ALEX CARPENTER
Die letzte Geschichte
7. Musku im 4. Mond im 13. Zyklus der Sommerkönigin
Der Gasthof war der beste der Gegend, schon allein wegen der fehlenden Konkurrenz. Während draußen die Welt im dunklen Maul der Nacht verschwand und die Bewohner des Waldes gegen das ungeschriebene Gesetz der Nachtruhe verstießen, präsentierte sich der Schankraum im schummrigen Licht mehrerer Lampen überraschenderweise als Ort der Ruhe.
Den Namen Zur letzten Einkehr trug er nicht zu Unrecht. Die Straße, über die man ihn erreichte, führte nicht durch den angrenzenden Wald, sondern endete abrupt knapp zehn Schritt hinter der Waldgrenze. Natürlich hatte der hiesige Herrscher, ein König, dessen Name nicht wichtig genug ist, es anders geplant.
Doch dieser Wald, über die Landesgrenzen hinaus unter verschiedenen Namen bekannt, war kein gewöhnlicher Wald. Beim Versuch, eine Straße mitten durch die eng stehenden Bäume zu bauen, hatte sich gezeigt, dass dort Wesen lebten, allein deren Anblick einen in den Wahnsinn trieb. Als der Blutzoll unter den Arbeitern stieg, aber der Straßenbau einfach nicht vorankam, stoppte der König das Projekt. Der nicht weit entfernt liegende Friedhof zeugte vom bis dahin erbrachten Blutzoll.
Im Gasthof beobachtete ein Mann, den viele Wesen unter der Bezeichnung Verkünder des kommenden Todes kannten, aus dem Schatten seiner Kapuze einen dicknasigen Mann. Dieser führte sich auf, als sei er der größte Krieger aller Zeiten.
Drei Männer betraten den Schankraum des Gasthofs und kamen dabei am Tisch des aggressiven Mannes vorbei.
»He, warum starrst du Plampus an? Möchtest du von Plampus getötet werden? Sag schon!«, rief der Mann mit der knubbeligen Nase, wobei weder ein Grund erkennbar war, noch welchen der drei Männer er meinte.
Die Drei blieben stehen, sahen ihn leicht verwirrt an, bis einer fragte:
»Wen von uns meinst du?«
»Na wen schon? Ihr starrt alle Plampus an. Also sagt, was Plampus hören will.«
»Was willst du denn hören?«, fragte der Kleinste der Drei.
»Ob Plampus euch töten soll.«
»Wer ist denn dieser Plampus? Etwa du?«, wollte nun der Größte wissen.
»Du Hund wagst es, Plampus zu beleidigen?«, brüllte der Aggressor und erhob sich von seiner Sitzgelegenheit, zog dabei zwei Kurzschwerter. »Das wird ein glorreicher Kampf!«, rief Plampus begeistert und spaltete dem Mann, der das Pech hatte, sich in Reichweite zu befinden, den Schädel.
Ringsum brach eine mittelschwere Panik aus, doch der Kampf war fast schon zuende, da das zweite Schwert in einen Bauch eindrang. Der dritte Neuankömmling hatte endlich sein Schwert gezogen, als es ihm aus der Hand geschlagen wurde. Ein breites Lächeln machte es sich unter der dicken Nase bequem und damit das Gesicht noch hässlicher.
»Nun flehe Plampus um Gnade an, damit er nein sagen kann!«
Ein Moment völliger Stille trat ein. Bis Leroy sich erhob und die Kapuze abstreifte. Er hatte genug gesehen. Der Mann, der sich Plampus nannte, war zweifellos irre und damit untauglich für seinen Plan.
