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Kapitel 1




„Dich“, flüsterte er und strich mir zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht.
Er sah mich an, als ob er sich jedes Detail meines Gesichtes einprägen wollte, für den Fall, dass er es irgendwann nie wieder sehen würde.
Ich senkte meinen Blick, ich mochte es nicht, wenn man mich beobachtete und Liam sah mich mit einem so intensiven und warmen Blick an, dass es mir die Sprache verschlag und ich kaum ein Wort sagen konnte.
Seine Finger streichelten sanft über meine Wange, sie färbte sich augenblicklich rosa und ich konnte ein leises Lächeln auf seinem Gesicht sehen, dass er sich nicht verkneifen konnte.
Ich schob mir, wie so oft, die Haare ins Gesicht, um es zu verdecken, obwohl ich wusste, dass es sowieso schon zu spät für irgendwelche Versteckversuche war.
Das sah er wohl genauso, denn seine Finger legten sich zärtlich an mein Kinn und zwangen mich ihm ins Gesicht zu sehen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war es um meine Selbstbeherrschung geschehen und er konnte in meinem Gesicht, wie in einem offenen Buch lesen.
Nicht, dass er nicht sowieso wusste, was ich dachte, und wie ich fühlte, doch trotzdem fühlte ich mich irgendwie verraten, vor allem weil ich fünf Sekunden zuvor noch wütend auf ihn war und er diese Wut mit einer Berührung hatte verdrängen können. Wut, die am Ende doch immer in Tränen endete. Ich wünschte mir, ich könnte sie verhindern.
„Dich, Riley“, wiederholte er noch einmal an und sah mich ernst an.
„Dich, ich will nur dich und niemand Anderen auf der ganzen Welt. Nur dich.“, sagte er und sah mir direkt in die Augen.
Ich stockte kurz, denn so etwas hatte mir noch niemand gesagt und ich dachte an die vielen Male, bei denen ich mir gewünscht hätte diese Worte zu hören, doch jetzt verunsicherten sie mich nur. Sie ließen mich an Dinge glauben, die für mich immer tabu gewesen waren.
Dinge, wie bedingungslos geliebt zu werden.
In meinem Kopf waren eine große Leere und darunter eine tiefliegende Verzweiflung.
Eine Verzweiflung, die schon immer da war, für die er nichts kann, sie war die Untermalung in meinem Leben, ohne die ich, wenn sie verschwinden würde, wahrscheinlich nicht leben konnte.
Es war wie die musikalische Untermalung im Film bei wichtigen Momenten, ohne die Musik wäre es einfach nur eine Szene, ein Gespräch oder eine Handlung, die abläuft, aber nichts besonderes mehr, es wäre zu einfach. Und einfach ist ein Wort, das keine besonders große Bedeutung in meinem Leben hatte.
Um genau zu sein keine.
Genauso war es mit meinen Zweifeln. Wenn sie nicht da wären, würden die melancholischen die herzbrechenden Momente in meinem Leben, einfach traurige Ereignisse sein, die ich irgendwann vergessen würde.So aber, waren es Momente und Augenblicke, die sich für immer in mein Gehirn brennen würden und mich bei jeder ähnlichen Situation darin erinnern würden, wie oft ich schon versagt hatte.
Mein Herz möchte seinen liebevollen Worten glauben, mein Verstand aber wusste, dass es nur Buchstaben waren, die aneinandergereiht wurden, um mich etwas glauben zu lassen, dass unmöglich war.Ich hatte Angst, vor der Veränderung und der Wut, die in mir ausbrechen könnte, mich und meine selbstauferlegten Regeln und Maßnahmen brechen könnten.Die für einen kurzen Moment, die so gut behütete Fassade durchbrachen und mich nackt dastehen lassen würde.
Da sind sie wieder die Zweifel. Und genauso sehr wie ich wusste, dass die Zweifel in einer Enttäuschung enden würden, war mir bewusst, dass davor immer die Wut kam.
„Und woher willst du das wissen? Heute ist das vielleicht so, aber was ist mit Morgen, oder Übermorgen? Du kannst mich einfach nicht wollen, niemand will mich!“
Am Ende des Satzes wurde meine Stimme immer panischer und verlor, die von mir selbsterzwungene Ruhe, die ich ausstrahlen wollte. Ich spürte wie meine eigene, innere Fassade bröckelte.
Und im Gegensatz zu einer Mauer, die immer wieder neu aufgebaut werden konnte, war meine Eigene, wenn sie einmal kaputt war, für immer gebrochen.
„Wenn du dich nur so sehen würdest, wie andere dich sehen oder wie ich dich sehe, dann würdest du noch nicht einmal auf so einen Gedanken kommen!“, sagte er traurig und strahlte dabei eine Ruhe aus, die mich nur noch verzweifelter machte. Er möchte mich überzeugen, aber er kannte die Wahrheit, mich, nicht. Ich möchte ihm in die Augen sehen, möchte ihm durch meinen Gesichtsausdruck das zu verstehen geben, was ich nicht ausdrücken kann, aber ich traute mich nicht.
„Woher willst du das wissen, du tust so, als ob ich etwas Besonderes bin und alle Leute mich mögen würden, aber das stimmt überhaupt nicht!“ Warum hörte er nicht einfach auf? All diese Fragen und die Antworten, die er von mir verlangte. Wieso sollte es ihn interessieren? Warum sollte ich ihn interessieren?
„Riley, Ich weiß genau, was ich fühle, wenn ich dich ansehe, und ich weiß auch, dass viele andere, dasselbe fühlen wie ich.“
„Und was sollte das sein?“

Kapitel 2




„Zuneigung, Hoffnung und die Angst, dass du nicht so stark bist, wie du immer vorgibst zu sein.“, sagte er ernst, während ich meinen Blick senkte.
Ich konnte ihn nicht ansehen, denn er hatte komplett ins Schwarze getroffen. Stattdessen drehte ich mich weg, und genau das war die Zustimmung, die er gebraucht hatte, um weiter zu forschen, mich auszuhorchen, mir alles zu nehmen, bis ich nicht mehr interessant genug war.
Warum musste es so enden?
„Riley, was ist bloß mir dir passiert?“, flüsterte er verzweifelt. „Wer hat dich denn nur so an dir zweifeln lassen?“
Ich sagte nichts, ich wusste auch gar nicht was ich hätte sagen sollen.
Die Wahrheit?Zu schmerzhaft und zu tief in mir vergraben. Er wollte mich verstehen, mich begreifen, doch er konnte es nicht, in diesem Moment tat er mir so unglaublich leid, aber viel schlimmer ist, dass ich mir selbst leid tue. Das Selbstmitleid ist wie ein Gift, dass dich langsam, Stück für Stück einnimmt, bis am Ende nichts mehr von dir selbst übrig bleibt.
„Sag doch etwas! Irgendetwas!“ , sagte er ohne Erfolg.
Er legte seine Finger um mein Kinn und zwang mich erneut ihn anzusehen. Eine Weile lang hielt ich seinem Blick stand doch dann senkte ich ihn wieder.
Der Blick, mit dem er mich musterte machte mir Angst, denn ich konnte ihn nicht richtig einordnen. Was empfand er bloß, wenn er mich ansah? Trauer, Zweifel oder sogar Ekel?
Und dann aus irgendeinem mir nicht bekannten Grund wurde ich wütend.Wütend auf seine Versuche die Wahrheit aus mir heraus zu kitzeln, wütend darüber meine Vergangenheit verschweigen zu müssen.
„Was willst du von mir hören, Liam?“, schrie ich verzweifelt und ließ ihn nicht auf meine rein platonische Frage antworten.
Meine selbstgebaute Fassade bröckelte nicht mehr, sie fiel. Stück für Stück, Stein für Stein, Hoffnung für Hoffnung. Konnte ich sie denn nicht noch irgendwie retten? Abrupt drehte ich mich um, um von ihm wegzurennen.
Es war die einzige Möglichkeit, mich vor mir selbst zu retten. Doch ich kam nicht weit, denn Liams Arme schlossen sich um mein linkes Handgelenk und hielten mich fest. Sein Griff war nicht fest, er tat mir nicht weh, dass wollte er auch gar nicht.
Es war eher ein Akt der Verzweiflung mich zum Bleiben zu zwingen, um endlich die Wahrheit zu erfahren.
Ich verstand seine Neugier, auch wenn sie jetzt mein größter Gegenspieler war. Ich blieb einfach stehen, ich hätte es sowieso nicht geschafft weg zu kommen, es war von vornerein eine Schnapsidee gewesen, denn Liam sah mich jeden Tag in der Schule, er würde schon eine Möglichkeit finden mich alleine zu treffen, um dieses nun wirklich unvermeidliche Gespräch zu beenden. Seufzend ließ Liam mein Handgelenk los und ging langsam auf mich zu, um meine Hand zu nehmen.
Es war eine friedliche, freundliche Geste. Sie sollte mir Trost spenden und Mut. Aber sie stiftete in mir nur eine Unruhe. Meine Hände zitterten unkontrolliert, es war, als ob kleine Elektroschläge mich immer wieder unvorbereitet trafen. Aber es war kein schönes Gefühl, es war grausam. Es war grausam, dass jegliche Berührungen, nicht nur die von Liam meinen Körper in so ein Zittern versetzen konnte, denn es war nicht normal. Das spürte auch Liam, der sich von mir zurückzog.
„Entschuldigung“, sagte er und deutete mein Zucken vollkommen falsch. Oder auch vollkommen richtig für einen normalen Mensch. Er dachte, es wäre seine Schuld, dass seine angebliche Grobheit mich in diesen Zustand versetzt hatte.
„Es ist nicht so wie….“, begann ich mich zu rechtfertigen, ihm eine Erklärung für mein Verhalten zu geben, doch es war sinnlos. Es ist nicht so wie du denkst. Wie war es denn dann?
„Ist schon in Ordnung“, sagte Liam, doch ich könnte spüren, dass es überhaupt nicht in Ordnung. „Ich hätte Dich nicht so bedrängen sollen.“
Er hätte mich nicht so bedrängen sollen? Wieso musste er so gutmütig, so freundlich sein?
„Ich wollte dich nicht dazu bringen mir etwas zu sagen, dass du lieber für dich behalten wolltest. Ich dachte nur, dass du gerne mit jemanden reden wolltest.“
Jetzt setzte das Mitleid ein.
Ich konnte mit vielen Dingen klar kommen, auch wenn es nicht immer oder meistens nicht so aussah, aber Mitleid? Das war zu viel. Wenn ich eins über alles hasste, dann war es dieses mitleidige, aber gleichzeitig schadenfrohe Gefühl. Mitleid, das von einem Moment auf den Anderen gekommen war und nun alles Ehrliche zwischen uns in Brand setzten. Und am Ende bleib nur noch eins: Die Neugierde.
„Du weißt, dass das nicht stimmt.“, antwortete ich ihm bitter, während er mich nur fragend ansah. „Du willst die Wahrheit kennen und das um jeden Preis.“
Liam, protestierte, doch ich ließ ihn nicht aussprechen. Ich wusste nicht warum, doch auf einmal bereitete sich eine solche Wut in mir aus, die einem Feuer glich, dass ich einfach nicht löschen konnte. Ich war zwar ein hitziger Mensch, immer auf der Suche nach der nächsten Diskussion, aber so zornig, hatte ich mich noch nie erlebt.
Nun war ich schon zweimal innerhalb von einer so kurzen Zeit so wütend.
Ich hatte Menschen nie verstehen können, die Gegenstände durch die Gegend warfen, wenn sie sauer waren. Diese dann zerbrochen oder zumindest nicht mehr heilen Sachen zeigte doch nur wie es in dieser Person aussah.
Und wer wollte schon einen persönlichen Beweis für seine innere Zerrissenheit?
„Meine Hände“, begann ich und steckte ihm meine Hände entgegen, die unkontrolliert zitterten. „Mein ganzer Körper zittert immer, wenn er von jemandem länger berührt wird. Wenn meine Mutter mich an sich drückt oder meine Schwester meine Hand nimmt, sowie du gerade eben.“, fuhr ich ruhig fort.
„Und ich weiß nicht, ob das irgendwann wieder verschwinden wird, oder ob dieses Zittern mich für immer Brandmarken wird, aber ich will deswegen nicht bemitleidet werden.“
„Das wollte ich doch gar nicht“, wiedersprach Liam mir sofort, während ich die Hände vor der Brust verschränkte.
„Doch, das tust du, du tust es sogar jetzt, indem du es abstreitest. Ich will das nicht. Ich will kein Mitleid.“, redete ich mich wieder in Rage.
„Wenn selbst mein Vater kein Mitleid hatte, als er uns damals verlassen hat, dann braucht es sonst kein anderer haben. Er wollte uns nicht mehr, er hatte eine andere Frau und natürlich war sie schwanger und bekam einen Sohn. Und dieser Junge war alles, was er haben wollte. Dafür hat er meine Schwester zurückgelassen, die gerade mal zwei Jahre alt gewesen war fast noch ein Baby und meine Mutter, die sich von allen Anderen anhören musste, was sie alles falsch gemacht hatte. Aber er…..“
Meine Stimme wurde immer leiser, immer wankelmütiger. „Er nicht. Er darf das. Und ich wünschte mich würde das nicht halb so sehr verletzten, wie es mich in Wirklichkeit tat.“
Ich hob meinen Blick nun zu Liam. Es lag etwas Abwartendes in seinen Augen, als ob auf etwas warten würde. Eine Reaktion meinerseits ?
„Er wollte mich nicht“, sagte ich wieder, fast wie in Trance. „Er wollte mich einfach nicht“, beendete ich meine Geschichte. Eine Weile lang herrschte Schweigen.
Es war so ruhig, dass ich fast hätte denken können, dass das aller hier nicht real war, sondern eine Ausgeburt meiner Fantasie. Doch das Schweigen hielt an und damit kam auch die Erkenntnis, dass alles wirklich war.
„Jetzt empfindest du bestimmt keine Zuneigung mehr, wenn du mich ansiehst oder?“, fragte ich ihn bitter, aber gleichzeitig nüchtern, obwohl ich eigentlich nur wollte, dass er mir wiedersprach. Mir sagte, dass es nicht so ist, dass es ihm egal war, warum auch immer.
Liam antwortete mir nicht, er wirkte hilflos, wie er dort so stand. Ich konnte spüren, dass er etwas sagen wollte, aber er wusste nicht was.
Während dieser wenigen Minuten habe ich mich ihm gegenüber verletzend, wütend und emotionslos verhalten. Was sollte er so einem Menschen auch noch zu sagen haben? „Das habe ich mir gedacht“, erwiderte ich daraufhin erneut bitter, doch die Emotionslosigkeit blieb nicht lange. Stattdessen kamen die Trauer und die Enttäuschung zum Vorschein, die ich so gerne geheim gehalten hätte. Ich blickte hinunter zu meinen Armen und begann zu weinen.
Leise, weil ich dachte es verstecken, die Tränen einfach wegwischen zu können.
Doch sie blieben nicht lange unentdeckt und während Liam die Erkenntnis durch die Augen blitzt, fühlte ich mich auf einmal vollkommen nackt vor ihm.
Ich stand hier, ohne jegliche Geheimnisse oder ein kleinen Vorteil meinerseits, während er endlich aus seiner Starre gelöst wurde und mich in den Arm nahm. Oder er es zumindest zu versuchen, denn ich wehrte mich gegen ihn, seine tröstenden Armen, seinen warmen Worten in meinem Ohr.
Er ließ nicht locker, griff immer wieder nach mir, da er im Gegensatz zu mir verstanden hatte, was ich wirklich brauchte. Irgendwann gab ich nach, ich wusste nicht ob es aus Erschöpfung oder Bedeutungslosigkeit war, aber es war sicher nicht die Erkenntnis, dass er richtig lag. Ein paar Mal schlug ich ihm noch gegen seine Brust, um mich zu wehren, doch es schien ihm nichts aus zu machen.
Liam ging nicht, hörte nicht auf mich zu halten, auch nicht, als er das Zucken spürte, dass immer wieder durch meinen Körper ging. Er hielt mich einfach. Sonst nichts. Und in diesem Moment spürte ich wieder Hoffnung, denn so ausweglos mir die Situation auch erschien Liam war immer noch hier bei mir. Mit der Zeit begann ich mich langsam zu beruhigen, mein Weinen ließ nicht und die Tropfen, die sich auf Liams T – Shirt verirrten wurden immer kleiner.
Ich räusperte mich kurz und wich langsam aus seinen warmen Armen. Ich traute mich nicht ihn anzusehen, stattdessen senkte ich meinen Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. Abwehrhaltung und Kälteschutz zugleich.
„Du solltest jetzt nach Hause gehen“, sagte er plötzlich. Ich sah mich um, und nahm erstmals wieder meine Umgebung wieder wahr. Wir standen immer noch mitten im Wald, der mit ganz grau und düster erschien. Es würde sicher bald anfangen zu regnen.
„Natürlich“, erwiderte ich bitter, während mein kleines Luftschloss vor meinen Augen verpuffte. Liam war dageblieben, aber nur aus einem einzigen Grund: Weil er Mitleid mit mir hatte.
„Ich wusste ganz genau, dass du so reagieren würdest! Und ich war so naiv und habe dir geglaubt. Wie war das noch mal: > Dich, ich will nur dich und niemand Anderen auf der ganzen Welt. Nur dich.

