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In einem düsteren Wald, an der Spitze eines Berges, der aussah wie eine riesige Muschel, stand ein Schloss. Seit Jahrzehnten war niemand mehr hier gewesen, nicht, weil es verboten gewesen wäre, oder sich die Leute im Dorf schreckliche Geschichten erzählten, sondern weil irgendetwas die Menschen davon abhielt, dorthin zu gehen. Vielleicht war es der Wind, der seltsamerweise an genau dieser Stelle immer besonders zu toben schien, vielleicht aber auch die Bäume und Sträucher, die so dicht waren, dass jedes Durchkommen fast unmöglich war, aber trotzdem tot wirkten.
Aber nichts von alldem war der tatsächliche Grund, wieso niemand dort hinkam. Eine überirdische Macht schien die Leute davon abzuhalten. Wie ein unsichtbares Band, dass sich um das Schloss spannte, und jeden abprallen lies, der ihm zu nah kam. Und das war nicht einmal sehr weit vom wahren Geheimnis von Burg Groll entfernt.

Es war ein Samstagabend. Nicht irgendein Samstagabend, es war Wintersonnwende, der kürzeste Tag im Jahr, und noch dazu Vollmond. Einen solchen Tag gab es nur einmal in jedem Jahrhundert, und heute war er da. Gräfin Adelheid von Groll befand sich in ihrem Gemach, umgeben von drei eigens für sie engagierten Kammerzofen, die nur noch eine halbe Stunde Zeit hatten, ihre Herrin für den großen Ball fertig zu machen. Sie musste einfach umwerfend aussehen, denn auch Fürst Ludwig von Zollen sollte den Ball besuchen. Seit ihr Ehemann vor einigen Jahren verstorben war, lebte die schöne Gräfin alleine mit ihren zweihundertfünfundneunzig Bediensteten auf der Burg. Zweihundertfünfundneunzig waren selbstverständlich viel zu viele Angestellte für die Burg, die zwar sehr groß war, aber nur wenig Räume wurden von Menschen genutzt. Die restlichen Räume waren schon Generationen vor der Gräfin von Mäusen, Spinnen, Fledermäusen und sonstigen Untermietern in Beschlag genommen worden. Also verbrachteten die Bediensteten den ganzen Tag damit, Karten spielend in ihrem eigenen Saal zu sitzen oder mit den edlen Pferden des hofeigenen Reitstalls den weitläufigen Wald zu erkunden. Nur an besagtem Samstagabend hatte jeder Gaukler und jede Magd alle Hände voll zu tun. Alles musste hergerichtet werden, für dieses großartige Fest, für das Fürsten, Gräfe und sogar ein König aus dem ganzen Land anreisen sollten. Alle waren von ganzem Herzen bei der Sache. Alle, außer einer: Gräfin Adelheid von Groll.

Von außen sah die Burg aus, wie jede andere in der Gegend, zerstört von unzähligen Kämpfen, und irgendwann als Ruine von deren Besitzern zurückgelassen. Außerdem war sie, durch Erdrutsche des Berges, auf der linken Seite etwas hinuntergerutscht und seitdem schief. Schon seit langem versuchten Beführworter der modernen Technik, endlich die Genehmigung für den Abriss der Burg zu bekommen, um dort einen neuen Energiepark aufzubauen, doch immer wenn Begutachter dorthin kamen, kehrten sie mit den fadenscheinigsten Ausreden zurück, wieso es unmöglich sei, die Burg abzureißen. Jedes Kind wusste, dass die Begründung unmöglich der Wahrheit entsprechen konnte, doch es war nun einmal nicht möglich, etwas zu tun was die Begutachter untersagt hatten. Also stand die Ruine dort unbeachtet im Wald, und inzwischen, dreißig Jahre nach dem letzten Besuch eines Spezialisten, war sie langsam in Vergessenheit geraten. Doch der Schein trügte.

