll liegen lassen!
Na ja. Und so weiter.

Es gab sogar eine Art Countdown, der allerdings nicht gerade technisch ausgereift war: An einem Baum war eine Liste mit Zahlen von null bis siebzehn angebracht, von denen jede Stunde eine ausgestrichen wurde, und daneben stand: STUNDEN BIS ZUR WAHRHEIT. Es hatten sich viele Wesen bereit erklärt, das Ausstreichen zu übernehmen, und schließlich hatte man fünf per Los ausgewählt.
Natürlich waren viele der Wesen noch betrunken, anderweitig berauscht, enthusiasmiert oder schlicht aufgeregt. Es gab die üblichen Ohnmachten, die bei Versammlungen auftreten, aber noch in einem annehmbaren Maß. Es fanden auch einige Schlägereien statt, aus religiösen Gründen oder weil jemand jemandem im Weg stand. Von Zeit zu Zeit griffen Ordner ein und sorgten dafür, dass es ruhig blieb und auch die Wesen von ganz hinten mal in die Mitte der Lichtung konnten. Die Stimmung war aufgeheizt, aber noch hatte man alles unter Kontrolle.

***

75 Prozent des PTRÖGBLT hatten sich um acht Uhr morgens am nördlichen Stadttor getroffen, waren auf dem Weg ins Moor und fürchteten schon nach zehn Minuten, sich verirrt zu haben.
Der Weg schien ungefähr folgender zu sein: Man musste am steinernen Drachen vorbei durch das Stadttor gehen, durch den Sumpf waten, bei einem Ring aus Findlingen links abbiegen, den Brausenden Bach überqueren, einem Krater ausweichen und einen schmalen Durchgang zwischen Felsbrocken finden, durch den man die Höhle erreichte.
Prinzipiell war es gar nicht so schwierig.
„Ich bin sicher, wir müssen hier nach links“, sagte Dan. „Ich war letztes Jahr schon mal hier, und ich bin bestimmt an dieser Stelle abgebogen.“
„Letztes Jahr hast du dich VERIRRT. Du hast mir davon erzählt“, sagte Contumelia.
„Ich hab mich nicht richtig verirrt. Es war nur ein Umweg.“
„Wir haben aber nicht ewig Zeit.“ Contumelia versuchte, die Karte wieder zusammenzufalten, eine Aufgabe, für die man tatsächlich dämonische Fähigkeiten braucht. „Ich glaube, wir müssen noch mindestens fünfzehn Minuten geradeaus gehen.“
„Von mir aus.“

„Meint ihr, das ist der Brausende Bach?“ fragte Contumelia etwas später. Sie wich aus, als ein Brombeerbusch mit einer Ranke nach ihr schlug.
Bibiana betrachtete ihn nachdenklich. „Es ist ein brausender Bach. Wahrscheinlich sogar mit großem B. Und andere sind hier nicht in der Nähe. Wird schon der richtige sein.“
Bibiana gähnte, sie war noch von gestern müde. Sie hatte eine ganze Weile auf dem Friedhof verbracht, um den Flagellanten zuzusehen - als es ihr zu enthusiastisch wurde, hatte sie sich verzogen. Danach hatte sie eindeutig zu viel getrunken und zu viel Opicaphin-Nebel eingeatmet, bevor sie schließlich nach Hause gegangen war. Hier in den Sümpfen war es kühl und trübe, und sie fror.
„OK, dann los“, meinte Dan.
Bibiana trabte an, galoppierte dann an und sprang. Dan machte nur einen sehr langen, langbeinigen Schritt. Contumelia nahm etwas Anlauf und sprang - natürlich - elegant.
Wie sich herausstellte, war es tatsächlich der Brausende Bach gewesen, und sie waren jetzt auf dem richtigen Weg. Sie gingen noch eine Weile durch den Sumpf, stolperten über Steine, krochen durch Öffnungen in Felsen und diskutierten über die beste Strategie für heute abend, bis sie bei der Stelle ankamen, an der Dan die Höhle des Einsiedlers vermutete.
„Letztes Jahr war sie hier.“
„Wo denn?“
„Na, hier. Glaube ich jedenfalls.“
„Du weißt es also nicht.“
„Nein, nicht genau. Tut mir leid.“
Ein kollektiver Seufzer.
„Warum schwärmen wir nicht aus?“ fragte Dan. „So finden wir schneller was. Ich bin sicher, irgendwo hier ist die Höhle, und irgendwo in ihrer Nähe sind diese verdammten Dinger. Ich hab ein ... wartet mal.“ Längeres Wühlen im Rucksack und emsiges Blättern. „Guckt mal, hier - Augenblick - hier ist ein Bild. Wir suchen einfach etwas, das so aussieht und schrecklich riecht, und alle nehmen so viele Blumen mit wie möglich.“
Er hatte leider nur ein Bestimmungsbuch, aber er wusste so einigermaßen auswendig, wie die Krone der Pestilenz aussah. Contumelia und Bibiana losten mit unterschiedlich langen Grashalmen aus, wer das Buch mitnehmen durfte, und Bibiana verlor. Sie hatte bei solchen Spielen nie Glück. Also sah sie sich das Bild nur lange gründlich an und hoffte, das würde reichen.
Contumelia verteilte Tücher als Schutz vor dem Geruch und einigermaßen dicht schließende Plastikboxen. Sie meinte, wenn der Geruch der Orchidee wirklich so schlimm war, würden sie die brauchen, um sie transportieren zu können.
„Du bist ein Engel, daran zu denken“, sagte Dan, der natürlich NICHT daran gedacht hatte. „Wann treffen wir uns wieder?“
„Augenblick. Anderthalb Stunden für den Weg von hier nach Thanaton, letzte Vorbereitungen, anderthalb Stunden für den Weg von Thanaton zum Gehirnwald ... Treffen in - drei Stunden?“ schlug Contumelia vor.
Dan nickte. „Ja, müsste gehen. Dann ist es eins, wir haben noch Zeit, die Pflanzen zu überprüfen und weiter zu planen. Ich denke, mit etwas Glück müssten wir rechtzeitig im Gehirnwald sein.“
Und so verschwanden sie in verschiedene Himmelsrichtungen, den Blick auf den Boden gerichtet und emsig schnüffelnd.
Bibiana sah den anderen nach, bevor sie Richtung Osten ging. Verdammt, hof-fentlich reicht die Zeit. Wenn wir jemals wieder so was machen, müssen wir es erstens früher und zweitens besser planen.
Vor ihr lag ein breiter Graben. Bibiana überlegte zu springen, aber es war ihr zu riskant. Statt dessen ging sie im Zickzack die Böschung hinunter. Sie sprang zur Seite, als ein gespaltener Baum nach ihr schnappte, rutschte ab und steckte im nächsten Moment mit der Vorhand in einem Sumpfloch fest.