Kapitel 3



„Riley! Riley! Verdammt warte doch!“, rief er und war dabei mich einzuholen. Seine Stimme wurde in meinen Ohren immer lauter, das bedeutete er konnte nicht mehr weit sein.
Ich lief und lief und versuchte ihn einfach auszublenden, doch er war schneller und viel sportlicher als ich, sodass es wohl auf das Unvermeidliche hinauslaufen würde.
Deswegen blieb ich lieber gleich stehen, und wurde dabei fast von Liam umgerannt. Kurzatmig, wie ich war, schnappte ich japsend nach Luft und versuchte meinen Blick auf einen Punkt im Horizont zu richten, um das Schwindelgefühl zu zerstreuen. Doch es wurde nicht besser, der Himmel bewegte sich schwankend hin und her und ich mit ihm.
„Wieso bleibst du denn jetzt stehen?“, fragte er kein bisschen außer Atem. Es schien fast so, als ob er sich nicht bewegt hätte, denn weiter seine Wangen waren gerötet, noch war sein T – Shirt verrutscht oder seine Stimme brüchig.
„Na ja ich dachte, da du mich ja sowieso irgendwann einholen würdest, wollte ich dieses Gespräch gleich hinter mich bringen“, sagte ich sarkastisch.
„Welches Gespräch?“, fragte er verzweifelt.
„Das Gespräch, in dem du mir sagst, dass es dir furchtbar leid für mich tut und du wirklich geschockt bis und so weiter. Ich kenne das, ich habe meiner damals besten Freundin als Einzige davon erzählt und sie hat genauso reagiert wie du. Und seit dem waren wir nicht mehr befreundet.
Deswegen habe ich mir geschworen niemals wieder jemanden davon zu erzählen.“ Ich stoppte kurz, da ich Luft brauchte, ich war wirklich nicht in bester Kondition für einen Sprint. „Bist du kamst“, dachte ich und ich wusste, dass ich die Worte nicht aussprechen musste. Er kannte sie bereits.
„Aber anscheinend habe ich mich getäuscht“, sagte ich bitter.
„Riley, wie soll ich dir bloß klar machen, dass ich dich nicht verlassen werde.“, antwortete Liam mir ernst und versuchte mich mit seinem Blick zu fokussieren, um seine Aussage zu unterstreichen, aber diesen Gefallen tat ich ihm nicht. Stattdessen ließ ich meinen Blick auf meinen Schuhen liegen.
„Das kannst du nicht mehr, du hast dich entschieden.“, erwiderte ich hart.
„Riley, verstehst du denn überhaupt nicht, was du da sagst?“, sagte er nun wieder verzweifelt. Ich möchte ihm so gerne ins Gesicht sehen und verstehen, was er mit sagen möchte. Aber ich hatte meine ganz eigene Interpretation und von dieser war ich von nichts und niemanden abzubringen.
„ Natürlich, ich habe dir unmissverständlich deutlich gemacht, dass ich dich brauche und du hast mir gezeigt, dass das nicht für dich gilt.“ Ich wusste nicht woher ich diese Ruhe nahm mit ihm zu sprechen, selbst in diesem Ton. Wahrscheinlich wurden solche Akte in die Kategorie Selbsterhaltungstrieb verbucht. Mein Selbsterhaltungstrieb war zwar nicht besonders hoch, aber anscheinend noch nicht ganz ausgelöscht.
„Nein eben nicht. Hast du gehört, was du gerade gesagt hast? Ich schon. Du hast gesagt, du brauchst mich. Nicht, du liebst mich, oder du empfindest etwas für mich. Du willst mich nicht als Partner haben, sondern nur als eine Ersatzperson für diejenige, die du verloren hast.“,
Seine Worte trafen mich unvorbereitet, meine seelische Schutzmauer war noch nicht so weit wieder aufgebaut, als dass ich seine Aussage einfach ohne Schmerzen abhaken oder zumindest ignorieren konnte. Sie machte mich einfach nur unglaublich wütend. Woher wollte er denn wissen, wie ich fühlte, und was ich dachte, und welche Wünsche ich hatte? Er kannte zwar einen Teil meiner Vergangenheit, doch letztendlich zählte das hier und jetzt, und dieser Teil würde mir alleine gehören. Über meine Gegenwart konnte er keine Gewalt bekommen, auch wenn ich ihm diese bei meiner Vergangenheit ohne jeglichen Kampf zugestanden habe.
„Ach was, du willst also den wiedergefundenen Vater für mich spielen?“, fragte ich zynisch.
„Du musst nicht immer die Starke sein, die die Niemand verletzen kann, denn vor nicht weniger als ein paar Minuten habe ich die wirkliche Riley gesehen. Das Mädchen, das sich nicht geliebt und geborgen fühlt, den Menschen misstraut und einfach nur unglaublich verletzt ist. Ich habe aber nicht das verliebte Mädchen Riley gesehen.“, versuchte er mir klar zu machen. Ein weiterer Stich mitten in mein Herz. „Er hat keine Macht über dich.“, machte ich mir klar. „Ich bin der Herr meines Schicksal, ich bin der Herr meiner Seele.“, wiederholte ich William Ernest Henley still im Geiste.
„Wie soll ich dir das bloß erklären?“, sagte er und fuhr sich verzweifelt durch die Haare. Liam kam mir immer wie ein Mensch vor, der nicht verzweifeln konnte und immer ein Lächeln auf dem Gesicht trug. So konnte man sich täuschen
„Ich bin… ich bin für dich so eine Art….großer Bruder. Ich bin für dich und halte dich in meinen Armen, wenn es dir schlecht geht, und es mag ja auch, dass du mich liebst, aber nicht wie einen Partner, und solange du dir nicht über deine Gefühle klargeworden bist, kann ich das alles nicht.“
Es sah so aus, als ob auch ihn diese Erkenntnis etwas überrascht hätte, denn er raufte sich immer noch die Haare und dachte angestrengt nach.
„Das heißt, dass wir nicht miteinander reden können, solange ich über meine angebliche Empfindungskrise hinweg bin?“, sagte ich ironisch.
„Ja, es ist besser so für dich, aber wenn du mich brauchst werde ich bei dir sein.“, erklärte er mir mit der unüberhörbaren Betonung auf dem Wort „brauchen“.
„Dankeschön“, sagte ich bitter. „Genau das Gleiche hat mir meine beste Freundin damals auch gesagt, und dann hat sie sich nie wieder bei mir gemeldet. Aber hey! Du bist für mich da.“