»He, du hässlicher Vogel, wenn du Feigling genug Mumm in den Eiern hast, dann komm her und töte mich.«
Ein Raunen ging durch den Raum, als der Barbar sich Leroy zuwandte und mit verkniffenem Gesicht fragte:
»Du wagst es, Plampus einen Feigling zu nennen?«
»Warum nicht? Da es die Wahrheit ist und du dümmer bist als ein toter Esel, komm also endlich her, um langsam und unehrenhaft zu sterben. Oder hast du Angst?«
Für einen Moment starrte Plampus seinen Herausforderer mit offenem Mund an, als einer Gäste Leroy zu erkennen glaubte und rief:
»Bei allen Göttern, das ist dieser Kopfgel...«
Eine Geste von Leroys linker Hand ließ den Mann verstummen. Mit der Rechten griff er in eine der Innentaschen und nahm eine kleine Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Wer bist du, dass du es wagst, Plampus zu drohen? Los, sprich!«
»Finde es heraus oder zieh deinen mickrigen Schwanz ein und verlass dieses Haus.«
Leroys Ruhe schien den Barbaren nervös zu machen. Doch dann wurde ihm wohl klar, welche Schmach ein Rückzug bedeuten würde und er bewegte sich rasch und vor Wut schnaubend auf Leroy zu. Dieser nahm die kleine Kugel in den Mund und zerbiss sie, während er sein Schwert zog.
Ein alter Mann mit zerzausten Haaren, der in einem Schaukelstuhl neben dem Kamin geschlafen hatte, aber durch Geschrei des Barbaren geweckt worden war, machte große Augen, als er das Schwert sah.
Der Kampf, sofern man ihn so bezeichnen konnte, dauerte nur Sekunden, denn die Klingen des Barbaren schienen am Schwert seines Herausforderers förmlich zu zerschellen, als dieser seine wilden Attacken parierte. Mit offenem Mund starrte er die Reste seiner Waffen an, bis die Spitze des billig wirkenden Schwerts seine linke Wange ritzte.
»Nun darfst du mich um Gnade anbetteln, damit ich deine Bitte ablehnen kann«, sagte Leroy mit eisiger Stimme.
»Beim Schnarchen des Schläfers, dies kann nur das Schwert der Gnade sein!«, jubelte der Alte und offenbarte dabei mehrere Zahnlücken.
Entsetzt ließ Plampus die kläglichen Reste seiner Schwerter fallen und tastete mit aufgerissenen Augen seine Wange ab, denn die winzige Wunde schmerzte bereits wie eine aufgeplatzte Eiterbeule. Rasch breitete sich der brennende Schmerz aus.
»So helft Plampus doch! Er hat Plampus vergiftet!«, forderte er mit schriller Stimme, doch niemand machte Anstalten, sich in seine Richtung zu bewegen.
Stille kehrte ein, nur unterbrochen vom Kichern des Alten am Kamin und dem Stöhnen des Barbaren. Die Schmerzen, welche in seinem Körper tobten und immer heftiger wurden, ließen seine Muskeln verkrampfen und raubten ihm allmählich den Atem.
»Helft... Plampus«, bat er kaum verständlich, während er mit zitternden Gliedern auf Leroy zu torkelte, Augen und Mund weit aufgerissen.
»Wie heißt das Zauberwort?«
Auf seine Frage bekam Leroy keine Antwort, dafür forderte der Alte:
»Keine Gnade. Die hat er nicht verdient.«
»So sei es.« Leroy wandte sich an den Wirt und forderte ihn auf, sich um die beiden Toten zu kümmern. Dann setzte er sich wieder und trank einen großen Schluck Wein aus seinem Becher.
»Seid Ihr der Nachfolger von Richter Siebentöter?«
Die Frage des alten Mannes überraschte Leroy.
»Wie meint Ihr das, alter Mann?«
»Ihr habt das Schwert der Gnade. Kennt Ihr nicht die Legende von Siebentöter? Er war der Letzte, der diese Macht ausüben durfte.«
»Nein, aber wenn Ihr nichts Besseres zu tun habt, würde ich euch mit Freuden zuhören, wenn Ihr sie uns erzählt, denn ich glaube, dass die hier Anwesenden etwas Ablenkung von den letzten Geschehnissen brauchen.«
Da fiel Plumpes röchelnd zu Boden und der Wirt überredete zwei Gäste den Sterbenden nach draußen zu tragen. Bei ihrer Rückkehr spendierte Leroy eine Lokalrunde und forderte anschließend den Alten auf, die Legende zum Besten zu geben.
