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Es war einer der letzten schönen Tage des Jahres gewesen.

Inzwischen war es Abend, und da das Wetter noch immer mitspielte, trafen sich Schmidts mit Meyers in deren Garten zum Grillen.

Während die Kinder auf dem kleinen Rasen noch Fußball spielten, köpften die beiden Männer die erste Flasche Bier. Die Frauen hingegen gingen in die Küche, um die Salate anzurichten.

Nachdem der Tomatensalat fertig war, drückte Tine ihrer besten Freundin Claudia ein paar Teller in die Hand und schickte sie mit den Worten »Sag Henning, er soll das Feuer anmachen«, in den Garten.

Kaum, dass sie Henning die Nachricht übermittelt hatte, ging dieser zum Schuppen und holte ein paar dicke fette Holzscheitel vom Haufen. Die Holzbrocken stellte er dann sorgfältig in seiner Feuergrube auf und kippte ein wenig Spiritus darüber. »Es fehlen noch die Grillanzünder«, sagte er und ging Richtung Schuppen.

»Brauchste nicht!«, rief Pascal ihm hinterher und schüttete den Rest der Flasche über den Scheitelhaufen, dann zog er ein Päckchen Streichhölzer aus seiner Hosentasche. »Au!«, schrie er auf. Der Ball hatte ihn mit voller Wucht am Hinterkopf getroffen und vor Schreck knallte er mit der Stirn gegen die schwere Eisenstange, an der baumelnd der Grillrost hing.

Claudia lachte herzerfrischend und Henning prustete voller Inbrunst den letzten Inhalt seiner Bierflasche wieder hinaus und rief: »Das kann gar nicht wehtun – wo nichts ist …«

Pascal sprintete auf Henning zu, dieser sprang auf und jagte, wie von der Tarantel gestochen in Richtung Schwimmteich. Als Pascal ihn am T-Shirt zu fassen bekam, rutschten beide auf der feuchten Rasenfläche aus und landeten im kalten Nass.

Claudia konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen und rieb sich bereits die Tränen aus den Augen, als ein spitzer Schrei die Harmonie dieses schönen Abends durchbrach. Claudias Kopf drehte sich instinktiv zur Feuerstelle, aus deren Richtung die, nunmehr panischen, Schreie herüberhallten. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie zur Salzsäule erstarren: Ihr kleiner vierjähriger Sohn stand in voller Flamme, neben dem lodernden Feuer.

Tine rannte an der noch immer starren, inzwischen leichenblassen, Claudia vorbei, strauchelte und fiel hin, rappelte sich aber sofort wieder auf und schnappte nach dem Arm, des brennenden Kindes. Sie schleifte Simon regelrecht hinter sich her und sprang mit ihm im Schlepptau in den künstlich angelegten Teich.

Die Männer fassten nach dem Jungen und hielten seinen Kopf gemeinschaftlich aus dem Wasser. Dabei schrien sie Claudia an, sie solle den Notarzt rufen.

Diese erwachte jedoch erst aus ihrer Starre, als ihre Tochter sie in den Magen boxte und »Mama! Mama! Er brennt!«, schrie. So schnell, wie sie konnte, eilte sie ins Haus und tippte mit zittrigen Händen die Nummer der Notrufzentrale ins Telefon.

Keine fünf Minuten später war die Polizei, die Feuerwehr und der Rettungswagen vor Ort und halfen dabei Simon aus dem Wasser zu hieven und auf die bereitgestellte Trage zu legen. Der dazu eilende Notarzt orderte umgehend einen Rettungshubschrauber an, und legte mehrere großlumige, periphere Zugänge, während die Sanitäter angefeuchtete sterile Kompressen auf die Brandwunden legten.

Die Feuerwehr indes löschte den Brandherd, während ein Polizist das Grundstück gegen neugierige Zuschauer abschirmte und ein weiterer Beamter die Meyers und Pascal Schmidt über den Unfallhergang befragte. Claudia Schmidt war indes bei ihrem Sohn, hielt ihm die unverletzte Hand und redete beruhigend auf ihn ein, bis die Betäubung wirkte, die der Arzt dem panisch schreienden Jungen gespritzt hatte, um ihn ruhig zu stellen.

»Welcher Brandbeschleuniger wurde von Ihnen benutzt?«, fragte der Gesetzeshüter die beteiligten Personen.

»Spiritus«, sagte Henning. »Aber ich hatte das Feuer noch nicht angemacht«, flüsterte er vor sich hin.

Pascal griff in seine Hosentasche. »Ich muss die Streichhölzer fallen lassen haben, als mich der Ball traf«, murmelte er fast unverständlich.

»Das ist doch jetzt unwichtig!«, sagte Tine. »Wichtiger ist, dass Simon wieder gesund wird. Das wird er doch, oder?«, fragte sie den Polizisten, der jedoch nur achselzuckend da stand.