***

Gewisse öffentliche Veranstaltungen ziehen schlechte Dichter an, und zu ihnen gehörte auch Catalpa Qualsoz. Er hatte gerade den Findling erstiegen und räusperte sich.
„Wesen von Positron, ihr kennt mich. Wesen von Thanaton - freut mich, euch zu sehen. Ich habe ein Gedicht für Serpígio geschrieben. Hoffentlich gefällt es euch.
Wenn die Götter im Gehirnwald vor uns stehen,
werden wir die Wahrheit sehen,
sie werden sich bekriegen,
aber das Gute wird siegen.
Dann wird es keine Angst mehr geben,
wir werden voller Freude leben,
Serpígio errettet uns bald
im Wald.“



Lionel Debar hatte viele gute Gedichte gelesen und hielt diesen Vortrag nicht aus. Er stand von seinem Podium auf und ging zu Scoria. „Wie läuft‘s?“
„Gut, herzlichen Dank. Natürlich sind wir fehlerhaft und nicht gut genug, aber ich glaube, wir sind immer noch besser als ihr. Und selbst?“
„Perfekt. Hätte mich auch sonst gewundert. Ich glaube, wir haben heute einer ganzen Menge Wesen den richtigen Weg gezeigt.“
„Wie schön für dich. Du siehst also keine Probleme?“
„Nein, bei uns läuft es sehr gut. Vielleicht liegt es ja daran, dass Serpígio mit uns zufrieden ist. Wieso, hast du vielleicht ein Problem? Ach so, natürlich, ihr seht ja immer Probleme.“

„Unser Glück wird bald perfekt sein,
jeder Kummer wird versteckt sein,
Zweifel wird von Glück verdeckt sein
und niemand erschreckt sein."



„Das Problem ist die gesamte Welt und besonders eure Weltanschauung. Aber jetzt entschuldige mich. WIR helfen Wesen, die Hilfe brauchen, also werde ich mich mal um den Typen da drüben kümmern, der sich in seiner Peitsche verfangen hat.“

„Keine Stunde ohne Freude,
das Ende von all unserm Leide,
niemals Kummer, niemals Pein.
Das ist fein.
So soll es sein.“



***

Das war ein Problem. Bibiana spürte, wie der Schlamm an ihr saugte, kleine schmatzende Geräusche.
Sie zappelte, versuchte die Vorderbeine zu heben, streckte die Arme aus und angelte erfolglos nach einem Busch an der Böschung, aber sie steckte fest.
Schreien?
Gerade als sie tief Luft holte und sich bemühte, nicht in Panik zu geraten, stach eine Bremse sie in die Kruppe. Ihre Hinterhand, die nur bis etwas über die Fesselgelenke im Schlamm steckte, fuhr automatisch nach oben, Bibiana fiel nach vorne, streckte die Arme aus, um sich abzustützen, landete auf den Vorderfußwurzelgelenken (das sind DIE Teile der Pferdebeine, die man gern als Knie bezeichnet, was in anatomischer Hinsicht aber falsch ist), den Hintern hochgestreckt. Ihre Vorderhufe lösten sich mit einem seltsamen rülpsenden Geräusch aus dem Schlamm, und sie fiel ausgesprochen unelegant auf einen Haufen Reisig auf der anderen Seite des Grabens.
Wow. Das war allerdings nicht schön gewesen.
„Bravo“, sagte jemand. „Das gelingt nicht vielen.“
„Wie bitte?“
Der Einsiedler stand oben an der Böschung. Er trug ein schwarzes Lendentuch, einen weißen Bart, ein irres Glitzern in den Augen und einen grünen Brustbeutel. „Ich bin beeindruckt, dass Sie es aus dem Sumpf raus geschafft haben.“ Er setzte sich auf einen verfaulenden Baumstamm.
„Sie haben mich gesehen?“ fragte Bibiana, während sie sich die Böschung hinauf hangelte.
„Nein, ich bin gerade erst dazu gekommen. Vorher war ich in meiner Höhle.“ Er deutete hinter sich, auf etwas, das Bibiana bisher für ein Erdloch in einem Hügel gehalten hatte. „Als ich kam, waren Sie gerade aus dem Schlamm raus.“
„An so einer Stelle müssten die Götter eingreifen“, sagte Bibiana streng. „Warum haben sie das nicht gemacht?“
„Haben Sie gebetet?“
„Dazu bin ich nicht gekommen.“
Der Eremit zuckte die Achseln. „Dann können Sie nicht verlangen, dass sie Ihnen helfen. Sie können ja nicht für alles zuständig sein.“
„Wenn sie allmächtig sind und sehen, dass ich Hilfe brauche, sind die Götter zuständig. Während ich gerade versinke, denke ich ja nicht unbedingt ans Beten.“
„Wenn man in einer Notlage ist, sollte man beten, damit macht man es Noxana sehr viel einfacher, diese Notlage auch zu bemerken. Schließlich kann sie sich ja nicht um alles gleichzeitig kümmern. Und wer wirklich gläubig ist, wird auch daran denken, zu beten. Außerdem nehme ich an, sie hat gerade einge-griffen.“
„Hm?“
„Na, sonst wären Sie ja nicht rausgekommen. Aber Beten wäre besser gewesen.“
„Sie meinen also, wenn man nur genug betet, wird man gerettet? Gibt es da irgendwelche Beispiele?“
„Oh, ja. Haben Sie denn das Tentarium nicht richtig gelesen? Serpígio hat ein Dorf unter einer Schlammlawine begraben, um Xanadas Sohn vor der Pest zu retten. Oder denken Sie an Sheila. Sie brachte die Smaragde der Gnade von Brs nach Wfw. Die bissigen Dornbüsche wichen vor ihr zur Seite, und die Sonne verbrannte sie nicht, und als ihr Schiff sank, schickte Noxana ihr eine Holzplanke, auf die sie sich retten konnte.“
„Warum hat Noxana nicht lieber das Schiff gerettet?“
„Die Pläne der Götter sind für uns nicht verständlich. Götter tun, was sie wollen, und am Ende ist es richtig, und es hilft überhaupt nichts, wenn man sich darüber beschwert. Sie wusste sicherlich, was sie tat. Vielleicht waren die anderen Passagiere böse, jedenfalls nicht so gut wie Sheila. Und lange nicht so gläubig.“
„Und als sie ertrunken sind, wurden sie gläubiger?“
Der Eremit beschloss, diesen Satz zu ignorieren. „Ich bin sicher, Sie sind nicht hergekommen, um mit mir über Religion zu diskutieren. Kann ich Ihnen weiterhelfen? Ist irgendwas passiert?“
Bibiana nickte. „Kann man so sagen. Schön, dass ich Sie gefunden habe, ich suche Sie nämlich schon seit einer Weile.“
„Na, dann erzählen Sie mal. Einen Tee?“
„Sie haben hier Tee?“
„Manchmal kommen ja Besucher.“
Der Quoteneinsiedler nahm einen Armvoll Zweige von dem Reisighaufen, zog eine Streichholzschachtel aus seinem Brustbeutel und entzündete auf einer Felsplatte vor seiner Höhle ein Feuer. Er füllte einen rostigen Kessel mit Wasser, hängte ihn an eine Eisenkette, die an einem Ast über der Felsplatte befestigt war, und setzte sich wieder hin. „Und was kann ich nun für Sie tun?“
„Haben Sie gehört, was heute abend im Gehirnwald los ist?“
„Ich höre hier nicht sehr viel. Bitte erzählen Sie mir davon.“
Das tat sie.
...
„Oh“, sagte er. „Oh.“
Bibiana wartete ein paar höfliche Sekunden, schlürfte den bitteren Tee (inzwischen war sie bei der dritten Tasse) und verscheuchte Fliegen. Der Eremit saß sehr still, das Kinn in die Hände gestützt. Seine Augen weiteten sich langsam, und er begann zu zittern.
„Nein, das kann nicht sein“, sagte er dumpf. „Die Götter sind allmächtig ... allwissend ... sie kämpfen zu lassen wie Hähne - das ist Blasphemie. Wenn wir sie rufen, werden sie uns zürnen ...“
„Eben“, sagte Bibiana.
„Die Götter werden uns strafen, und die Sterne werden herniedersinken ... das Grau wird die Farbe besiegen, und die Steine werden glühen ...“
„Genau.“
„Wasser und Feuer werden über uns kommen, und wir werden verdammt sein bis in alle Ewigkeit ...“
Langsam wurde er ihr unheimlich. „Schon, aber ich fürchte, ich hab nicht mehr viel Zeit. Können Sie uns bitte helfen?“
Der Einsiedler schüttelte den Kopf, schluckte ein paar Mal und sprach dann mit weniger hohler Stimme. Er hatte immer noch riesige Pupillen, aber sonst sah er wieder ganz normal aus, zumindest für seine Verhältnisse.
„Ich werde Ihnen helfen“, sagte er feierlich. „Also ... Sie brauchen eine Pflanze, um die Zeremonie zu stören? Was für eine Pflanze?“
Bibiana hatte es sich auf die Hand geschrieben und konnte es sogar noch lesen. „Bulbophyllum beccarii

