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1

Über der Insel Nóctyla ging die Sonne auf, wie es häufig geschah. In den Wüsten machte eisige Kälte glühender Hitze Platz; im Urwald schnatterten die Affen, und in den Sümpfen erwärmte sich das Methan; die Vögel sangen, je nach ihrem Glück schliefen Vampire ein oder zerfielen zu Staub, und Blumen krochen über die Wiesen.
Hätte jemand Bibiana Epon gebeten, einen ganz durchschnittlichen Morgen zu beschreiben, dann wäre dieser wahrscheinlich auf ihrer Top-Ten-Liste gewesen.
Es war ein schöner Tag, wie meistens in ihrem Heimatort. Bibiana lebte auf einem kleinen Non-Profit-vor-allem-zum-Spaß-Bauernhof am äußersten Rand von Positron - einer gemütlichen kleinen Stadt, in der neunundvierzig Wochen im Jahr die Sonne schien. Im Winter gab es hohen Schnee, dickes Eis und malerische Eiszapfen, aber es war nicht zu kalt. Wenn es mal Regen oder Nebel gab, dann war es die angenehme Sorte, die die Wiesen verschleierte und alles weich und geheimnisvoll aussehen ließ. Und bald kam die Sonne wieder hervor, und es roch so gut, wie es eben nach dem Regen riecht.
Auch heute war es schön. Die Sonne schien, das Gras glitzerte feucht vom Tau, und die Bewohner von Positron gingen, schritten oder hüpften durch die warmen Kopfsteinpflasterstraßen.
Bibiana wachte früh auf, weil etwas an ihre Fensterscheibe hämmerte.
„Hey, Ruhe da draußen!“ brüllte sie, wie immer in solchen Fällen. Sie hatte natürlich keinen Erfolg. Nach ein paar Minuten stand sie auf und sah nach. Draußen saß eine Harpyie - ein Vogel (Bibiana tippte auf Habicht) mit dem Gesicht einer Frau - auf der Fensterbank und schlug energisch mit einer Kralle gegen die Scheibe.
„He, verschwinde. Ich will schlafen.“
Die Harpyie hämmerte weiter, Bibiana verdrehte die Augen und öffnete das Fenster. „Was IST?“
Die Harpyie hatte helle Haare, bernsteinfarbene Augen, einen etwas irren Blick. Sie schielte Bibiana an und fauchte.
„Heute ... wird etwas Ungeheures passieren ... erstaunliche Vorfälle werden dein Herz berühren und dein Gehirn erschüttern ... hüte dich ... sei auf der Hut ...“
„Geht es vielleicht etwas konkreter?“
„Klappe.“
Die Harpyie fauchte noch einmal und flog betont langsam davon. Bibiana zuckte die Achseln. Sie hatte schon ein paar Mal düstere Prophezeiungen erhalten, die auch nicht wahr geworden waren, so was kam eben vor. Jedenfalls war sie jetzt wach, und es war sowieso Zeit, aufzustehen.
Sie wusch sich, zog sich an und ging nach draußen, um ihre Aufgaben zu erledigen: die Hühner und die Pferde mit Futter und frischem Wasser zu versorgen.
Die zwei Islandpferde Terracotta und Amaretto standen in einem Sandauslauf mit Offenstall, auf die Weide kamen sie nur stundenweise, weil das Gras zu fett war. Sie standen, wie üblich, schon am Tor und warteten. Bibiana kraulte sie hinter den Ohren; sie füllte ihre Tränke auf, gab ihnen Heu und schüttete Hafer in den Trog. Die Pferde stürzten sich, ebenfalls wie üblich, begeistert auf das Futter.
Als Bibiana sich auch um die Hühner gekümmert hatte, trabte sie wieder ins Haus, um selber zu frühstücken. Der Rest ihrer Familie war schon in der Küche versammelt und diskutierte eifrig.
„Also, gleich flicke ich das Scheunendach, es hat gestern durchgeregnet“, sagte Bibianas Vater. „Es wäre nett, wenn ihr mithelft.“
„Muss das sein?”
„Sorry, Jimmy - ja, das muss sein. Wir brauchen deine Hilfe“, sagte die Mutter.
„Aber ich wollte zum Angeln.“
„Angeln ist eine Misshandlung wehrloser Tiere“, sagte Bibiana und schenkte sich Anomalintee ein. Er wurde aus den Beeren einer einheimischen Pflanze hergestellt und schmeckte etwa wie eine Mischung aus Himbeere, Brombeere und Apfel. „Guten Morgen.“
„Morgen“, sagte ihre Mutter.
„Morgen“, sagte ihr Vater.
Bibianas Adoptivbruder Jimmy hatte gerade den Mund voll, winkte aber höflich mit seinem Wurstbrot.
„Gut, dass du da bist“, sagte ihr Vater. „Du hast es ja gehört, wir gehen gleich das Scheunendach reparieren. Es sieht wirklich nicht gut aus. Kannst du währenddessen den Zaun auf der Schafweide abgehen? Wir haben ihn schon zu lange nicht mehr kontrolliert. Und kannst du nachher Nokando begleiten?“
Ihr derzeit einziger Feriengast sollte heute seinen ersten Ausritt machen und ritt noch nicht so gut, dass man ihn allein auf den Wald loslassen konnte. Er war jetzt seit einer Woche bei ihnen und erkannte so langsam, wie viel mehr er noch lernen musste.
„Ich hab ihm gesagt, so von zwölf bis halb zwei“, fügte Enrique hinzu.
„Klar, kann ich machen“, sagte Bibiana, schnitt eine zweieinhalb Zentimeter dicke Scheibe Brot ab und bestrich sie mit Erdnussbutter.
„Gut. Und wie gesagt: Wir anderen flicken das Dach der Scheune, und mit wir meine ich uns alle. Jimmy, du kannst angeln gehen, wenn wir fertig sind.“
„Ach, Mann ...“
„OK. Sonst noch was?“ Simona Epon sah auf den „Die schönsten Blumen unserer Insel“-Kalender, der an der Wand hing. Es war Juni, der Monat des Beißenden Veilchens. Sie entdeckte einen Eintrag.
„Meine Güte, das hab ich ja total vergessen. Heute kommt der Schmied?“
Verdammt. Gestern abend hatte Bibiana noch daran gedacht, dass sie heute unbedingt daran denken musste, aber so was klappte ja nie.
„Äh ... ja, genau. Um drei.“ Sie fing an, Aprikosenmarmelade auf das Erdnussbutterbrot zu schmieren. „Das schaff ich schon rechtzeitig. Aber kann mir jemand bei der Vorbereitung helfen?“
Ihre Mutter und ihr Vater bedachten Jimmy mit ihrem üblichen „Wir haben zu tun, jetzt erklär dich schon dazu bereit“-Blick. Bibianas Adoptivbruder zuckte die Achseln.
„OK, das geht. Ich kratz dir die Hufe aus.“
„Danke. Ich hoffe bloß, er schneidet sie nicht wieder zu kurz“, sagte Bibiana und schnitt eine „Ich denk da nur an letztes Mal“-Grimasse, als sie ihren linken Vorderhuf betrachtete.

Bibiana war eine Zentaurin, ein Pferd - genauer gesagt Pony - mit dem Oberkörper einer Frau. Manchmal hielt sie das für ganz gut. Im Gegensatz zu den meisten Menschen konnte sie sich mit dem Bein am Ohr kratzen und im Stehen schlafen, sie vertrug Regen und Kälte besser als Menschen (schön an Wandertagen und bei Beerdigungen), und im Gegensatz zu Pferden hatte sie Hände, was ja immer nützlich ist. Aber in erster Linie war es verwirrend. Immer mal wieder musste sie jemanden bitten, ihren Schweif aus Dornbüschen zu befreien oder eben ihr die Hufe auszukratzen. Normalerweise erledigte sie letzteres selbst, mit einigen Verrenkungen war es machbar, aber wenn die Hufe wirklich sauber sein sollten, zum Beispiel für den Schmied (könnte sonst peinlich werden), dann brauchte sie fremde Hilfe. Das konnte NERVEN.
In den meisten Punkten fühlte sie sich ja durchaus menschlich. Sie war in die Schule gegangen, sie wusch sich die Haare und trug Kleidung (an ihrem menschlichen Teil. Kleidung für Tiere empfand sie außer in einigen Ausnahmefällen als Beleidigung für alle Beteiligten). Und sie hatte auch einige grässliche menschliche Neigungen, zum Beispiel die Tendenz, sich über unwichtige Dinge zu ärgern und sich dann darüber zu ärgern, sich darüber geärgert zu haben. Aber wenn sie eine Schlammpfütze sah, sehnte sie sich danach, sich hineinzuschmeißen und sich zu wälzen. Wie sollte man dabei keine Identitätskrise kriegen?
Und dabei hatte sie noch gute Ausgangsbedingungen - wenn sie sich vorstellte, wie es ihr in anderen Teilen der Welt hätte ergehen können ...

***

Nóctyla war eine relativ kleine Insel, aber sie wies Dinge auf, von denen gewisse Kontinente nur träumen konnten. Man nehme nur Flora und Fauna. Die kleinen, sehr warmen, hochgiftigen, gefährlich anschmiegsamen Heizschlangen, die Wanderlunde, den Seestammler (ein Meeresvogel, der nach seinem typischen Ruf benannt wurde), die kleinen fliegenden Nashörner (sie sind fünf Zentimeter lang, treten in Schwärmen von bis zu fünftausend Exemplaren auf, greifen ohne jeden Erfolg kleine Hunde an und fressen Baumrinde), die Messingaffen, die bissigen Nelken. Außerdem gab es jede Menge vernunftbegabte Spezies, darunter Greife, Tiermenschen, Riesen und lebende Statuen.
„Normale“ Menschen gab es auf Nóctyla seit ungefähr 1650 (nach dem Gregorianischen Kalender, der sich auch hier durchgesetzt hatte). Eines schönen Tages oder jedenfalls eines Tages war ein Schiff von einem Sturm abgetrieben und an die Nordküste der Insel gespült worden. Die Besatzung, so weit sie überlebt hatte, stellte fest, dass sie sich auf einer Insel befand, die nicht auf ihren Karten verzeichnet war, dass das Schiff nicht mehr zu reparieren war und dass man die Insel sowieso nicht verlassen konnte, weil die See zu unruhig war. Und so brach sie - die Besatzung - auf und erforschte das Landesinnere.
Die Natur war erstaunlich wehrhaft, daher kamen die Entdecker nicht zu so traditionellen Tätigkeiten wie Handel zu treiben, Gold zu suchen, Forts zu bauen und Eingeborene zu ermorden. Es gab Pflanzen, die bissen, wenn man sie pflücken wollte, Pflanzen, die Schlafende überwucherten, die Ausrüstung anfraßen oder vor Menschen wegliefen. Auch die meisten Tiere kamen den Entdeckern merkwürdig vor. Zwar verhielten sie sich größtenteils friedlicher, aber bis sie gezähmt wurden, dauerte es Jahrzehnte. Und als die Entdecker andere halbwegs menschenähnliche Wesen fanden (die Riesen an der Westküste), waren sie schon reichlich mitgenommen. Aber jedenfalls schafften die Menschen es am Ende, sich mit diesem widerspenstigen Land abzufinden - etwas anderes blieb ihnen auch nicht übrig -, und schön langsam und vorsichtig wurde es besiedelt.
In den nächsten hundert Jahren wurde Nóctyla - der Name stammte von den Entdeckern und bedeutete etwa „Nachtinsel“ (weil man sie sich nur im Traum vorstellen würde) - zu einem Zufluchtsort für all diejenigen, die wegen magischer Fähigkeiten, ihrer Spezies oder ihrer Einstellung verfolgt wurden. Das galt jedenfalls, wenn sie wussten, wie man die Insel erreichte - man erfuhr das, wenn überhaupt, nur über reichlich verschlungene Wege -, und die Fahrt bezahlen konnten. Und so tauchten noch mehr Spezies und Wesen aus vielen verschiedenen Ländern auf.
Damals war noch alles recht friedlich. Das Leben war so kompliziert, dass man es sich nicht leisten konnte, sich auch noch gegenseitig zu bekämpfen. Aber mit der Zeit änderte sich das; es kam zu Feindseligkeiten zwischen verschiedenen Ethnien, Religionen und Spezies. Immer mehr Bewohner entwickelten patriotische Neigungen, und das brachte Probleme. Sie gestalteten Fahnen und schrieben Lieder über ihre Heimatinsel, ihre Heimatstadt, ihr Heimatdorf, ihre Spezies und so weiter. Nach einer Weile schrieben sie Lieder darüber, wie schlecht die anderen Inseln, Städte, Dörfer und Spezies waren, was das Zusammengehörigkeitsgefühl förderte und noch öffentlichkeitswirksamer war.
Das nächste Jahrhundert war eine eher unangenehme Zeit - es gab immer mehr Feindseligkeit, Streitereien und Kämpfe, die sich bis zu Kriegen ausweiteten. Am Ende gab es über zehn Jahre hinweg immer wieder Schlachten wegen Sprachen, Religionen, Spezies, Aufenthaltsorten, Slangausdrücken ...
Diese Zeit wurde meist als „die Zehn Jahre“ bezeichnet und hatte um die 20.000 Tote gefordert.
Aber es war so eine kleine Insel, und nach der relativ apokalyptischen Schlacht von Apekgro (1871) stellten die Leute fest, dass sie zumindest so weit aufeinander angewiesen waren, dass sie sich nicht alle abschlachten konnten. Auf dem Konzil von Apekgro, das ein paar Monate später auf dem Schlachtfeld statt fand, einigten sich die Überlebenden darauf, sich nicht mehr wegen Hautfarbe, Religion und so zu bekriegen und sich zumindest ETWAS weiterzuentwickeln. Sie vereinbarten schließlich folgende Regeln:

1. Alle Spezies sind gleichberechtigt, die korrekte Bezeichnung für alle BewohnerInnen Nóctylas ist „Wesen“.
2. Alle Religionen sind gleichberechtigt und dürfen praktiziert werden, solange sie niemandem schaden.
3. Alle Sprachen sind gleichberechtigt, wir arbeiten darauf hin, eine Mischung zusammenzustellen, die von allen gesprochen werden kann.


(Nóctyla entwickelte eine gemeinsame Sprache, die sich aus allen Sprachen und Dialekten der Insel zusammensetzte und für alle einigermaßen verständlich war. Den Rest klärte man durch Gesten, unartikuliertes Grunzen und gelegentliche Prügeleien.)
4. Wir bemühen uns darum, Kriege zu vermeiden, weil wir sonst mit großer Wahrscheinlichkeit bald aussterben.
5. Die Todesstrafe wird abgeschafft.


(Bis dahin konnten alle Orte selbständig entscheiden, ob sie die Todesstrafe anwendeten oder nicht: Wer nicht will, muss nicht, aber wer mag, der kann. Allerdings stand die Todesstrafe schon seit 1802 in der Kritik - damals wurde ein ganzer Segelclub auf unangenehme Weise unter Zuhilfenahme von Mistgabeln hingerichtet und stellte sich nachher auch noch als unschuldig heraus. Dieses Vorkommnis (der „Drei-Taue-Fall von Lol“) erregte dann doch einiges Aufsehen und setzte ein paar Denkprozesse in Gang; der Bürgermeister hatte sich etwas zu sehr auf das kurze Gedächtnis und das Rachebedürfnis der Bevölkerung verlassen. Im Vertrag von Apekgro wurde die Todesstrafe dann also auf der ganzen Insel verboten. Aber Orte für öffentliche Hinrichtungen blieben Sehenswürdigkeiten.)