»Ich habe die Streichhölzer fallen gelassen«, sagte Pascal in einem leicht vorwurfsvollen Ton zu sich selbst.

»Hör zu … Es war ein Unfall!«, antwortete Henning und schüttelte Pascal an den Schultern.

Die Antwort von Pascal wurde vom Lärm des ankommenden Hubschraubers geschluckt. Sofort wurde der Junge in Richtung Krankenwagen getragen und die Gruppe folgte den Sanitätern.

Der Notarzt wandte sich Pascal und der, am ganzen Körper zitternden, Claudia zu: »Hier ist keine Landemöglichkeit. Wir müssen den Jungen mit dem Rettungswagen zu einer freien Fläche bringen«, rief er durch den Lärm hindurch. »Im Wagen können sie noch mitfahren, im Heli ist jedoch nicht genug Platz.«

Pascal brüllte: »Wir fahren mit dem Auto hinterher.«

Henning schüttelte den Kopf und rief: »Ich fahre! Tine bleibt hier bei den Kindern.«

»Gut, wir fliegen ihn ins nächstgelegene Verbrennungszentrum, dort wird Simon umgehend operiert«, antwortete der Arzt lautstark. Er wandte sich noch mal an Pascal und Claudia »Es ist wichtig, dass sie da sind, wenn der Junge aus der Narkose erwacht.

Claudia nickte und atmete tief durch, während ihr Mann gegen die gerade zugeklappte Tür des Maltesers schlug.

Der anwesende Polizist klappte sein Notizbuch zu »Bleiben Sie ruhig, Herr Schmidt! Es bringt nichts, wenn sie sich aufregen. Ihr Sohn braucht jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit.«

»Wir müssen jetzt los!«, sagte der Fahrer des Wagens und stieg ein. Nur ein paar Sekunden später fuhr der Krankenwagen los, um sich auf einer naheliegenden Wiese mit dem Hubschrauber Christoph 6 zu treffen.

Viele Stunden später standen Pascal und Claudia im Flur der Klinik für Verbrennungsopfer und warteten darauf zu erfahren, wie es um ihren Sohn stand.

Henning kam gerade mit ein paar Bechern Kaffee um die Ecke »Ich hab grad mit Tine telefoniert. Die Kinder schlafen jetzt und die Polizei rief an, dass kein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Aufsichtspflicht eingeleitet wird.«

»Wie bitte?«, schnauzte Pascal, »Ermittlungsverfahren?«

»Reine Routine«, antwortete der nunmehr beschämt dreinblickende Henning.

»Bleib ruhig!«, flüsterte Claudia. »Wir müssen für Simon stark sein.«

Der behandelnde Arzt kam aus dem Zimmer, in dem Simon, nur Minuten zuvor hereingeschoben wurde, und erklärte den hilflosen Eltern, dass die Wunden operativ behandelt wurden und er sich jetzt mit seinem Kollegen beratschlagen würde, ob der Junge im künstlichen Koma verbleiben soll.

»Simon hat im Gesicht Verbrennungen 3. Grades. Es werden mit Sicherheit ein paar Narben bleiben. Zudem hat er Verbrennungen 4. Grades an beiden Beinen. Das heißt, neben der Haut sind auch Knochen, Muskeln, Nerven und Muskeln betroffen. Er kann sein, dass er nie wieder laufen …«

»Oh Gott! Nein!«, stöhnte Claudia.

Ihr Mann drehte sich herum und trat mit voller Wucht gegen den metallenen Mülleimer, der nun scheppernd durch den Krankenhausflur flog.

Claudia straffte ihre Schultern und wandte sich dem Arzt zu: »Hab ich das richtig verstanden? Er wird für immer diese Narben im Gesicht und an den Beinen haben? Und er wird auch nicht mehr aufstehen können?«

Der Arzt nickte. »Bei derlei Verletzungen liegt die Wahrscheinlichkeit einer Lähmung sehr hoch. Was die Hautschäden im Gesicht angeht, so könnten später Hauttransplantate durchgeführt werden. Das ist aber sehr langwierig und schmerzvoll … « Der Doktor hielt für einen Moment inne. »Simons Gesichtsnerven sind ebenfalls betroffen. Er wird Sensibilitätsstörungen aufweisen. Das bedeutet, er wird Schwierigkeiten beim Reden und Essen haben.«

Pascal sah den Arzt entsetzt an »Und warum machen sie nichts dagegen? Sie müssen doch irgendwas tun …«, schnauzte er und ballte dabei seine Hand zur Faust.

Henning legte seine Hand beruhigend auf den Arm seines besten Freundes. »Ich denke, es wird alles Menschenmögliche für Simon getan.«

Abermals nickte der Arzt: »Wir tun schon, was wir können. Ihr Sohn ist sehr schwer verletzt. Seine Körperfläche ist zu 50 % verbrannt. Bei Kindern bedeutet dies eine akute Lebensgefahr. Zurzeit ist Simon jedoch stabil, doch es könnte auch passieren, dass sein Herz-Kreislaufsystem zusammenbricht oder, dass seine Lunge oder die Nieren versagen …«

Stille herrschte.