. Eine Orchideenart. Dan sagt, Sie haben sie gefunden. Sie wird auch als Krone der Pestilenz bezeichnet.“
„Ach, DIE!“

***

Normalerweise war Bartloser Harry äußerst wütend, wenn er morgens aufwachte. Weil er genau wusste, wo und wer er war, und mit beidem nicht leben konnte. Er hatte nichts zu erwarten, nichts Sinnvolles zu tun, niemanden, den er liebte, und nichts, gegen das er kämpfen musste. Es war einfach nur schon wieder so ein Tag, und er hasste es, aufzuwachen.
Mit einer gelegentlichen Abwechslung, wenn er unerwartet etwas überlebt hatte und in einem Krankenhaus des Drakonischen Werkes aufwachte. Dann war er für eine Weile in einer leicht irren, ungerechtfertigt euphorischen Stimmung, die schnell wieder nachließ - spätestens, wenn sie die Medikamente absetzten.
Heute war es anders. Er lag allein auf dem Zentralfriedhof, nackt, durchgefro-ren und schlammbedeckt, und er fühlte sich besser als je zuvor. Er war von Schrammen und blauen Flecken übersät, und es hingen immer noch Dornen in seinen Haaren. Dieses Gefühl, der Schmerz, war echt und ehrlich und der Beweis, dass er alles bereut hatte.
Aber es war nicht nur das. Da war noch was anderes, das den heutigen Tag zu etwas Besonderem machte. Verdammt nochmal, heute war Der Tag. Die Götter würden auf die Erde kommen und ihm sagen, wer er war und warum er fühlte, was er fühlte. Die Wahrheit würde ans Licht kommen, und ...
„Scheiße!“
Er sprang auf. Wie spät war es eigentlich? Wo waren alle? Es war doch wohl noch nicht so spät, dass er das Duell verpasst hatte?
„Würde mir recht geschehen“, murmelte er. „Wie alles.“ Und zögerte dann.
Vielleicht doch nicht?
Vielleicht hatte er es gar nicht verdient. Konnte das sein? Er hatte sich gestern abend so lange mit Dornenzweigen geschlagen, er hatte so vieles gestanden und sich so bemüht, zu bereuen. Angenommen, die Götter haben das gesehen? Angenommen, sie verzeihen mir jetzt, was ich bin?
Nein, dachte er, das hast du schon so oft gehofft, du hast schon so oft so viel zugegeben, und es hat nie lange gewirkt. Hoffe gar nicht erst was, dann tut es nur noch mehr weh, wenn du wieder alles zerstörst.
Warum soll ich das vermeiden? Ich denke, ich hab es verdient, dass alle mir weh tun?
Egal, die Hauptsache ist, dass du auf nichts hoffen darfst. Fang bloß nicht an, dir einzubilden, dass es hilft, was du tust. Du bist böse und schuldig, und noch so viele Geständnisse können das nicht beseitigen.
Aber wenn es nun doch so sein sollte?
Die Stimme - diese merkwürdige Hoffnung-trotz-allem - war nicht totzukriegen. Er hatte gedacht, er hätte sie ausgeschaltet, aber sie meldete sich immer noch. Spürte er jetzt weniger Schuld als früher? Hatte die Flagellation ihn erlöst? Nein ... nein, er war immer noch schuldig, aber war es vielleicht doch etwas weniger schlimm? Er wusste es nicht. Aber die Hoffnung war da, diese vage und vermutlich sündige Idee, dass die Götter möglicherweise seinen Schmerz gesehen hatten und ihm jetzt glaubten, dass er das alles nie gewollt hatte, dass sie ihm doch gnädig gesinnt sein könnten.
Wenn sie mir nun heute abend verzeihen sollten?
Das kannst du erst heute abend wissen, korrigierte er sich selbst. Und vermutlich klappt es sowieso nicht, weil bei dir nie was klappt. Jetzt finde raus, wie spät es ist, und beeil dich, damit du rechtzeitig beim Duell bist. Aber zieh dir erstmal was Anständiges an, dein Körper ist genau so schmutzig wie deine verrottete, widerliche Seele.
Wenn es nun ab heute abend mit solchen Gedanken vorbei wäre ...
Angenommen, es war nur eine Prüfung? Angenommen, die Götter sagen mir heute abend, dass ich bestanden habe und jetzt ein gutes Wesen bin?
Harry hatte Glück. Auf der großen Uhr am Schuldturm war es erst halb zwölf -er hatte noch jede Menge Zeit, sich vorzubereiten. Also machte er sich auf den Weg. Dass er nackt war, störte ihn nicht, er hatte schon vor längerer Zeit gelernt, sich nicht um solche Dinge zu kümmern, und außerdem war ja eh fast niemand in der Stadt. Wichtig war, dass er die Vorbereitungen erledigte, um den Göttern heute nachmittag gegenübertreten zu können.
Und es gab genug Vorbereitungen zu erledigen.
Nur mal ANGENOMMEN, dass ich vielleicht doch ...?