Die Gräfin war traurig. Sie wusste, dass es ihre Pflicht war, Fürst Ludwig von Zollen zu heiraten. Alleine wegen ihrem Volk. Doch sie liebte ihn nicht. Und sie würde ihn nie lieben. Und trotzdem stand sie noch immer vor ihrem Spiegel, um sich noch schöner als sie ohnehin schon war, zu machen, für einen Mann, der wohl nicht den blassesten Schimmer hatte, wie sie überhaupt aussah, weil er nur an ihrem Geld interessiert war. Sie durfte nicht daran denken, das wusste sie, denn das gehörte sich nicht. Man hatte es ihr schon als kleines Mädchen beigebracht: Du lebst für dein Volk. Du heiratest den Mann, der am besten für dein Volk ist. Und du tust, was man von dir verlangt.
Sie wusste das. Und trotzdem widerstrebte es ihr. Sie wusste, wenn man erfahren würde, was in ihrem Kopf vorging, könnte sie sich gleich vom höchsten der Burgtürme stürzen. Aber es wusste niemand. Außer einem.

Denn innerhalb des Bandes, das sich wie ein Zauberbann um das Schloss legte, tobte es nur so vor Leben. Es befand sich eine andere Welt darin. Eine Welt, die Jahrhunderte davor existierte. Und heute. Inmitten des Waldes. Denn was von außen aussah wie eine einzige Ruine, waren, sobald man das unmittelbare Gebiet betrat, Ländereien, soweit das Auge reicht. Und inmitten dieser Ländereien stand die besagte Ruine. Die, wenn man sie betrat, so ganz und garnicht einer zerfallenen Ruine glich.

Ihr Gaukler Caspar lebte auf der Burg, solange er denken konnte. Seine Mutter, die Magd Agnes, hatte ihn geboren, in einer von schrecklichen Unwettern heimgesuchten Nacht. Ihre Freundin Eleonore, ebenfalls Magd auf der Burg, sagte danach sogar, in dem Augenblick, als Caspar das Licht der Welt erblickte, sei ein Blitz auf die Erde gestoßen, der einem riesigen Bär das Leben raubte. Agnes hatte es sehr schwer, es war ihr selbstverständlich nicht erlaubt, ein Kind zur Welt zu bringen, sodass sie es verstecken musste. Und so war Caspars Kindheit davon geprägt, sich in verstaubten Schränken und auf verwesten Holzböden zu verstecken. Agnes klaute die Essensreste des Grafen um ihn zu ernähren und hatte kaum Zeit für ihn, da damals nur zwei Mägde angestellt waren, die somit immer genug zu tun hatten und froh sein konnten, wenn sie fünf Stunden Schlaf hatten. Aber die Mühe hatte sich gelohnt, als Caspar zwölf Jahre alt war, feierte der Graf Hochzeit und selbstverständlich kamen zu diesem Anlass hunderte von Adeligen. Auch die Tochter von Gräfin Mechthild von Groll besuchte die Burg. Der Kleinen war es jedoch nach kurzer Zeit so langweilig, dass sie beschloss, die Burg zu erkunden. Sie wusste, dass sie eigentlich bei den Erwachsenen bleiben müsste, doch sie stellte fest, dass niemand von ihrer Abwesenheit Notiz nehmen würde. Also schlich sie sich aus dem großen Festsaal und stieg die knarrenden Stufen hinauf. Sie fand eine Bibliothek, die wohl seit Jahren nicht mehr benutzt worden war, und betrachtete fasziniert die alten, modrig riechenden Bücher. Plötzlich lies sie erschrocken das Buch fallen. Ein winziger, abgemagerter Junge stand vor ihr, die Augen vor Schreck geweitet. Als sie bemerkten, wie merkwürdig die Situation war, mussten beide lachen.
Er stellte sich ihr als Caspar vor und erzählte ihr von seinem Leben. Das Mädchen mit den leicht rötlichen Locken, die ihr locker über die Schultern fielen, war erstaunt von seiner Geschichte. Nie hatte sie sich Gedanken über das Leben außerhalb ihres Schlosses gemacht. Die beiden wurden an diesem Abend Freunde, doch sahen sich danach lange Zeit nicht mehr. Genauer gesagt zwanzig Jahre lang.