Kapitel 4



Ich lief und lief und lief, aber ich wurde nicht müde.
Es war so als ob ich die Geräusche meiner Schritte und meines Atems brauchte, um nicht den Verstand zu verlieren. Ich wollte nicht die Stimme in meinem Inneren hören, die sagte:„Wie konntest du nur so dumm sein, Riley? Hast du denn gar nichts dazu gelernt.“
Die Kälte nahm mich vollkommen ein und ich wurde eins mit mir. Bäume rauschten an mir vorbei, Blätter, aber ich nahm nur eine verschwommene grüne Fläche war.
Keine Stimme, keine Gedanken, keine Riley mehr.
Es fing an zu regnen, doch der Regen trieb mich nur noch mehr an. Ich konnte mich nur noch darauf konzentrieren zu laufen, bei jedem weiteren Gedanken wäre ich zusammen gebrochen.
Mit jedem Schritt, den ich machte und jedem Schmerz, den ich spürte, bewies ich mir, dass ich noch lebte, dass da noch irgendetwas in mir war, dass nicht von dieser eisigen Leere besetzt wurde.
Ich wurde schneller und schneller, bis ich nicht einmal schemenhafte Umrisse wahrnehmen konnte. Mein Atem stockte und ein stechender Schmerz bereitet sich in meiner Brust aus. Selbst das schnelle Pochen meines Herzen schmerzte mich und ich krümmte mich zusammen, während ich eine Hand vor meinem Bauch hielt. Der Schmerz überflutete mich wie eine Welle, und nahm dann ab.
Völlig erschöpft ließ ich mich neben einem Busch nieder und versuchte ruhig zu atmen.
1,2,3, Riley atme. 4,5,6, es war alles okay. Nein. Nichts war okay. Es war schrecklich. Schon wieder eine Schmerzwelle. Ruhig ein – und ausatmen. Es würde gleich besser werden.
Was sollte ich jetzt bloß tun? Ich wollte weinen, aber da waren keine Tränen mehr, die ich nicht schon vergossen hatte.
Falls wir am Ende unseres Lebens in Form von Badewannen aufgezeigt wurden, wie viele Tränen wir vergossen hatte, würde ich diesen Part lieber überspringen und gleich mit den schönen Erinnerungen in meinem Leben weitermachen.
Auch Wut zu empfinden fühlte sich nicht richtig an. Denn Wut war ein sinnloses Gefühl. Vielleicht fühlten sich viele Menschen besser, nachdem sie etwas auf den Boden geschmissen hatten, aber dieser Gegenstand war dann gebrochen. Genauso wie der Mensch, der ihn geworfen hatte. Und wer möchte sich schon selbst gerne vor Augen führen, dass er nicht mehr funktionstüchtig war.
Da blieb nur noch eins: Akzeptanz.
Zu akzeptieren, dass die Dinge so geschahen wie sie sollten.
Vielleicht war er nicht der Richtige.
Vielleicht bin ich nicht die Richtige.
Und vielleicht war alles, was ich immer dachte, nicht richtig.
Vielleicht kann ich niemanden glücklich machen, vielleicht bin ich dazu bestimmt allein zu sein. Vielleicht.
Langsam spürte ich die Tränen in meinen Augenwinkeln, doch ich versuchte sie hinunterschlucken. Ich würde jetzt aufhören mich selbst zu bemitleiden, Mitleid war das Schlimmste. Ich wollte alles, nur kein Mitleid. Und vielleicht noch Liam.
Da hörte ich plötzlich eine Stimme und laute Schritte. „Riley! Riley! Wo bist du? Riley!“ Seine Stimme klang verzweifelt, aber immer noch nicht außer Atem.
Ein Teil meines Denkens beschäftigte sich mit der Frage, ob er sein Lungenvolumen schon einmal hatte messen lassen. Der andere Teil – zugegeben der heute etwas besonnener Teil – ging alle Möglichkeiten zum Rückzug durch. Ich war feige, und wollte ihm einfach aus dem Weg gehen.
Das war nicht besonders ruhmvoll oder ehrenhaft, aber das war ich auch nicht. Ich war dumm und ängstlich. Und vielleicht auch einfach nur sehr verletzt.
Ich versteckte mich schnell hinter dem Busch und hielt den Atem an. Es fiel mir nicht besonders einfach, da ich vollkommen außer Atem war, und der Schmerz in meinem Bauch und der Brust nicht verging. Immer wieder trafen sie mich wie Schlag.
Meine Gedanken wanderten wieder zu Liam. Ich konnte ihn jetzt durch die Zweige des Busches sehen. Seine dunklen Haare, kringelten sich natürlich an seiner Schläfe. Sein weißes T – Shirt war durch genässt. Wieso ging er nicht einfach?
Ich wollte ihn nicht wiedersehen, es tat schon so genug weh. Ich konnte einfach nicht mehr.
Was genug war, war genug. Ich war so müde gegen etwas anzukämpfen gegen das ich sowieso keine Chance hatte.
Er rief bestimmt noch eine halbe Stunde lang meinen Namen, mal verzweifelt und müde, dann wieder fast wütend und laut, aber ich konnte unter all diesen Ausrufen, die eigentliche Nachricht sehen, die er überbringen wollte: Ich habe Angst um dich.
Doch auch wenn ich mir dessen bewusst war, bewegte ich mich keinen Zentimeter von meinem Platz. Denn auch ich hatte Angst. Angst vor dem Klang seiner Stimme, seinen Worten und wahrscheinlich auch auf meine Reaktionen ihm gegenüber, die alles andere als klug und überdacht waren.
Nachdem er aufgegeben hatte und weitergelaufen war, wartete ich noch ein paar Minuten, bevor ich mein Versteck verließ und lief dann nach Hause.

Kapitel 5



Meine Mutter wartete schon auf mich und drückte mich fest, als sie mich sah.
Die vertraute Umarmung fühlte sich gut an, geborgen. Sie nahm meine eiskalten Finger in ihre Hände und wärmte sie.
Ich sah in ihre grünen Augen, die Meinen so ähnlich waren, und erkannte, dass auch sie sich Sorgen um mich gemacht hatte. Die Wangen ihres herzförmigen Gesichts waren leicht gerötet, wie immer wenn sie etwas aufgewühlt war und ihre blonden Haare standen am Haaransatz etwas ab. Und als ich sie erneut umarmte, roch ich ihren vertrauten Duft des Lacoste Parfüms und fühlte mich sofort besser. Ich atmete ihren Geruch ein und versuchte ihn zu speichern, für mich war er immer tröstlich gewesen.
Ich konnte mich daran erinnern, dass sie mein Lieblingskuscheltier – ein kleiner Hund mit Schlappohren und einem weißen Halsband mit blauen Blümchen, als ich in der zweiten Klasse zum ersten Mal auf Klassenfahrt war mit ihren Duft besprüht hatte und jedes Mal, als mich das Heimweh kannte, nahm ich diesen Geruch in mir auf.
Wenn ich jetzt daran zurück dachte, fühlte es sich sehr tröstlich an, dass war es aber auch damals gewesen.
Ich sagte ihr, dass ich in der Schule warten wollte, und erst losgehen wollte, wenn das Unwetter vorbei war und deswegen erst so spät kam, da der Regen nicht aufhören wollte und ich ihn doch in Kauf nehmen musste, um es irgendwann noch nach Hause zu schaffen.
Sie kaufte mir meine Lüge nicht ab, beschloss aber, mich nicht weiter aus zu fragen, und dafür war ich ihr dankbar.
Das war eine der Gründe, warum die Beziehung zu meiner Mutter und mir so gut war: Sie ließ mir meine Freiräume und wenn ich sie brauchte, war sie für mich da. Ich hätte andersherum bestimmt anders reagiert. Wenn meine Mutter so aufgelöst nach Hause gekommen wäre, würde ich sie so lange ausfragen, bis sie mit der Sprache rausrückte und sie würde es mir noch nicht einmal übel nehmen.
Danach verzog ich mich in mein Zimmer, aß schnell etwas und lag mich dann mit der Entschuldigung mir ginge es nicht so gut ins Bett.
Und das war noch nicht einmal eine Lüge. Mir ging es nicht gut. Und ich wusste auch, dass es nicht in ein paar Tagen oder Woche besser wurde.
Ich ließ den Schmerz jetzt zu.
Hier, zu Hause hinter verschlossenen Türen für mich alleine. Im Park, als ich hinter einem Busch, wie eine Verbrecherin gehockt hatte, konnte ich es nicht. Da musste ich nur funktionieren und eine noch größere Demütigung abwenden.
Es gab einen Song von John Mayer, in dem es hieß: „This is the place where everything's better. And everything's safe. “
Für mich war dieser Ort mein zu Hause. Das etwas in die Jahre gekommene Gebäude, in dem ich meine Kindheit und meine Jugend verbrachte und verbringe.
Immer wenn ich früher als Kind weinen wollte, redete ich mir ein ich konnte weinen, wenn ich zu Hause war und meistens half das die Zeit ohne Tränen zu überstehen. Ich weinte sehr oft, dabei ging es eigentlich gar nicht um mich, sondern auch um andere Personen. Wenn es meinen Freundinnen schlecht ging, wenn ein Mensch im Film starb, wenn meine Mutter wegen meinem Vater weinte, wenn meine Schwester im Kindergarten geärgert wurde.
In der Schule; ich glaubte es war in der fünften Klasse fing ein Junge an mich Heulsuse zu nennen, nur weil ich mich im Sportunterricht stark verletzt hatte und deswegen geweint hatte. Ich glaube, ich hatte einen Medizinball mitten ins Gesicht bekommen, meine Nase war wie betäubt und mein Gesicht hochrot.
Seit diesem Augenblick hatte mich nur noch meine Mutter weinen gesehen …..und…..Liam.
Ich steckte mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren und suchte den traurigsten Song, denn ich kannte und ließ ihn in Endlosschleife laufen. Keine besonders einfach Aufgabe, denn ich war ein Mensch, der emotionale Songs mochte. Meiner Meinung nach konnte man gute Interpreten von sehr guten Interpreten genau durch solche Stücke unterscheiden. Vielleicht hatte das auch etwas mit Masochismus zu tun, aber im Endeffekt war es auch nicht, wichtig, das Warum zu klären.
„Happy Ending“ von „Mika“. Es gab keinen Song, der mich so in eine traurige Stimmung einlullte. Keine Worte ,die die Enttäuschungen und Rückschläge, die wir verkraften mussten, besser beschrieben. Es hatte etwas sehr sentimentales, beinahe überemotionales, dieses Stück zu hören, denn die Verzweiflung dieses Songs steigerte sich mit jeder voranschreitenden Minute. Und am Ende des Liedes, sang ein Chor zusammen mit dem Interpreten immer wieder: „Little bit of Love. Little bit of Love.“ Ja, in mancher Situation konnte ich über diesen Song auch lachen, denn er hatte etwas Aufgesetztes und Irreales an sich, aber in dieser hier spiegelte er perfekt meine Stimmung wieder.
Eine Stimmung, die ich selbst weder beschreiben konnte, noch wollte.