***

Die Krone der Pestilenz roch tatsächlich so schlimm, wie man es sich nur wünschen konnte. Bibiana atmete tief durch und zog sich das Tuch über Nase und Mund. „Das ist sie also?“ fragte sie überflüssigerweise.
„Ja.“ Der Eremit blieb ein Stück weiter weg stehen. Er wirkte stolz. „Vor anderthalb Jahren hab ich sie gefunden, und sie wächst immer noch hier. Sehen Sie? Ich wusste doch, dass sie Ihnen gefallen wird.“
„Na, gefallen ... Ich denke, sie eignet sich für unsere Zwecke.“
Eigentlich sah die Orchidee recht hübsch aus. Sie rankte sich bis in eine Höhe von drei Metern um einen Baumstamm, hatte große schalenförmige Blätter und kleine gelbe Blüten mit Rot dazwischen. Wenn sie nicht so stark nach Aas gerochen hätte, dann hätte sie Bibiana wohl wirklich gefallen, aber ihr war jetzt schon schlecht.
Mit einiger Mühe und sehr flach atmend schaffte sie es, einige der Blüten abzupflücken und sie in die Plastikbox zu stecken. Sie gingen zurück zu der Höhle. Bibiana verabschiedete sich von dem inzwischen sehr besorgten Einsiedler, der meinte, dieses Duell könne nur schiefgehen und sie sollten sich bei der Aktion bloß Mühe geben; dann ging sie los und suchte die anderen.

***

Das Große Fest lief wie geplant. Redner hielten ihre Ansprachen, die Sanis gaben Erste-Hilfe-Tipps, es wurde Theater gespielt, Musik gemacht und viel gegessen, ein paar Wesen geißelten sich weiterhin, und generell lief alles gut. Igny und Eld waren inzwischen auch aufgetaucht und schwirrten über den Platz. Igny versuchte, einigermaßen den Überblick zu behalten, um für nachher planen zu können, ließ sich aber permanent von Bekannten, Bildern oder provozierenden Bemerkungen von irgendwelchen Fremden ablenken.
Um kurz nach drei zogen drei Pferde - ein Rappe, ein Rappschecke und ein Schimmel - den Kessel für die Zeremonie auf den Platz.
Es war ein ausgesprochen klischeehafter Kessel, riesengroß und schwarz mit einigen Rostflecken. Eine Hexe aus dem Dorf Ävään hatte ihn für zwei Kröten und fünf Pilze gestiftet. Als erstes wuschen die religiösen Oberhäupter mit Hilfe einiger Stadtratsmitglieder und anderer freiwilliger Helfer den Kessel gründlich aus, um die bösen Geister zu vertreiben, wenn es welche gab, und die Bazillen zu killen, die es sicherlich gab. Dann transportierten sie ihn auf das Grab von Tentarius, wo er auf einen Rost gestellt wurde, unter dem man Holz aufschichtete. Und dort stand er jetzt, groß, beeindruckend und bedrohlich.
„Er gefällt uns nicht“, sagte Lionel Debar nach einer kurzen Beratung mit den Mitgliedern des Positroner Stadtrates.
Scoria, die die Hexe aufgetrieben hatte, seufzte. „Was ist denn jetzt wieder?“
„Serpígio wird einen hässlichen Kessel missbilligen, und wir möchten etwas haben, das mehr zu unserem Glauben passt.“
„Das ist der einzige Kessel, den wir kriegen konnten.“
„Ja, aber wir möchten ihn schmücken, damit Serpígio nicht den Eindruck hat, wir hätten uns weniger Mühe gegeben als ihr. Können wir ein paar Sonnenblumen am Henkel befestigen?“
„Von mir aus. Darauf kommt es im Angesicht der Ewigkeit ja nun wirklich nicht mehr an.“

***

Auf dem Rückweg hatten die Mitglieder des PTRÖGBLT nicht nur die Orchidee im Gepäck, sondern auch eine Stinkmorchel von Dan und einen toten Spatz, den Contumelia mitgenommen hatte, um nicht mit leeren Händen anzukommen.
Sie steckten ihre Beute sehr eilig in eine der Plastikboxen und behielten auf dem ganzen Rückweg ihren Nasenschutz auf, aber trotzdem glaubten sie den Geruch zu spüren.
„Wenn DAS die Zeremonie nicht stört, haben sie wirklich göttlichen Beistand“, sagte Contumelia, und der Rest stimmte ihr zu.
Um kurz nach drei nachmittags kehrte Bibiana Epon, apokalyptische Zentaurin, halb Mensch und halb Tier, mit Dornenzweigen im Haar und Schlamm im Fell, rechts neben ihr eine Fledermausdämonin und links neben ihr ein lebender Schatten mit glühenden grünen Augen und langen silbernen Krallen, aus den Düsteren Sümpfen von Scintilla zurück in die Stadt des Todes.
Der Drache am Stadttor rümpfte die Nase, ließ die Gruppe aber vorbei. Bibiana begann halbherzig, verschiedene Pflanzenteile aus ihrem Fell zu pflücken, zog an einer widerspenstigen Klette, schüttelte sich und betrachtete die leeren Straßen.
„Tja, da wären wir“, sagte sie. „Es kann losgehen.“


10

„Also dann“, sagte Lionel Debar. „Es ist fast fünf. Wir wollen anfangen.“
„Nur dürfen wir uns nicht zu wichtig nehmen. Wir müssen uns daran erinnern, dass der Verlauf dieses Abends einzig und allein vom Willen der Götter abhängt“, bemerkte Scoria automatisch.
Debar verdrehte die Augen. „Schon gut.“ Dann mit Stentorstimme:
„All ihr Gläubigen unserer Städte, das Duell der Götter kann beginnen! Wir werden ihnen Opfer bringen und eine Ansprache an sie halten, und wenn wir ehrlich an ihr Kommen glauben, werden sie auch auftauchen. Bitte unterstützen Sie alle uns mental! Das heißt, denken Sie daran, dass Sie wollen, dass die Götter kommen.“
Es sollte eine fröhlich eklektizistische Zeremonie werden: Sie hatten alles Mögliche verwendet, das ihnen passend erschien, und hofften, dass die Götter die Botschaft dahinter verstehen würden. Es hatte lange Diskussionen und Berechnungen erfordert, den gerechten Anteil beider Oberhäupter an der Zeremonie festzulegen - am Ende hatte Scoria seufzend gesagt, ihrer Meinung nach sei es zwar immer noch ungerecht, aber Positron werde schließlich schon am Abend dafür büßen.
„Wir beginnen jetzt. Zuerst werden wir den Kessel mit einer magischen Flüssigkeit füllen“, verkündete Scoria.
Die religiösen Oberhäupter und ihre freiwilligen Helfer hievten den Kessel auf den Rost und füllten ihn aus 20-Litern-Kanistern, die jemand gespendet hatte, mit Wasser, dann fügten sie sieben Flaschen Weißwein hinzu. Ein Teil des Publikums stand schon im Kreis um das Grab herum und wartete geduldig.
Neben dem Kessel lagen auf einem Silbertablett die Gegenstände bereit, die die Götter für Wettkämpfe nutzen konnten, wenn sie wollten. Degen für einen eventuellen Fechtkampf, Würfel für Glücksspiele und Steine, die sie in Gold verwandeln konnten. Eine Frau hatte sich als Versuchsobjekt angeboten: Die Gottheit, die ihre Hühneraugen beseitigen konnte, sollte gewinnen. Aber das hatten beide Stadträte abgelehnt.

