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Michaela lag am Boden und rührte sich nicht mehr.
Obwohl wir wussten, dass die Mädchenbande uns beinahe täglich auflauerte, hatten wir den Fehler gemacht, wieder denselben Weg zur Schule zu nehmen. Aber was wäre die Alternative gewesen? Wir hätten den langen Umweg in Kauf nehmen müssen, der zwar nicht über die Brücke, aber entlang der Hauptstrasse verlief, doch das war von unseren Eltern nicht gerne gesehen. Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend sahen wir den Mitgliedern der Bande entgegen, die grinsend auf uns warteten. Sie waren alle älter als wir, uns körperlich weit überlegen und das wussten sie genau. Diese Macht spielten sie auch gewohnt lässig aus. Sie saßen auf dem Geländer der Brücke und warteten darauf, dass wir zu ihnen kamen, denn es führte kein anderer Weg zur Schule. Wenn wir Glück hätten, kämen wir unter dem üblichen Spott durch, vielleicht ließen sie sich auch eine andere Gemeinheit einfallen.
Aber heute war irgendetwas anders, denn entgegen der sonst üblichen Beschimpfungen und Schmähungen, die wir über uns ergehen lassen mussten, wurden die Mädchen heute handgreiflich. Es war nicht das übliche Ziehen an den Jacken, ein Schubsen, oder ein Festhalten an Armen. Der Angriff kam plötzlich, als wir uns bereits in Sicherheit wähnten. Als wir beinahe fast schon das Ende der Brücke erreicht hatten, wurde Michaela an den Haaren nach hinten gerissen, mich schirmte man ab, vielleicht dachten sie, dass ich meiner Freundin irgendwie zu Hilfe kommen könnte. Doch ich war viel zu ängstlich, als dass ich direkt hätte eingreifen können. Dann ging alles fürchterlich schnell. Michaela stolperte, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Hosenboden. Jeder der sie kannte wusste, dass sie nun weniger wegen der unvermittelten Schmerzen in Tränen ausbrach, als vielmehr wegen der Tastsache, dass sie sich bei diesem Sturz ihren neuen Rock schmutzig gemacht hatte. Obwohl ich nichts wirklich sah, wusste ich, was passierte, als sei ich noch einmal anwesend in anderer Gestalt, die dem Geschehen als Zuschauer beiwohnte.
Zähneknirschend drehte Michaela sich zu den Angreife- rinnen um, als sie auch schon die volle Wucht eines Stiefels mitten ins Gesicht traf. Der Tritt musste eine unglaubliche Wucht gehabt haben, denn aus ihrer zertrümmerten Nase schoss urplötzlich ein ungeheurer Strahl feuerroten Blutes. Sie kippte wie ein Sack Kartoffeln, der das Gleichgewicht verloren hatte, nach hinten, aus den Armen, die sie noch eben angriffslustig nach oben gehoben hatten, war jegliche Kraft gewichen. Innerhalb kürzester Zeit war ihre Kleidung vollständig in dieses leuchtende Rot getaucht. Doch all dies hatte keinerlei Auswirkungen auf die Angreiferinnen.
Auf die am Boden Liegende wurde immer weiter ein- getreten, ich sah Unmengen Blutes, hörte schreckliche Geräusche wie das Brechen von Knochen und ein herzzerreißendes Stöhnen, das aus Michaelas Kehle drang. Die Angreiferinnen gaben keinerlei Laute von sich, sondern hatten es alleinig darauf abgesehen, in unbeschreiblicher Wut Michaelas Körper immer weiter mit Schlägen und Tritten zu traktieren. In diesem Moment war ich mir sicher, einem Mord bei zu wohnen. Einem Mord an meiner besten Freundin – und ich stand daneben.