Kapitel 6




Die Nacht war kurz gewesen, zu kurz. Ich hatte bis spät in die Nacht noch Musik gehört, lesen wollte ich in einer solchen Situation nicht, dann würde ich mich nur immer, wenn ich dieses Buch von nun an las, mich daran erinner in welcher Situation gewesen war. Bei Musik war es nicht ganz so schlimm.
Ich überlegte mir kurz mich krank zu stellen, doch ich hatte mich schon zu oft vor unangenehmen Situationen gedrückt. Ich würde das tun, was ich immer tat, wenn ich nicht mehr weiter wusste. Mich um die Schule kümmern. Wieder regelmäßig lernen, meine Hausaufgaben mal wieder erledigen und für Tests lernen. Das nahm ich mir zumindest immer vor.
Die ersten Stunden in der Schule waren noch halbwegs angenehm.
Ich hatte Deutsch und konnte den Seelenschmerz anderer Leute analysieren. Eine willkommene Ablenkung. Für manche Leute war Deutsch zusammen mit wahrscheinlich Kunst eines der unnötigsten Fächer der Welt, andere Leute, wie zum Beispiel ich könnten das gleiche über jegliche Naturwissenschaften und Mathe sagen.
Für mich hätte Mathe gut und gerne nach dem Multiplizieren und Dividieren vorbei sein können, aber es gab sicherlich einen Zeitpunkt bei dem das Wissen rund um die Vektorenrechnung ein Vorteil für mich sein könnte.
Vor allem, wenn ich beim Export von Waren arbeiten würde und dann berechnen musste, wo der Container am besten stehen sollte, und wie man diese Daten in den Computer eingab. Dass meine Mitstreiter, diese wirklich unglaubliche Rechnung einfach dem Computer überlassen werden und ich dann ohne Job dastand, interessiert dann wohl keinen Mathelehrer mehr vielleicht kommen sie dann mit dem Argument: „Du hättest einfach schneller sein sollen.“
Die Fähigkeit hingegen Menschen und ihr Verhalten zu analysieren und dann zu interpretieren, kann man in späteren Leben hingegen wirklich oft gebrauchen. Wie oft fragen wir uns, was die Menschen gegenüber von uns denken, warum sie sich so uns gegenüber verhalten, aber eine direkte Antwort erhalten wir meistens eher nicht.
In diesem Moment zum Beispiel würde ich alles tun, um zu wissen was Liam über mich dachte. Andererseits gab es einen Teil von mir – ich musste zugeben, ein wirklich kindischer und störrischer Teil-, der ihn einfach links liegen lassen würde. Herz und Verstand konnten also selbst im Leben einer Person zu Problemen führe. Vielleicht hätte ich lieber in einer anderen Zeit leben sollte. Zum Beispiel die literarische Epoche der Klassik wäre perfekt. Schiller versuchte dort nämlich Herz und Verstand des Menschen zusammen zu fügen und durch die Kunst, den Charakter des Menschen positiv zu prägen. Allerdings hatte er auch gesagt, dass der Mensch ein Doppelwesen war. Dann würde ich auch noch schizophrin. Also lieber doch nicht.
Zwischen den Naturwissenschaftler und den Geisteswissenschaftler hatte es ja schon immer Streit gegeben, selbst bei den wirklich vollkommenen Lehrern, warum sollte es bei den Schülern also anders sein?
Verstand und Gefühl, es ging nicht mit, aber auch nicht ohne. Die zwei Stunden gingen schnell vorüber und ich fühlte mich etwas besser, weil ich etwas Gutes für meine Note getan hatte.
Aber etwas besser, war immer noch nicht gut, wenn ich ehrlich war. Doch ich hatte keine Chance mehr meine miserable Stimmung noch etwas zu verbessern, da die Pause mir dazwischen kam. Traurig lief ich meinen Freunden hinterher und wir setzten uns an unseren Stammtisch.
Ich hatte mich damit abgefunden die Pause mit trübsinnigen Schweigen und melancholischen Gedanken zu verbringen, doch meine beste Freundin machte mir einen Strich durch die Rechnung.
„Riley?“, fragte sie unschuldig und ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihre haselnussbraunen Augen blitzen ganz merkwürdig. Und sie schob sich verlegen die hellbraunen Haare vors Gesicht. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Ja? Was gibt’s Ashley?“
„Wir wollten doch am Wochenende ins Kino gehen…“, fing sie ihre Rede vorsichtig an und ich dachte mir schon, was sie mir sagen wollte. „Ich kann leider nicht, ich wollte dort doch unbedingt mit Christopher hingehen und er sagte, du würdest unserer Beziehung im Weg stehen….weißt du.“, sagte sie ohne mit der Wimper zu zucken.
„Achso, sagt er das?“, fragte ich nun bissig. „Weißt du was, geh einfach mit ihm hin, und lass mich in Ruhe damit.“
Sie hatte mir die letzten 6 Wochen jedes Mal eingeladen und wieder abgesagt und jedes Mal hatte ich mich freundlich versetzten und wieder einladen lassen, wenn der werte Herr Christopher keine Lust auf sie hatte.
„Warum bist du denn jetzt sauer auf mich? Ich kann doch nichts dafür. Ihr zieht jeder an einer Seite von mir, wie an einem Seil und ich bin vollkommen hilflos“ sagte sie und ich hätte ihr am liebsten eine Ohrfeige gegeben, damit sie endlich aufwachte. Mal abgesehen von der Tatsache, dass ihr Vergleich unglaublich flach war.
Irgendwann würde sie dann ein Buch veröffentlichen, das „Die Seilmetapher – und warum sie eigentlich nur ein wirklich schlechter Vergleich ist“, hieß und Millionen verdienen. Vielleicht sollte ihr irgendjemand dann mal ein Buch über Moral und Freundschaft schenken, ich würde es aber ganz sicher nicht tun.
„Gut, dann kannst du ja froh sein, denn ich lasse jetzt los.“, sagte ich bitter und lief auf den Gang.
Ich wollte gerade das Schulgebäude verlassen, als Christopher mir hinterher kam.
Er war heute in der Pause nicht bei uns gewesen, und bestimmt gerade bei Ashley gewesen, und nun musste er die böse Freundin Riley in ihre Schranken weisen. Sein Gesicht war von rötlichen Wutflecken übersehen, seine Hand, die sonst immer in einer verwaschenen Jeans steckte, war nun nach oben geschnellt und seine blauen Augen funkelten mich böse an. Oho.
„Riley!“, rief er wütend. „Bleib stehen!“ Wiederwillig blieb ich stehen und sah ihn an, und obwohl auch er sah, wie schlecht es mir ging, hörte er nicht auf mich anzuschreien. Ich versuchte einen gelangweilten oder wenigstens ausdruckslosen Gesichtsausdruck aufzusetzen, doch alles, was ich zu Stande bekam, war eine verzehrte Grimasse, die Verzweiflung und auch etwas Angst wiederspeigelte. Ich hatte ihn eigentlich nicht für einen Schlägertypen gehalten, aber ganz sicher war ich mir nun nicht mehr.
„Wie kannst du Ashley nur so etwas antun? Jetzt ist sie wütend auf mich und dich.“ , sagte er und begann mich mit Vorwürfen zu überschütten.
„Wieso denn auf dich?“, fragte ich ungläubig. Das hatte ich jetzt nicht erwartet.
„Weil ich ihr auch gerade eben abgesagt habe. Ich habe Fußballtraining und geh dann mit den Jungs in die Kneipe. Du musst jetzt etwas mit ihr unternehmen“, sagte er bestimmt. Ich konnte sehen, wie er versuchte meinen Blick auf seinen zu richten und ihn fest zu halten, aber ich entschwand ihm und richtete mein Blick auf die gegenüberliegende Wand.
„Nein“, sagte ich ruhig.
„Was nein?“, fragte er gereizt. „Du musst einfach. Es geht ihr doch so schlecht“, sagte er und versuchte an mein ausgeprägtes Mitgefühl und meine Beeinflussbarkeit zu appellieren.Doch an das einzige Gefühl, an das er es schafte mich zu appellieren war meine Wut und meine Verzweiflung.
Er legte seine Hand auf meine Schulter und sah zu mir runter, ich war einige Zentimeter kleiner als er, und er nutzte genau diese Tatsache schamlos aus. Es überraschte mich aber nicht. Ich drehte mich weg, ich wollte ihn nicht ansehen, wollte nicht, dass er mich so sah. So viel Würde besaß ich noch und diese Würde würde ich aufrechterhalten mit allem, was ich hatte.
„Ihr geht es schlecht? Schön, dann soll es ihr halt schlecht gehen, es interessiert schließlich auch keinen wie es mir geht.“
Das war ein Fehler, ich hatte ihm eine Steilvorlage geliefert, aber er verstand es glücklicherweise nicht, da er viel zu sehr darauf erpicht war sein Ziel zu erreichen. Deshalb verstand er nicht, dass wenn er mir widersprochen und gesagt hätte, dass es durchaus jemanden interessierte, wie es mit ging, ich durchaus kooperativer gewesen wäre. Wenn er es richtig gemacht hätte. Das bildete ich mir zumindest ein.
Christopher kam mir bedrohlich nahe und es fast sah so aus, als ob er mir gleich eine Ohrfeige oder Schlimmeres geben wollte, doch da hörte ich eine Stimme am Ende des Ganges rufen:
„Lass sie los, du Idiot!“
Ich drehte meinen Kopf in die Richtung aus der ich die Stimme vernommen hatte, aber das Liam stand schon neben mir.
„Fass sie nicht noch einmal an.“, sagte Liam bedrohlich.
„Sonst was?“, fragte Christopher höhnisch.
„Sonst bekommst du es mit mir zu tun.“
„Ach? Bist du ihr großer Bruder oder was, oder läuft doch etwas zwischen euch? Hätte ich ja nicht gedacht, dass du so tief sinkst.“
Ich glaubte, dass hat den Ausschlag gegeben, denn ich hielt es hier keine fünf Minuten länger aus und lief schnell auf den Schulhof und suchte nach meinem Fahrrad. Ich fluchte kurz, weil alles voller Fahrräder stand und ich meins einfach nicht fand.
Ich wusste, dass ich mich eigentlich hätte wehren sollen und mein Verhalten nicht unbedingt meiner inneren Kampfaussage von vorhin entsprach, aber ich wollte mich jetzt nicht auch noch mit meinen eigenen Gewissensbissen aufhalten.
Endlich sah ich es, es wurde von irgend so einem Idioten umgeworfen und die Klingel war dabei zu Bruch gegangen.
Egal, dachte ich und dann endlich spürte ich wie die Tränen mir langsam die Wange hinunterliefen. Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Schlüssel, doch ich fand ihn nicht.
Dann wurde mir alles zu viel: Die Enttäuschungen, die ertragen musste und muss, die Dunkelheit und Leere, die mich umgab, der Kummer und einfach alles.
In der Ferne hörte ich Liam noch meinem Namen schreien und dann wurde alles schwarz um mich herum.

Kapitel 7



Ich träumte, dass wusste ich noch.
Ich wandelte in einem Park herum. Nicht in irgendeinem Park, sondern in einem ganz bestimmten. Worum er so besonders für mich war fiel mir gerade nicht ein, aber er war es, dass wusste ich doch.
Doch auf irgendeine Art und Weise versetzte mir den Gedanken an diesen Park ein Stich in meinem Herzen. Schnell verdrängte ich den Schmerz und ging weiter.
Ich war ruhelos, auf der Suche nach jemand, aber nach wem denn?
Ich ging und ging und sah mich um, um jemandem nach dem Weg zu fragen, doch ich war allein.
Das Wetter war schön, die Sonne strahlte und der Himmel war wolkenlos. Vor mir erstreckte sich eine Menge grün. Grüne Baumkronen, grüne Wiesen, grüne Pflanzen und ganz hinten, am Horizont sah ich rot. Eine wunderschöne Blumenwiese mit Alpenrosen.
Sie erinnerten mich an irgendetwas. Sie hatten eine Bedeutung.
Bloß welche?
Ich lief los, um mich bald in der Blumenwiese vorzufinden, doch egal wie lange ich lief, der Abstand wurde zwischen mir und der Wiese wurde nicht kleiner.
Es kam mir sogar so vor, als ob der Abstand immer größer wurde. Ich sah mich um und wollte schon zurücklaufen, doch der Weg zurück kam mir länger vor, als der Weg zu der Blumenwiese. Und es kam mir so vor, als ob ich den Duft der Alpenrosen schon riechen konnte. Es war ein süßlicher Duft, ein Tröstlicher.
Ich blieb stehen, bereit dazu für immer hier zu bleiben und den Duft dieser Blumen zu riechen.
Was war nur ihre Bedeutung?
Ich setzte mich ins Gras und spürte, wie eine Brise leicht um mein Gesicht wehte.
Ich fühlte mich so gut, so sorgenfrei.
Doch dann hörte ich eine Stimme:
„Riley, komm zurück, komm zurück zu mir.“ Die Stimme kam mir so bekannt vor, aber ich wusste nicht, wem sie gehörte.
Und den Namen, die sie rief, war es mein Name?
Aber eins war sicher: Diese Stimme wollte mir nichts tun, sie war freundlich und sanft, vielleicht sogar ein bisschen besorgt. Warum war sie besorgt? Hier war es doch so schön.
Und so ruhig, alles war gut. Oder doch nicht?
Ich sah mich um, und es kam mir so vor, als ob sich alles nur allein durch meine Gedanken verändert hatte.
Was war das hier nur für ein Ort? Spürte dieser Ort, dass ich nicht mehr an ihn glaubte?
Der Himmel verfärbte sich grau und die Blumenwiese verschwand nur eine einzige Alpenrose sah ich noch und diese lag genau vor mir. Ich nahm sie in meine Hand und roch an ihr, doch ich roch nicht mehr den bezaubernden Blumenduft.
Der Duft, denn ich vernahm, roch nach einem Menschen. Einem bekannten, aber unbekannten Menschen. War es der Duft, des Menschen gewesen, dessen Stimme ich gehört hatte?
„Riley, Riley, komm zurück zu mir, bitte.“, sagte die Stimme verzweifelt.
Die Stimme ließ mich an die Bedeutung der Alpenrose erinnern:
Sie stand für ein Wiedersehen.
Und plötzlich wusste ich, wer mich da rief und ich nahm die Kraft aus Liams Worten und kam wieder in der Wirklichkeit an.