Der PTRÖGBLT hatte einen Abstecher nach Hause gemacht, um sich in einen halbwegs vorzeigbaren, also unauffälligen Zustand zu bringen und sich um etwas Werkzeug zu kümmern. Bibiana trug jetzt eine silbergraue Bluse mit Fledermausärmeln und die blauen Gamaschen, und sie hatte ihre Haare mit einem roten Band zurückgebunden. Sie kamen um halb sechs zum Gehirnwald. Ein Stück vor der Lichtung trennten sie sich, sicher ist sicher.
„Am besten, wir suchen Igny und checken, was gerade geplant ist“, sagte Contumelia. „Treffen wir uns in zehn Minuten wieder hier.“
Als sie allein war, wurde Bibiana von einer Bekannten aus Positron aufgehal-ten, die links neben dem Bauernhof wohnte und wissen wollte, wie es in Thanaton denn so WAR, war es wirklich alles so unheimlich? Bibiana erzählte ein bisschen, versuchte, nicht nervös zu wirken, und fragte sich, ob sie den nächsten Monat über Gesprächsthema der ganzen Straße sein würde.
Als die Nachbarin weitergegangen war, lief Bibiana prompt einem der waran-artigen Wächter in die Arme, die sie damals am Grab aufgeschrieben hatten. Der Wächter fungierte jetzt als Ordner, und er erkannte sie auch wieder.
„Oh, hallooo. Sie sind doch diese eine Touristin, oder?“
„Schon.“
„Und sind Sie jetzt Noxie?“
„Ich bin nur eine Besucherin, und außerdem geht Sie das nichts an.“
„Doch, tut es. Sie beleidigen hier meinen Gott, also geht es mich sehr wohl was an.“
„Ach, ich hoffe doch, dass Serpígio mit abweichenden Meinungen umgehen kann. Aber wenn Sie dagegen sind ... was wollen wir dann tun? Uns prügeln, oder was?“
Er ballte die Faust, und sein Kragen richtete sich langsam auf. Dann entspannte er sich und grinste. „Nein. Mit Frauen schlage ich mich nicht. Schicken Sie einen Mann, den mache ich fertig.“
Oooh, das nannte man wohl altmodische Ritterlichkeit. „Ich versichere Ihnen, dass ich härter zuschlagen kann als eine ganze Menge Männer“, sagte sie.
„Das ist egal, mit Frauen macht man das nicht.“ Noch eins der Dinge, die EINFACH SO WAREN. Wenn man Frauen schon schlug, dann auf die anständige Art: zu Hause. „Schicken Sie ‘n Mann, der für Sie kämpft. Aber schicken Sie ihn erst morgen. Wenn wir gefeiert und das Duell angeguckt ham und den Kater los sind. Und wenn ihr morgen noch könnt. Gleich treten wir euch in den Arsch!“
Als der Wächter weg war, ging Bibiana auf die Suche nach Igny, fand es aber nicht und kehrte zum Treffpunkt im Wald zurück. Contumelia und Igny warteten schon, Dan kam gerade aus der anderen Richtung.
„Seid ihr endlich da!“ sagte Igny. „Also, es sieht SO aus: Sie bereiten gerade die Beschwörung vor, deshalb stehen sie jetzt die ganze Zeit beim Kessel, und wir können nichts machen. Bei den Opfergaben danach auch nicht. Die Zeremonie wird glaub ich ziemlich lange dauern. Aber zum Schluss halten sie noch eine Ansprache an die Götter. Wahrscheinlich gehen sie dazu vom Kessel weg und steigen statt dessen auf den Findling, wie bei anderen Ansprachen. Dann sind sie ein Stück von Tentarius‘ Grab weg und haben den Kessel nicht mehr so im Blick. Und in dem Moment können wir was tun.“
Es dauerte nicht mehr lange, bis sie das geplant hatten.
„Wo hast du das Zeug hingetan?“ zischte Bibiana Dan zu.
„In meinen Rucksack. In der Vordertasche.“
Bibiana nahm ihm den Rucksack ab und stellte erleichtert fest, dass er Recht hatte. Sonst wäre es allerdings peinlich geworden. Sie stopfte die Plastikdose in ihren Ärmel und hoffte, sie würde nicht allzu sehr auffallen.
Jetzt mussten sie nur noch warten, bis die Zeremonie begann. Bis dahin trennten sie sich lieber wieder.

***

Als der Kessel bis zum Rand gefüllt war, bedankten sich Scoria und Lionel Debar bei den freiwilligen Helfern, die daraufhin das Grab verließen. Den Rest der Zeremonie mussten die beiden allein durchführen.
„Jetzt werden wir den Kessel gegen böse Einflüsse schützen“, sagte Debar. „Wir werden ihn mit einem magischen Zirkel umgeben.“
Mit einem Stock zog er einen Kreis von etwa drei Metern Durchmesser um den Kessel, während Scoria mit einem Messer die passenden Worte in die feuchte Erde daneben ritzte: Liebe, Licht, Glück - Trauer, Nacht, Gerechtigkeit ... Gehorsam ... Strafe ... und so weiter.
„Jetzt schüre ich das Feuer des Glaubens und der Ehrlichkeit.“ Scoria entzündete das Feuer unter dem Rost.
„Während wir darauf warten, dass das Wasser kocht, werden wir noch einige Kräuter mit positiven Einflüssen hinzufügen“, sagte Debar und schüttete aus einem kleinen Leinenbeutel Kamille, Fenchel und Salbei in den Kessel. Es roch nach Kräutertee.