Der Vertrag von Apekgro funktionierte recht gut: Man fand sich miteinander ab, verständigte sich einigermaßen und brachte sich nicht dauernd gegenseitig um.
Heutzutage war Nóctyla in Dingen wie Herkunft, Religion und Spezies sehr tolerant. So merkwürdig manche Politiker auch waren, sie handelten nicht nach dem Motto, Personen aus anderen Ländern oder mit anderen Hautfarben oder was auch immer müsse man zwar tolerieren, aber sie bräuchten doch nicht HERZUKOMMEN. Die nóctylanischen Politiker würden im Allgemeinen niemanden bestrafen, nur weil er sich auf der Insel aufhielt (die Vorstellung, dass schon die Existenz eines Lebewesens illegal sein könnte, hatte sich hier nie so recht durchgesetzt) ... oder erklären, man könnte ihn ruhig abschieben, weil er in seinem Herkunftsland schließlich NICHT MEHR ALS DER REST DER DURCHSCHNITTSBEVÖLKERUNG von Verfolgung, Armut oder Krankheiten bedroht war ... oder ihn in ein Land abschieben, das er nie gesehen hatte, weil sein Vater irgendwann dort gelebt haben sollte ... oder ähnliche Maßnahmen der internationalen Politik.
Die geographischen Bedingungen unterschieden sich in verschiedenen Teilen von Nóctyla erheblich. Es gab permanent sonnige Gegenden und kleine Wüsten, Wälder, in denen alles mögliche gleichzeitig blühte, Früchte trug und verrottete, einen kleinen Ort im Nordosten, wo ständig Schnee lag, die berühmte „Stadt, die immer schlief“ im Süden. Im Südosten gab es einen Teil mit ein paar Dschungeln, in der Mitte die Gemäßigten Ebenen von Epidia, in denen unter anderem Bibianas Heimatort lag, im Nordwesten die Düsteren Sümpfe von Scintilla, in denen praktisch nie die Sonne schien. Es gab ein paar Großstädte und viele kleinere Städte und Dörfer, auf eine Hauptstadt hatte man sich nie einigen können.
Die großen und mittleren Städte verfügten über eine Art parlamentarische Demokratie in der Sparversion: einen Bürgermeister und einen Stadtrat aus drei bis zehn Wesen. Alle zwei Jahre konnten sie abgewählt werden, in der Zwischenzeit konnten sie mehr oder weniger machen, was sie wollten, und taten das in der Regel auch. Vor fünf Jahren hatte ein Bürgermeister in Atherom das Atmen verboten, noch drei Jahre vorher hatte er eine Tropfsteinhöhle errichten lassen, die niemand betreten durfte. Vor sechsundzwanzig Jahren hatte eine Bürgermeisterin in Glavvo beschlossen, alle müssten gesteinigt werden. Aber an Gesetze, an die man sich sowieso nicht halten konnte, hielt sich niemand, und in extremen Fällen konnte man Politiker ohne größere Schwierigkeiten loswerden, und das war ja auch schon was.
Manche Orte - vor allem Dörfer und sehr kleine Städte - hatten kein Oberhaupt, sondern waren selbstverwaltet. Bestimmte Wesen übernahmen bestimmte Aufgaben, alle fünf Monate (ein Überbleibsel aus der Zeit des metrischen Jahres) wurden die Verantwortlichen gewechselt, so dass alle mal drankamen, und wenn es was Wichtiges zu entscheiden gab, erledigte man das in Abstimmungen und nach unglaublich langen Debatten.
Für Tourismus und Welthandel war Nóctyla nie so recht interessant geworden, vielleicht, weil es ja meistens stürmte und man die Insel schwer erreichen konnte. Daher gab es bis heute nur wenige Touristen, kein Fernsehen und nicht mal McDonald‘s auf dieser Insel. Das hieß nicht, dass die Insel vom Rest der Welt abgeschnitten gewesen wäre. Es gab einen gewissen Austausch mit der Umwelt, man erfuhr einiges über die Dinge, die im Ausland passierten (wenn auch meist mit mehrwöchiger Verspätung), es kamen Wesen aus anderen Ländern vorbei, und manche Einwohner von Nóctyla hatten sogar technische Geräte wie Fotoapparate. Die Insel verfügte - durch diesen Austausch mit der Umwelt, aber auch und gerade durch Immigration - über viele Eigenschaften anderer Länder, unterschied sich aber trotzdem deutlich von ihnen. Nóctyla war verrückt und pluralistisch und sehr magisch, und auf dieser Insel war das Leben einer Zentaurin nicht so kompliziert wie vermutlich in anderen Gegenden. Unkompliziert war es trotzdem nicht.

Seit sie sich erinnern konnte, wusste Bibiana, dass sie anders war. Allerdings war das nicht unbedingt eine geniale Leistung. Den anderen Mitgliedern ihrer Familie ähnelte sie nur von der Taille aufwärts, also war sie kein Mensch, Pferden ähnelte sie nur von der Taille abwärts, also war sie auch kein Pferd.
Eine Zeitlang überlegte sie, ob sie vielleicht einfach ein besonderes Bauern-hoftier war, aber das konnte sie sich beim besten Willen nicht einreden. Auf dem Bauernhof gab es Pferde, Schafe und mehrere Hühner, aber kein Tier, das so aussah wie sie. Außerdem kamen die anderen Tiere auch nicht ins Haus und redeten nicht mit Menschen.
Nichts sah so aus wie sie, und niemand sagte ihr, was sie war.
Sie hatte immer wieder danach gefragt, diejenigen Familienmitglieder gelöchert, die nicht rechtzeitig verschwanden.
Was bin ich eigentlich?
Wer bin ich?
Warum bin ich so?
„Es ist nichts Schlimmes“, sagte die Bäuerin. „Ich weiß, es ist sicherlich ein komisches Gefühl, aber es ist nicht schlimm. Nur anders.“
Es war einer der wenigen regnerischen Tage in Positron. Die beiden befanden sich in der Küche. Simona Epon saß in einem rotschwarz karierten Drehsessel, Bibiana stand am Fenster und starrte auf den Sandauslauf hinaus, in dem die zwei Ponys sich im Schlamm wälzten.
„Ja, aber ...“
„Macht es dir so viel aus? Du kennst doch so viele verschiedene Spezies.“
Das stimmte; Bibiana hatte mindestens zehn verschiedene vernunftbegabte Spezies kennen gelernt, bevor sie sieben war, und da hatte sie ja auch bestimmt nichts dagegen. Aber es war etwas anderes, in der eigenen Familie eine verschiedene Spezies zu sein.
„Ja, macht es.“
„Verstehe.“ Die Bäuerin seufzte. Sie drehte sich mit dem Sessel um und begann geistesabwesend, Bibianas Schweif zu verlesen.
„Maa-maaa! Warum bin ich so?“
Ihre Mutter seufzte wieder.
„Ich wollte es dir erst später erzählen.“
„Ich bin zehn. Ich bin alt genug.“
„Ja, ja. In Ordnung, vielleicht ist es wirklich Zeit.“
Simona ließ Bibianas Schweif los, stützte das Kinn in die Hände und fragte sich, wie sie anfangen sollte. Bisher hatte sie es geschafft, dieses Thema zu vermeiden. Eins der Prinzipien ihres Lebens war, dass man schwierige Gespräche am besten hinter sich brachte, indem man sie gar nicht erst führte. Aber heute schien das nicht zu klappen.
Sie stand auf und wühlte im Wandschrank neben dem großen Ofen. Er war eigentlich für Geschirr, Gewürze und Kochbücher gedacht, zog aber auch alles andere magisch an, beispielsweise Scheren, Wollknäuel, wichtige Dokumente, unwichtige Dokumente, Fotos und Bücher.
Wie zum Beispiel das Große Lexikon fast aller Spezies

.
Simona blätterte eine Weile. „Nein ... nein ... nein ... Ja, hier ist es.“ Sie legte das Buch auf den Tisch und zeigte auf ein Bild.
Bibiana betrachtete eine Kreuzung zwischen einem Mann und einem Schimmel (möglicherweise ein Araber). Das Wesen stand in einem Bach, schwenkte ein Schwert gegen einen zweiköpfigen Hund und stampfte mit dem linken Vorderhuf auf.
„Weißt du, was das ist?“
„So was wie ich, ja.“
„Genau. Das ist ein Zentaur. Siehst du, hier steht es.“ Simona tippte auf den Text unter dem Bild.
Die Beschreibung hatte Bibiana seitdem x-mal gelesen.

Zentaur, m.: (eigtl. Kentaur): Fabelwesen der griech. Mythologie mit Kopf und Oberkörper eines Menschen (→Mensch) und Körper und Beinen eines Hengstes (→Pferd).

- Oder einer Stute, aber Mythen neigten ja dazu, Wesen als von Natur aus männlich anzusehen. - Gelten als heimtückisch, gewalttätig und lüstern.

- Unverschämtheit. - Hausten in den Bergwäldern Thessaliens, wurden zum größten Teil im Kampf mit dem Volk der →Lapithen vernichtet. Die übrigen wurden von Herakles auf die Insel der →Sirenen vertrieben, wo sie durch Hunger ausstarben.

- Von wegen. - Die bekanntesten Z.en sind der Heiler Chiron und Nessos, der für den Tod des Herakles verantwortlich war.

- War das etwa eine objektive Schilderung? In diesem Stil sollte man mal die Menschen beschreiben.

„Aber manche Wesen behaupten auch, Zentauren seien stark, schön und edel“, fügte Simona tröstend hinzu. „Also mach dir bloß keine Gedanken.“
„Ja, aber ich hab noch nie einen gesehen. Wo sind denn die anderen?“
Simona seufzte wieder. „Es gibt nicht mehr viele. Wer deine Eltern waren, weiß ich nicht. Ehrlich. Sonst hätte ich dir schon von ihnen erzählt.“
„Und wieso bin ich hier?“
„Wir haben dich auf dem Markt gekauft.“ Sie bemerkte Bibianas Gesichtsaus-druck. „Ich weiß, wie das klingt, aber so war‘s gar nicht. Weißt du, damals waren wir auf so einem Pferdemarkt in Sdivvel. Wir waren auf der Suche nach einem neuen Pferd, und auf dem Markt haben wir Blaustern gefunden.“ Blaustern war ein sehr schöner brauner Wallach gewesen. Er war vor zwei Jahren an einem Herzschlag gestorben. „Er war ziemlich verwahrlost, aber er gefiel uns sofort. Der Händler hatte noch ein anderes Pferd und zwei Fohlen dabei, die waren ganz normal. Aber dann haben wir dich gesehen. Na ja, der Händler hat gesagt, er weiß nicht, was er mit dir machen soll, und ob wir dich nicht auch kaufen möchten. Wir hatten uns schon lange ein Kind gewünscht, aber es hatte noch nicht geklappt, und wie gern wir Tiere mögen, weißt du ja. Wir haben länger drüber nachgedacht und fanden, es wäre eine gute Idee. Also sind wir später noch mal zu ihm gegangen. Da hatte er die anderen schon verkauft, und du warst alleine. Du warst an einen Pfahl angebunden und hast am Strick gekaut und traurig geguckt. Und da, du weißt schon ...“
„Habt ihr mich gekauft.“
„Ja.“ Simona strahlte. „Und wir haben es nie bereut. Du warst ein nettes Kind. Äh. Fohlen. Wie auch immer. Warte mal.“
Sie sprang wieder auf, wühlte wieder im Wandschrank und fand das Fotoalbum unerwartet schnell.
„Hier, guck mal.“
Bibiana betrachtete die Fotos. Ein staksiges, langbeiniges Fohlen mit dem Oberkörper eines mageren zweijährigen Mädchens, in einem Gitterbett, den Kopf auf die Vorderbeine gelegt. Eine dreijährige Stute mit dem Oberkörper eines ungefähr fünfjährigen Mädchens, das - oder die - mit einem Schaf schmuste. Das Foto von ihrer Einschulung, auf dem sie gerade nach einem Wasserspeier schlug.
Bibiana scharrte mit dem Vorderhuf, wie nervöse Pferde das traditionell tun. „Aber woher hatte der Händler mich denn?“
„Ich weiß es nicht genau. Er sagte, er hat dich von einem Bauern, der pleite war und alle seine Tiere verkaufen mußte, und deine Eltern wären - äh - tot.“
„Oh.“ Aber eigentlich hatte sie damit gerechnet. „Und woher kam er?“
„Das hat er uns nicht gesagt.“ Simona zuckte die Achseln. „Irgendwo von der Südküste. Wir wollten eigentlich noch genauer fragen, aber als wir bezahlt hatten, hat er auf die Uhr gesehen und gesagt, er müsse jetzt los, und zwei Sekunden später war er weg.“ Kein Wunder, der Handel mit - teilweise - menschlichen Wesen galt inzwischen doch als ethisch fragwürdig.
„Und wie viel habt ihr für mich bezahlt?“
„Weiß ich wirklich nicht mehr.“ Simona hatte sich große Mühe gegeben, es zu vergessen, und Bibiana wollte es auch nicht unbedingt wissen. Statt dessen fragte sie, was danach passiert sei.
„Na ja, danach haben wir euch zwei, also dich und Blaustern, nach Hause gebracht und beschlossen, dass du jetzt unsere Tochter bist. Sozusagen. Wir wollten dich aufziehen wie unser eigenes Kind.“