Kapitel 8



„Riley, Riley.“, rief Liam noch einmal und ich hörte die Besorgnis und die Verzweiflung in seiner Stimme.
Ich öffnete langsam meine Augen und wollte sie gleich wieder schließen, denn mit der Erkenntnis vieler Dinge, schlichen sich auch viele negative Gefühle ein.
„Riley, oh gut du bist wach, ich habe mir solche Sorgen gemacht“, sagte er erleichtert. Sein Gesicht war ganz nahm bei mir, dass wusste ich, aber ich nahm es nur als eine verschwommene Fläche war.
Ich blinzelte einige Male, damit meine Augen sich wieder an das hier und jetzt gewöhnen konnten, aber alles, was ich sah waren nur weiße, kahle Wände, ein Waschbecken, Neonlichter, die mir in den Augen wehtaten, sterile Handschuhe. Die Krankenstation der Schule.
Ich erinnerte mich nicht jemals hier gewesen zu sein, noch wie ich heute hierhergekommen war. Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren, durchforstete jede hinterste Ecke meines Denkens, aber alles, was ich fand war grenzenlose Leere. Die letzte Erinnerung vor dieser Erde war die Verzweiflung, die ich gespürt hatte, als Christopher und Liam sich gestritten hatten und meine Hilfslosigkeit, als ich auf meinem Fahrrad flüchten wollte als letzten Ausweg. Danach war alles dunkel. Meine Hand fuhr zu meinem Kopf, der wieder begann zu pochen. Vor Schmerzen stöhnend drehte ich meinen Kopf zur Seite und blickte einem jungen Sanitäter direkt ins Gesicht. Seine blauen Augen musterten mich abwartend, während sein Gesicht Falten zog.
Ich schätzte ihn auf etwa Mitte 30. Ich hatte ihn schon einige Mal in der Schule gesehen, Ashley hatte mir von ihm erzählt beziehungsweise von ihm geschwärmt. Meine Einwände, dass er vielleicht etwas zu alt und reif für sie ist, hatte sie lachend abgetan und sich dann wieder krank gemeldet, bloß um die Krankenstation besuchen zu können.
Der Sanitäter fühlte nun meinen Puls, ich zitterte bei der Berührung seiner Finger auf meiner Haut. Ich biss mir auf die Lippe, um meine Atmung zu kontrollieren, damit mein Körper endlich zu Ruhe kommen konnte, aber es half alles nichts, das Zittern wurde nur noch schlimmer.
„Könnten Sie kurz raus gehen? Ich habe ein paar Fragen an Riley.“, wandte sich der Sanitäter schließlich an Liam. Erst jetzt wurde mir wieder bewusst, dass er die ganze Zeit hier gewesen war und auch mein Zittern gerade eben bemerkt haben musste.
Liam nickte kurz und sah mich besorgt an. Sein Blick schweifte über mein Gesicht, studierte es genau und solange, dass ich mich wegdrehen wollte, bis ich ihm schließlich zunickte. Ich wollte ihn nicht weiter aufhalten und dass der Sanitäter mich vor ihm untersuchte, war mir auch nicht besonders angenehm.
„Wie geht es Ihnen, Riley?“, fragte der Sanitäter schließlich ruhig, nachdem Liam die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Ganz okay“, log ich, aber mir war früh klar geworden, dass man Ärzten gegenüber nicht immer die Wahrheit sagen sollte. Am Ende würde ich noch im Krankenhaus landen, dass wollte ich nun wirklich nicht.
Der Sanitäter bückte sich leicht über mich und sah mir tief in die Augen, um sie weiter zu studieren. Ich drehte meinen Kopf schnell zur Seite, während ich ihn aufseufzen hörte.
„Kann ich jetzt nach Hause gehen?“, fragte ich müde. Es war mir unangenehm weiterhin von diesem Menschen studiert zu werden.
„Natürlich, aber vorher möchte ich noch ein paar Antworten von Ihnen haben“, sagte er freundlich, aber bestimmt.
Ich nickte etwas verwirrt, was wollte er denn noch wissen? „Na gut“, sagte ich seufzend. „Was wollen Sie wissen?“
„Hatten Sie heute Morgen schon irgendwelche Schwindelgefühle oder Ohnmachtsattacken?“, fragte er gespielt gelangweilt.
„Nein.“, antwortete ich ehrlich.
Er schrieb etwas auf das Blattpapier im Klemmbrett, das er sich gerade genommen hat. In solchen Momenten fragte ich mich immer, ob die Ärzte sich tatsächlich Informationen über den Patienten aufschrieben oder nur ihre Einkaufsliste schrieben.
„Was genau ist passiert kurz bevor Sie ohnmächtig geworden sind?“, fragte er freundlich, aber ich wusste, wie brennend ihn diese Frage interessierte. Hoffentlich hatte er nichts mitbekommen, aber ich hatte niemanden außer Liam und mir gesehen.
„Ich weiß es nicht so genau“, log ich.
Ich musste nur so tun, als ob die Details durch den Aufprall vorhanden gegangen wären. Zumindest taten das immer die Protagonisten in all den Büchern. Nun würde ich austesten müssen inwiefern diese Beobachtungen zu trafen.
„Versuchen Sie sich daran zu erinnern“, sagte er bestimmt, während er wieder meinen Blick suchte und es mir so schwerer machte ihn zu belügen.
„Mir ging es nicht so gut und ich wollte mich gerade im Sekretariat abmelden und nach Hause fahren, da wurde mir plötzlich ganz schwarz vor Augen und dann bin ich hier aufgewacht“, log ich munter weiter. Wieder eine Notiz auf seinem Zettel. War es etwas wie: Einweisen in die Psychiatrie oder doch: Milch und Brot nach dem Feierabend besorgen.
„Und dazwischen? Wissen Sie warum es ihnen nicht so gut ging?“, bohrte er nach, er wusste doch irgendetwas.
„Nein, wissen Sie es ist alles so schnell passiert“, sagte ich unschuldig. „Kann ich jetzt bitte nach Hause?“, fragte ich plötzlich hastig und verriet mich dabei selber.
Ich musste hier schnell raus. Die Alarmglocke für meinen Selbsterhaltungstrieb klingelte immer schriller und lauter. Irgendetwas war hier nicht richtig.
„Ja natürlich, aber ich habe noch eine letzte Frage.“, sagte er, während er sich gerade hinstellte und mir deshalb noch viel größer als ich erschien.
Ich nickte.
„Warum hat Sie nicht ihre Freundin hierher gebracht, sondern Liam?“ Und da war er schon, der erste Schlag. Und obwohl ich ihn erwartet, ihn gespürt hatte, traf er mich trotzdem unvorbereitet. Ich spürte, wie meine Augen immer größer wurden und ihn erschreckt ansahen. Die vollkommen falsche Reaktion und genau das, was er erwartet hatte, um fort zu fahren.
„Riley, ich arbeite jeden Tag hier, ich kenne die Schüler und die Lehrer. Außerdem bin ich hier auch eine Art Vertrauenslehrer.“
Ich nicke kurz, jetzt war ich also doch bei einem Psychologen gelandet und hatte mich die ganze Zeit über falsch verhalten, denn er war schlau und ausgebildet genug um all meine kleinen Tricks, die ich mir aus Büchern abgeguckt hatte, zu durchschauen. Ich war in Schwierigkeiten, denn so schnell würde Pseudo – Sanitäter nicht aufgehen.
„Ashley war gerade nicht da und Liam schon“, sagte ich und wusste wie falsch das selbst in meinen Ohren klang. Es klang angsterfüllt und verletzt. Nicht wie eine neutrale Schilderung der Ereignisse, die ich niemals als neutral bezeichnen würde.
„Verbringen Sie nicht jede Pause gemeinsam?“, bohrte er weiter. Hatte er einen Detektiv auf mich angesetzt oder konnte er einfach beim kurzen Vorbeigehen an der Aula unter hunderten von Schülern eine Einzige ausmachen? Beziehungsweise zwei. Hatte er sonst keine Problemfälle, dass er sich so auf mich fixiert hatte.
„Was geht Sie das eigentlich an?“, fragte ich schnippisch, auf der Suche einen Weg hinaus aus dieser Situation zu finden. Es sollte doch noch so etwas wie Privatsphäre geben oder hatte ich da etwas nicht mitbekommen?
„Haben Die schon einmal überlegt, einen Therapeuten aufzusuchen?“, fragte er unvermittelt und sah mich durchdringend an. Mal abgesehen von Ihnen, obwohl ich da auch nicht freiwillig hingegangen bin, nicht, dachte ich sarkastisch.
„Nein!“, sagte ich etwas zu störrisch und laut.
„Nun ja, wenn Sie das so sehen, aber man sollte eine Konfliktsituation nicht einfach verdrängen, das kann zu einem späteren sehr schlimmen Traumata führen, ich hoffe Sie sind sich dessen bewusst.“, antwortete er mir in seinem besserwisserischen Tonfall, der eine nicht vorhandene Eloquent vortäuschen sollte. Nun war aber meine Neugier stärker, als mein Überlebungsinstinkt und ich fragte ihn:
„Welche Konfliktsituation?“
„Das wissen Sie doch selber am besten, ihre familiäre Situation ist mit durchaus bekannt. Möchten sie vielleicht darüber reden?“, fragte er und an seiner Stimme, die kein Funken Mitgefühl enthielt wie sonst üblich, erkannte ich wie neugierig er wirklich war. Es gab also auch Männer, die gerne tratschten.
Er wollte einfach nur ein paar Informationen über mich und mein Leben, um zu plaudern, weil er selbst nicht genug wusste. Wahrscheinluch traf er sich jeden Abend mit seinen Jungs um die neuesten Gerüchte in Umlauf zu bringen. Das mag jetzt vielleicht etwas emotionslos und nüchtern klingen, aber in Wirklichkeit nahmen mich seine Worte und deren Aussage sehr mit. Ich konnte diesen Schmerz nur einfach nicht vor ihm zulassen. Dann hätte er gewonnen und diesen Erfolg gönnte ich ihm nicht. Er würde aus dieser Situation genauso ahnungslos hinausgehen wie ich. Schließlich kannte ich seine Quellen auch nicht. Gleiches Recht für alle.
Er ist in meine intimste Privatsphäre eingedrungen, aber die Schadenfreude darüber, dass ich, dass nicht gewusst hatte, würde er nicht bekommen.
Pseudo- Sanitäter sah mich an und wartet gespannt auf eine Antwort. Als er merkte, dass ich ihm nicht antworten würde, seufzte er kurz auf.
„Okay.“, sagte er und sah mich wie ein störrisches, kleines Kind ansah, dass nicht sagen wollte, warum es sein Bein aufgeschlagen hatte.
„Sie können jetzt gehen, Riley.“, sagte er und rettete mich so vor den Tränen, die wieder einmal in meinen Augenwinkeln traten. Ich setzte mich schnell auf, zu schnell, sodass meine Umgebung begann zu wanken und schwank meine Füße über die Trage.
Als ich schon fast zur Tür heraus gesprintet war, traf mich seine kalte Stimme noch einmal unvorbereitet:
„Aber ich werde Sie im Auge behalten.“ War das jetzt eine Drohung, ein Versprechen oder eine Erpressung?
„Wir wollen ja nicht, dass dir etwas Schlimmes passiert“, fügte er in seinem freundlichen, aber bestimmten Ton hinzu, um die Drohung – ich hatte mich auf die Drohung geeinigt - etwas abzuschwächen.
Nun war ich wirklich in Schwierigkeiten.

