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Wieso ich das getan hatte?
Ich sah keinen Ausweg mehr. Wozu leben, wenn deine Liebe nicht erwidert wird?
Wozu leben, wenn du nach einem langen Tag zu Hause ankommst und alles was dich erwartet, sind hasserfüllte Gesichter und aggressive Stimmen?
Wenn du einfach keinen Sinn mehr darin siehst, deine Zeit auf der Erde abzusitzen und danach zu verschwinden, als hätte es dich nie gegeben.
Wenn ich jetzt von hier oben auf alles hinunterblicke, schäme ich mich. Wieso war ich nur so schwach?
Ich habe die Augen zu sehr verschlossen vor den schönen Dingen, die das Leben zu bieten hat. All die Leute, dort an meinem Grab. Sie sind gekommen, um an mich zu denken. Sie vermissen mich, auch jetzt noch, ein Jahr danach. Heute ist mein Geburtstag. Auch der Geburtstag meiner besten Freundin. Doch sie feiert nicht, auch sie steht an meinem Grab. Sogar Mark ist da. Mark, der mich nicht liebte. Mein Gott, wie dumm ich war. Jetzt weiß ich, dass er zu den Menschen gehörte, die am meisten um mich trauerten. Er hatte mich geliebt, wie ein Mensch nur lieben kann. Auch jetzt stand er dort, vor Schmerzen gekrümmt. Dann plötzlich fiel mir auf, wer fehlte. Ich blickte zu unserem Haus.
Mein Blick streift von Zimmer zu Zimmer, bis er schließlich im Badezimmer hängen bleibt.
Dort sitzt sie. Hält ein Messer in ihrer Hand, jenes Messer, mit dem Vater immer die Knochen der Weihnachtsgans zerschnitt, weil Mutter sich davor ekelte. Ich weiß, was nun geschieht. Ich habe es selbst erlebt, vor einem Jahr. Ich kann ihre Gedanken lesen, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Diese Überzeugung, dass es das absolut richtige ist, es keinen anderen Ausweg gibt. Und dann rast nur noch alles.
Du kannst keinen klaren Gedanken mehr fassen, es gibt nur noch das Messer und dich. Du setzt es auf die Haut, spürst den kalten Stahl auf dem dünnen Arm.
„NEIN!“, schreie ich von oben zu ihr, „HÖR AUF DAMIT, ES WIRD NICHT BESSER!“
Doch sie hört mich nicht. Ich schreie und schreie, doch sie hört mich nicht. Wie denn auch, ich bin doch nur eine Seele! Ich will sie davon abhalten, will ihr das Messer aus der Hand schlagen, bei ihr sein. Ich will ihr sagen, dass danach alles nur noch schlimmer wird, dort oben, wo du über alles klar nachdenken kannst, wo dir bewusst wird, wie du wieder hättest glücklich werden können.
Doch die Klinge streift schon die Haut. Durchbohrt sie, das Blut quillt hervor und sie zieht das Messer weiter ihren Unterarm herab. Das Blut schießt nur so hervor, verwandelt das Badezimmer in einen dunkelroten See, meine Mutter verliert das Bewusstsein und schwimmt leise und sachte dem Tod entgegen.

Und alles wegen mir.

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Tag der Veröffentlichung: 06.10.2009

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