Das war natürlich nicht gerade leicht, aber sie gaben sich wirklich Mühe. Sie gaben ihr einen Namen und adoptierten sie - die Behörden von Nóctyla waren in solchen Fällen ziemlich liberal. Sie debattierten über ihr Alter, da sie als Pferd deutlich jünger war, beschlossen, in diesem Punkt gelte sie als Mensch und der Tag ihres Kaufes sei ihr zweiter Geburtstag gewesen, und feierten jedes Jahr.
Weil Bibianas Adoptiveltern nette und verantwortungsvolle Menschen waren, besorgten sie sich Bücher über die Haltung von Zentauren - was nicht leicht war; es gab nicht viel Literatur. Die Bücher informierten sie darüber, dass Zentauren vor allem als Babys ... äh, Fohlen ... na, wenn sie jung waren, schwierig sein konnten. Fohlen sind bei ihrer Geburt schon sehr weit entwi-ckelt, menschliche Babys bekanntlich nicht - was meist dazu führte, dass der Pferdeanteil schon stehen, laufen und ausschlagen konnte, wenn der menschliche Teil nur rumliegen und schreien wollte. Aber da der menschliche Teil das Gehirn hatte, gewann er meistens. Nach einigen Monaten normalisierte sich das Verhältnis aber, das Pferd entwickelte sich recht langsam und der Mensch ungewöhnlich schnell („muss so ‘ne Gensache sein“, wie Bibianas Eltern sich ausdrückten), und so sahen sie zusammen einigermaßen proportioniert aus.
Bibianas neue Eltern richteten ihr ein Kinderzimmer ein und kauften Spielzeug. Sie sorgten dafür, dass sie Kinder aller Spezies traf. Sie kümmerten sich um die notwendigen Wurmkuren und Impfungen und suchten schöne Plätze zum Wälzen. Sie ließen Bibiana grasen, putzten sie und brachten ihr bei, die Toilette zu benutzen. Sie hatten keine Ahnung, womit man sie füttern sollte, und probierten es mit allem Möglichen - mit Wasser, Heu und Hafer, Butterbrot, Spaghetti, Kuskus, Nachos, Pommes frites, Gyros und Bambussprossen, Bataten, Schokoladenkuchen, Dönern und Limonade - bis sie sich auf eine Mischung aus menschlichem und equidem Essen eingestellt hatte.
Sie fanden einen toleranten Hufschmied: Er schnitt Bibianas Hufe, die bei ihrem Kauf schon viel zu lang waren, gewöhnte sich an sie und kam auch noch jetzt, fast zwanzig Jahre später, auf den Hof. Zwar neigte er dazu, die Termine nicht einzuhalten, aber zumindest starrte er sie nicht an, als sei sie eine Halluzination.
Unproblematisch war das Ganze natürlich nicht. Zwar konnte Bibiana sich kaum daran erinnern, aber sie war anscheinend ein anstrengendes Kind/Fohlen gewesen.
Beide Eltern kamen aus Familien, die zu den Gründern des Ortes gehört hatten, zwar europäische Wurzeln hatten, aber seit Ewigkeiten hier lebten, und die angesehen waren, wenn sie auch als etwas eigenartig und nicht geschäftstüchtig galten. Ihr Bauernhof diente vor allem zum Spaß, Bibianas Vater hatte ihn vor einigen Jahren geerbt. Damals wurde er - der Bauernhof - noch recht konventionell betrieben, aber ihre Eltern wollten möglichst keine Tiere schlachten und sie auch nicht permanent im Stall halten. Also organisierten sie alles neu. Sie verkauften einen Teil der Tiere und versuchten, den übrigen möglichst viel Platz und frische Luft zu bieten. Sie rissen einen Großteil der Ställe ab und legten Ausläufe und Weiden mit Offenställen an. Statt Fleisch verkauften sie vor allem Milch und Eier. Dann beschlossen sie, sich auch noch Pferde zuzulegen und Reitunterricht zu geben. Sie nahmen Feriengäste auf und unterrichteten sie, so gut es ging; sie organisierten Ausritte und Kutschfahrten, verkauften Gemüse und spannen Wolle. Natürlich wurde man damit nicht reich, trotzdem war es in Ordnung. In der Nachbarschaft wurden sie als etwas bekloppt angesehen, waren aber trotzdem beliebt.
Aber dann fuhren sie auf einen Pferdemarkt in Sdivvel, um ein weiteres Pferd zu kaufen, und als sie zurückkamen, hatten sie außer dem Pferd ein nervöses Waisenkind dabei, das nach Leuten trat, ständig von der Weide abhaute und einmal mit einem Lasso eingefangen werden musste. So was verbessert das Image einer Familie nicht unbedingt.
Bibiana war ziemlich sicher, dass sie sich manchmal gefragt hatten, ob die Adoption wirklich eine gute Idee gewesen war. Aber sie bemühten sich.
Schön langsam normalisierte sich die Situation. Als Bibiana erstmal davon abgekommen war, alle zu treten, wurde sie recht verträglich, und als sie auch noch darauf verzichtete, fremde Gartenzäune zu zerstören, gewöhnte sich die Nachbarschaft an sie. Bibiana bekam einen Bruder, als sie fünf war, und ihr Verhältnis war nicht angespannter als bei Geschwistern üblich.
Im Grunde hatte sie wirklich eine nette Kindheit auf dem Lande. Sie kriegte die üblichen Krankheiten, tobte mit den Ponys auf der Weide herum, schlug sich mit ihnen, spielte mit anderen Kindern, lernte Blockflöte und versuchte erfolglos, auf Bäume zu klettern. Sie stand lange bei den Schafen auf der Weide oder im Stall, kraulte sie und knabberte an Strohhalmen. Manchmal schlief sie im Stall und manchmal im Kinderzimmer. Sie hatte ein hübsches großes Zimmer mit einer dicken Matratze auf dem Boden, einem flauschigen roten Teppich und hellblauen Vorhängen.
Sie ging in die Schule, die nicht allzu strukturiert war. Die Schulen von Nóctyla - und Positron bildete keine Ausnahme - dienten vor allem dazu, einem das elementare Wissen zu vermitteln: Welche anderen Spezies gibt es? Was muss ich tun, um weder gefressen noch vergiftet zu werden? Woran erkenne ich, ob ein Fluch auf mir liegt? Aber wer Lust hatte, konnte auch Sprachen, Gedichte, Evolutionstheorie, Weitsprung, Geometrie und so weiter lernen. Die Erziehung war also von der fröhlich erratischen Art. Außerdem war die Fluktuation recht hoch, weil die Lehrer sich mit der Rektorin stritten, bessere Berufe fanden oder einfach nicht mehr auftauchten. Jedenfalls ging Bibiana einigermaßen regelmäßig hin. Sie gewöhnte sich daran, dass andere Kinder auf ihren Rücken zu klettern versuchten und das für unglaublich witzig hielten, und reagierte mit schnellen, gut gezielten und meist sehr effektiven Tritten.
Sie bekam ein dickes Winterfell, und im Frühling und Herbst haarte sie enorm, musste sich aus der Küche fernhalten und durfte zwei Wochen in der Schule fehlen. Sie trabte durch den Wald, sprang über umgestürzte Baumstämme, badete im Bach und wälzte sich in Schlamm, Gras, Sand und Schnee.
„Möchtest du nicht auch mal Dressur machen?“ fragten ihre Eltern. „Das ist wirklich gar nicht so schlecht. Und es ist doch gut für die Beweglichkeit, damit man geschmeidig bleibt und so.“
Sie hatten hinter dem Haus einen Reitplatz für die Gäste angelegt, und manchmal benutzte Bibiana ihn tatsächlich für Dressurarbeit. Aber es war langweilig, und man kommt sich dermaßen lächerlich vor, wenn man in Kreisen, Ovalen und Diagonalen durch Sägespäne läuft, vor allem, wenn dabei andere zugucken und Kommentare abgeben. Nach einer halben Stunde oder so beschloss sie regelmäßig, die Geschmeidigkeit könne sie mal, und verzog sich ins Gelände.

Als Bibiana (als Mensch) zwölf war, war ihr Pferdeanteil erwachsen - ein rotweißes Pony, einen Meter groß, befestigt an einem dunkelhaarigen Mädchen. Der menschliche Teil wuchs noch weiter, kam in die Pubertät und musste sich mit den dazugehörigen Veränderungen abfinden, was ja so schon schlimm genug ist.
Eine Zeitlang war sie ziemlich verunsichert. Aber nach einer Weile stellte sie fest, dass alle um sie herum an irgendwelchen Identitätskrisen zu leiden schienen, und zur Hälfte ein Pferd zu sein, machte es wahrscheinlich auch nicht viel schwerer.
Sie ging weiter zur Schule, bestand die Abschlussprüfung schließlich mit annehmbaren Noten und war begeistert, die Schule hinter sich zu haben. Danach hing sie eine Weile faul rum, sie hatte Spaß und keine konkreten Ziele. Sie half auf dem Bauernhof, traf sich mit Freunden, sonnte sich und wälzte sich im Schnee. Sie las, graste und begleitete die Touristen bei ihren Ausritten - sie konnte problemlos zu Fuß mitkommen und aufpassen, also musste niemand anders mit reiten, und das war recht praktisch. Von solchen Aufgaben wie der Scheunenreparatur heute blieb sie immer verschont, weil Pferde keine Leitern hochklettern, dafür musste sie dann eben Zäune kontrollieren. Aber damit konnte sie leben.
Manchmal war die Situation seltsam. Bibianas einziges Rollenmodell waren Bücher, in denen vor allem die edle und kriegerische Sorte Zentauren vorkam. Und sie war nun mal ein proletarisch-plebejisches Pony, das völlig anders lebte als seine Vorfahren, und da sie nicht an irgendwelchen Schlachten teilnehmen wollte und außerdem weiblichen Geschlechts war, aber vermutlich nicht entführt werden würde (hoffte sie zumindest), würde sie wohl kaum in irgendeine Sage eingehen. Nicht dass sie das wollte, aber sie hätte gern die Möglichkeit gehabt, sich zu entscheiden.
Das Gemeine war ja nicht, zu dieser Spezies zu gehören, gemein war, dass es niemand anders gab. Wäre Nóctyla überhaupt berühmt gewesen, dann für seine zahlreichen Mischwesen aus verschiedenen Spezies (generell als „Tierdämonen“ bezeichnet). Es gab, wie bereits erwähnt, Harpyien, sie hatte einmal eine Sphinx getroffen, in Positron wohnte eine Familie von Katzenmenschen; es gab noch viele andere Tiermenschen, sie hatte auch von Tintenfischhunden und Schmetterlingsdrachen gehört. Sogar von Pferdemenschen, die zum Teil Pferd und zum Teil Mensch waren, aber eben keine Zentauren.
Aber von den anderen Wesen schien es mehr zu geben, und sie schienen zu wissen, wer sie waren. Alle anderen kannten offenbar Wesen aus ihrer Spezies oder wussten zumindest, dass es welche gab, aber was war mit ihr?
Tja ... nischt war ...
Ihre Eltern hatten versucht, andere Zentauren zu finden, und auf der kleinen Insel hätten sie eigentlich schnell erfahren müssen, wenn es jemanden gab. Anscheinend war Bibiana tatsächlich die letzte. Sie versuchten ihr die ganze Angelegenheit schonend beizubringen, aber natürlich erfuhr sie schließlich doch, was mit dem Rest ihrer Spezies passiert war, und natürlich gefiel es ihr nicht.
Es hatte mal verschiedene Arten von Zentauren gegeben. Da waren die großen, schweren, nur Muskeln und lange Kötenbehänge. Da waren die nach Vollblütern aussehenden, fein und fragil, mit kleinen Hufen und kräftigem Oberkörper. Da waren die ponyähnlichen mit langen Schweifen und Mähnen und langem zotteligem Fell. Und sie hatten mehr oder weniger friedlich zusammen gelebt.
Zum Großteil waren die Zentauren wilde, stolze Kreaturen. Das passierte leicht, wenn man vom Boden bis zum Widerrist etwa 1,30 und vom Boden bis zum Kopf etwa 2,10 groß war und mit einem Huftritt töten konnte. Die richtig alten Zentauren der griechischen Mythologie hatten sich offenbar oft genug wirklich schlecht benommen, viel getrunken und dann versucht, Frauen zu entführen, und auch ihre Nachkommen waren nicht allzu beliebt. Sie lebten zurückgezogen in den Wäldern und kamen nur selten in die Städte, was ihren Ruf nicht gerade verbesserte. Vielen Wesen erschienen sie merkwürdig, zu wild, zu anders und überhaupt gefährlich.
Während der Zehn Jahre gehörten Zentauren dann auch zu den ersten Gruppen, die attackiert wurden. Sie gaben das traditionelle Verhalten von Pferden - eher fliehen als kämpfen - auf, statt dessen schlossen sie sich zusammen und kämpften gegen alle anderen. In der schlimmsten Zeit der Zehn Jahre gab es Herden von Zentauren, die durch die Wälder streiften und alle in Sichtweite gefangen nahmen oder töteten. Sie waren rücksichtslos, furchtlos, entschlossen und, sofern man sich von ihren Hufen fernhielt, leicht zu töten. Und sich von ihren Hufen fernzuhalten, war nicht allzu schwer. Nóctyla mochte zu altmodisch für MGs und Atombomben sein, war aber doch zivilisiert genug für viele andere Waffen. Wozu gab es schließlich Bogenschützen?
Was darauf hinauslief, dass ein Großteil der Zentauren aus der Ferne erschossen wurde. Es gab nicht sehr viele Zentauren, und diejenigen, die übrig blieben, zogen sich ziemlich zurück. Später, so um 1900, wurden Zentauren wieder beliebter, immerhin wirkten sie so edel und aristokratisch und waren inzwischen so selten, dass man sie als nationale Besonderheit ansehen musste. Aber trotzdem wurden es immer weniger und weniger ...
Und jetzt war da Bibiana. Oben eine dünne Frau mit langen dunklen Haaren bis zu der Stelle, wo ihr menschlicher Bauch in eine Pferdebrust überging. Von da an ein ziemlich dicker Fuchsschecke mit leuchtend roten Flecken in einem weißen Fell, mit langem hellem Schweif und langen flauschigen weißen Haaren unter dem Bauch.
Die letzte Zentaurin von Nóctyla.
Vielleicht die letzte Zentaurin der Welt.


2

„He, ist alles in Ordnung?“
„Seh ich vielleicht so aus?“ schniefte Mgaeoi, die heulend auf der Mauer vorm Haus ihrer Eltern saß.
Catalpa Qualsoz stellte seinen Koffer ab, kniete sich auf den Boden - was dauerte, weil er ein Riese war - und legte der jungen Katzendämonin eine Hand auf die Schulter.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Ach, ich weiß nich ...“
Wie gut, dass er zurückgekommen war. Drei Tage war er weg gewesen, und schon auf dem Rückweg zu seinem Haus traf er ein Wesen, das seine Hilfe brauchte.
Catalpa war der Aufmunterer der Stadt. Mehrere Orte in Nóctyla, auch Positron, haben schon vor einiger Zeit beschlossen, unglücklich wirkenden Wesen niedrigschwellige, praktisch jederzeit zugängliche Hilfe anzubieten. Konkret bedeutet das: Sie leisten sich einen professionellen Aufmunterer bzw. eine Aufmuntererin. Diese Person ist dafür zuständig, durch die Stadt oder das Dorf zu gehen, nachzusehen, wer gerade unglücklich wirkt, und die Betroffenen möglichst geschickt zu trösten. Auch sonst sieht sie generell nach dem Rechten, hilft bei Konflikten (ja, schon gut, bei deren Beseitigung) und achtet darauf, dass alles so läuft, wie es laufen soll. Aufmunterer erhalten eine viermonatige Ausbildung und werden vom jeweiligen Stadtrat bezahlt. Ihr Beruf gilt als äußerst anerkennenswert und nützlich.
Catalpa war schon seit zwanzig Jahren Aufmunterer und erledigte seinen Job mit Hingabe. Er wanderte täglich durch verschiedene Gegenden der Stadt und spähte nach traurigen Gesichtern aus. Er legte Wesen die Hand auf die Schulter und sprach sie freundlich an: „Bist du traurig? Möchtest du drüber reden?“ Er hatte keinerlei Hemmungen, auch betrübt aussehende Fremde anzusprechen - was natürlich eine wichtige Voraussetzung für seinen Beruf war. „Sie wirken unzufrieden, kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Wenn das Wesen ihm dann sagte, es brauchte tatsächlich Trost, oder wenn es das zwar nicht sagte, er aber spürte, dass es trotzdem so war, oder wenn es behauptete, zufrieden zu sein, aber Catalpa wusste, dass das nicht stimmen konnte ... dann tröstete er es. Er machte aufmunternde Bemerkungen in der Art von „so was darfst du nicht sagen“, „so schlimm ist das doch gar nicht“, „heutzutage kann man solche Sachen gut behandeln, es braucht ja niemand zu erfahren“ und so weiter.
Er nahm Wesen in die Arme, wenn er es für angemessen hielt, aber wenn nötig konnte er auch hart bleiben und ihnen echte Standpauken halten, bis sie sich endlich zusammenrissen. Wenn jemand einen schlechten Geschmack hatte, gab er ihm Tipps, welche Kleidung geeigneter wäre, und wenn Kinder zu laut schrieen, ermahnte er sie. Wenn es Streit gab, schlichtete er ihn, und wenn Wesen in fremden Gärten herumhingen, forderte er sie erst freundlich und dann unfreundlich auf, zu gehen. Zumindest in diesem Viertel von Positron kannte er alle Familien und wusste, worüber sie sich stritten, was sie am liebsten aßen und was sie an freien Tagen unternahmen. Wenn jemand seinen Garten nicht in Ordnung hielt, wies er die Person darauf hin; wenn jemand sich verletzte, half er ihm, und auch sonst kümmerte er sich um alles, was ihm gerade in den Weg kam.
Er hatte eine Jacke mit fünfzehn Taschen, in denen er alles aufbewahrte, was irgendwann nützlich werden könnte, und verteilte großzügig Taschentücher, Schmerztabletten, Traubenzucker und Getränke. Aber natürlich hatte er auch Verbandszeug, Pflaster und Bindfaden dabei. Sein Vorsatz war, jeden Tag mindestens zwei Personen aufzumuntern, und er fand immer jemanden, der nicht wirklich zufrieden wirkte - so erfüllte er den Vorsatz recht gut. Catalpa war von seinem Beruf überzeugt, tat, was er konnte, wollte generell das Beste, klopfte auf Schultern und hätte noch zu einer Leiche gesagt: „Alles wird gut, versuch ein bisschen zu schlafen“.
„Wieso bist du eigentlich hier?“ fragte Mgaeoi und wischte sich die Nase am Ärmel ab. „Ich dachte, du bist verreist.“
„Ja, war ich auch, ich bin gerade wiedergekommen. Kurzurlaub in Atherom.“
„Und wie war‘s?“
„Gut. Schöne Stadt. Aber jetzt erzähl mal, was passiert ist. Du kannst mir alles sagen.“
„Ach, mein Hamster ist gestorben ... meine Freundin ist weggezogen ... meine Eltern verstehen überhaupt nichts ... es ist alles so scheiße ... und so ... und alles ...“
Nachdem Catalpa eine Viertelstunde mit Zuhören und tröstenden Bemerkungen verbracht und natürlich auch Taschentücher verteilt hatte und Mgaeoi einigermaßen fröhlich wieder reingegangen war, ging er nach Hause.
Doch, es war schön, zurück zu sein. Es war schön, etwas Sinnvolles für ein anderes Wesen getan zu haben.
Er schloss die Haustür auf und stellte den Koffer in die Diele. „Hey, Elodea! Ich bin wieder da!“
Die Magd antwortete nicht.
„Hey, Elodea!“ rief Catalpa noch mal.
Keine Antwort.
Komisch. Er war sicher gewesen, dass sie da war und vermutlich schon Essen gemacht hatte (als professioneller Optimist ging Catalpa davon aus, dass das Essen automatisch fertig war, wenn er kam). Am besten sah er mal nach, ob alles in Ordnung war. Auch wenn er nur drei Tage lang verreist gewesen war, man konnte ja nicht sicher sein.
Zwei Minuten später stürmte er durch das Haus und brüllte enthusiastisch. Dann fiel ihm etwas ein; er blieb stehen, überlegte kurz, rannte in den Stall, fand seinen Verdacht bestätigt und brüllte noch enthusiastischer.
Verdammt. Jetzt brauchte ER mal einen Aufmunterer.