Kapitel 9



„ Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Liam mich sofort, als sich die Tür zur Krankenstation hinter mir mit einem lauten Knall schloss. Er stand im Gand ein paar Meter von der Tür entfernt und blickte zu mir rüber.
„Ja, geht schon“, sagte ich matt, sah kurz zu ihm auf, und erschrak.
Seine Nase blutete ziemlich schlimm, sein linkes Auge war blau unterlaufen und auf seinem weißen T- Shirt klebte Blut. So hatte er vorhin noch nicht ausgesehen, da war ich mir sicher, auch wenn meine physische Situation nicht die Beste gewesen war.
„Was hast du nur gemacht?“, rief ich und lief zu ihm. „Wir müssen sofort wieder zurück zur Krankenstation!“
„Nein, schon gut, das geht schon, ich sollte dich besser nach Hause fahren.“, antwortete er müde. Er konnte sein linkes Auge kaum offen halten, so schlimm war es verletzt.
„Wer war das?“, fragte ich bestimmt, so einfach würde ich ihn nicht davon kommen lassen. Bitte lass es nicht Christopher gewesen sein, dachte ich immer wieder.
„Christopher.“, antwortete er seufzend und meine Wunschvorstellung löste sich erneut in Luft auf.
„Und warum hat er das getan?“, fragte ich weiter. Eine dumme Frage, ich kannte die Antwort bereits.
„Weil ich ihn zuerst geschlagen habe.“ Dumme Frage, dumme Antwort.
„Und warum hast du das gemacht“, fragte ich und war das Frage- Antwort- Spiel langsam satt.
Ich fühlte mich wie eine Kindergärtnerin, die versuchte Frieden zwischen ihren Schützlingen zu stiften.
„Das ist meine Sache“, antwortete er nur bestimmt und dann: „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, es war die einzige Art diese Situation ein für alle Male zu klären. “
Er sah mich abwartend an, versuchte meine Gedanken und Gefühle aus in meinem Gesicht, meinen Augen ablesen zu können, aber ich wusste selbst nicht, was ich dachte, oder wie ich fühlte. „Das heißt, aber noch lange nicht, dass du das Gleiche jetzt bei Ashley machen kannst, so sehr sich das manche männliche Wesen auch wünschen würden“, schmunzelte er hinzu, um die Stimmung etwas auf zu lockern.
Ich konnte aber noch nicht einmal schmunzeln, da mir erst jetzt wirklich bewusst wurde, was er für mich getan hatte.
Liam hatte sich wegen mir mit Christopher geschlagen, und obwohl es ganz klar vollkommen falsch war, fühlte ich mich in diesem Moment seltsam behütet und beschützt. Er hatte mich zur Krankenstation gebracht und gewartet bis ich wieder aufwachte. Was konnte man sich mehr von einem echten Freund wünschen?
Ich fiel ihm in die Arme und drückte mich vorsichtig an ihn, um ihn nicht noch weitere Schmerzen zu zufügen. Ich hatte mir vorgestellt, dass diese Umarmung konfliktbeladen und unnatürlich sein würde, dass es für ihn nur eine Wiedergutmachung meinerseits war, aber es war anders. Es fühlte sich natürlich an, leicht, wie atmen.
„Danke“, flüsterte ich, doch er sah mich nur ernst an und sagte: „Er wird dich nie wieder bedrohen.“
„Danke“, flüsterte ich nochmal und ließ mich einfach von ihm halten. Ich wusste nicht, was ich anderes hätte sagen sollen.
Und obwohl die ganze Situation eigentlich nur zum Weinen war und die nächsten Tagen und Wochen der Horror werden würde, fühlte ich mich für einen einzigen Moment einfach nur glücklich.Denn es hatte sich noch nie jemand so für mich eingesetzt wie Liam heute.
Ich konnte einfach nicht mehr wütend auf ihn sein. Es fühlte sich vollkommen falsch an und bereitete mir zudem unglaublich großes schlechtes Gewissen ihn gestern so unfair behandelt zu haben.
„Es tut mir leid“, sagte ich nun endlich.
„Was sollte dir denn leidtun?“, fragte Liam verwirrt.
„Ich hätte dich gestern nicht so von mir wegstoßen sollen, ich hatte nur so ein Déjà-vu Gefühl und konnte einfach nicht anders handeln.“
Meine Worte klingen gestelzt und etwas beschämt, aber ich hoffte er konnte die Ehrlichkeit hinter dieser schlichten Fassade erkennen.
„Schon in Ordnung, hätte ich das alles vorher gewusst, hätte ich nie so gehandelt.“ Seine Worte sollten leicht klingen, sie sollten mich davon abhalten weiter über den genauen Wortlaut nachzudenken. Und sie erfüllten ihren Zweck: Ich wollte nicht weiter nachdenken, zumindest nicht über das Vergangene.
„Bist du sicher, dass du nicht zur Krankenstation willst?“ , fragte ich ihn, während ich versuchte seine Verletzungen unauffällig zu beobachten. Mir fuhr ein Schauer über den Rücken, als ich die nun blutverkrustete Wunde an seinem Arm sah. Mein Kopf drehte sich schon wieder, Blut ließ mich immer etwas schwindelig werden. Liam erwischte mich und meine Beobachtungen und bedeckte seinen Arm schnell mit seiner Hand.
„Nein“, sagte er,. „Das geht schon. Außerdem denke ich nicht, dass wir diesem Sanitäter nicht noch mehr Stoff zum Tratschen geben sollten. Wärst du nicht so vollkommen weiß im Gesicht gewesen, als du umgekippt bist, hätte ich dich dort auch nicht hingebracht.“, sagte er entschuldigend.
Er wusste also auch, dass Pseudo- Sanitäter einfach nur gerne lästerte und nicht wirklich ein hilfsbereiter Arzt war.
„Hey, jeder andere hätte mich da einfach liegen gelassen. Du hast alles richtig gemacht, wirklich.“, sagte ich und versuchte die Worte witzig und sorglos klingen zu lassen, während in meinem Kopf Bilder herum spuckten, wie ich stundenlang auf dem harten Boden des Fahrradplatzes lag und die Leute einfach an mir vorbei gingen oder mit dem Finger auf mich zeigten.
„Nein, das stimmt nicht“, sagte er, doch seine Worte klangen falsch, sie kamen zu schnell und vehement, aber ich wusste, dass er es nur gut meinte.
„Sieht Christopher, denn wenigstens schlimmer aus, als du?“, fragte ich lächelnd und versuchte meine aufkommenden Tränen hinunter zu schlucken und das Thema zu wechseln.
„Auf jeden Fall, ich mache doch keine halben Sachen.“, sagte er grinsend und ich lächelte ihn müde an.
Dann wurde ich auf einmal furchtbar müde. Meine Augenlider senkten sich und ich sackte schlaff neben Liam zusammen, doch er fing mich noch auf, bevor ich auf den Boden fallen konnte.
„Riley? Sollen wir noch einmal zur Krankenstation“, fragte er besorgt.
Ich schüttelte vehement mit dem Kopf und versuchte ihm zu verstehen zu geben, dass das Letzte war, was ich wollte.
„Okay, dann bringe ich dich aber schnell nach Hause.“, sagte er und duldete keine Widerrede. Ich war auch viel zu matt, um ihm irgendwie zu widersprechen. Bevor ich wieder abdriftete, spürte ich noch wie Liam den Arm um mich legte und dann, als er spürte, dass ich mich nicht mehr selbst bewegen konnte, mich zu seinem Auto trug.

Kapitel 10



„Wir sind da“, flüsterte er plötzlich und half mir vorsichtig aus dem Auto. Ich öffnete meine Augen und musste mich erneut an die neue Umgebung zu gewöhnen.
Schnell registrierte ich aus den schemenhaften Umrissen, dass wir bei mir zu Hause waren.
Zusammen gingen wir beziehungsweise Liam – Er trug mich mehr, als dass er mich stützte - die Treppen zu meinem zu Hause hoch.
„Soll ich klingeln, oder hast du einen Schlüssel?“, fragte er. Seine Stimme war leise, um mich nicht zu erschrecken.
Trotzdem brauchte ich ein paar Sekunden, um zu registrieren, dass er mit mir sprach.
In meinem Kopf drehte sich immer noch alles, die Bäume erschienen mir nicht mehr wie ein Standhafter Begleiter, sondern eher wie ein Karussell, immer in Bewegung. Liams Gesicht verschwamm immer wieder zu einem farbenfrohen Klecks, der sich um mich herum bewegte.
„Ist keiner da, mein Schlüssel ist in meiner Tasche“, sagte ich und bevor ich mich bewegen konnte, kramte er bereits in meiner Tasche, die er mir freundlicherweise abgenommen hatte.
Wann das gewesen war, konnte ich mich auch nicht mehr erinnern.
Zeit bedeutete plötzlich nichts mehr für mich. Minuten vergingen, Sekunden und Millisekunden, aber für mich änderte es sich nichts.
Nichts passierte, außer dein Blick sich kurzweilig wieder auf Details fokussieren konnte und dann nur wieder Umrisse wahrnehmen konnte.
Und dann plötzlich, ohne wirklich etwas getan zu haben, bemerkte ich verwirrt eine Veränderung.
„Da ist er ja“, sagte er und steckte den Schlüssel in das Schloss.
Ein paar Sekunden später hatte er mich schon in mein Zimmer taxiert und ich legte mich auf mein Bett.
„Danke“, flüsterte ich noch, während ich vor mich hin döste. Liams Antwort hörte ich nicht mehr, er war schon in der Küche verschwunden und ich hörte ihn Schubladen öffnen und schließen. Nach ein paar Minuten sah ich ihn zur Tür herein kommen, einen dampfenden Tee in der Hand.
Meine Augen weiteten sich als ich einen Blick darauf warf, ich hatte nicht erwartet, dass er sich weiterhin um mich kümmern wollte, dass er wusste, was ich brauchte.
„Danke“, flüsterte ich erneut und trank, weil ich nicht wusste, was ich sonst erwidern sollte.
Es fühlte sich alles so irreal an, obwohl ich es doch gerade bei beinahe vollem Bewusstsein miterlebte.
Trotzdem hätte ich mich durchaus an abstrusere und völlig realitätsferne Träume erinnern können, die deutlich wirklich erschienen.
„Kein Problem, du musst dich nicht immer bedanken.“, entgegnete er mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. „ Soll ich deine Mutter anrufen und ihr sagen, dass du zu Hause bist?“
„Nein brauchst du nicht, sie kommt sowieso erst gegen Abend wieder und ich hoffe, dass es mir bis dahin besser geht.“
Im Klartext: Bitte lass sie nicht früher kommen, denn sonst werde ich nie wieder einen Fuß über die Schwelle setzten geschweige denn mich jemals wieder frei bewegen können.
Er nickte, während er mein Mienenspiel beobachtete. Ich konnte sehen, dass er mit sich rank, ob er mich fragen sollte, was mir durch den Kopf ging.
Dann lehrte er sich wieder eines Besseren und fragte stattdessen: „Willst du etwas essen?“.
„Ja, aber ich mache mir meistens selbst etwas zu essen, weil wir alle zu verschiedenen Zeiten essen.“
Ich machte Anstalten aufzustehen und meinen brummenden Kopf einfach zu ignorieren, da wurde ich sanft wieder auf mein Bett gestoßen.
„Was?“, fragte ich verwirrt, während ich ihn verstimmt ansah. Wieder verschwamm er vor meinen Augen. „Willst du auch etwas?“
Er lächelte mich beinahe grinsend an und antwortete: „Nein, danke, aber du wirst das Essen sicher nicht machen.“
Sein bestimmter Ton ärgerte mich, ich war zwar nicht in bester Verfassung, aber vollkommen hilflos war ich auch nicht.
„Wieso nicht?“, fragte ich patzig. „Zweifelst du etwa an meinen Kochkünsten?“
„Ich glaube auf diese Frage gibt es keine richtige Antwort.“, sagte er grinsend, während er mir wieder ins Gesicht sah.
Seine Augen fixieren Meine und lenkten mich einen Moment lang von der patzigen Antwort ab, die mir auf den Lippen lag. Es war nicht so, dass ich von seiner Wunde am Auge so gebannt war, es lag am Ausdruck seiner Augen. Leicht amüsiert und trotzdem warm.
Braune Augen waren warm, da gab es keine Ausrede. Es lag in ihrer Natur warm und freundlich zu wirken, aber Liams Augen hatten außerdem einen seltsamen Glanz, der diese Wirkung noch verdoppelte.
Ich wünschte, ich könnte ihm einfach einmal direkt in die Augen sehen, sie beobachten, ohne Angst zu haben, dass er dasselbe auch bei meinen Augen tun würde.
„Was ist dann bitte dein Problem?“, fragte ich gereizt, weil mein Kopf unheimlich weh tat und Liams Blick mich aus dem Konzept gebracht hatte.
„Ich habe kein Problem, aber du, du kannst dich doch nicht einmal richtig sitzen, ohne das dein Kopf sich nicht dreht, oder?“, fragte er besserwisserisch, aber Recht hatte er natürlich.
„Ja schon“, gab ich zu, versuchte aber sofort wieder in alte Redensmuster zurück zu fallen. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Eine Pizza bestellen?“
„Nein“, sagte er lachend .„Ich koche.“
Nun war es an mir zu lachen, weil die Vorstellung das Liam kochen würde, so abwegig war.
„Ich kann kochen und das werde ich dir auch beweisen.“, sagte er lächelnd und vollkommen selbstsicher, während er aus meinem Zimmer ging und sich an die Arbeit machte.
Ich hoffte, dass noch etwas von unserer Küche übrig bleiben würde, wenn er fertig war.