Irgendwann trat Stille ein. Die Sicht wurde mir nicht weiter verstellt: Michaela, oder das was von ihr übrig war, lag als fleischiges, blutüberströmtes Etwas am Ende der Brücke und gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. Eine fürchterliche, Angst einflößende Stille senkte sich über die ganze Szenerie – plötzlich klingelte ein Handy. Am Klingelton erkannte ich, dass es Michaelas war, sicherlich wollte sich ihre Mutter noch vor Beginn des Unterrichts erkundigen, ob wir sicher in der Schule angekommen waren. Eine der Angreiferinnen griff in das blutver- schmierte Kleid und zog Michaelas Handy heraus, öffnete es und begann zu telefonieren. Das Gespenstische an dieser Szene war nicht etwa all das Blut und die an sich für mich gefährliche Situation, sondern die Stimme, die sich im Telefonat nun durch die vollkommene Stille schlängelte: Es war Michaelas Stimme und als das Mädchen, welches zuvor noch meine beste Freundin aufs brutalste zusammen- geschlagen hatte sich grinsend zu mir umdrehte, erkannte ich in ihr Niemand anderen als Michaela selbst. Wie war dies möglich? Meine beste Freundin stand neben ihrem eigenen, von ihr selbst mit verschuldeten, aufs Abscheulichste verunstalteten Körper und grinste mich an?

Entsetzt machte ich einen Schritt zurück und stieß sogleich mit einer der Angreiferinnen zusammen, die mir den weiteren Fluchtweg versperrte. Ich wusste was jetzt folgen würde: Mir würde es nicht besser ergehen als Michaela, sie würden mich schlagen, treten, schlimme Dinge mit mir anstellen, bis ich wie der tote Körper ein paar Schritte weiter am Boden liegen würde. Es waren zu viele, ein Entkommen war nicht möglich und ich hatte nicht die Kraft, um mich gegen eine Gruppe Mädchen zu wehren, die alle mindestens zwei Jahre älter waren und mich um mindes- tens einen Kopf überragten. Es sah ausweglos aus.
Michaela, wenn sie es denn war, trat auf mich zu, aber entgegen meiner innerlichen Erwartung traf mich kein Faustschlag, sondern sie hielt mir grinsend ihr Handy entgegen. Eine neue Textmeldung war eben angekommen, ich nahm das kleine Gerät im schmucken Design entgegen und drückte den Button, um die Nachricht zu öffnen. Es erschien aber nicht etwa ein Text, oder eine sonstige Mitteilung, sondern nur ein kleines sandfarbenes Bild mit dunklen Punkten, oder Flecken, die mir nichts sagten. Unwillkürlich musste ich an eine Wüstenlandschaft denken, mit kleinen Hütten darauf. Letztendlich war es ein Bild, das mir absolut nichts sagte, mich auch nicht an irgendetwas erinnerte.
Fragend blickte ich von dem Telefon zu meinem Gegen- über, die aber mit einem mal verschwunden war, wie die restlichen Mädchen ebenfalls. Ich steckte das Handy in meine Tasche und rannte zu Michaela hinüber, die langsam wieder zu sich kam, aber fürchterlich aussah, sie wollte mir etwas sagen, aber ihren aufgeplatzten Lippen entrann nur ein unartikuliertes Stöhnen, das ich nicht deuten konnte. Es waren nicht nur Platzwunden, es war mir auch, als sei ihr Schädel durch all die Schläge und Tritte sehr viel mehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich unbedingt nach einem Notarzt rufen musste, ich griff erneut in meine Tasche und fand Michaelas Telefon. Als ich es öffnen wollte, legte sich Michaelas blutige Hand auf meinen Unterarm, irgend etwas wollte sie mir sagen, aber sie brachte noch immer kein Wort über ihre Lippen, doch ihr Kopfschütteln sagte mir unmissverständlich, dass ich von einem Anruf besser absehen sollte. Zweifelnd sah ich in ihre Augen, sie versuchte ein Lächeln, doch ich blickte nur in eine zerstörte Fratze. Ihr linkes Auge war als solches nicht mehr zu erkennen, die Nase war offensichtlich gebrochen, aus ihr blutete es noch immer sehr stark, das andere Auge war bereits grün und blau und begann anzuschwellen, der Mund bestand nur noch aus einer blutigen Öffnung. Das Licht hinter ihrem Auge wurde glasig und erlosch, ehe ich noch einen anderen Gedanken fassen konnte. Ich begann zu weinen, endlich.
Als ich zum Himmel blickte, drehten über mir seltsam große Vögel ihre Kreise, die ich noch niemals gesehen hatte, ich fragte mich, was sie wohl bei uns suchten. Es war eine Szene wie aus einem jener Italo-Western, die kein Klischee ausließen. Geier in Frankfurt, das war mehr als surreal.

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Texte: tredition ISBN: 978-3-940921-92-5
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2010

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