***

Bibiana war nicht überrascht, als ihre Eltern plötzlich vor ihr standen, aber sie hatte nicht erwartet, dass sie ...
„Ihr habt die Schafe mitgebracht?“
Es ist bekanntlich eine schlechte Angewohnheit, auf das Offensichtliche hinzuweisen, aber sie konnte den Satz nicht mehr aufhalten. Ja, ihre Eltern hatten die Gesellschafe mitgebracht, und sie schienen sich auf der Veranstaltung recht wohl zu fühlen. Blökend kamen sie zu Bibiana herüber, drückten die Schnauzen in das weiche Fell an ihrem Bauch und wollten gestreichelt werden. Sie konnte natürlich nicht widerstehen.
„Wir konnten sie nicht zu Hause lassen“, sagte ihr Vater. „Sie haben uns mit diesem Blick

angeguckt.“
„Genau“, sagte Bibianas Mutter und umarmte sie. „Hallo.“
„Hi. Tut mir leid, dass ich nicht mehr geschrieben habe.“
„Nicht so schlimm. Geht‘s dir gut?“
„Ja, doch. Und wer kümmert sich um die anderen Tiere?“
„Mgaeoi. Sie wäre auch hergekommen, aber sie hat sich den Knöchel verstaucht. Na ja, um die Tiere zu versorgen, reicht es gerade noch.“
„Wenn es heute nacht länger dauert, wir haben ein Zelt mitgebracht“, fügte Enrique hinzu. „Das Duell mussten wir uns unbedingt angucken. So was darf man nicht verpassen.“
„Ist Jimmy auch da?“
„Natürlich“, sagte Jimmy, der gerade herüberkam. Bibiana fiel ein, dass sie das Geschenk für ihn vergessen hatte. „Was machst du? Wie geht‘s dir?“
„Na ja, eigentlich ganz gut. Lange nicht gesehen, was?“
So lange war es ja gar nicht, höchstens - Augenblick - genau drei Wochen. Aber es kam ihr länger vor, wie das in solchen Fällen immer passiert.
„Catalpa lässt dich übrigens grüßen“, sagte Simona.
„Oh, danke. Was macht ihr denn so?“
„Na jaaa, wir bauen jetzt Hopfen an. Nokando ist abgereist, aber er will wiederkommen.“
„Terracotta hat sich irgendeinen Pilz geholt“, ergänzte Enrique. „Und das war‘s eigentlich.“
„Und was machst du jetzt?“ fragte Jimmy. „Wie ist das hier?“
Bibiana zuckte die Achseln. „Komisch.“
In diesem Moment wurde es in der Nähe des Grabes unruhig.
„Ich glaube, sie sind mit den Vorbereitungen fertig“, meinte Enrique aufgeregt. „Lasst uns hingehen.“
Simona sah Bibiana an. „Kommst du mit? Oder ...“ Sie zögerte. „Bist du noch ... auf welcher Seite stehst du jetzt?“
„Ich seh nur ein bisschen düsterer aus. Ich bin nicht zum Noxanismus überge-treten, wenn du das meinst.“
Simona nickte.
„Hier ist Religion viel - na, man hat mehr damit zu tun“, sagte Bibiana. „Aber ich hab mich zu nichts verpflichtet. Und ich steh auch auf keiner Seite. Ich komme gleich nach, in Ordnung?“
„In Ordnung.“
Von den blökenden Schafen gefolgt, machte ihre Familie sich auf den Weg in Richtung Kessel. Bibiana ging von der Nordseite heran, weil Debar und Scoria auf der Südseite standen, und hoffte, sie würden sie nicht allzu schnell bemerken.

***

„Hiermit beginnen wir die Zeremonie zur Beschwörung der Götter“, sagte Lionel Debar. Inzwischen stand der größte Teil des Publikums im Kreis um das eingezäunte Grab und wartete. „Wir sind bereit, den Göttern unsere Opfer darzubringen.“
„So beginnt das Duell, das uns endlich den wahren Glauben zeigt. Wir sind bereit“, sagte Scoria. „Bitte wiederholen Sie nach jeder Opfergabe mit uns:
Gesellt euch zu uns, o gütige Götter,
gewährt uns die Gunst und gewinnt uns das Glück.“
Scoria ließ einen Achat in den Kessel fallen. „Ich opfere einen Augenstein für die Allessehende.
Gesellt euch zu uns, o gütige Götter,
gewährt uns die Gunst und gewinnt uns das Glück.“
Das Publikum sprach die Worte zögernd mit.
Bibiana trat von hinten in die Menge und schob sich ganz langsam und vorsichtig nach vorn, bis sie direkt am Zaun stand.
Hm.
So was konnte sie doch.
Hm.
Na, dann mal los. Bei einem Zaun kann man nur auf der falschen Seite sein.
Holz, drei Reihen Bretter, festgeschraubt und zusätzlich mit Drähten befestigt.
Springen konnte sie auf jeden Fall nicht, weil der Zaun zu hoch war und sie keinen Anlauf nehmen konnte. Neulich hatte sie sich überlegt, das Sinnvollste sei es, die Bretter auf einer Seite zu lösen, sie zur Seite zu biegen und dann hindurch zu schlüpfen. Lange Bretter - also waren sie biegsam. Aber weil sie von außen an die Pfähle geschraubt waren, hatten sie nicht viel Raum zum Schwingen. Man konnte sie nicht einfach nach innen drücken und zerbrechen.
Lionel Debar warf eine rote Blume ins Wasser. „Ich opfere dem Gott der Hoffnung eine Tulpe.
Gesellt euch zu uns, o gütige Götter,
gewährt uns die Gunst und gewinnt uns das Glück.“
Bibiana lehnte sich nach vorn und versuchte gespannte Aufmerksamkeit zu vermitteln. Guckt nicht zu genau, Leute, ich bin genauso aufgeregt wie ihr, ich bin in keiner Beziehung bemerkenswert, und ich mache nichts Interessantes. Ich bin ja so neugierig, ob die Götter sich wirklich für uns bekämpfen ...
Mit einer Säge wäre es gar kein Problem gewesen, aber sie wollten ja unauf-fällig bleiben. Deswegen hatte sie auch nur einen Schraubenzieher in der Tasche.
Sie begann am obersten Brett auf der linken Seite und drehte ganz vorsichtig an einigen Drähten, bewegte die Hände so wenig wie möglich.
„Ich opfere der Göttin des Todes, der Göttin der Erlösung und der Wahrheit eine Totentrompete.
Gesellt euch zu uns, o gütige Götter,
gewährt uns die Gunst und gewinnt uns das Glück.“
Das Publikum hatte offenbar an Selbstvertrauen gewonnen und sprach die Formel jetzt laut und deutlich mit.
Bibiana stand ganz still und sah strikt geradeaus auf Lionel und Scoria. Niemand schien sie besonders zu beachten, aber sicherheitshalber tat sie so, als sei sie gar nicht da. Das klappte tatsächlich - es war so voll und alle waren so aufgeregt, dass sie ihr nicht zusahen. Sie begann, auch die Schrauben am obersten Brett zu lösen.
„Ich opfere dem stärksten und edelsten Gott einen Diamanten, den härtesten aller Edelsteine.
Gesellt euch zu uns, o gütige Götter,
gewährt uns die Gunst und gewinnt uns das Glück.“
Ein faszinierender Gedanke - wenn sie den Zaun nicht kaputt kriegte, konnten sie die Zeremonie nicht stören, und wenn sie die Zeremonie nicht stören konnten, würde es möglicherweise Religionsstreitigkeiten geben, und irgendwann vielleicht einen religiösen Krieg, und ...
OK ... noch ein Draht ... das war der letzte.
Bibiana hatte das oberste Brett gelöst und begann, am mittleren zu arbeiten.
Wer weiß, überlegte sie, möglicherweise hängt die Zukunft dieser Städte an den Schrauben dieses Zaunes. Passieren anderen Wesen auch so alberne Sachen?
Die Stimmen wurden immer lauter. Im Kessel blubberte es, und Dampf stieg auf.
Das mittlere Brett schaffte Bibiana schneller. Jetzt waren beide Bretter an der linken Seite gelöst. Das untere konnte sie lassen, wo es war, sie würde gleich einfach drübersteigen.
Das hier war eine Kunst. Kein splitterndes Holz, kein Krach, keine Gewalt. Nett, leise, unauffällig und nonchalant bleiben, dann konnte pferd durch den Zaun SCHLENDERN.