Claudia brach zuerst das Schweigen »Er könnte ins Koma fallen oder Hirnschäden davontragen, oder für immer am Beatmungsgerät hängen?«, fragte sie ihn stockend.

Der Arzt schluckte, bevor er mit tränenerstickter Stimme weiterredete »Was sollen wir tun, wenn es dazu kommt? Sollen wir ihn wiederbeleben?«

Pascal starrte den Arzt aus verklärten Augen an »Natürlich sollen sie!«

Plötzlich ertönte ein schriller Piepton aus dem Zimmer. Der Arzt stürmte sofort wieder in den Raum hinein. Im Rahmen der geöffneten Tür warf sich Claudia schluchzend in die Arme ihres Mannes, während dieser nur noch wortlos auf seinen Jungen starrte, der nahezu mumifiziert, künstlich beatmet wurde.

»Was machen wir nun?«, frage Claudia ihren Mann unter Tränen.

Pascal packte Claudia an den Schultern und brüllte sie an: »Wie meinst du das? Was sollen wir schon machen?«, dann sank er im Türrahmen zusammen und weinte hemmungslos.

Claudia holte einmal tief Luft und sah ihren Mann an, der wie ein Häufchen Elend auf dem Boden hockte und lauthals schluchzte. »Ich werde ihm das nicht antun«, sagte sie, schüttelte dabei fast unmerklich den Kopf und ging in den Raum hinein, indem ihr Sohn leichenblass aufgebahrt lag.

Der Arzt stand neben dem Bett des Kindes und führte eine Herzdruckmassage durch. »Wir geben erst 0,2 mg Epinephrin«, sagte er.

Die Schwester injizierte das Medikament über den bereits gelegten Zugang, doch das EKG zeigte keinerlei Veränderung an.

»Okay, wir Schocken«, sagte der Arzt, drehte sich zum Defibrillator um, und stellte das Gerät auf 75 Joule ein, als Claudia ihre Hand auf die Seine legte und flüsterte »Wir lassen ihn in Würde gehen.«


Epilog:



In meiner mittelbaren Nachbarschaft ereignete sich am Mittwoch ein ähnlicher Unfall, der mich zu dieser Geschichte inspirierte, und dennoch ist es Fiktion … Dem Nachbarsjungen soll es inzwischen wieder besser gehen. Das ist dem sofortigen professionellen Einsatz von Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr zu verdanken, die Hand in Hand miteinander dafür sorgten, dass der Junge grundversorgt wurde.


Meine Beweggründe für das "schnelle" Ende und den Ausgang der Geschichte.


Viele Kommentare richten sich darauf, dass die Mutter sehr kurzfristig so eine Entscheidung getroffen hat.

Zunächst einmal ist es so, dass in so einer Situation schnell eine Entscheidung getroffen werden muss. Wenn das Kind erstmal reanimiert wurde, wird es mit den Folgeschäden leben müssen. Wird es nicht reanimiert, wird es sterben. Der Tod oder auch der weitere Krankheitsverlauf sagen nicht einfach: Stopp - wir warten erstmal darauf, was die Eltern wollen. Nein, es ist eine Entscheidung, die innerhalb von Sekunden zu treffen ist.

Animiert von Büchern und Filmen bin ich zunächst auch davon ausgegangen, dass man stundenlang über so eine Entscheidung nachdenken muss, und im Endeffekt keine Wahl treffen kann, die sich hinterher auch als die richtige herausstellt.

Je mehr ich aber darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass so eine Geschichte nicht nach „Plan“ ablaufen kann. Niemand kann im Vorfeld sagen, wie er/sie in so einer Situation wirklich handeln würde.

Jeder Mensch reagiert anders:

Tine war ängstlich, Henning blieb sachlich und Pascal hat seine Schuldgefühle in Wut umgewandelt, die dann in seiner maßloser Trauer verpuffte. Ich denke in diesem Gefühlschaos wäre er nie in der Lage gewesen, eine Entscheidung zu treffen. Also musste Claudia die Entscheidung treffen …

Ich erinnerte mich also an einen Unfall, den mein Sohn letztes Jahr im Schwimmbad hatte, und wie ich mit seiner Angst und seinen Schmerzen umgegangen bin: Ich unterdrückte meine eigenen Ängste und sprach ihm Mut zu, obwohl mir selbst nach Heulen zumute war.

So ließ ich Claudia aus ihrer Angststarre herauskommen, indem sie ihre Gefühle unterdrückte, was sie wiederum zu der ernüchternden Entscheidung fähig machte, die sie traf. Ob´s die Richtige war … wer weiß …


Lg Astrid

Impressum

Texte: Astrid Rose
Bildmaterialien: Astrid Rose
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Widmung: Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr

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