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Während der darauffolgenden Monate sah er noch viele solcher Horrorszenen, wie mit dem Mann in der Hausruine.

Kameraden, die mit zerfetzten Körpern, schmutzigen Wunden und geradezu unglaublichem Entsetzen in den sterbenden Augen am Boden liegen.

Ein Soldat, der sterbend, mit einer letzten Zigarette im Mund versucht, seine Gedärme von einem Stachel- drahtzaun zu lösen und wieder in die Bauchhöhle zu schieben.

Männer mit entstellten Gesichtern, erfrorenen Glied- maßen, brandigen Wunden. Frauen und Kinder die, noch lebend oder schon Tod, bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren. Deformierte Puppen aus rohem Fleisch.

Aber schlimmer noch als diese Bilder waren die Schreie und der Feuerlärm.

Vor einem entsetzlichen Anblick kann man sich irgendwie schützen, und sei es, indem man halb angeekelt, halb würgend den Blick abwendet.

Doch gegen den Lärm des Krieges kann niemand an- kämpfen.

Ostfront. Im Schützengraben liegen. Gefrorenes Wasser in den Pfützen. Schnee vermischt mit Erde. Die Ohren pochen. Artillerie-Einschläge perforieren den matschigen Boden. Substantive purzeln durch Deinen Schädel: Explosions- geräusch, Geschwindigkeit, Pfeifen, Stahl, Fleisch, Brutalität, Schreien, Jammern, Verzweifeln, Sterben.

Schlamm, Blut und Körperteile spritzen durch die Gegend und kleben sich überall fest. Auch wenn die Treffer nur zufällig sind, sind sie endgültig. Der nächste Einschlag kann Dich zerfetzen oder meterweit neben Dir in den Boden jagen. Russisch Roulette mit vollem Magazin.

Ab und zu den Kopf herausstrecken. Die Hände sind klamm, an mehreren Stellen aufgerissen und seit Wochen nicht mehr richtig sauber. Was Dich früher angeekelt hat, bedeutet heute nur noch: Alle zehn Finger sind noch dran.

Dem Kameraden am MG eine Bewegung an der Lichtung gegenüber zurufen. Den Karabiner fest umklammern. Adrenalin sprengt deinen Schädel. Die gegnerische Artillerie ebbt ab. Jetzt: Einzelnes Gewehr-Feuer. Scharfschützen versuchen das MG auszuschalten. Sie sind jetzt ganz nahe. Der Oberst schreit ungehörte Befehle. Man überlegt sich, wo man noch einen Munitionsstreifen hat, oder ob der schon in der Waffe steckt.

Und dann: Stille.

Sie schießen nicht mehr.

Für ein paar Sekunden löst sich die Verkrampfung. Und man kann es kaum glauben, aber es gibt da immer noch ein paar Vögel, die zwitschern.

Der Oberst ruft die Meute zur Ordnung.

Seit fünf Minuten keine feindliche Artillerie. Seit kurzem kein Gewehrfeuer. Jetzt werden sie kommen. Wahrscheinlich sprechen ein paar von ihnen noch ein Gebet. Beten Russen überhaupt?

Da! Nicht einmal fünfzig Meter entfernt arbeiten sich dunkle Schatten aus dem feindlichen Schützengraben. Wie konnten die sich unbemerkt so nah ran arbeiten? Das Klappern von Gasmaskenbehälter ist deutlich zu hören. Deutsche Gasmasken – russische Trophäen von deutschen Kameraden. Es gab hier noch keinen einzigen Gasangriff. Sie scheinen sie nur deshalb zu tragen und klappern zu lassen, um die Frontlinie einzuschüchtern. Es funktioniert.

Die Stimmen hören sich hart und fremd an, aber die Aussage ist jedem verständlich.

Der Mann am MG hält die Luft an und spuckt seine Zigarette in den Dreck. Weiter rechts von ihm hält ein Kamerad den Ladegurt.

Jetzt schlagen immer wieder feindliche Projektile ganz in der Nähe in den Schlamm. Die Nähe zu einer so entsetz- lichen Waffe ist kein sicherer Ort. Nicht einmal dann, wenn man sich zufällig auf der richtigen Seite des Laufes befindet. Und dann: Rattattatta...

Pulverdampf, starke Vibration, ohrenbetäubender Lärm. Die Russen fallen wie die Fliegen. Die komplette erste Reihe ist umgefallen.


Das MG muß nachladen. Heiße Projektilhülsen zischen im Schlamm. Da klemmt was. Du sollst das MG sichern, hat man Dir zugeschrieen und feuerst was das Zeug hält. Anlegen, nicht zu sehr verkrampfen. Ein möglichst großes, ruhiges Ziel aussuchen. Wenn es geht, den Kopf: Peng. Wenn Fleisch auseinanderspritzt, ist es ein Treffer. Auswerfen, laden, neu anlegen, Peng.

Mittlerweile wimmelt es nur so von Russen. Ein schwarzer Strich wirbelt durch die Luft und kullert ein paar Meter neben Dir in den Graben. „Granate!“. Detonation, Aufspritzen von Materie.