***

Zu der ungewöhnlichen Fauna von Nóctyla zählen auch seine vielen verschiedenen Schafe. Beispielsweise gibt es das Schönheitsschaf, das Gewerkschaf, das Beischaf, das Wissenschaf und, was hier besonders von Interesse ist, das Gesellschaf. Gesellschafe zeichnen sich dadurch aus, dass sie permanent Nähe, Ansprache und wenn möglich auch Körperkontakt suchen. Das bedeutet, dass sie anderen Wesen mit einer sehr freundlichen Einstellung begegnen. Sie laufen ihren Besitzern hinterher, wollen möglichst viel gestreichelt werden und kommen auch gern ins Haus, um am Familienleben teilzunehmen. Ihre Aufzucht und Haltung ist zwar zeitintensiv, aber sie bieten viel Zuwendung, was sogar einen therapeutischen Nutzen haben kann. Daher sind sie als Haustiere sehr beliebt.
Zu ihren weniger angenehmen Zügen gehört die Tatsache, dass sie sich zwar gut einfangen lassen, dann aber praktisch nicht mehr loszuwerden sind. Wenn jemand auf die Weide kommt, umringen sie ihn und lassen ihn nicht mehr allein. Sie wären perfekte Verfechter des zivilen Ungehorsams - freundlich, gewaltfrei und ausgesprochen hartnäckig. Würden sie jemals in eine entsprechende Situation kommen, dann würden sie eine Horde Polizisten mit ihrem Dahinschmelzblick angucken, leise blöken, sich nicht von der Stelle rühren und die Bullen in größte Verlegenheit stürzen.

„Hallo, meine Süßen ... he, pass auf ... nimm die Nase aus meiner Tasche ...“
Die Schafe kamen angaloppiert, sobald sie Bibiana sahen. Sie blökten aus vollem Hals und kuschelten sich an sie. Bibiana kannte das natürlich seit vielen Jahren und wusste, dass sie das bei allen machten, aber es war trotzdem nett.
„Hallo, ihr ... au, du stehst auf meinem Fuß. Verschwindet, sonst kann ich euch nicht füttern. Ja, sooo is brav ...“
Während sie das Futter in den langen Holztrog schüttete, drängten die sieben Schafe sich an sie, stießen sie aufmunternd an, beschnupperten sie mit weichen Nasen, blökten unermüdlich und schubsten sich gegenseitig.
Als sie mit dem Fressen beschäftigt waren, hingebungsvoll futterten und mit den Schwänzen wedelten wie Lämmer, begann Bibiana den Zaun abzugehen. Bei solchen Aufgaben kam sie sich jedesmal vor wie eine Verräterin.
Sie war aus Prinzip gegen Zäune, Tore, Türschlösser und andere Sachen, die mit Ordnung und Eingrenzung zu tun hatten. Wenn man sie früher auf die Weide gebracht hatte, hatte sie die Riegel am Tor geöffnet - deshalb hatten inzwischen alle Weiden und Ausläufe Ketten mit Vorhängeschlössern. Wenn das nicht ging, bog sie Drähte beiseite, riss Bretter ab oder kroch unter dem Zaun durch. Sie fand immer eine Möglichkeit zum Ausbrechen, ein paar Mal brach sie auch auf fremde Weiden EIN.
„Warum hast du den Zaun kaputt gemacht?“ fragte ihre Mutter.
„Weil er ein ZAUN ist“, sagte Bibiana.
Es dauerte lange, bis sie Zäune akzeptierte, und sie konnte sie auch heute noch nicht leiden. Immer, wenn sie einen Zaun sah, suchte das Pferd in ihr automatisch nach Löchern oder losen Brettern. Die Frau in ihr hatte allerdings was dagegen, wenn die Schafe ausbrachen und durch die Straßen liefen, was im letzten Jahr immerhin dreimal passiert war. Nicht, dass sie irgendwas Schlimmes taten - sie gingen in fremde Gärten, grasten und sahen die Besitzer mit einem rührend seelenvollen Blick an. Aber manche Wesen hingen nun mal an ihren Wegen und Blumenbeeten oder an ihren Gemüsegärten und Obstbäumen und nahmen es übel, wenn die Schafe sie verwüsteten. Weshalb Bibiana die Zäune am Ende doch kontrollierte.
Sie ersetzte einen gerissenen Draht und nagelte ein Brett wieder fest. Dann verabschiedete sie sich von den Schafen, kraulte sie noch mal, überredete sie mit großer Mühe dazu, das Tor freizugeben ...
„Tschüs, ihr Süßen ... LASS das ... jetzt lasst mich hier raus.“
... und trabte zurück Richtung Haus.

Der Ausritt mit Nokando verlief gemütlich und unspektakulär. Als sie zurückkamen, war es Viertel vor zwei. Ihre Familie kletterte immer noch auf dem Scheunendach herum, machte aber gerade Mittagspause mit belegten Broten. Jimmy sah sie und rief ihr etwas zu.
„Was?“ brüllte sie.
„CATALPA WILL DICH SPRECHEN!“ Er gestikulierte wild in Richtung Hoftor, wo der Riese stand.
„Oh.“
Bibiana hatte nicht allzu viel Kontakt mit Catalpa Qualsoz. Er kam gelegentlich vorbei und fragte, ob die Familie nicht mal wieder öfter zum Gottesdienst kommen wollte als alle drei Monate, das konnte einem viel Halt geben, und schaden konnte es doch schließlich nicht, oder? Manchmal gingen sie dann tatsächlich etwas öfter, manchmal auch nicht. Davon abgesehen hatte sie nur einmal länger mit ihm zu tun gehabt - vor sieben Jahren hatte Catalpa mit ihren Eltern geredet und gefragt, ob er mal mit ihr sprechen sollte, damit sie sich über ihre Identität etwas klarer würde. Ihre Eltern zuckten die Achseln, ließen sich aber am Ende breitschlagen.
Catalpa kam auf den Bauernhof und fragte Bibiana, was sie so machte, ob sie glücklich sei und ob sie sich eigentlich eher als Pferd oder als Mensch fühlte. Bibiana wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Eigentlich fühlte sie sich nur als SIE, aber das reichte offenbar nicht. Catalpa redete eine Weile, und Bibiana versuchte erfolglos, ihm zu erklären, was sie meinte. Aber schließlich ging er und erzählte ihren Eltern, sie werde schon zur Vernunft kommen und mit ihnen oder mit ihm reden, bis dahin sollten sie ihr Zeit lassen. Seitdem hatte sie ihn nicht mehr viel gesehen. Oder genauer gesagt: Sie hatte ihn zwar häufig gesehen, weil Positron klein war und man gar nicht anders konnte, als viele Wesen immer wieder zu treffen, aber sie hatten seit langem nicht mehr als zehn Worte auf einmal miteinander geredet. Manchmal fragte er, ob sie eine Aufmunterung brauchte, und Bibiana sagte, nein danke. Sie gehörte zu den wenigen, bei denen er das - na, nicht glaubte, aber akzeptierte.
Was er jetzt hier wollte, konnte sie sich nicht vorstellen.
Sie ging zum Tor hinüber und nickte Catalpa zu. Er betrachtete den Hof mit einem „Ganz hübsch, aber ihr könntet ruhig mal wieder fegen“-Blick.
„Hallo“, sagte Bibiana.
„Hallo, wie geht‘s?“ Er wartete die Antwort nicht ab. „Lange nicht gesehen.“
„Ja.“
„Ich komme jetzt gleich auf den Punkt, ich hätte dich gern mal was gefragt. Möchtest du für mich arbeiten?“
Ach du lieber Himmel. „Als was denn?“
„Also, das ist so, Bibi ... ich darf doch Bibi sagen?“
„NEIN!“
Catalpa liebte niedliche Spitznamen, Bibiana nicht.
„Äh ... OK, OK.“ Er zuckte die Achseln. „Also, Bibiana“ (ein missbilligender Blick), „weißt du, meine Magd hat mein Pferd geklaut. Nicht zu glauben, oder? Ich war verreist, und heute komme ich nach Hause, und sie ist weg. Mit meinem Pferd und fast zweitausend Trameten.“
Trameten sind die Währung von Nóctyla, eine Tramete entspricht hundert Trametinas. Ursprünglich zahlte man tatsächlich mit Trameten - den Pilzen, genau -, diesen Brauch hatte man von einer Gruppe Kobolde übernommen. Niemand weiß so recht, warum sie Trameten verwendet hatten, denn sie mochten gar keine Pilze. Diese Währung wurde denn auch relativ schnell abgeschafft und nacheinander durch Holz, Diamanten, tote Vögel und Steine ersetzt. Inzwischen verwendet man Zinnscheiben, der Name ist aber trotzdem erhalten geblieben. 2000 Trameten sind ein guter Monatslohn.
„Oh.“
„Ach, ich habe dem Stadtrat Bescheid gesagt, wir finden die schon wieder. Aber bis dahin ... Ich meine, wer soll jetzt bitte für mich kochen? Ich brauche für beide Ersatz.“
„Und du dachtest, ich kann beides auf einmal erledigen“, riet sie.
„Richtig. Also, warum machst du nicht den Job? Du brauchst ja auch mal was zu tun. Wir könnten tagsüber auf dem Feld arbeiten.“ Catalpa baute Weizen an. „Und abends machst du das Essen.“
„Und ich kann auch selber mein Geschirr putzen, nicht?“
„Genau. Mir würde das sehr gut passen. Ich war nie so glücklich damit, ein Pferd allein zu halten.“ Fürs Protokoll: völlig zu Recht, denn Pferde sind Herdentiere, und sie allein zu halten, grenzt an Tierquälerei. „Aber du hast damit doch kein Problem, oder? Wir könnten auch noch mehr machen, Kutschfahrten anbieten zum Beispiel. Hier auf dem Bauernhof klappt doch alles ganz gut, nicht? Ich meine, den Touristen gefällt das doch, eine Zentaurin zu treffen? Kutschfahrten mit einer Zentaurin wären wirklich mal was Neues. Wir könnten berühmt werden.“ Catalpa hatte nicht die Absicht, gemein zu sein, aber Taktgefühl hatte nicht zu seiner Ausbildung gehört. „Außerdem ist es doch auch an der Zeit, dass du mal arbeitest, oder meinst du nicht? Und heutzutage einen Job zu finden, ist schließlich gar nicht so einfach.“
Da hatte er natürlich recht. Auch in Nóctyla setzte sich schön langsam die Auffassung durch, dass man eigentlich äußerst dankbar sein konnte, wenn man für irgendwen irgendwas arbeiten durfte. Wenn die Arbeit jemandem half, der es nötig hatte, oder wenn sie einem Spaß machte oder sonst einen Sinn hatte, dann war das nur ein zusätzlicher Bonus.
Bibiana holte tief Luft.
„Also, ich will dir mal was sagen ...“
In diesem Moment tauchte der Hufschmied auf. Er war eine Stunde zu früh dran, aber er hatte nun mal gerade Zeit und fand es äußerst ärgerlich, dass sie noch nicht bereit war. Natürlich hatte Jimmy ihr noch nicht die Hufe sauber gemacht, aber zumindest ging Catalpa. Vermutlich hielt er das für ein sehr diskretes Verhalten.

Bibiana ließ ihre Hufe raspeln und kürzer schneiden und hielt still, während der Schmied die neuen Eisen anpasste. Als Kind hatte sie das gehasst, aber es ließ sich nun mal nicht gut vermeiden. Im Kopf rezitierte sie Gedichte, wie sie das in solchen Situationen immer tat. Dann holte sie die zwei Ponys aus dem Auslauf und hielt sie fest, während der Schmied sie beschlug. Sie bezahlte ihn, brachte die Ponys in den Auslauf zurück und ging dann ins Haus, damit ihr Blutdruck wieder auf einen einigermaßen normalen Wert sinken konnte.
Nein, sie schämte sich nicht für die Person, die sie war. Sie schämte sich nicht dafür, eine Zentaurin zu sein, und sie hatte nichts dagegen, wenn andere sie darauf ansprachen. Aber was hatte Catalpa da für einen Quatsch geredet? Komm und arbeite für mich, übernimm die Aufgaben von zwei Wesen - du bist eine Zentaurin, also ist das schon in Ordnung. Ich möchte dich verwenden, um den Touristen aufzufallen und einen auf exotisch zu machen - du bist eine Zentaurin, also klappt das schon. Sie konnte nicht ganz genau sagen, was sie störte, aber es störte sie. Wie auch immer, er erwartete, dass sie tat, was er wollte, also würde sie es nicht tun.
Zum Teufel (der Begriff 'Teufel' war natürlich in verschiedenen Gegenden Nóctylas verschieden besetzt und ergab in einigen Religionen nicht den geringsten Sinn, aber der Ausdruck war aus anderen Teilen der Welt übernommen worden - wie auch immer: zum Teufel). Was würde sie DENN tun? Catalpa hatte ja leider nicht ganz Unrecht, es war Zeit, mal irgendwas zu unternehmen. Auch wenn es nun wirklich nicht Arbeiten sein musste ...
Sie begann im Lexikon zu blättern - geistesabwesende Nostalgie. Zum ungefähr siebenunddreißigsten Mal las sie den Eintrag über Zentauren.
Etwas später fand sie einen anderen Eintrag, starrte drei Minuten lang bewegungslos darauf, drehte sich um und galoppierte ins Wohnzimmer.

