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Herztöne


Da stehe ich nun im barocken Kirchenschiff meiner Heimatkirche, und schaue hinauf zur Empore. Vergeblich suche ich die alte Orgel. Sie musste ihren Platz dort oben verlassen. Genauso wie ihr Organist. Doch in Gedanken höre ich noch sein virtuoses Spiel. Lange war es der einzige Lichtblick für mich.
Meine Großmutter und seine Eltern waren Nachbarn. Wenn unsere Mütter bei der Weinlese helfen mussten, wurden wir Kinder von einer alten Tante betreut. Zusammen spielten wir mit ihrer Zwergenstube und löffelten ihren Pudding. Bis meine Mutter und ich wieder nach Hause fuhren. Ich war dann jedes Mal sehr traurig. War es schon damals er, den ich am meisten vermisste?


Später wurden wir richtige Nachbarn. Und hatten gleich wieder guten Kontakt. Ich war damals elf. Er ein Jahr älter. Hinter unserem Hof lag eine kleine gepflasterte Gasse. Jeden Abend wartete ich auf das Aufschlagen seines Balls. Dann ging ich hinaus und wir spielten einige Zeit damit. Später dann Federball. Nicht immer ganz bereitwillig rannte er hinterher wenn ich den Ball zu weit schoss, oder der Federball in Nachbars Garten flog. Aber es war auch ein gegenseitiges necken. Er erzählte mir von seinen Karl May Büchern und zeigte mir stolz seine Zeichnungen dazu.
Unser abendliches Ballspiel wurde eines Tages durch seine Klavierübungen abgelöst. Wehmütig lauschte ich den Tönen, die unsere trennende Wand durchbrachen. Auch wenn es meist nur Fingerübungen waren. Unser Umgang wurde scheuer.


Hatte ich Sehnsucht danach wieder einmal ein paar Worte mit ihm zu wechseln, wartete ich im offenen Fenster darauf, dass er zur Kirche ging. Denn inzwischen spielte er die Orgel.
Auch wenn sein Spiel nicht jedem gefiel. Das Vorspiel war manch altem Kirchgänger zu modern.
Unser kurzer Wortwechsel wurde oft getrübt, durch die Anwesenheit seiner Mutter an einem anderen Fenster. Ich konnte sie nicht sehen, sah aber seine Blicke verlegen in ihre Richtung gehen. Ungezwungener ging es nur zu, wenn er für seine Mutter bei uns Mehl holen musste, dass meine Mutter für einen Cousin verkaufte. Da gab es wieder kurze Momente des Neckens. Es machte auch ihm sichtlich Spaß und ich freute mich jedes Mal darauf.
Aber so eine 5 kg Tüte hält viel zu lange.


Später besuchten wir die gleiche Wirtschaftsschule. Allerdings in verschiedenen Jahrgängen. Auch während unserer manchmal gemeinsamen Busfahrt blieb diese Befangenheit. Plötzlich war da nicht nur die Wand zwischen unseren Häusern, sondern auch in unseren Köpfen. Und doch klopfte immer noch mein Herz wenn ich ihn sah oder hörte.
Irgendwann kam mir der Gedanke, wie es sein würde, wenn er seine erste Freundin hätte. Und dieser Gedanke tat weh. Jedes Wort über ihn nahm ich begierig auf. In der Nachbarschaft blieb nichts verborgen. Mit viel Mut schrieb ich dann einmal ein lustiges Gedicht für und über ihn. Bei nächster Gelegenheit drückte ich es ihm in die Hand. Er nahm es erstaunt an. Als ich ihn nach einiger Zeit fragte, ob es noch in seinem Besitz sei, verneinte er. Doch in seinem Gesicht war ein freches Grinsen. Nein, ich glaube nicht, dass er es verbrannt hat.


Ich heiratete zwei Jahre nach Abschluss der Schule und zog weg. Meine Eltern besuchten wir einmal in der Woche. Manchmal sah ich ihn dann flüchtig. Und trotz der Liebe zu meinem Mann merkte ich, dass auch für ihn noch ein Eckchen übriggeblieben war. Meine Mutter erzählte von seinen Studienreisen und Vorträgen. Die letzte führte ihn nach Syrien.
Ich war wieder zu Besuch bei meinen Eltern, als meine Mutter mir eine traurige Mitteilung machte. Ohne sich bewusst zu sein, wie tief diese mich treffen würde. Sie erzählte mir, dass seine Mutter die Todesnachricht von zwei Mitarbeitern des Reiseunternehmens bekommen hätte. Und nur ein Schrei sei zu hören gewesen. Bei mir liefen plötzlich die Tränen. Meine Mutter schaute mich erschrocken an und meinte nur: „Was hast du denn Kind?“ Ich schluckte und versicherte ihr, dass es schon wieder vorbei ginge. Aber so ganz ging es nie vorbei.


Lange noch machte mich jedes Spiel einer Orgel traurig. Und in einer Schachtel liegt noch sein Sterbebildchen mit Foto, dass meine Mutter bei seiner Beerdigung für mich mitgenommen hatte. Also hatte sie meine Tränen doch noch verstanden.

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Texte: Traumwanderer
Bildmaterialien: joujou/pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2014

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