***

„Das war das letzte Opfer“, sagte Lionel Debar etwas später. „Jetzt beginnen wir mit der Beschwörungsansprache an die Götter. Folgen Sie uns.“
Der PTRÖGBLT hatte Glück, denn die religiösen Oberhäupter hielten ihre Ansprache tatsächlich vom Findling aus. Scoria und Lionel verließen das Grab, schlossen das Tor ab und gingen (oder, um es angemessener auszudrücken, begaben sich) in die Mitte der Lichtung. Das Publikum folgte ihnen - Bibiana, die gerade fertig geworden war und sich bemühte, in der Menge unterzugehen, der Rest des PTRÖGBLT, Bibianas Familie, die Schafe, Musiker, Flagellanten, Wesen, die als Erwürgte verkleidet waren, und Sportler.
„Oh Götter, hört unsere Stimmen“, rief Scoria vom Findling. „Wir sind die Sprachrohre zweier Städte, und wir sind hier versammelt, um eure Hilfe zu erbitten.“
„Serpígio und Noxana, kommt zu uns und sagt uns die Wahrheit. Lasst die Lügen und Illusionen zerstäuben.“
„Eure Diener flehen euch an: Kommt zu uns, lasst uns die Wahrheit sehen, helft uns, die großen Entscheidungen zu fällen, das Richtige zu tun. Wir haben eure Forderungen erfüllt und euch gehorcht, so gut wir es vermochten. Wir haben die Worte gesprochen und für euch magische Kräuter verbrannt. Nun kommt zu uns, belohnt oder straft uns, wie ihr wollt.“
„Wir flehen euch an: Kommt zu uns und bringt uns Tod oder Leben, Freude oder Trauer, Liebe oder Hass, Stille oder Lärm, Dunkelheit oder Licht. Wir flehen euch an: Kommt zu uns und gebt uns, was immer ihr uns geben wollt.“
„Kommt zu uns und hört unsere Worte, seht unsere Gesichter, beendet unsere Plagen und Kämpfe, beantwortet unsere Bitten. Seid unsere Brücken über aufgewühltes Wasser, die Antwort auf unsere Fragen, die Eltern, die unsere Bedürfnisse erfüllen, immer da sind und alles wissen, die Wahrheit, die wir immer gesucht haben.“
Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Das Publikum inklusive der Ordner war inzwischen vom Grab herübergekommen, es stand niemand mehr dort. Zeit für das Ablenkungsmanöver.
Dan machte ein paar schnelle, lange Schritte und sprang auf den Findling, vor die beiden religiösen Oberhäupter, stellte sich in Pose. „Der blutige Boden wird beben!“ brüllte er.
„Was?“
„Verdammt, was soll das denn?“
„Dan, was machen Sie da?“ rief Scoria.
„Der blutige Boden wird beben! Wenn wir so weitermachen! Wesen von Positron und Thanaton, ihr kennt mich möglicherweise. Ich spreche im Namen des Positro-Thanatistischen Radikal Ökumenischen Geheimen Bundes von Leben und Tod, und wir protestieren gegen dieses Duell.“
Jetzt konnte es losgehen, niemand würde auf sie achten.
Bibiana, die ganz hinten in der Menge stand, machte eine Hinterhandwendung und galoppierte aus dem Stand an. Möglichst leise lief sie zum Rand der Lichtung zurück.
„Geh von dem Stein runter, Mensch!“ rief jemand.
„Es tut mir leid, dass ich Sie unterbreche, aber uns bleibt keine andere Wahl. Dieses Duell ist gefährlich und falsch. Die Götter kämpfen zu lassen, ist blasphemisch und arrogant und wird ihren Zorn auf uns ziehen.“
„Feigling!“
„Hey, was soll ‘n das?“
„Hört zu, was Keráton prophezeit hat“, schrie Dan.
„'An einem Sommertag wird eine Entscheidung fallen.
Und Konflikte und Kämpfe werden kommen.
Der blutige Boden wird beben, bleiche Leichen werden in den Gräsern kleben und schwarze Schlangen werden Schande spucken.
Den Wonnen sanfter Sonnen werden Niedertracht und Not nachfolgen.'
DAS wird passieren, wenn wir dieses Duell durchführen, und deshalb werden wir es verhindern.“
„Von wegen!“
Bibiana packte die losen Enden des oberen und des mittleren Brettes, zog sie zu sich, stieg über das untere Brett, quetschte sich durch die Lücke. Niemand schien etwas zu bemerken, sie waren mit Dan Izén beschäftigt.
„Und ob wir es verhindern“, rief Dan.
„'In der Toten Stadt wird ein Geschöpf sein, halb Tier und halb Mensch, mit harten Füßen und langem Haar.
Durch sie wird die Wahrheit ans Licht kommen.'
Und die Wahrheit ist, dass wir unsere Probleme durch so ein Duell noch schlimmer machen, dass es nur Unglück und den Zorn der Götter bringt.“
„Und da IS das Geschöpf. Guckt mal da rüber“, sagte Igny, das auf einem Gehirnbaum saß. Es zeigte zum Kessel.