Doch vorher wollen wir einen kurzen Blick in das Schwert werfen:
Der spärlich bekleidete Marco Siebentöter kraulte das schneeweiße Fell seiner Hündin Ikomi, während er Glammron fragte:
»Glaubst du wirklich, der neue Besitzer eignet sich zum neuen Richter?«
»Mein erster Eindruck ist positiv, aber wir haben noch zwei Monde Zeit, um ihn näher kennenzulernen.«
»Schon, aber was ist, wenn er dich zum ersten Mal im Schwert besuchen darf? Muss ich mich dann im Hintergrund halten oder gar verstecken?«
Glammron strahlte ihn an, schüttelte dabei leicht den Kopf.
»Natürlich nicht, Liebster.«
»Ich schlage vor, du machst dir darüber Gedanken, wenn es soweit ist. Oder spricht aus dir ein Anflug von Eifersucht?«, mischte sich die Hündin ins Gespräch.
Auch Glammron schien gespannt auf seine Antwort zu warten, doch die freche Ikomi war noch nicht fertig.
»Wenn eine Frau uns besitzen würde, hättest du deine Fragen sicher nicht gestellt. Da fällt es dir nicht nur leichter Vertrauen zu fassen, richtig?«
Der Kölner musste lächeln.
»Da hast du nicht Unrecht. Der Gedanke, meine Frau irgendwann mit jemandem teilen zu müssen, bereitet mir ein gewisses Unbehagen. Andererseits versuche ich die anerzogenen Behinderungen aus meinem vorigen Leben abzulegen.«
»Was dir bisher hervorragend gelungen ist«, unterbrach ihn Glammron. »Außerdem weißt du, dass es nicht oft passiert, dass mein Besitzer sich für höhere Aufgaben qualifiziert. Es könnte noch Jahrhunderte dauern, bis jemand mit deinen Qualitäten auftaucht.«
»Niemals wird dich jemand so aufrichtig und von ganzem Herzen lieben wie ich.«
»Und was ist mit mir?«, wollte Ikomi wissen.
»Was soll schon sein? Gäbe es hier einen Bazar, hätte ich dich Frechdachs schon längst verkauft«, antwortete Marco und zwinkerte Glammron zu.
»Das will ich gern tun, wenn Ihr dafür sorgt, dass meine Kehle dabei nicht austrocknet, werter Herr.« Der Alte prostete Leroy zu, während die anderen Gäste sich näher am Kamin positionierten, denn für eine gute Geschichte waren hier alle zu haben.
»So soll es sein. Legt los.«
~ 232 ~
Die Legende von Marco Siebentöter
Schon bald nach seiner Ankunft im Traumland hatte Marco sich verliebt. Zunächst in Lydia, eine Waldläuferin. Dann begegnete er einem Chuba. Diese hundeähnlichen Wesen binden sich nur einmal im Leben. Doch bereits zu Beginn ihrer Reise plagten Marco Zweifel. Zum einen in seine Fähigkeiten, des Weiteren an der Vertrauenswürdigkeit der anderen Gruppenmitglieder. Zudem hatten sie erfahren, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit viele dieser magischen Schlüssel finden mussten, da sie mehr als ein Tor suchen und durchqueren mussten, um das ihnen genannte Ziel zu erreichen. Mittlerweile war das erste Mitglied ihrer einstmals sechsköpfigen Gruppe im Kampf gestorben und weiteres Ungemach drohte bei der Erkundung des Turms, vor dem sie nun standen.