***

Als ihre Familie eine Viertelstunde später endlich vom Scheunendach kam, stand Bibiana vor dem Wohnzimmertisch und blätterte wild in drei Büchern gleichzeitig - dem Großen Lexikon fast aller Spezies

, einem Atlas von Nóctyla und einem Buch namens Einführung in die tentaristische Religion

.
„Was machst du da?“
„Ich such was ... ich muss es finden ...“
„Was ist passiert?“
„Hat es mit Catalpa zu tun?“ fragte Jimmy. „Was wollte er?“
„Er will, dass ich für ihn arbeite.“ Sie erklärte es.
„Und machst du das?“
„Verdammt, nein. Ich bin kein exotisches Geschöpf, das für zwei Wesen arbeitet und nur für eins bezahlt wird - ich meine, das mit dem exotischen Geschöpf kann schon stimmen, aber das mit dem halben Lohn bestimmt nicht. Und ich mag ihn sowieso nicht.“
„Aber er ist eigentlich ein ganz netter Riese“, meinte Simona. „Vielleicht solltest du es ja mal versuchen. Wenigstens WILL er dir einen Job geben.“
„Ich will aber nicht, und außerdem ist mir das jetzt egal, ich hab nämlich noch was ganz anderes gefunden.“
Bibiana zeigte auf ein Bild im Lexikon. Eine dunkle Straße, über die Fledermäuse segelten, ein Skelett an einem Cafétisch ...
„Was ist mit dem Bild?“ fragte ihr Vater. „Oh.“
... und ein Zentaur ganz am Bildrand.
Es war wieder ein männlicher Zentaur. Der Pferdeanteil war ein großer muskulöser Rappe mit langen Kötenbehängen, Bibiana tippte auf einen Friesen. Sein menschlicher Teil war groß, dünn und rothaarig und trug einen dicken grauen Pullover. Der Zentaur war von rechts hinten zu sehen und sprach offenbar gerade mit jemandem außerhalb des Bildes.
„Ich hab es noch nie gesehen, aber er ist wirklich da. In dem Eintrag geht es um Fledermäuse, ich hab ihn noch nie so genau gelesen, aber diesmal ist es mir aufgefallen. Es gibt dort Zentauren ... oder jedenfalls gab es mal welche. Vielleicht sind sie ja doch nicht alle ausgestorben.“
Ihr Vater schnitt eine Grimasse. „Entschuldige bitte, aber da solltest du dir keine zu großen ...“
„Ich mach mir gar keine zu großen Hoffnungen. Ich mein bloß, ich möchte es rausfinden. Es könnte noch Zentauren geben, und wenn sie ausgestorben sind, kann ich immer noch erfahren - wie das für sie war, was sie für ein Leben hatten. Und deshalb ...“ Sie machte eine „Ihr versteht doch, was ich meine“-Geste.
„Du meinst, du willst dahin reisen?“ fragte Enrique.
Sie nickte. „Wisst ihr, das kommt jetzt alles so zusammen. Manche Typen hier denken wohl immer noch, ich bin was ganz ganz Aufregendes, weil ich eben die letzte Zentaurin bin. Catalpa hatte ja recht damit, dass ich so was wie eine Touristenattraktion sein kann, aber das will ich gar nicht. Ich bin hier einfach - komisch. Und heute morgen war eine Harpyie da, sie hat vorausgesagt, dass was Besonderes passieren wird.“
„Glaubst du inzwischen an Prophezeiungen?“ fragte Jimmy verwundert.
„Nein, eigentlich nicht, aber es kommt alles zusammen. Ich möchte ... nehmt‘s mir nicht übel, aber ich will ...“ Verdammt, normalerweise stotterte sie nicht so rum. „Es hat nichts mit euch zu tun, ich möchte einfach Wesen treffen, die so sind wie ich.“
Simona seufzte. „Ach, Bibiana ...“
„Ich möchte wissen, ob es welche gibt. Wenn es nicht klappt, ist es auch nicht schlimm, aber ich kann doch wenigstens mal gucken.“ Sie klappte die Bücher zu. „Ich hab gedacht, ich reise dahin und bleibe so - na, drei Wochen vielleicht, gucke mich um, treffe neue Wesen ... Das mit dem Geld müsste ich eigentlich hinkriegen, in letzter Zeit hab ich wenig ausgegeben. Ich würde so gerne mal was anderes erleben. Geht das?“
Ihre Eltern sahen einander an, dann sie, dann wieder einander. Sie zuckten synchron mit den Schultern.
„Also, wenn du das wirklich willst ...“ sagte ihre Mutter.
„... und wenn du versprichst, gut auf dich aufzupassen ...“ ergänzte ihr Vater.
„... müsste es gehen ...“
„... wenn du uns jede Woche schreibst ...“
„... du warst ja schon lange nicht mehr verreist ...“
„... alt genug bist du ja ...“
„... wenn du ganz sicher bist ...“
„Und wo willst du hinreisen?“ fragte Jimmy. „Ich meine, welche Stadt zeigt das Bild überhaupt?“
„Äh, ja, das muss ich auch noch sagen. Thanaton.“
„THANATON?“
„Thanaton.“
Thanaton, die Stadt an einem trüben Meer, die Stadt der Finsternis, die Stadt in den Düsteren Sümpfen von Scintilla, nebelumhüllt, dem Tod geweiht. Oder jedenfalls klang es in den Reiseprospekten so.


3

Thanaton war eine kleine Stadt ein Stück nordwestlich von Positron, die recht nah am Meer lag. In Bibianas Heimatort war Thanaton nicht besonders gut angesehen, weil es als Sitz des Bösen galt.
Auch diese Angelegenheit reichte bis in die Zeit der Zehn Jahre zurück.
An einem Februarmorgen vor knapp 140 Jahren, kurz vor der Schlacht von Apekgro und dem Ende der Kämpfe, war ein Pyroton in ein verwüstetes Dorf gekommen. Pyrota sind geschlechtsneutrale Wesen, die aus Feuer bestehen - sie sehen aus wie dreißig Zentimeter hohe Flammen mit sehr kurzen Armen und Beinen. Durch Berührungen können sie praktisch alles in Brand setzen, können das aber durch ausreichende Konzentration auch verhindern.
Dieses spezielle Pyroton war fünfunddreißig Jahre alt, und für eine lebende Flamme war es auffällig träge. Es hatte keine besonderen Ziele oder Pläne, es hatte nicht mal einen Namen. Es wanderte nur seit langem ziellos über die Insel und versuchte irgendwie zu überleben. Die letzte Woche hatte es in einer Hütte im Wald verbracht.
Es wusste nicht, wer hier gegen wen gekämpft hatte und warum - irgendwo wurde ja inzwischen dauernd gekämpft, und man brauchte dafür keine besonderen Gründe mehr. Es wusste nur, dass es dieses Dorf erreicht hatte und gehofft hatte, hier was zu essen zu kriegen, und dass dann die Angreifer aufgetaucht waren, wer immer sie auch sein mochten. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, das Dorf zu betreten. Daraufhin war das Pyroton schnell wieder abgehauen. Es hatte eine Hütte im Wald gefunden und sich dort versteckt, von Blättern gelebt, versucht, nicht zu viel zu hören, abgewartet.
Jetzt war es im Dorf ruhig.
Das Pyroton sah sich in den Straßen um. Es sah viele abgebrannte Häuser und ein paar Leichen - keine Verletzten. Unschlüssig ging das Pyroton die Hauptstraße entlang. Es betrat einige Häuser, rief ein paar Mal, zog Trümmer beiseite und fand keine Überlebenden. Vielleicht waren sie ja wirklich alle tot.
Es ging weiter die Straße hinunter, bis es ein Geräusch hörte. Links von ihm stand ein ziemlich kleines Haus.
Es klang so, als bewegte sich etwas darin ...
Das Pyroton war nicht sicher, ob das klug von ihm war, aber es sah trotzdem nach. Es öffnete das Gartentor und durchquerte den verwilderten Garten, stieß die Haustür auf und ging durch den Flur, in dem umgestürzte Möbel lagen. Das Geräusch wurde lauter - es war ein Stöhnen. Jemand atmete sehr laut und sehr mühsam.
Das Pyroton landete in einem Wohnzimmer. Auf dem Sofa lag ein Mann, der offensichtlich starb. Der Speer in seinem Brustkorb bot einen deutlichen Hinweis. Besonders schockiert war das Pyroton nicht, dafür hatte es zu viel erlebt. Aber es kniete sich neben ihm hin.
„Kann ich irgendwie helfen?“
Der Mann sah auf und schüttelte den Kopf. Er wirkte nicht überrascht, dass jemand auftauchte.
„Mir ... helfen? Nein. Hat keinen ... Zweck mehr. Ist auch egal ...“
Dann richtete er sich mühsam halb auf, streckte die Hand aus und packte das Pyroton am Arm. Er war erstaunlich stark und entschlossen genug, um die Hitze zu ignorieren.
„Aber in der Schublade ... sieh ... in der Schublade nach ... Ich sterbe. Für mich kannst du nichts mehr tun, aber versprich mir ... versprich mir ...“
„Was denn? Was versprechen?“
„Ich hätte nie geglaubt, dass das passiert.“ Er hustete, spuckte Blut auf den Arm des Pyrotons. Es zischte, als die Flüssigkeit verdampfte. „Sie werden mich ... sie werden ... lies es ... tu, was sie sagen ... vergiss uns nicht ...“
Ein paar Minuten später war der Mann tot, und das Pyroton durchsuchte die Schubladen des Schreibtisches. Sie waren leer bis auf einen Stapel Papier. Das Pyroton zog ihn vorsichtig heraus und begann zu lesen.

Dies sind die Aufzeichnungen von Tentarius, geschrieben in der Zeit der großen Schlachten.
Ich werde nicht mehr lange leben, aber ich hoffe darauf, dass jemand meine Botschaft lesen und mich verstehen wird.
Folgendes also ist passiert.
Vor drei Tagen ging ich durch den Gehirnwald. Und vor mir erschienen zwei Gestalten aus dem Boden, eine silbern und eine golden und grün, und beide größer als die Berge. Sie sahen mich, und sie sprachen mit einer Stimme:
Du bist derjenige. Du sollst unsere Geschichte erzählen.
Ich bin Serpígio, sprach die grüngoldene Gestalt. Ich bin die Freude, die Hoffnung, der Kampf.
Ich bin Noxana, sprach die silberne Gestalt. Ich bin die Trauer, die Stille, das Mitgefühl.
Tentarius, schreibe unsere Worte auf.
Und mit einer Stimme sprachen sie:
Du, Tentarius, sollst unser neuer Prophet sein. Wir sind anderen erschienen, aber unsere Diener sind tot und vergessen. Bewahre unsere Geschichte bis zum Ende der Schlacht und erzähle sie weiter. Wir werden dir sagen, was wir getan haben und was wir von euch wollen.
Ich fiel auf die Knie und fragte, ob sie wirklich mich meinten, und sie sagten: Ja, wir meinen dich.
Seid ihr sicher, dass ich würdig bin? fragte ich, und sie sagten: Nein, aber es wird genügen.
Und sie erzählten mir ihre Geschichte und gaben mir ihre Befehle.
Da ging ich nach Hause und begann aufzuschreiben, was sie mir erzählt hatten.



Das Pyroton saß da, in den Trümmern eines Dorfes, dessen Namen es nicht kannte, auf dem Tisch eines Mannes, dessen Leiche nur ein paar Meter weiter weg lag, und es las und las.

Serpígio ist das Leben und die Hoffnung, der Sonnenschein und die Peitsche und das klare, saubere Wasser. Er ist die Stärke, der Ehrgeiz und der Wille zu siegen. Er führt die Schwerter der Guten und lässt sie ihr Ziel finden, verbrennt das Böse und lässt die Herzen weiter schlagen. Ich bin der Gott der Zuversicht, sagt Serpígio, und wer verzweifelt, der sündigt gegen mich.
Noxana ist der bewölkte Himmel und der Samt, die Gnade, die Schatten der Nacht und die Ruhe, die Ankunft am Ziel und die Erlösung von al-len Schmerzen. Sie ist die Trauer und die Vergebung, die Schonung der Besiegten, die Zärtlichkeit und die Melancholie. Sie ist das Erkennen der eigenen Fehler und das Bemühen um Besserung, das Mitgefühl, die Fürsorge und der Tod, der alles Leid beendet.
Zusammen haben sie unsere Welt erschaffen, das Gute und das Schlechte, die Freude und die Trauer, das Leben und den Tod.
Jahrhunderte lang haben sie unsere Schritte gelenkt, aber wir haben ih-re Stimmen nicht gehört. Wenn wir ihnen weiterhin nicht zuhören, sind wir verloren.
(Teil 1: Das Wesen der Götter)



Es las von den Taten, die die Götter vollbracht hatten, und von all denen, die ihre Botschaft zu verbreiten versucht hatten.

Vnwu wanderte in der Nacht durch einen Sumpf, und er versank, doch Serpígio streckte ihm vom Himmel einen Ast entgegen und rief: „Halte dich fest.“
Doch Vnwu war skeptisch und traute seinen Ohren nicht und tat nichts.
Serpígio sprach wieder: „Halte dich fest.“ Und Vnwu schüttelte den Kopf und rief: „Das ist nur eine Halluzination, die mich von meiner Todesangst ablenken will“.
Und Serpígio streckte ihm noch einmal den Ast hin und sprach: „Halte dich fest, aber tu es schnell, sonst bist du verloren.“
Da packte Vnwu den Ast, und Serpígio zog ihn empor und trug ihn sicher über die Sümpfe.
...
Famwé von Davál suchte die Wahrheit. Sie lebte fünfzig Jahre lang in der Steinernen Einöde, hungerte und geißelte sich mit Disteln und kleidete sich in Disteln.
Noxana und Serpígio sprachen mit Famwé, und sie hörte ihnen zu. Und sie zog durch die Welt, um die Botschaft zu verkünden; zehn Jahre lang wanderte sie, doch man erhörte sie nicht.
(Teil 2: Taten der Götter)
...
Der grausame Herrscher Eliminir frönte jedem Laster, das es gab, er folterte und tötete und genoss es.
Die Götter erschienen ihm in Gestalt eines Paradiesvogels und forderten ihn auf, von seiner Schreckensherrschaft abzulassen, er aber kümmerte sich nicht darum und lachte nur.
Sie erschienen ihm wieder, und er erschauerte, aber wieder schlug er die Warnung aus.
Und 34 Jahre später erschlug ihn ein abstürzender Greif.
Und die Dämonen verurteilten ihn dazu, Tausende von Jahren lang graue Federn aufzusammeln.


(Ja, von diesem Herrscher hatte das Pyroton schon mal gelesen.) ...
Serpígio schickte dem tapferen Bareae einen Eimer mit Kohle, Pech und Schwefel.
Und Bareae stellte ihn vor die Höhle des Drachen.
Der Drache fraß ihn leer, und er brüllte und wand sich.
Dann explodierte er und starb in einem Schauer aus Schuppen und Schleim.
So rettete Serpígio die Stadt Vmarp.
(Teil 3: Mehr Taten der Götter)
...
Vor zweihundert Jahren lebte in Flodon Yy. Er erschlug seinen besten Freund Xach, weil er ihn für den Liebhaber seiner Frau hielt.
Und als Yy sich entsetzt über die Leiche beugte, verletzte er sich die Hand an seinem noch blutigen Schwert, und die Wunde heilte niemals. Er bereute, beweinte und beklagte seine Tat, aber die Wunde blieb seine Strafe.
Sie schwoll und eiterte, und sein Körper begann zu faulen und zu stinken, und Maden krochen aus seinem zerplatzenden Fleisch. Doch trotz seines Leides blieb er stark, er bereute und tat Gutes.
Und Noxana schickte ihm einen schnellen und gnädigen Tod.
(Teil 4: Noch mehr Taten der Götter)



Es las die Regeln der Götter.

Dies sagen euch Serpígio und Noxana:
Ihr sollt uns gehorchen, und wir werden euch schützen, euch belohnen und bestrafen, wie ihr es verdient habt. Ihr sollt unsere Worte hören und diese Gebote befolgen.
Ihr sollt das Richtige tun.
Und wenn ihr das Richtige tut, werdet ihr belohnt, wenn ihr aber das Falsche tut, werdet ihr bestraft werden.
Wir werden eure Taten sehen und euch beschützen und nach eurem Tod eure Seelen aufnehmen.
Ihr sollt nicht an uns zweifeln.
Ihr sollt einander richtig behandeln.
Ihr sollt keine Morde begehen.
Ihr sollt einander nicht im Stich lassen.
Nach dem Tod werdet ihr empfangen, was ihr verdient habt. Zusammen werden die Götter über jeden einzelnen von euch richten. Die einen werden erlöst und die anderen bestraft werden, die Götter werden die einen in ihre Reiche aufnehmen und die anderen zu den Dämonen schicken.
Die Dämonen haben alle Farben und Gestalten. Sie leben unter euch in ihrer warmen bunten Höhle, und sie stehlen, was sie erwischen können.
Und die Dämonen werden euch so strafen, wie ihr es verdient habt. Sie werden euch geben, was eure bösen Taten und Gedanken erfordern. Ihr werdet euch bemühen, leiden, bereuen und nicht entkommen können.
Und ihr werdet schreien, aber sie werden eure Schreie aufsaugen, eure Angst trinken, eure Verzweiflung verschlingen.
(Teil 5: Die Regeln der Götter)



Und es las den Epilog: wie die Schlacht begonnen hatte, wie Tentarius erkannt hatte, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben würde, und dass er darauf vertraute, dass die Götter seine Botschaft retten würden.
Der Text endete mit den Worten:
Jetzt ist es vorbei. Sie haben mir nicht geglaubt, und es gibt nur noch Tod und Schmerzen. Um uns herum tobt die Schlacht, und auch für mich wird es nicht mehr lange dauern. Aber das ist unwichtig. Die Götter werden nicht für immer vergessen sein. Du, wer immer du sein magst, wirst sie wieder aufleben lassen. Es ist nicht wichtig, wer du bist. Und es ist nicht wichtig, was aus mir wird. Aber gib die Botschaft weiter. Mehr gibt es nicht zu sagen. Macht es besser als wir.