Augen öffnen. Irgendwas stimmt nicht. Ein Blick nach rechts lässt dein Herz einen Schlag aussetzen. Das MG ist unbesetzt. Zwei dampfende Körper liegen bewegungslos im Graben. Schnell an das MG. Du musst selbst nachladen. Scheiße, wie geht das noch? Wo ist der Munitionstornister? Hier unten, halb mit Erde bedeckt, Du hast ihn.

Sie kommen näher. Zu schnell, zu viele.

Entriegeln, Klappe öffnen, Munitionsgürtel herausnehmen, einfädeln, Klappe schließen, spannen, einatmen: FEUER! Der Wahnsinn packt Dich. Du schreist vor Wut, vor Angst, vor Freude über jede Kugel, die in der richtigen Richtung über diesen Acker fetzt.

Du wirst etwas sicherer. Ein paar hast du erwischt. Aber du zielst nicht gut genug. Flacher halten, kürzer streuen, gut.

Halbwahnsinnige Gedanken in Deinem Kopf : “Wenn sich die Leichen nur hoch genug stapeln, können sie nicht mehr rüber klettern!“

Klack. Scheiße, wieder Gurt wechseln.

Ein paar Kameraden sind in Deiner Nähe. Noch nie gesehen und trotzdem eine verschworene Einheit; zusammengeschweißt durch Angst. Einer hilft Dir. Blattschuss. Der halbe Schädel fällt mit dem Helm zu Boden. Du weißt nicht einmal den Namen und stehst irgendwie in seiner Schuld, weil er Dir helfen wollte.

Blick nach Vorne. Entsetzen. Ein Russe robbt auf Dich zu. Zeitlupe. Du kannst das Weiße in seinen Augen sehen. Wo ist der verdammte Karabiner?

Der Kerl liegt vor Dir im Schlamm, keinen Meter entfernt, legt an. Du atmest ungläubig aus denn Du bist wehrlos. War es das jetzt? Klack. Er hat keine Munition mehr. Genau wie Du. Irgendwie logisch, denkst Du noch. Das hier ist kein Ort für eine Distanzwaffe. Nur zwei Fremde, die sich gegenseitig umbringen müssen. Kurzer Austausch von Blicken und Gedanken. Er versteht, greift zu seinem Gürtel und packt sein Messer. Dein Eigenes steckt in einem eisigen Körper ein paar Kilometer hinter Dir. Du hast es stecken lassen, weil Dich das daran klebende Blut angeekelt hat.

Idiotenfehler.

Dich packt die Wut. Herrgott, gib mir irgendwas in die Hand, damit ich diesen Hundesohn wenigstens erschlagen kann!

Der Tornister. Du nimmst ihn, der Russe grinst. Denkt, Du wolltest panisch das MG nachladen. Du zögerst den Bruchteil einer Sekunde und denkst: Für wie bescheuert hält der mich eigentlich? Und dann: Wamm, wamm, immer wieder mit der Stahlkiste auf seinen Kopf. „Das hättest Du nicht gedacht, was?“ Wamm, wamm.


Eine viertel Stunde später ist es vorbei. Einzelne Schüsse fallen noch, aber der Angriff ist vorüber. Gewehre und Munition werden eingesammelt. Sanitäter versuchen Blutströme zu stoppen und reden auf Verwundete ein.

Du lebst. Alles schmerzt. Das Blut an deinem Körper ich nicht Dein eigenes.

Du lässt dich in den Graben sinken. Weiß nicht, ob Du lachen oder weinen sollst, weil Du immer noch am Leben bist.

Du hältst die Hände vor das Gesicht und versuchst, wieder runter zu kommen. Der Atem geht allmählich wieder regelmäßig.

Ein Sanitäter rennt vorbei - fragt, ob du in Ordnung bist. Du verstehst die Frage nicht. Er rennt weiter.

Jetzt sind keine Vögel mehr zu hören. Das ganze Feld ist ein einziges Siechhaus.

So weit das Auge reicht, alles voller aufgewühlter Erde, tote oder sterbende Männer.

Männer, die nach Gott oder ihrer Mutter rufen.

Du bist in einem Tollhaus und du bist einer von Ihnen! Aber Du hast mal wieder Glück gehabt! Eine gewalttätige Maschine ist über dich gerollt aber Du bist unverletzt.

Wie oft in seinem Leben kann man ein solches Glück ertragen?

Irgendwann auf dem Weg nach Osten war er abgestumpft.

Sein unbekümmerter, jugendlicher Frohsinn; seine gottgegebene positive Einstellung gegenüber der Natur des Menschen, hatte sich verflüchtigt. Weg.

Die Menschen sind NICHT von natur aus gut! Es sind Bestien!

Erst ein gewisses Maß an Kultur und Sicherheit macht aus diesen Bestien, wenigstens eine Zeit lang, domestizierte Raubtiere.

Knips das Licht aus, verteil’ ein paar Waffen und schon geht das Gemetzel los!

Das ist die Wahrheit und die einzige Lehre, die er diesem Krieg entreißen konnte.

Wie sollte er je ein „normales“ Leben führen können. Nach all dem? Unvorstellbar!

Und das Schlimmste von alledem war: Langsam verblasste die Erinnerung an seine schöne, stolze Frau! Ihre Berührungen, die ...


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Impressum

Texte: tredition ISBN: 978-3-86850-688-4
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2010

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