***

Bibiana hatte gerade festgestellt, dass sie heute mittag großes Glück gehabt hatte, im Moor zu sein. In Ordnung, sie wäre fast versunken, aber immerhin hatte es sie vom Lampenfieber abgelenkt. In der Schule hatte sie gelegentlich Gedichte aufgesagt und es immer gehasst, aber das hier war noch viel schlimmer, und jetzt stand sie kurz vor einem Herzanfall.
Während Dans Ablenkungsmanöver hatte sie es bis zum Kessel geschafft, aber jetzt stand sie da und ihr Kopf war leer.
Sie hatte ihren Text so gut gekonnt.
Die anderen Wesen starrten sie an ... jemand brüllte ...
Sie sah nach unten, auf die Flüssigkeit im Kessel. Sie hatte nur ein paar Sekunden Zeit, dieser Echsenwächter und andere würden sie sicher gern gleich unschädlich machen. Aber sie konnte einfach nicht anders. Die Flüssigkeit zischte und blubberte; sie war dunkelviolett, und weißer Dampf stieg aus dem Kessel auf.
Bibiana starrte hinein. Sie hatte sich an einer der Schrauben eine Schramme an der linken Hand geholt, etwas Blut lief ihr über die Finger. Ihr Haarband hatte sich gelöst, und das Haar hing ihr wild ins Gesicht.
Was zum Teufel musste sie jetzt noch mal tun?
Und dann stieg ihr der Geruch aus der Plastikdose in die Nase und versetzte ihrem Hirn einen Tritt, und plötzlich war alles wieder da.
„Wir sind der Positro-Thanatistische Radikal Ökumenische Geheime Bund von Leben und Tod. Wir protestieren gegen religiöse Intoleranz. Wir protestieren gegen den Konkurrenzkampf auf allen Ebenen. Wir protestieren gegen die Feindschaft dieser Städte und wollen nicht für Religion sterben und töten. Wir fordern Solidarität, Toleranz und Akzeptanz, und wir bitten die Götter, uns allen Vernunft und Verständnis zu schicken. Seid netter zueinander.“
Der Dampf war so heiß, dass sie den Atem anhielt - was natürlich sowieso nötig war. Sie öffnete die Plastikdose und kippte den Inhalt in den Kessel.
Es gurgelte und zischte, und die Orchidee, der Spatz und die Stinkmorchel lös-ten sich auf.
Aus dem Kessel spritzte Wasser ...
Es roch erst nach Schwefel, dann nach Aas, welken Blumen und diversen unidentifizierbaren Dingen; der Gestank war betäubend. Der Dampf wechselte die Farbe, wurde dick, zäh und grau.
das im Boden versickerte ...
Der Waranwächter stürmte auf Bibiana zu, eine Lanze in der Hand, aber Igny sprang vom Baum, hüpfte genau im richtigen Moment in die Höhe, als er vorbeikam, und zündete seinen Lendenschurz an -
die Gehirne in den Bäumen raschelten und zitterten, als sie die magische Energie wahrnahmen -
und das Wasser traf auf etwas, das schon viel zu lange gewartet hatte ...

***

Es war lange nicht so dramatisch, wie es von Rechts wegen hätte sein müssen.
Unter dem Boden erklangen dumpfe Geräusche, und unter dem Rost, auf dem der Kessel stand, bewegte sich etwas. Der Rost schwankte, der Kessel mit ihm, aber sie fielen nicht um. Das Ding, das sich bewegte, verschwand wieder nach unten ... dann schob sich ein Stückchen neben dem Kessel ein Finger aus der Erde, und die dazugehörige Hand folgte ihm. Sie krabbelte über den Boden ... dann ein Arm, noch eine Hand, ein Kopf mit wirren Haaren ... und ein Wesen kroch aus der Erde. Es kniete sich hin, betrachtete seine Umgebung und setzte sich dann auf den Boden.
Es war ein modernder Mann; das Kinn in den Händen und die Ellenbogen auf den Knien, saß er ganz ruhig da und betrachtete die Szenerie fasziniert. Der Mann sah aus, als würde er gleich in Stücke fallen, und hatte eine Wunde in der Brust, in der noch die Überreste eines Speers steckten. Bibiana hatte den Eindruck, er wäre schon eine Weile begraben gewesen - was vermutlich auch besser so gewesen war. Sie stand immer noch in dem eingezäunten Bereich, der das Grab umgab. Ein Teil des Publikums war vom Findling herübergekommen, und andere kamen hinterher, aber sie blieben draußen stehen und starrten.
Plötzlich kam Bibiana sich sehr allein vor.
„Äh, hallo“, sagte sie. Der modernde Mann drehte langsam den Kopf, seine Hand schoss vor, dann hatte er ihr Handgelenk gepackt.
„Hey, was soll ‘n das?“
„Hallo“, flüsterte er. Er war ausgesprochen heiser. „Ist hier ... wo bin ich hier?“ Er zeigte auf den Gehirnwald, den Kessel und das Publikum.
„Sie sind hier in der Mitte zwischen Positron und Thanaton, und wir feiern gerade das Große Fest“, sagte Bibiana.
„Wer ist das?“ fragte ein Zuschauer. „Was hat er gesagt?“
„Er will wissen, wo er ist“, schrie Bibiana in Richtung Publikum. „Wir haben eigentlich erwartet, dass die Götter auftauchen“, fuhr sie fort.
„Welche Götter?“
Sie klärte ihn auf.
„Was hat der Typ unter der Erde gemacht?“ fragte eine Stimme.
„Serpígio und Noxana? Wheee-heeew! Ich hab‘s geschafft! Scheiße, ich hab‘s wirklich geschafft!“
Der Mann stieß die Faust in die Luft, dabei fiel sein Blick auf seinen Arm, an dem Kleidungs- und Hautfetzen herunterhingen. Ihm ging etwas auf, und schockiert blickte er an sich herunter ... auf die Erde an seinen Kleidern ... den Speer in seiner Brust ... er schnüffelte ... betrachtete die Maden auf seiner Hand ... und kam zum offensichtlichen Schluss.
„Verdammt, bin ich TOT, oder was?“
„Ist das Tentarius?“
„Was hat er gesagt?“
„Ist es so, wie ich glaube?“
„Er will wissen, ob er tot ist“, rief Bibiana dem Publikum zu. Offenbar war sie jetzt Vermittlerin für den Toten. Jedenfalls konnte niemand behaupten, dass sie im Urlaub nie was erlebte.
Sie wandte sich dann wieder an die Leiche. „Ich bin da nicht ganz sicher, aber Sie sehen so aus.“
„Oh. Das wusste ich nicht.“ Er zögerte. „Ich meine ... doch, ja ...“ sagte er nachdenklich. „Es stimmt, doch ...“
„Ja.“
Was mache ich hier bloß? Warum musste ich zum Medium werden? Aber wahrscheinlich muss ich den Job jetzt erledigen, die anderen machen es ja nicht. Die sind zu überrascht. Mann, ich würde mich auch drücken, wenn er meinen Arm nicht so fest halten würde. Warum ist er eigentlich so stark? Wenn er ein Zombie ist, kann er mich in Stücke reißen, oder?
„Sie sind wohl nicht zufällig ein göttlicher Bote?“ fragte sie.
„Nein, ich bin Tentarius.“ Er flüsterte nicht mehr, sprach aber immer noch sehr leise.
„Er sagt, er ist Tentarius“, gab Bibiana ans Publikum weiter. Na ja, vielleicht sollten wir dankbar sein, dass niemand anders aus Tentarius‘ Grab erschienen ist. Man freut sich ja schon über Kleinigkeiten.
„Ich wusste es!“
„Er ist zurück!“
Der Tote betrachtete nachdenklich den Grabstein mit dem eingemeißelten TEN, der neben ihm stand, dann den Kessel und das Publikum. „Ich glaube, ich habe einiges zu erklären.“
„Das glaube ich auch“, stimmte Bibiana zu.
„Was hat sie gesagt?“

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Tag der Veröffentlichung: 31.03.2009

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