Tentarius



Als das Pyroton zu Ende gelesen hatte, war es Abend. Es verscheuchte die Fliegen und richtete sich auf, sah die Leiche an, die auf dem Sofa lag. Es hatte keine Angst mehr. Vorsichtig berührte es das Gesicht des Mannes.
War er für seinen Glauben gestorben? Hätte er sich retten können, wenn er die Geschichte der Götter nicht mehr aufgeschrieben hätte? Hatte er sich geopfert?
Das Pyroton hatte niemals an irgendwas geglaubt, aber es hatte das Vermächtnis dieses Kultes gefunden, und jetzt war es dafür verantwortlich. Ein Versprechen an einen Sterbenden war nun mal bindend, und überhaupt.
Jahrhunderte lang haben sie unsere Schritte gelenkt, aber wir haben ihre Stimmen nicht gehört. Wenn wir ihnen jetzt, während der Schlacht, noch nicht zuhören, sind wir verloren.
Und zum ersten Mal in seinem Leben dachte es, dass es vielleicht doch eine Aufgabe hatte. Es würde die Botschaft weiterverbreiten; es würde andere finden, und zusammen würden sie dieses Dorf wieder aufbauen, schöner, als es jemals gewesen war.
Das Pyroton sah zum Fenster und glaubte, vor der untergehenden Sonne zwei Gestalten zu sehen, eine silbern und eine golden und grün ...

***

So also entwickelte sich der Tentarismus.
Das Pyroton fand schnell einige Überlebende. Keiner von ihnen schien Tentarius zu kennen. Ein paar von ihnen lasen den Text, zweifelten, überlegten, diskutierten. Ziemlich viele erklärten das Pyroton für verrückt, was es nicht anders erwartet hatte. Aber es wusste, dass es im Recht war. Und einige glaubten ihm. Als das Dorf - Positron, genau (damals hieß es allerdings noch Steatit) - wieder aufgebaut war, fanden sie sich zusammen und bemühten sich, möglichst nach den Regeln des Tentariums, wie das Buch bald genannt wurde, zu leben.
„Ihr sollt keine Morde begehen“ erforderte längere Diskussionen zum Thema „Wann ist ein Mord ein Mord?“, aber man einigte sich darauf, dass legale Exekutionen, Kriege und andere Fälle, in denen das Töten durch eine anerkannte Autorität veranlasst wurde, nicht nur nicht durch diese Regeln verboten, sondern im Grunde sogar gerechtfertigt waren. Wenn die Todesstrafe also mal wieder eingeführt wurde, war das Problem schon gelöst. Kriege mussten dem richtigen Zweck dienen, wenn das gegeben war, dann war die gezielte Tötung von Lebewesen unter Umständen bedauerlich, aber keinesfalls ein Mord. Damit war ein wichtiger Streitpunkt beseitigt.
Ein paar Jahre lang bemühte man sich aber in der Erinnerung an die Zehn Jahre, Todesfälle zu vermeiden, und lebte ziemlich friedlich zusammen. Die neue Religion gewann an Einfluss, und schließlich war das Dorf eindeutig tentaristisch geprägt. Man feierte Gottesdienste, um Noxana und Serpígio dafür zu danken, dass die Schlachten vorbei waren. Man kleidete sich schön und wusch sich gründlich, um Serpígio („das klare, saubere Wasser“) seinen Gehorsam zu demonstrieren. Man erinnerte sich immer wieder an die eigene Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit, um Noxana zu zeigen, dass man nicht überheblich war. Bei Geburten bat man Serpígio, dem Kind ein schönes Leben zu schenken, bei Beerdigungen bat man Noxana, die Toten gnädig aufzunehmen. Für beide Götter gab es Opfer in Form von Blumen und Edelsteinen, und fürs erste vertrugen sich alle ganz gut. Allerdings dauerte das nicht lange.

Es begann damit, dass eine Art Prediger auftauchte: ein Hundedämon (mit Kopf, Körper und Armen eines Mannes, aber mit Ohren, Beinen und Schwanz eines besonders großen Cockerspaniels) namens Wuk, der durch die Straßen von Steatit lief und auf einen Gong schlug.
„Hört auf mich, Bürger von Steatit! Hört auf mich, Tentaristen!“
Es sammelte sich tatsächlich eine kleine Gruppe. Der Hundedämon sprang auf eine Kutsche, die zufällig gerade da stand, und hob beide Arme. „Hört auf mich!“ rief er.
„Ja, nu sag schon.“
„Ihr betet den falschen Gott an“, verkündete Wuk. „Aber noch habt ihr Zeit, umzukehren. Einer der Götter, die ihr anbetet, ist kein wahrer Gott. Serpígio ist ein Lügner und ein Monster.“
„Warum?“
„Es heißt ja immer, Serpígio und Noxana sind nur zwei Seiten einer Kraft - Trauer und Freude, Liebe und Hass, Angst und Mut - alles ist untrennbar miteinander verwoben. Sie gehören zusammen wie zwei Seiten eines Tellers.“
Das stimmte. Der klassische Tentarismus ging davon aus, das Serpígio und Noxana zusammenarbeiteten und nur dadurch die Welt im Gang bleiben konnte. Alles war mit allem anderen verwoben, alles hatte positive und negative Seiten, und in irgendeiner Form hatte alles seinen Sinn.
„Aber so kann es nicht sein. Was Serpígio behauptet, ist nicht wahr“, sagte Wuk. „Das Leben ist nicht schön, und es gibt keinen Anlass zur Freude. Das Leben ist kurz und immer zu wenig, und am Ende steht der Tod. Wir sind nur winzig kleine Geschöpfe in einem ungeheuren Universum, wir nutzen nie alle Möglichkeiten, und am Ende steht der Tod. Am Ende steht immer der Tod. Daher ist Noxana, die Göttin des Todes, das größte aller Wesen, und Serpígio ist nur einer ihrer Untergebenen. Sie ist die Herrscherin.“
„Aber Serpígio ist die Lebenskraft und die Hoffnung“, widersprach eine Zuhörerin.
„Aber am Ende gewinnt der Tod.“
Das war ein Argument. Wer wollte schon auf der Verliererseite stehen.
Wuk merkte, dass der Hinweis angekommen war. „Noxana liebt die Geschöpfe, die sie erschaffen hat, aber sie will, dass sie allein zurechtkommen. Und das können sie erst, wenn ihnen klar wird, wie unvollkommen sie noch sind und wie viele Fehler sie machen. Wir sind böse und fehlerhaft, wir alle ...“
„Ich nicht.“
„Doch, gerade du. Du hast die Sünde des Stolzes begangen. Aber Serpígio versucht uns vorzumachen, alles wäre in Ordnung, wenn man genug Selbstvertrauen hat und sich gut benimmt. Von ihm können wir nicht lernen, er gibt uns keinen Grund, Gutes zu tun, wir entwickeln uns durch ihn nicht weiter. Noxana täuscht nichts vor, sie trauert ehrlich, und sie verzeiht. Sie ist die Göttin der Wahrheit.“
„Das macht doch gar keinen Sinn“, rief jemand. „Serpígio liebt uns und will, dass wir glücklich sind; Noxana will immer, dass alle bestraft werden und traurig sind. Sie muss uns hassen. Bestimmt ist Serpígio gut und Noxana böse.“
„Nein. Sie sind beide zusammen die eine Macht, die unser Leben bestimmt“, kommentierte jemand anders.
„Nein, Serpígio ist gut und Noxana böse.“
„Noxana ist die Gute“, sagte Wuk. „Sie bedeutet Sanftheit, Trost, Frieden. Wenn alle immer aktiv, glücklich und selbstsicher wären - wie sollte man das ertragen? Was würde aus der Welt werden, wenn man nicht nachdenken und überlegen würde und nicht manchmal Zweifel hätte? Ohne Frieden und Stille könnte man nicht leben, und man muss manchmal traurig sein - sei es nur, um die Freude schätzen zu können. Und wie soll man in einer Welt wie dieser nicht trauern?“
Es dauerte eine Weile, aber Wuk fand Anhänger. Natürlich gab es auch eine Gegenbewegung, die Serpígio für den gnädigen Gott und Noxana für seine böse todessüchtige Widersacherin hielt. Daraus ergab sich ein Disput, der selbstverständlich sehr viel altmodischer ausgedrückt war und sich über mehrere Jahre erstreckte, aber ungefähr auf folgendes hinauslief:
„Irgendwie hat Wuk doch recht. Serpígio kann kein guter Gott sein. Seht euch nur die Welt an - wie könnte ein liebender Gott denn so viel Gewalt, Tod, Angst und Hass zulassen? Warum sind so viele Wesen unglücklich, warum gibt es Mord und Totschlag, Hungersnöte, Armut, Seuchen? Wenn das Serpígios Werk ist, wie soll er dann ein guter Gott sein?“
„Dafür ist ja auch Noxana verantwortlich, sie ist doch für Tod und Leid zuständig.“
„Nein, sie TRÖSTET die Sterbenden und die Leidenden, das heißt doch nicht, dass das Leid von ihr verursacht wird. Und selbst wenn, warum tut Serpígio nichts dagegen? Wenn er es nicht wollte und wirklich so mächtig wäre, könnte er das doch ändern. Aber das tut er ja nicht.“
„Nein, weil er will, dass seine Geschöpfe sich selbst helfen.“
„Aber wie sollen sie sich selbst helfen, wenn sie hungern oder krank sind, nicht mal wissen, ob sie noch einen Tag überleben werden? Warum hilft er ihnen nicht? Wenn jemand leidet, hat der Serpígionismus doch nur eine Erklärung: Er muss etwas Schlechtes getan haben, denn die Götter würden ihn ja nicht zu Unrecht leiden lassen. Also ist er selbst schuld. Und die Hoffnung zu verlieren, ist die schlimmste Sünde überhaupt.“
„Aber es IST doch schlimm, die Hoffnung zu verlieren.“
„Ja, aber die Lösung kann doch nicht sein, dass man nur sagt: ‚Selber schuld, die Welt könnte so schön sein, wenn du dir nur genug Mühe geben würdest‘ - und das war‘s.“
„Die Welt könnte perfekt sein, wenn wir uns nur genug Mühe geben würden. Aber wer immer sofort aufgibt und verzweifelt, kann ja nicht glücklich werden.“
„Aber Serpígios Anhänger tun so, als wäre alles in Ordnung, wenn man nur auf ihn vertraut.“
„Wäre es ja auch. Wenn wir genau verstehen könnten, was Serpígio von uns will, und ihm gehorchen würden, wäre alles in Ordnung. Serpígio will Gutes tun, und im Großen und Ganzen ist die Welt auch gut, aber manchmal passiert nun mal Schlimmes.“
„Ja, aber warum?“
„Es liegt entweder an Noxanas Einfluss oder an der Dummheit bestimmter Wesen. Wesen wie dir, die immer zweifeln und überlegen und sich auf nichts verlassen. Solche Wesen bewirken Unruhe und Unglück.“
„Aber wenn Serpígio das verhindern wollte, könnte er doch dafür sorgen, dass die Wesen Gutes tun und man nicht an ihnen zu zweifeln braucht! Warum verhindert er Unruhe und Unglück denn nicht?“
„Weil er sich Freiheit für seine Geschöpfe wünscht. Sie sollen sich selbst für das Gute entscheiden, statt von ihm dazu gebracht zu werden. Es wäre doch nicht richtig, nur deshalb Gutes zu tun, weil man gar nicht anders kann. Serpígio lässt uns wählen. Noch erkennen wir vielleicht nicht, ob unsere Entscheidungen richtig waren und welcher Sinn hinter allem steckt, aber irgendwann wird er es uns wissen lassen. Er ist der Inbegriff der Liebe, der Freude, der Hoffnung, er ist stark und klug ...“
„Blödsinn. Serpígio ist der Verführer, der uns vorspiegeln will, die Welt sei schön, wie sie ist - oder sie würde zumindest bald perfekt sein. Man hofft darauf, dass es später mal besser wird, und wartet darauf und fügt sich. So zementiert man doch die Ungerechtigkeit der Verhältnisse. Noxanas Anhänger sehen wenigstens, dass die Welt eben nicht schön ist. Die Wesen sind nicht gut, und das Leben ist nicht schön. Man muss doch erstmal zugeben, dass es so ist. Die Wahrheit nicht verdrängen.“
„Willst du vielleicht behaupten, durch so eine Einstellung ändert man was?“
„Natürlich ändert man was, wenn man bereit ist, an seinen Fehlern zu arbeiten. Noxana will, dass wir unsere Fehler erkennen, dazulernen, uns verbessern, sie ist gütiger und stärker als Serpígio. Sie symbolisiert den Tod, und der Tod gewinnt am Ende immer. Er steht über allem. Serpígio ist nur ein Lügner, Noxana verkörpert die Ehrlichkeit, die Erhabenheit und die Rücksichtnahme ...“
„Ja toll, und ihr hofft immer darauf, dass sie uns ‘eines Tages‘ belohnen wird. Bis dahin lasst ihr alles mit euch machen ...“
„Ihr doch auch, nur dass ihr euch dabei einredet, in Wirklichkeit ist die Welt ganz anders und am Ende wird alles gut.“
„... und verzweifelt über jede Kleinigkeit. Heulsusen.“
„Träumer.“
„Ketzer.“
„Lügner.“
„Leck mich.“
„Du mich auch.“

Natürlich gab es auch noch andere Untergruppen, zum Beispiel diejenige, die wie das Pyroton leben wollte (nämlich im Wald - es hatte sich dorthin zurück-gezogen, um über die Götter nachzudenken, und war nach fünf Jahren verwahrlost, aber glücklich erloschen), oder diejenige, die glaubte, Noxana und Serpígio seien beide gut, und alles Schlechte auf der Welt werde von den Dämonen begangen. Aber irgendwie setzten sich diese Gruppen nie durch. Dominant blieben der Serpígionismus und der Noxanismus.
Es wurden einige Konzile veranstaltet, auf denen man aber auch zu keinem Beschluss kam; es wurde viel diskutiert, und dann kam es zu einer Straßen-schlacht.
Der Anlass war, wie meistens in solchen Fällen, wenig aufregend. Jemand war in einer serpígionistischen Gegend gestolpert, hatte sich in eine Pfütze gesetzt und geflucht, woraufhin sein Begleiter - auch ein Serpígionist - sagte: „Na ja, das passiert. So ist das Leben“. Eine Gruppe Jugendlicher, die in der Nähe stand, fühlte sich dadurch angegriffen, weil dieser Satz Ausdruck einer negativen Lebenseinstellung war und bedeutete, dass der Begleiter nicht wahrhaft gläubig war. Sie äußerte ihre Kritik, indem sie den armen Idioten zusammenschlug. Einige Noxanen waren darüber so schockiert und verletzt, dass sie am nächsten Tag in die betreffende Gegend kamen, einige der betreffenden Jugendlichen abfingen und sie verprügelten.
Im Laufe der nächsten Tage gab es immer mehr Konflikte. Es fanden verschiedene Solidaritätskundgebungen für beide Gruppen statt, einige davon zur gleichen Zeit am gleichen Ort, und das bot natürlich gute Gelegenheiten für Schlägereien. Es kam, wie es kam, und am Ende standen ein Großbrand (eine ganz besonders frustrierte noxanische Gruppe hatte das Rathaus angezündet, das damals noch aus Holz bestand), sieben Tote und etwas über zweihundert mehr oder weniger schwer Verletzte.
„Ihr werdet gehen müssen“, sagte der Bürgermeister, ein Zwerg und Anhänger Serpígios. Inzwischen waren die Straßen wieder begehbar, die Verwundeten verarztet, die Toten begraben, und sie konnten endlich doch noch ein Treffen politischer und religiöser Sprecher veranstalten. „Wir kommen mit diesen Konflikten nicht mehr zurecht. Ich glaube nicht, dass wir uns jetzt noch versöhnen können, und ein friedliches Zusammenleben scheint nicht mehr möglich zu sein. Wenn das so weiter geht, bringen wir uns wirklich irgendwann alle gegenseitig um.“
„Warum sollen WIR gehen?“ fragte der Krokodilmensch, der zu diesem Zeitpunkt gerade als noxanischer Sprecher fungierte. „Geht ihr doch.“
„Es stimmt schon, dass wir auch gehen könnten, aber wir haben uns in dieser Gegend eingelebt, und sie entspricht unseren religiösen Wünschen. Für euch wäre vielleicht etwas anderes geeigneter. Ich könnte mir denken, dass eine andere Gegend euren Vorlieben viel mehr entspricht. Ich meine die Düsteren Sümpfe von Scintilla.“

***

Am Ende gründeten die Noxanen tatsächlich ein neues Dorf. Die Düsteren Sümpfe von Scintilla lagen nah am Strand, in einer Gegend, die angeblich verflucht war. Es war dort immer trübe und still, das Meer war bleigrau, der Strand steinig und kalt, die Dornbüsche bissen, und in den Mooren sollten zahlreiche Leichen liegen.
Hier sammelten sich die antiserpígionistischen Ketzer. Sie bauten Häuser in den Wiesen und am Strand, fischten, buken und vermehrten sich, bauten Straßen und so weiter; sie feierten Messen für Noxana, geißelten sich und suchten den Sinn des Lebens. Sie tauften das Dorf auf den Namen Thanaton, was die Todesorientierung des Noxanismus betonen sollte (woraufhin Steatit sofort in Positron umbenannt wurde - der Name stammte von jemandem, der nicht besonders viel mit seiner Schulbildung anfangen konnte und fand, Positron müsse irgendwie irgendwas Positives ausdrücken). Und sie legten ihre Grundsätze fest:

Die Welt ist schlecht und unverständlich.
Alle sind schuldig und büßen dafür.
Ihr sollt nicht stolz sein
Ihr sollt euch nicht über Lügen freuen.
Der Tod ist die Erlösung.
Ihr bekommt, was ihr verdient.
Ihr verdient, was ihr bekommt.