Kapitel 11



Nach etwa 20 Minuten kam Liam aus der Küche und trug ein Tablett in der Hand.
Währenddessen hatte ich es geschafft meine Augen wenige Sekunden lang offen zu lassen, um kurz mitzubekommen, dass Liam und die Küche noch am Leben war und kein Rauch oder schlechter Geruch aus der Küche heraustrat.
Ich linste auf das Essen auf dem Tablett, von dem ich nicht wusste, dass es überhaupt existierte und mein Mund klappte überrascht auf. Liam hatte Salat mit frischen Tomaten und Gurken gemacht und Bratkartoffeln.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen mich schon zu freuen, wenn Liam das Besteck gefunden hatte, aber das überraschte mich wirklich. Nicht das ich seine Fähigkeiten in Frage stellen wollte, aber es war trotzdem merkwürdig.
Irgendwie irreal.
„Soll ich dich etwa füttern?“, fragte Liam ironisch und zeigte auf meinen vor Überraschung offenen Mund. Augenblicklich schloss ich ihn und bedachte Liam mit einem bösen Blick.
Dieser war jedoch vollkommen unbeeindruckt von meinem langerprobten „bösen Blick“, sondern stellte mir lächelnd das Tablett ans Bett und drückte mir das Besteck in die Hand.
„Möchtest du auch etwas?“ fragte ich schuldbewusst, er sollte schließlich nicht verhungern.
Ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Ich hatte keine männlichen Freunde und selbst wenn es so wäre, Liam passte nicht in das Schema F.
Einerseits eine gute Sache, weil er sich nicht um Dinge wie Beliebtheit und Anpassung scherte, aber andererseits auch so unbekannt, dass es mich unruhig werden ließ.
Ich konnte mir ihn einfach schwer neben anderen Jungs stehen sehen, weil er gar nicht zu ihnen passte.
„Nein, danke, iss du ruhig.“
Hungrig fing ich an zu essen, und ich musste wirklich sagen, dass das Essen fast noch besser schmeckte, als es aussah.
Um ehrlich zu sein, hatte ich in den letzten Tagen das Essen etwas vernachlässigt, weil ich nebenbei noch tausend andere Dinge tat und deshalb mir meistens immer nur ein Brot schmierte.
„Warum bist du so überrascht über die Tatsache, dass ich kochen kann?“ , fragte Liam mich neugierig, während er sich vorsichtig zu mir aufs Bett saß. Sein Blick lag standhaft auf mir, er wendete sich nicht von mir ab, um sich umzusehen, Ablenkung zu suchen.
Er schien wirklich interessiert zu sein.
„Na ja, du bist achtzehn Jahre alt und männlich“, sagte ich, als ob diese Überlegung und die darauffolgende Schlussfolgerung vollkommen logisch wären.
Für mich waren sie das auch, ich hatte es nie in Frage gestellt. Ich kannte es auch nicht anders.
„Und mein Alter und mein Geschlecht sollen mich zu einem schlechten Koch machen?“, erwiderte er mit einem leisen Lächeln auf den Lippen.
„Mal abgesehen davon bin ich schon 19.“, fügte er noch schmunzelnd hinzu.
Sein Alter lenkte mich von der Tatsache ab, dass er sich über mich lustig machte.
Neunzehn. Neunzehn.
Jetzt fiel es mir ein, er gehörte zum letzten Jahrgang der das Abi nach 13 Jahren machte.
Es war also vollkommen natürlich, dass er schon so alt war.
Trotzdem war es komisch, er war so…erwachsen, und eigentlich sollte mich das in gewisser Weise beunruhigen, was es auch teilweise tat, doch irgendwie erleichterte mich dieses Wissen nicht, weil mir bewusste wurde, dass hier eigentlich ein erwachsener Mann vor mir saß und kein Jugendlicher mehr.
„Nein“, sagte ich schuldbewusst, da ich schon wieder von dem Gespräch abgedriftet war, wie so oft und gab ihm Recht.
Eine Sache, die ich nicht besonders oft tat. Es überraschte mich selber vollkommen.
„Ich hätte vielleicht doch nicht so schnell urteilen sollen.“
„Hey, ist ja nicht so schlimm“, sagte er, während er kurz auflachte. Es war ein unbesorgtes, sonniges Lachen.
„Manchmal erkennt man, dass man manche Menschen, doch nicht so gut kennt, wie man dachte.“
„Und manchmal sind das gute und manchmal auch schlechte Eigenschaften, die man dann erkennt“, antwortete ich sofort und ohne mir Gedanken darüber zu machen, wie meine Worte von meinem Gegenüber aufgenommen worden. So ehrlich und im Effekt handelte ich nicht oft.
„Wenn du ehrlich bist, wusstest du doch die ganze Zeit, dass Ashley keine richtige Freundin ist“, sagte Liam und erriet meine Gedanken.
Ich sah ihn kurz verstohlen an und schüttelte dann leicht den Kopf. Warum konnte er so gut in meinem Gesicht lesen und Zusammenhänge so schnell logisch zusammensetzen, sodass sie einen Sinn ergaben?
„Ja ich weiß, aber irgendwie dachte ich sie würde sich ändern.“, sagte ich. „Ich weiß übrigens, wie naiv das klingt.“
„Ich würde nicht sagen, dass das naiv ist. Du willst in allen Menschen nur das Gute sehen, was kann an dieser Eigenschaft denn schlecht sein?“, antwortete er mir und ich fühlte mich sofort besser. Als ob meine Worte wirklich jemandem etwas bedeuten würden.
„Viel“, antwortete ich. „Man überidealisiert die Menschen, man denkt sie könnten sich ändern, obwohl sie das nicht tun, und lässt sich von Anderen nur ausnutzen.“, listete ich alle meine Schwächen der Reihe nach auf. Wenn es darum ging, war ich unschlagbar.
„Ich bin das so leid!“, rief ich plötzlich aus.
Es war kein verzweifelter Ausruf, ich hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, aber ich war auch wütend. Manchmal konnte selbst ich meine Gefühle nicht wirklich charakterisieren.
„Ich will nicht immer die Dumme sein, die sich von allen Anderen umher schubsen lässt, nur weil ich nicht hübsch oder klug genug bin!“
Mein Gerechtigkeitssinn war wieder mit mir durchgegangen, ich hatte Liam schon viel zu viel erzählt, war mein erster Gedanke.
Einem normalen Menschen hätte ich auch unter solchen Umständen nie so etwas erzählt. Ich schämte mich sofort und senkte meinen Blick.
Liam sah mich einen Moment lang unentschlossen an. Sein Blick spiegelte Überraschung und Verständnis zugleich, aber auch etwas anderes, dass ich nicht beschreiben konnte.
Es sah fast so aus, als ob er mit sich wanken würden, doch dann umschloss er bestimmt meine Hände mit Seinen, während und sagte:
"Sieh mich an Riley. Du bist nicht dumm, naiv oder hässlich. Du bist alles andere.
Gutmütig, stark, wunderschön und unheimlich klug, lass dir diese Dinge nicht von einem so schlechten Menschen nehmen, denn das ist dieser Mensch einfach nicht wert.“
Ich blickte nun endlich auf und versuchte ihm ins Gesicht zu sehen, um in seinen Augen erkennen zu können, dass er die Wahrheit sagte, aber ich konnte es nicht.
Ich hatte Angst etwas Unechtes dort zu sehen, etwas was mich von dem Glauben in seine Worte ablenken würde.
Seine Worte klagen so ehrlich, so sanft, dass ich alle Angst und alle Hemmungen vergaß.
Ich wusste nicht wieso ich es tat, denn in diesem Moment handelte ich nicht mit dem Kopf, dass konnte ich einfach nicht, aber es war auch nicht mein Gefühl, dass mich dazu zwang.
Es erschien mir wie eine Notwendigkeit, ein Drang mein Gesicht Seinem immer weiter zu nähern. Liam hatte gesagt, ich sei wunderschön.
Nicht hübsch oder schön.
Außer meiner Mutter hatte niemals jemand so etwas zu mir gesagt, und jetzt zu erleben wie Liam mir diese warmen Worte zuflüsterte, fühlte sich schön an.
Wunderschön.
Es kam mir fast so vor, als ob eine Stimme in mir sagen würde:
„Riley, das ist der richtige Augenblick! Fühl dich doch für einen Moment geborgen, auch wenn es nur für einen kleinen Moment ist."