Gräfin Adelheid von Groll befand sich auf dem Weg in den großen Ballsaal, nachdem ihr eine ihrer Zofen eine letztes Mal den perfekten Sitz ihres Kleides bestätigte. Sie wollte ein letztes Mal alles kontrollieren, auch wenn sie ihrem Personal voll und ganz vertraute. In diesem Augenblick, als eine der Treppenstufen knarrte, musste sie sich an diesen Abend erinnern. Der Abend, der ihr ihre ganze Kindheit lang nicht aus dem Kopf ging, egal wie sehr sie sich auch anstrengte und versuchte, ihre Gedanken auf ihre Zukunft zu lenken. Doch schon Sekunden später lies sie wieder traurig den Kopf sinken. Es hatte keinen Sinn, einem Jungen hinterherzutrauern, den sie vor zwanzig Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Also ging sie herunter, befand alle Säle für gut und wechselte noch ein wenige Worte mit dem einem Knecht. Da war auch schon der schwere Türklopfer zu hören. Sie eilte zur Tür und empfang die ersten Gäste, einen befreundeten Fürsten und seine Familie. Nach und nach trudelten alle Gäste ein. Sie alle genossen den Abend, das gute Essen, das hervorragende Programm, für dass die Gräfin eigens einige Gaukler engagiert hatte. Dann plötzlich, als die Gäste langsam vom köstlichen Wein angeheitert waren, erhob sich Fürst Ludwig. Er nahm seine Gabel und klopfte dreimal gegen sein edles Weinglas. Augenblicklich machte sich Stille im riesigen Saal breit. Adelheid bekam es mit der Angst zu tun. Sie wusste, was jetzt passieren würde. Und es geschah. Ludwig bat sie darum, aufzustehen. „Meine verehrte Gräfin Adelheid von Groll.“ Er nahm ihre Hand und küsste sie. „Ich könnte mir keine passenderere Gelegenheit vorstellen, Sie das zu fragen: Wollen Sie meine Frau werden?“ Adelheids Herz klopfte, als würde es ihr aus der Brust springen wollen. „Helft mir doch, oh bitte helft mir doch“, dachte sie sich. Als nichts passierte, schlug sie ergeben die Augen nieder und öffnete, den Blick zum Boden, ihren Mund um ihr Einverständis zu geben, als sie plötzlich das Geräusch eines umfallenden Stuhles hörte. Sie blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Und dachte, sie sehe nicht recht. „Caspar?“, flüsterte sie leise, aus Angst, jemand könne sie hören und für geisteskrank erklären. Doch der junge Mann mit dem Lächeln, dass sich schon in sein Gesicht gegraben hatte, hörte sie. „Adelheid, ich bin es.“ rief er ihr zu, während er erst langsam auf sie zu ging, und ihr schließlich ihr entgegen in die Arme rannte. „Caspar, es verging die ganzen zwanzig Jahre lang kein Tag, an dem ich nicht an dich dachte!“, schluchzte Adelheid. „Nicht weinen, Adelheid“, redete Caspar ihr zu, küsste sie und schon zwei Wochen später heirateten die beiden.
Adelheid verließ ihre Burg, zog mit Caspar durch die Länder und bekam viele glückliche Kinder. Die beiden blieben zusammen, bis sie in einer warmen Septembernacht schließlich nebeneinander für immer einschliefen. Und Ludwig? Er heiratete eine reiche, aber schreckliche Frau, und es verging kein Tag, an dem er nicht blau geschlagen durch sein Schloss schlurfte.

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Tag der Veröffentlichung: 04.10.2009

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