Die Noxanen glaubten, alle Lebewesen seien von Natur aus schlecht, böse, gefährlich. Jede Form von Leid war verdient, und das schlimmste Verbrechen war Stolz. Denn niemand hatte das Recht, auf irgend etwas stolz zu sein. Noxanen gingen davon aus, dass alle böse waren. Alle Wesen hatten schon mal etwas getan, das andere verletzte, oder taten es zur Zeit oder würden es später tun. Sei es nun absichtlich oder versehentlich, bewusst oder unbewusst. Schon die Geburt (oder das Ausbrüten oder Ausmeißeln) war anstrengend und auch unangenehm, und später wurde es auch nicht viel besser. Die meisten Körper waren weder perfekt konstruiert noch wirklich schön und verfügten auch über unangenehme Eigenschaften. Dass Wesen so waren, hatte sicherlich etwas zu bedeuten - nämlich, dass sie eben nicht perfekt waren, nie perfekt sein würden, immer fehlerhaft bleiben und niemals etwas ganz richtig machen würden. Wesen taten schreckliche, grausame oder zumindest entnervende Dinge und be-einträchtigten allein durch ihre Existenz das Glück anderer. Und sogar gute Taten waren keine rein altruistischen Handlungen, sie nützten auch einem selbst, weil man sich dadurch besser fühlte. Also handelte man immer noch egoistisch und unverschämt. Wieso sollte es einem denn zustehen, sich besser zu fühlen?
Niemand konnte leben, ohne anderen zu schaden. Sei es nun mit Absicht oder allein dadurch, dass man nicht richtig überlegte, sich an der falschen Stelle befand oder das falsche Geschlecht hatte, wenn jemand einen Erben brauchte - irgendwie verletzten alle jemanden. Und auch wenn es unwichtig war, auch wenn man sich entschuldigte oder wenn einem verziehen wurde - man konnte es nie ungeschehen machen. In irgendeiner Form warst du schuldig, und du wurdest es nie wieder los außer durch den Tod. Und dann war endlich Schluss. Der Tod gewann immer, und der Tod war die endgültige Erlösung.
Das Leben in Thanaton war allerdings weniger schuldbeladen und neurotisch, als man annehmen würde. Noxana war eine einigermaßen gnädige Göttin. Trotz aller Fehler, die alle Wesen machten, ermöglichte sie ihnen Momente des unverdienten Glücks, und wer ehrlich bereute, dem verzieh sie. Daher bedeutete der Noxanismus keine völlige Hoffnungslosigkeit.

Die Serpígionisten brachten wieder mal die Stadt in Ordnung. Sie bauten Häuser, säten und ernteten, buken und vermehrten sich, errichteten ein Rathaus aus Kupfer; sie feierten Messen für Serpígio, sangen Lieder und suchten den Sinn des Lebens. Als sie von den neuen noxanischen Grundsätzen hörten, legten sie analog dazu ihre eigenen Sätze fest:

Die Wesen sind gut.
Die Welt ist schön, wenn ihr daran glaubt.
Ihr sollt nicht zweifeln und keinen Zweifel dulden.
Ihr sollt nicht trauern.
Ihr sollt Tod und Zweifel mit aller Macht bekämpfen.
Ihr bekommt, was ihr verdient.
Ihr verdient, was ihr bekommt.



Alle Lebewesen - besagte der Serpígionismus - waren im Grunde gut, manchmal handelten sie zwar nicht so, aber das lag daran, dass sie die Wahrheit noch nicht erkannt hatten. Von Natur aus waren sie gut, aber deshalb war es auch besonders schlimm, wenn jemand etwas Schlechtes tat, also brauchte man viele Regeln, Strafen und Verbote. Mit bösen Taten entschied man sich nicht nur gegen die eigene Natur, sondern auch gegen Serpígio. Also musste der gottesfürchtige Teil der Gesellschaft die Übeltäter überzeugen: mit langen vernünftigen Gesprächen, mitreißenden Liedern oder strengen Strafen, je nachdem.
Das Leben war schön und der Tod die schlimmste Bedrohung. Der Serpígio-nismus war gegen den Tod und lehnte es ab, Leichen zu zeigen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Friedhöfe wurden in einsamen, möglichst entlegenen Gegenden der Stadt gebaut oder zumindest mit sehr hohen Mauern umgeben; Worte, die mit dem Tod zu tun hatten, sollten möglichst vermieden werden, und Leichen durften nur zu ganz bestimmten Zeiten auf ganz bestimmten Wegen transportiert werden. Es war nicht nur falsch, sich den Tod zu wünschen oder ihn still hinzunehmen; es war auch falsch, überhaupt zu sterben. Der Tod war ein Fehler, der eigentlich nur auf Willensschwäche beruhte und den man eines Tages korrigieren würde.
Das schlimmste Verbrechen danach war Verzweiflung, denn Serpígio hatte sie verboten, und sie war niemals gerechtfertigt. Alles, was Serpígio tat, war im Endeffekt richtig, also durfte man nicht auf Dauer unzufrieden sein. Der Tod, der Zweifel und die Hoffnungslosigkeit waren die Feinde, und man durfte ihnen keinen Platz im Leben lassen. Auch sehr verwerflich waren Frechheit, Trotz, Schüchternheit, Disziplinlosigkeit und Unordnung. Weiterhin glaubte der Serpígionismus an Sonnenschein und frische Luft als Heilmittel, harte Arbeit, Sauberkeit, die Wichtigkeit des gesunden Lebens, die-Wahrheit-sagen-außer-in-echten-Notfällen, die göttliche Gerechtigkeit, die am Ende eben doch kommen würde, und daran, dass der wahre Glaube eines Tages den Tod besiegen konnte. Die Welt war im Grunde sehr einfach, wenn man sich genug Mühe gab, konnte man auch ihren Sinn erkennen. Wenn man es wollte, war das Leben schön, und wer das anders sah, war selbst schuld. Es mochte zwar Dinge geben, die den serpígionistischen Theorien widersprachen, aber schließlich konnte man alles schlechtreden. Außerdem gab es ja auch ein Leben nach dem Tod, in dem man bestraft oder belohnt wurde. Auf jeden Fall wurde am Ende alles ausgeglichen, und alles war gut.
Wie so viele Sachen, die sich fundamental unterscheiden, hatten die Religionen viel Ähnlichkeit. Der Serpígionismus betonte, tolerant zu sein, wurde aber zu einer Religion für die Zufriedenen, die noch an einen guten, ihnen wohlgesinnten Gott glauben konnten; der Noxanismus lehnte alle wegen ihrer angeborenen Fehlerhaftigkeit ab und diskriminierte daher niemanden. Beide waren also einigermaßen tolerant, hatten aber nicht viel zu tolerieren. Beide waren davon überzeugt, dass man bekam, was man verdiente. Entweder waren die Reichen reich, weil Serpígio sie liebte, und die Armen waren arm, weil sie sich nicht genug bemühten. Oder die Armen bekamen das, was eigentlich alle verdient hatten, und die Reichen hatten ihren Reichtum zwar nicht verdient - aber was spielte das für eine Rolle? Wenn sie starben und Noxana in ihre Seelen sah, dann würde ihr Reichtum sie nicht retten, Geld war unwichtig, und alles war eitel.
Diese Ähnlichkeiten bedeuteten natürlich nicht, dass man keine Beispiele dafür fand, wie irregeleitet die jeweils andere Gruppe war.
Ein Grundpfeiler des Noxanismus war die Wohltätigkeit - Armen und Kran-ken zu helfen, bedeutete ja, die eigene Schuld zu reduzieren. Armut und Krankheit selbst zu bekämpfen, war natürlich auch möglich, war aber schwierig, hätte einem die Möglichkeit zur Wohltätigkeit genommen und entsprach eventuell auch nicht dem Willen der Großen Göttin, wer wusste das schon. Daher verfügte Thanaton über viele Waisen- und Krankenhäuser, die von einer Organisation namens Drakonisches Werk betrieben wurden. Der Serpígionismus hielt davon wenig, denn warum sollten andere Hilfe brauchen? Wenn sie sich genug Mühe gaben, konnten sie es schließlich alles selber schaffen. Sie konnten gerne einen Tritt in den Hintern haben, wenn sie dann was auf die Reihe kriegten, aber sonst ... Dafür hatte Positron mehr Schulen.
Zu den Grundzügen des Serpígionismus gehörten der Verzicht und die Selbstbeherrschung. Eine recht ernste Spielart verbot beispielsweise das Trinken, das Rauchen, Süßigkeiten, vorehelichen Geschlechtsverkehr, Schmuck aller Art, nichtreligiösen Gesang und Tanz, Spiele, die meisten Bücher und alle Gewürze, die über Salz und Pfeffer hinausgingen. Die Welt war so schön, dass man derartige Hilfsmittel nicht brauchte, sie lenkten einen nur von den wichtigeren Dingen ab.
Obwohl natürlich nicht alle Serpígionisten eine so strenge Einstellung hatten, waren Verzicht und Disziplin doch wichtig. Daher wurden in Positron viele Feste gefeiert, bei denen diese Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt werden konnten. Es gab beispielsweise das Dankfest (13.12.), bei dem man Serpígio für alles Gute der Welt dankte, das Fest der Entdeckung des Tentariums (10.02.) und den Tag des Heus (30.05.), bei dem man dem Bürgermeister große Heubündel überreichte, die an die Bedeutung der Landwirtschaft für die Stabilität des Dorfes erinnerten. An diesen Tagen konnte man feiern, genießen, gut essen und trinken, Spaß haben. An allen anderen Tagen war das einigermaßen ungehörig, leere Genusssucht, Verschwendung und Egoismus. Der Verzicht war süßer als der Überfluss, die Kontrolle war gottgefälliger als der Genuss, und Serpígio liebte diejenigen am meisten, die sich freiwillig einschränkten.
Für den Noxanismus waren das leere, sinnlose Gesten: Was sollte es für einen Sinn haben, auf Dinge zu verzichten oder sich selbst beherrschen zu wollen? Man war ja doch nicht gut genug und sündigte in jedem Fall. Warum sollte man Regeln befolgen? Am Ende lag schließlich alles in Noxanas Hand. Wozu also gehorchen? Es war ja alles sinnlos. Warum sollte man also nicht das Leben genießen, Gutes tun, so weit man konnte, und am Ende den Tod die Schuld tilgen lassen?
Dementsprechend hatte der Noxanismus auch eine entspannte Einstellung zu vielen Dingen, die der Serpígionismus als sündig ansah und streng bestrafte oder zumindest strikt ablehnte. Der Serpígionismus vertrat ein einigermaßen traditionelles Weltbild. Seine Vorstellung eines starken, positiven männlichen Gottes und einer bedrohlichen weiblichen Gottheit war natürlich äußerst anstößig und wurde im Lauf der Zeit und mit der Weiterentwicklung der Wesenheit revidiert - auch auf Nóctyla war der Begriff Sexismus inzwischen bekannt. Aber trotzdem wirkten die konventionellen Vorstellungen von Sachen, die EINFACH SO WAREN, auch wenn niemand erklären konnte, warum. Man musste arbeiten. Kinder hatten ihren Eltern zu gehorchen. Man musste schön schreiben. Frauen waren im Haus besser aufgehoben. Das war einfach so.
Der Noxanismus fand es viel zu anstrengend, Dinge zu kritisieren oder zu verbieten. Strafen und Kritik waren im Grunde sinnlos, denn eigentlich war ja alles falsch und musste bestraft werden, und das hätte das Leben praktisch unmöglich gemacht. Und warum sollte nicht was anderes richtig sein, als man bisher gedacht hatte? Egal was man tat, es war sowieso alles sündig. Daher verzichtete man, soweit es ging, auf Strafen und Bemühungen und hoffte darauf, dass Noxana am Ende die gerechte Bestrafung oder Belohnung verteilen würde.
Wer dem orthodoxen Noxanismus anhing, sollte sicherheitshalber immer davon ausgehen, dass alles die schlimmste mögliche Wendung nehmen würde, schon Wochen im Voraus deprimiert und verängstigt sein und, wenn die Katastrophe wirklich eintrat, recht gut mit ihr umgehen können. Während der Serpígionismus nur ungern zugab, dass die hypothetische Katastrophe überhaupt eintreten könnte.
Und auch sonst gab es immer Anlässe, sich über religiöse Fragen zu streiten. Aber natürlich interpretierten alle die Religion auf ihre individuelle Weise; es gab nette Wesen, Idioten und gelegentlich psychopathische Mörder, und Pauschalurteile aufgrund der Religionszugehörigkeit zu fällen, war unsinnig. Mit anderen Worten: Es war genau wie in anderen Gegenden.
Nach der Gründung der beiden Dörfer gab es noch eine ganze Weile religiöse Konflikte, Diskussionen und Streitereien, ein paar Strafen wegen Ketzerei und gelegentliche Ritualmorde. Aber Kriege waren ja seit dem Konzil von Apekgro verboten, und sowieso hatten weder die Serpígionisten noch die Noxanen genug Mitglieder für einen ernstzunehmenden heiligen Krieg. Inzwischen arrangierten die HauptvertreterInnen der Religionen sich daher einigermaßen friedlich, statt einander zu ermorden oder Intrigen zu spinnen. Natürlich wussten sie, dass die jeweils andere Gruppe irregeleitet und ketzerisch war, und der Serpígionismus hatte den Noxanismus nie offiziell als Religion anerkannt - er galt immer noch als Überzeugung einer Sekte. Aber wenn man zusammenarbeitete, war einiges einfacher.
Und so kamen die Gläubigen einigermaßen zurecht. Sie nahmen ihre Religion mehr oder weniger ernst, arbeiteten, feierten Gottesdienste und Feste. Die Dörfer wuchsen so sehr, dass man sie mit Fug und Recht als Städte bezeichnen konnte; Propheten und Einsiedler sprachen in Zungen und hatten Visionen; Wesen verliebten sich, führten Zeremonien durch, starben und so weiter und so fort.
1985 erschien eine überarbeitete, ergänzte und korrekturgelesene Neuausgabe des Tentariums. Sie enthielt natürlich die Geschichte, die die Götter Tentarius erzählt hatten, dazu die Grundsätze der beiden Religionen, die Auslegungen der Grundsätze durch verschiedene Theologen und eine Sammlung von Visionen und Sprüchen verschiedener Propheten. Diese Ausgabe war heutzutage für beide Seiten das offizielle religiöse Dokument.
Thanaton und Positron stellten eine interessante Mischung zwischen abgeschiedener Sekte und Urlaubsort dar - schließlich mussten ihre Bewohner von etwas leben, und so bemühten sie sich um Touristen. Sie zelebrierten ihren jeweiligen Ruf, veröffentlichten Selbstdarstellungen, druckten Prospekte und hatten damit auch Erfolg. Gruppen religiöser Fanatiker - oder doch Beinahe-Fanatiker - mochten erschreckend sein, waren aber immerhin spannend. Positron bot frische Luft und schöne Blumen; Thanaton bot Morbidität und schöne Aussichten, und in beiden Städten gab es gutes Essen.
Jedes Jahr im Sommer, etwa am Jahrestag der Straßenschlacht, wurde in den Städten und in der Ebene zwischen ihnen ein Fest gefeiert, das zwei Tage dauerte - ebenso lange wie die Straßenschlacht damals. Es trug den einfallsreichen Namen „Großes Fest“.
Im schon erwähnten Buch Einführung in die tentaristische Religion begann die Beschreibung des Großen Festes folgendermaßen:

Wie man schon aus seinem Namen schließen kann, ist das Große Fest sowohl in Positron als auch in Thanaton das wichtigste Fest überhaupt. Es findet jedes Jahr am zweiten Wochenende im Juli statt. Wer in dieser Zeit eine der beiden Städte besucht, sollte es nicht versäumen, an dem Fest teilzunehmen, was aber auch kaum möglich wäre, weil mindestens 98 Prozent der Einwohner daran teilnehmen. Es dient einerseits der Erinnerung an die Straßenschlacht von 1906 und soll damit Toleranz, ein friedliches Zusammenleben und die Versöhnung von Gegensätzen fördern; andererseits stärkt es das Zusammengehörigkeitsgefühl der religiösen Gruppen untereinander.
Am ersten Tag feiern beide Seiten in ihrer jeweiligen Stadt ihren Sieg über die Ungläubigen; den zweiten Tag verbringen sie gemeinsam im Gehirnwald, was die Versöhnung zwischen den beiden Seiten symbolisiert.
Das Große Fest beginnt in Positron um zwölf Uhr mittags mit einer Eröffnungszeremonie. Dabei hält der/die BürgermeisterIn-und-HohepriesterIn eine Rede, um die Gemeinde auf das Große Fest einzustimmen. Danach finden Tänze, Chorgesang und öffentliche Dankzeremonien statt, es gibt Theateraufführungen und zahlreiche Hilfsangebote für verschiedene Probleme.
In Thanaton beginnt das Große Fest erst um 18 Uhr, ist dafür aber nachts wesentlich intensiver. Es beginnt mit dem sog. Zug der Toten. Hierbei tragen alle Teilnehmer Kostüme, die ihnen gefallen und die in irgendeiner Form mit dem Tod zu tun haben. Es werden Lieder gesungen und Gedichte vorgelesen; Musik jeder Art wird gespielt, und je nach Stimmung lachen oder weinen die Teilnehmer. Anschließend gibt es die Möglichkeit, am „Mahnmahl“ teilzunehmen, und es wird in den Straßen gefeiert. Später trifft sich fast die gesamte Bevölkerung auf dem Zentralfriedhof.
Am nächsten Tag treffen sich beide Seiten im Gehirnwald und feiern dort zusammen bis in die Nacht. ...



Bibianas Familie ging jedes Jahr zum Großen Fest. Sie waren zwar nicht besonders religiös, aber es war doch ganz interessant, und es gehörte nun mal dazu. Ebenso wie man gelegentlich zum Gottesdienst gehen musste, um nicht von allen Nachbarn komisch angeguckt zu werden.
Manchmal gingen sie alle zusammen und blieben den ganzen Tag lang - das ging natürlich nur, wenn sie jemanden fanden, der sich um den Bauernhof kümmerte. Manchmal wechselten sie sich auch ab: zwei Mitglieder am ersten und zwei am zweiten Tag, zwei am Vormittag und zwei am Nachmittag und so weiter.
Im Lauf der letzten Jahre hatten Bibiana und Jimmy öfter mit Freunden das Fest besucht, statt mit ihren Eltern zusammen zum Fest zu gehen, weil letzteres so uncool war. Aber man sah sich sowieso immer mal - und es war dann doch recht lustig.
Wie auch immer, den ersten Tag verbrachte die Familie in Positron und hörte sich die Eröffnungsrede von Lionel Debar an, dem derzeitigen Bürgermeister und Hohepriester. Debar sah sich als Mann des Volkes, so lange es anständig aussah, sich zu benehmen wusste und nicht nur meckerte. Daher sah er seine potentiellen Wähler nicht nur in den wöchentlich statt findenden Gottesdiensten, sondern besuchte sie auch gerne persönlich oder lud sie ein, ihn im Rathaus aufzusuchen. Bibiana hatte einige Male kurz mit ihm gesprochen. Er war ein Mensch und recht nett, erinnerte sie aber in seiner Zuversicht immer etwas an Catalpa Qualsoz.
Um zwölf Uhr mittags also stand Debar auf dem Balkon des Kupfernen Rathauses und eröffnete das Große Fest. Er sprach darüber, dass sie der Schlacht gedenken mussten und dass so etwas nie wieder geschehen durfte, dass sich alle ein friedliches Zusammenleben wünschten, wie dankbar er war, gewählt worden zu sein, und dass sie alle Schwierigkeiten überwinden würden. Er bekräftigte die Tatsache, dass der Gott alle liebte und dass alle Erfolg haben konnten. Das Gleiche sagte er immer wieder beim Gottesdienst: Jeder kann alles schaffen, wenn er es nur wirklich will; glaub an das, was du tust; alles hat einen Sinn; vertraue darauf, dass am Ende das Richtige geschehen wird. Serpígio, der Wahre Gott, wird uns helfen, wenn wir nur ehrlich an ihn glauben. Und Debar wünschte allen viel Spaß.
Den sie dann auch hatten. Debar war seit sechs Jahren Bürgermeister und hielt immer sehr ähnliche Reden, und auch seine Vorgängerin hatte sich nicht viel anders ausgedrückt, aber trotzdem fühlte man sich nach der Rede aufgemuntert.
Die Familie ging durch die Straßen, die mit Blumen bestreut waren, bewunderte die mit Sonnenblumen und goldenen Kreisen geschmückten Gebäude, hörte den serpígionistischen Gesängen und Dankzeremonien zu und nahm gelegentlich auch daran teil. Sie kauften Souvenirs, trafen alte Bekannte und unterhielten sich mit ihnen.
Am Abend gingen sie nach Hause zurück, aber am zweiten Tag standen sie früh auf und besuchten den Gehirnwald, ebenso wie der Rest der Bevölkerung von Positron.
Der Gehirnwald befand sich zwischen Positron und Thanaton. Es handelte sich um einen kleinen Wald, der ausschließlich aus Gehirnbäumen bestand - sie trugen Gehirne verschiedener Größen, die zwischen spitzen dunkelgrünen Blättern hingen. Niemand wusste, woher sie kamen, aber das wäre auch seltsam gewesen. Wenn die Gehirne reif waren, fielen sie herunter, verkrochen sich langsam im Boden und wurden zu neuen Bäumen. Sie waren intelligent genug, sich einen Ort zu suchen, an dem sie anderen Bäumen nicht das Licht wegnahmen. Woher sie kamen und was diese Ansammlung von Intelligenz eines Tages bewirken könnte, wusste niemand.
In der Mitte des Gehirnwaldes befand sich eine große grasbewachsene Lichtung. Hier trafen sich die Oberhäupter der beiden Städte, wenn es um wichtige Verhandlungen ging, weil es sich um neutrales Gebiet handelte. Und auf der Lichtung fand auch der zweite Tag des Großen Festes statt. Offiziell war die östliche Hälfte serpígionistisches und die westliche noxanisches Gebiet, aber wie zu erwarten war, vermischten sich die Gläubigen im Lauf der Zeit.
Es handelte sich um ein ökumenisches Fest. Die religiösen Oberhäupter der beiden Städte standen natürlich vor einem alten Problem: Leute davon zu überzeugen, dass man sie a) respektiert und ihre Religion toleriert und dass b) diese Religion trotzdem falsch ist und sie besser zu den [bitte Namen einsetzen] wechseln sollten. Aber um zu zeigen, dass die jeweilige Gottheit alle liebte, auch die mit dem falschen Glauben, feierte man gemeinsam.
Die Mitglieder des positronischen Stadtrates verteilten Informationen und steckten Bahnen für sportliche Wettkämpfe ab; es gab nämlich eine ganze Menge Wettkämpfe - Laufen, Boxen, Weitsprung und Stabhochsprung. Sie waren äußerst fair: Jeder durfte (und sollte) teilnehmen, und alle kämpften unter den gleichen Bedingungen. Auf den ersten Blick sah es vielleicht aus, als ob dadurch einige Wesen benachteiligt würden, aber in Wirklichkeit war alles nur eine Frage des persönlichen Einsatzes. Mit genug Training konnte auch ein asthmatischer Zwerg schneller laufen als ein Gepard. Man musste sich nur richtig Mühe geben, dann konnte man auch gewinnen und hatte Spaß. Das erklärte Catalpa bereitwillig allen, die behaupteten, wirklich keine Lust auf den Wettkampf zu haben. Viele Serpígionisten kleideten sich in Grün und Gold und führten einen Tanz auf, bei dem sie immer wieder skandierten: „Wir tanzen für das Leben!“ Auf Nóctyla gab es kein Militär mehr, aber das hier war auch eine Gelegenheit, in bunter Kleidung herumzulaufen und die Beine zu schwenken.
Die Hohepriesterin von Thanaton (eine lebende Statue, deren Namen Bibiana regelmäßig vergaß und die schon seit Jahrzehnten im Amt war) stand mitten auf dem Platz und betrachtete das Publikum mit Blicken der gelassenen Verachtung. Die thanatistische Bevölkerung trug Kostüme, die an die Allgegenwart des Todes erinnern sollten. Viele von ihnen liefen mit Totenkopfmasken, Theaterblut am Hals oder künstlichen Pfeilen in der Brust über den Platz. Andere standen auf Steinen oder saßen auf den Bäumen am Rand der Lichtung und lasen Todesanzeigen vor.
„Wir gedenken Gabby Garters, der vom Blitz erschlagen wurde.
Wir gedenken Peccalina Arriatos, die im Meer ertrank.
Wir gedenken Armadillo Ylps‘, der von einem Balkon fiel und zerbrach.
Wir gedenken all jener, die Trauer, Verzweiflung, Wut und Neid schon hinter sich gelassen haben. Ihr seid nicht verloren, und ihr seid nicht vergessen. Eines Tages werden wir uns wiedersehen.“
Viele Aktionen gab es auch auf beiden Seiten: Theater und Erste-Hilfe-Unter-richt, öffentliches Kochen, Bodypainting und Chorgesang. Die Familie sah sich verschiedene Zeremonien und religiöse Symbole und Gewänder an, sprach mit Wesen aus verschiedenen Kulturkreisen, hörte Liedern und Ansprachen zu, kaufte an Ständen Andenken und traditionelles Essen.
Es machte Spaß. Manchmal gab es natürlich Streit und Schlägereien, manchmal wurden auch offizielle Rededuelle zwischen den Gläubigen geführt, und die Städte beschuldigten einander immer mal wieder, Ideen geklaut zu haben. Aber insgesamt liefen die Großen Feste erstaunlich friedlich ab. Abends tranken alle zusammen, es wurde noch viel gesungen und getanzt, die jeweiligen Gewinner der verschiedenen Wettkämpfe bekamen Schleifen, und etwa nachts um drei wurde das Fest mit Dankesreden der beiden religiösen Oberhäupter offiziell beendet.

***

Es war Bibiana klar gewesen, dass ihre Familie nicht viel von ihren Reiseplänen halten würde. Die Familie fand, der Kontakt mit Religion könne eine wichtige spirituelle Erfahrung sein, auch wenn sie selbst wenig gläubig waren. Sie waren keine überzeugten Serpígionisten, aber es gehörte nun mal dazu, das Fest zu besuchen und manchmal zum Gottesdienst zu gehen, möglichst nicht zu zweifeln, nicht in der Öffentlichkeit über den Tod zu reden. Sie nahmen es nicht besonders ernst, aber es gehörte sich so.
Deshalb war Thanaton ein Problem.
JA, inzwischen gab es Kontakte, JA, inzwischen war man tolerant. Aber außerhalb des Großen Festes hatte man mit dieser Stadt normalerweise nichts zu tun, und wenn doch, war das suspekt. Der Ort galt nicht mehr als abgrundtief böse, aber immer noch als deprimierend und dekadent.
Nach Thanaton gingen die fertigen Wesen. Die Einsamen, die Verzweifelten. Wesen, die zynisch über die Welt an sich dachten. Die so müde waren, dass sie sich fragten, ob man daran sterben konnte. Die in ihren Heimatorten aus irgendwelchen Gründen unangenehm auffielen, etwa weil sie geklaut hatten oder das Falsche dachten. Wesen mit Sonnenallergie. Eben Personen, die nur schwer glauben konnten, dass eine gnädige, liebevolle, allmächtige göttliche Entität über alle Aspekte ihrer Existenz bestimmte, und die nicht viel von einem Leben in der Sonne hielten.
„Es ist so eine verdammt düstere Gegend“, sagte Bibianas Mutter. „Was willst du da überhaupt machen?“
„Erst mal will ich nur gucken. Ich will wissen, ob es andere Zentauren gibt. Es ist Wahnsinn, dass hier in der Nähe welche gelebt haben und wir nichts davon wissen. Vielleicht steckt was Interessantes dahinter.“
„Genau das befürchte ich ja“, meinte Simona. „Wer weiß, was ihnen passiert ist.“
„Ich muss rausfinden, was es damit auf sich hat“, sagte Bibiana. „Vielleicht ist es meine einzige Chance, versteht ihr? Und ich will sowieso mal wieder Urlaub machen.“
Ihr Vater verzog das Gesicht. „Ich möchte nicht, dass meine Tochter sich einem Totenkult anschließt.“
„Von Anschließen hab ich doch gar nichts gesagt, ich will nur mal gucken, wie es da ist. Ich muss doch auch mal was anderes erleben. Es ist ja nicht für lange, und ich pass schon auf, immerhin bin ich erwachsen.“
„Ich find das cool“, meinte Jimmy. „Bring mir was mit. Vielleicht ein Skelett.“
„Hör mal zu“, sagte Enrique, „ich halte dich nicht für erwachsen genug, in der Stadt des Todes zurechtzukommen. Wir waren sicher nie religiös genug, aber du kannst doch nicht einfach den Inbegriff des Bösen aufsuchen.“
„Wir haben den Inbegriff des Bösen doch schon x-mal im Gehirnwald getroffen“, sagte Jimmy. „Du hast dich mit Noxanen volllaufen lassen, was war denn bei der ‘100 Jahre Straßenschlacht‘-Gedenkfeier? Warum sind sie jetzt plötzlich so gefährlich?“
„Ja, während des Festes geht das auch. Aber das findet nur einmal im Jahr statt. Ich finde es gut, dass das Fest den Frieden zwischen unseren Städten symbolisiert, und die Wesen sind ja auch in Ordnung - aber es geht hier um eine Stadt des Todes. Ich weiß nicht, was dir alles passieren könnte, wenn du dort alleine bist. Und du gehst NICHT da hin.“
„Er hat recht. Und dabei bleibt es“, sagte Simona.

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Tag der Veröffentlichung: 31.03.2009

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