Kapitel 12



Kurz bevor meine Lippen, die Seinen berührte wartete ich.
Ich wartete, um diesen wunderschönen Moment der Vorfreude zu verlängern, die Spannung noch für einen Moment zu halten, das Adrenalin durch meinen Körper stoßen zu fühlen.
Adrenalin, das ich noch nie mit einer solchen Wucht durch meinen Körper gehen, gefühlt hatte. Eine Spannung, die meine Nervenenden immer weiter unter Strom setzen, sodass ich nicht hatte daran glauben können, dass sie jemals wieder zu Ruhe kommen würden.
Ich war noch vollkommen ungeküsst, wie man es so schon ausdrückt und, dass ich jetzt die Initiative ergriff, kam mir wie ein schlechter Scherz vor.Das war er auch.
Man sprach doch immer in Bücher davon, dass wenn die beiden Hauptcharaktere viele Gefahren miteinander durchgestanden hatten, sich aufgrund ihrer inneren Leere und dem Wunsch nach einer Berührung, sich aneinanderdrückten und küssten. Nur um die Berührung eines anderen Menschen auf ihrer Haut, ihrem Körper zu spüren.
Aber dieses Prinzip schien in der Wirklichkeit nicht zu funktionieren. Während ich seinen Atem auf meiner Haut spürte, zog er sich von mir zurück und drückte meine Hände noch fester.
„Nicht, Riley, du willst das nicht“, flüsterte er, während ich mich in diesem Moment so gekränkt, so zurückgewiesen und allein fühlte. Ich versuchte meine Hand aus seiner zu lösen, da sie wieder begann unkontrolliert zu zittern, aber er hielt sie weiterhin fest.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Aber hier waren wir nun.
Ich schluckte alle aufkommenden Tränen hinunter und versuchte wenigstens ein bisschen meiner Würde zu behalten. Ich dachte, dass ich mich seit dem Treffen mit Liam im Wald oder dem Gespräch mit Pseudo – Sanitäter nie wieder so entblößt, so gedemütigt fühlen würde, aber hier war ich. Ein kleines, dummes Mädchen, dass an Geschehnisse glaubt, die nur in Büchern passieren konnten.
Was sollte ich nur tun?
Liam nahm mir die Entscheidung ab, indem er sagte:
„Riley, bitte ich weiß, dass du dich unglaublich schlecht fühlst. Aber ich kann das nicht. Nicht so. Alles, was ich dir jemals gesagt habe ist wahr. Alles. Dass ich dich für intelligent, schön und gutmütig halte. Aber das ist kein Grund dafür, dass du mich liebst, oder mich küssen willst. Du bist mir dankbar, was ich verstehe, obwohl man einem Menschen wie dir, diese Worte ständig sagen könnte, weil sie wahr sind. Aber ich will keine Dankbarkeit."
Was sollte ich jetzt sagen? Am besten nichts.
Er fing schon wieder mit seiner Ich- bin –dein - großer- Bruder- Tour an und nichts und niemand konnte ihn davon überzeugen, dass er falsch lag. Ich war es auch leid, ihm zu zeigen, dass ich ihn wollte, ihn brauchte.
Wenn er mich nicht wollte, dann sollte er mir das eben sagen. Ich wollte ihm genau das sagen, was ich mir gerade so gut im Kopf zusammengelegt hatte, aber ich konnte nicht.
Es kam kein einziger Ton aus meinem Mund hinaus. Ich wusste nur, wie nah meine Tränen waren und wollte Liam so schnell wie möglich loswerden, denn lange hielt ich es nicht mehr aus. Ich sah auf die Uhr, um mich irgendwie abzulenken und erkannte, dass meine Schwester gleich von meiner Tante nach Hause gebracht wurde.
Ich musste ihn sofort loswerden.
„Du solltest jetzt nach Hause gehen“, sagte ich leise und benutzte genau die gleichen Worte, die er vor etwa einem Tag benutzt hatte. Meine Stimme klang ganz rau, weil ich sie so lange nicht mehr benutzt hatte.
„Riley“, sagte er und versuchte mich noch zu überreden zu bleiben. Ich sah ihn an, sah in sein zerschundenes Gesicht, den Arm, den er sich wegen mir aufgeschlagen hatte. War das alles einfach nur eine Tat aus Mitgefühl gewesen? Mein Blick fuhr weiter über sein T – Shirt, das nun nicht mehr weiß war, ich wollte ihm immer noch helfen, auch jetzt, aber ich konnte es nicht. Dafür tat seine Abweisung gerade viel zu sehr weh, auch wenn mir nicht ganz bewusst war warum. Ich hatte einfach nur so darauf gehofft, gebaut, dass er wirklich mit mir befreundet sein wollte, aber sein Mitleid war immer größer gewesen, als das Verlangen mich besser kennen zu lernen. Mir war bewusst, dass dieser Nicht – Kuss, diese nicht vollzogene Berührung, ein Akt der Verzweiflung war, mich aus meiner Einsamkeit zu lösen, aber das Gefühl, dass ich jetzt spürte, war noch viel schlimmer, als die Leere in meinem Herzen. Ich löste meine Hand bestimmt aus Liams, er hielt mich nun nicht mehr zurück, da auch er verstand, dass er zumindest in diesem Punkt verlieren würde. Wenigstens ein kleiner Erfolg.
„Meine Schwester kommt gleich nach Hause und ich habe echt keine Lust noch mehr erklären zu müssen, bitte geh einfach.“, sagte ich.
Liam gab sich geschlagen, nickte und ging.
Ich drehte mich von ihm weg und wartete bis ich das Schließen der Tür hörte und gab mich dann meinem Elend hin.

Kapitel 13


Ich kuschelte mich tiefer in meine Kissen, bettete die Bettdecke über meinen Körper und fing bitterlich an zu weinen. Meine Tränen flossen in Strömen und jeglicher Versuch sie zu unterbinden, scheiterte kläglich.
Ich wollte und konnte einfach nicht mehr. All diese Rückschläge machten mich krank. Ich fühlte mich, wie damals als mein Vater uns verlassen hatte.
Ich erinnerte mich noch genau daran, dass ich eines Tages aufgewacht war und in das Schlafzimmer meiner Eltern gelaufen war, weil ich ein Wimmern verhört hatte. Und dort saß meine Mutter auf der Bettkante, ein zerfranstes Taschentuch in den Händen, und weinte. Ihre Augen waren ganz rot vom vielen Weinen. Ich setzte mich zu ihr, legte den Arm um sie. Ich wusste noch ganz genau, was sie dann geflüstert hatte. Ihre Stimme, der Klang, die Betonung der Worte, alles.
Sie sagte: „Er ist weg."
Das war alles.
Es brach meiner Mutter das Herz und meins gleich mit. Seitdem waren wir beide und meine Schwester unzertrennlich, im Schmerz verbunden. Wenn ich zurückdachte, sah ich ein, dass die Beziehung zwischen meiner Mutter, Mia und mir niemals so stark und innig geworden wäre, wenn mein Vater noch bei uns wäre, andererseits war diese Verbindung zumindest für mich überlebenswichtig. Ich brauchte sie wie den Sauerstoff, denn ich jeden Tag ein – und ausatmete. Und das war für keine von uns Dreien richtig, denn wir mussten auch an das Leben denken, dass kommen würde, wenn Mia und ich erwachsen wurden, was zumindest für mich nicht allzu fern war. Manchmal wusste ich nicht, ob ich froh sein sollte, dass Mia ihren Vater nie richtig kennen gelernt hatte oder nicht.
So hatte sie sich den Schmerz erspart an einen Mann zu denken der früher ihr Vater gewesen war, den sie geliebt hatte und der nun der herzlose Mann war, dem seine Familie einfach nicht genug war.
Aber eins war sicher: Sie hatte ein Leben ohne Vater und ich wusste nicht, welche Folgen, das haben könnte, welche Folgen das bei uns Beiden haben könnte.
Ich wusste noch, dass ich meinen Vater anschreien wollte, ihm an den Kopf werfen wollte, was er sich bei all diesen Dingen gedacht hatte, aber ich konnte es nicht, es wäre sowieso sinnlos gewesen. Er hätte sie sich sowieso nicht angehört.
Genau diese Hilfslosigkeit flammte nun wieder in mir auf, nur war ich mittlerweile drei Jahre älter und sollte vernünftiger geworden sein. Und eigentlich sollte mich diese Situation auch nicht so aus der Bahn werfen.
Meine Gedanken schweiften wieder zu Liam, wie er mir gesagt hatte, dass ich schön sein. Ich hatte ihm geglaubt, ich hattee seine Worten geglaubt und seinen Gesten. All seinen Lügen.
Er hatte mich gerettet, mich nach Hause gebracht, für mich gekocht und mich zum Lachen gebracht.
Ich dachte, ich weiß eigentlich gar nicht, was ich dachte. Außer vielleicht, dass er mich lieben würde oder zumindest sich zu mir angezogen fühlte.
Vielleicht auch das seine Worte irgendetwas zu bedeuten haben. Aber schon wieder war ich so dumm. Man sollte denken ich hätte aus der letzten Situation gelernt, aber Fehlanzeige.
Und ich wusste noch nicht einmal, ob er Recht hatte. War ich ihm wirklich nur dankbar, oder war da mehr?
„Riley, halt einfach die Klappe“, sagte ich zu mir. „Du bist so dumm, glaubst du wirklich ein Neunzehnjähriger, gutaussehender und netter Junge verliebt sich in eine dumme, hässliche, psychisch gestörte Sechzehnjährige? Wohl kaum.“
Mein Blick fiel auf das Handy auf meinem Nachtisch, die Anzeige zeigte an, dass es bald 13 Uhr sein würde. Mia würde gleich kommen!
Schnell rappelte ich mich auf, stand vom Bett auf und ging ins Bad. Ich schaltete das Licht an und erschrak, als ich mich im Spiegel betrachtete:
Meine Augen waren verquillt und unter ihnen waren tiefe Augenringe. Meine Wimperntusche war quer über das Gesicht verlaufen. Ich betrachtete die senkrechten schwarzen Schlieren, die von meinen Augen bis zu meinem Mund liefen, überrascht.
Jeder Visagist hätte mich um diese Schlieren beneidet, sie sahen genauso theatralisch und überspitzt aus, wie in all den Filmen.
Meine grünen Augen blickten mich traurig an, der Glanz, den sie sonst hatten, war ermattet, sie wirkten leblos. Ich erinnerte mich daran, dass meine Mutter immer gesagt hatte, wenn ich traurig war, dass meine Augen das Schönste an mir waren, weil sie immer so hell strahlten. Und manchmal hatte ich dieses Glitzern auch gesehen und hatte mich diesen einen Moment lang wirklich schöner gefühlt.
Dafür ging es mir jetzt umso schlechter, wenn ich jetzt in diese leere, beinahe leblosen Augen sah. Alles Glück, was ich irgendwann empfunden hatte, kam nun in dreifacher Ausführung des Unglücks zurück.
Mein weiteres Gesicht war von ungesunden roten Flecken übersät, meine Augenbrauen waren zusammengekniffen und die Haut dazwischen bildete Grübchen und einige Sorgenfalten.
Kurz gesagt, ich sah schrecklich aus.
Ich brach erneut in Tränen auf und sah, wie das Gesicht vor mir sich schmerzhaft verzog, es bildete eine hässliche Grimasse. Ich wollte diesem Mädchen nicht mehr in die Augen sehen müssen, diesem Mädchen, das so gar nichts Schönes, Bewundernswertes an sich. Ein Mädchen, das es nicht verdient hatte geliebt zu werden.
Ich.
Wieder flammte eine mir unergründlicher Wut in mir auf. Der Drang die Menschen genauso zu verletzen, wie sie es mit mir getan hatten wurde von Sekunde zu Sekunde größer.
Das Verlangen einfach wütend und fies zu sein, auf Gefühlen zu trampeln. Ich wollte stark und gemein sein, und niemanden zeigen, wer ich wirklich bin und wie ich wirklich fühlte.
So wie ich es die letzen Jahre über getan hatte. Ich war nicht immer glücklich gewesen, dieses Mädchen zu sein, aber rückblickend war sie so viel stärker und tougher, als ich es je sein werde.
Sie hätte sich nicht einfach von den Worten eines Jungen so aus der Bahn werfen lassen. Langsam übernahm meine Wut mein Denken vollkommen ein, sie zu unterbinden war mir nicht mehr möglich. Ich wollte nicht mehr an Liam denken, oder an seine Worte.
Ich wollte einfach nur an mich und meine Familie denken und an sonst niemanden. Ich wollte mir einreden, dass ich wütend war, sonst nichts.
Wut war so ein schönes Gefühl. Eine Emotion, die einem im Affekt handeln ließ ohne weiter darüber nachzudenken. Es war so einfach nur wütend zu sein, sonst nichts.
Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich einfach nur verletzt war.
Nicht nur verletzt, sondern auch voller Enttäuschung über Liams Reaktion. Ich hatte ihn einfach falsch eingeschätzt. Ich hatte ihn immer für nobel, einfühlsam und gutmütig gehalten, aber im Endeffekt war er nur genauso mitleidig und abweisend wie all die anderen Menschen.
Wenn ich ihm wirklich so wichtig war, wie er es mir immer sagte, warum ließ er dann nicht einfach zu, dass ich ihn küsste?
Waren seine Fürsorge und Rücksicht mir gegenüber nur gespielt?
Wollte er mich einfach nur nicht verletzen, in dem er mir klipp und klar sagte, dass er nichts für mich empfand? Oder wollte er sich erst um mich Sorgen, um mir dann zu sagen, dass alles nur ein Scherz war:
Dass seine Worten und Gesten nichts zu bedeuten hatten, außer dass er sich einen Spaß aus meiner Naivität machen wollte?
Es stauten sich immer mehr Zweifel in mir an, die alles in Frage stellten, was ich je dachte gewusst zu haben.
Ich wollte nicht so an Liam denken, selbst jetzt nicht nachdem er mich allein und verletzt zurück gelassen hatte.
Trotzdem nahm ich mir vor ihm genauso zu begegnen, wie ich es mir gerade eben ausgemalt habe. Ich konnte das.
Auch wenn das hieß, dass ich meine Tränen wieder hinunterschlucken musste, bis ich zu Hause war. Aber dieses Risiko war ich bereit einzugehen, denn so wie jetzt wollte ich mich nie wieder fühlen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.01.2012

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