Diesmal war das Glück auf ihrer Seite, schon am Abend lagerten sie am Fuße des Turms und bestaunten seine Höhe. Er hatte einen quadratischen Grundriss und als Eingang ein metallenes Tor mit zwei Flügeln. Etwas wahrlich Besonderes war der Türgriff in Form eines Gesichts, denn dieser konnte sprechen!
Gesucht wurde nun die Lösung für das von ihm gestellte Rätsel, damit sie den Turm betreten konnten, welches lautete:
"Was wird größer, wenn man es auf den Kopf stellt?"
Der nächste Tag begann mit einer guten Nachricht.
»Ich wusste, ich hatte dieses Rätsel schon mal gehört, aber mir wollte die Lösung einfach nicht einfallen. Und dann kam mir irgendwie in den Sinn, dass es was Mathematisches sein könnte.«
Marcia war ganz aufgeregt, endlich konnte auch sie einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten.
»Was sein dieses matamanische?«, wollte Kroznok wissen.
»Das ist das Wissen über Zahlen, eine Art Magie«, klärte ihn Marco auf.
»Ich bin natürlich erst sicher, wenn sich dieses Tor für uns öffnet, aber die Antwort müsste "Die Zahl Sechs" sein.«
»Lasst uns erst was essen, dann prüfen wir unsere Ausrüstung. Die Tür läuft uns nicht weg.«
»Ihr habt recht, edle Lydia, wir sollten bestmöglich vorbereitet sein. Das wird kein Spaziergang, und vielleicht bereuen wir eines Tages, diesen Ort jemals betreten zu haben.«
»Rayton haben Angst?«, fragte Kroznok auf seine wortreiche Art.
»Keine Angst, nur eine düstere Vorahnung, basierend auf Erfahrung.«
Das Türschloss grinste breit.
»Eure Antwort ist richtig, und wenn euch euer Mut nicht verlassen hat, so betretet nun den Turm des alten Alamatis.«
Die Worte waren kaum verklungen, als die beiden Torflügel begannen, sich langsam mit heftigem Ächzen und Knirschen zu öffnen.
Als endlich wieder Ruhe herrschte, blickten sieben Augenpaare in einen leeren Vorraum. Allerdings befanden sich in der Wand ihnen gegenüber zwei Türen, doch als Marcia den Turm betreten wollte, hielt Rayton sie zurück.
»Wartet, lasst mich erst etwas prüfen.«
Er begann den Raum mit den Augen förmlich abzutasten. Dann setzte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen und gab schließlich das Signal, ihm zu folgen. Während sich Rayton den Türen näherte, hatten Lydias scharfe Augen auf der linken Wand eine unter Schmutz versteckte Wandinschrift entdeckt. Vorsichtig legten sie diese frei und lasen:
Der Du einkehrst bei mir
Willst Schätze rauben hier?
So sei gewarnt - versuch dein Glück
Doch dieser Weg führt nie zurück!
»Das hört sich irgendwie nicht gut an, war aber andererseits auch nicht anders zu erwarten. Durch welche der Türen gehen wir?«,
Für Marcia schien das Ganze eine Art Schnitzeljagd zu sein, zumindest war ihr nicht mehr langweilig.
»Keine Ahnung, vielleicht sollten wir abstimmen oder habt Ihr schon einen Plan, Rayton?«, fragte Marco.
»Nein, eine scheint so gut wie die andere.«
Die Mehrheit war für die rechte Tür, also versuchte Rayton sie zu öffnen. Sie sträubte sich nicht großartig und gab den Blick auf einen Gang frei, welcher von brennenden Fackeln beleuchtet wurde, die in Wandhalterungen steckten. Mit der gebotenen Vorsicht folgte man Rayton. Anjin, Marco und Lydia dicht auf, dann Kroznok und Marcia, Yam-Yam deckte ihnen den Rücken. Jedoch bemerkte niemand, dass die Tür auf der Rückseite weder Griff noch Klinke besaß!
Der Gang bog nach rechts ab, kurz darauf versammelten sie sich vor einer Tür in der rechten Wand. Nachdem Rayton ihm ein Zeichen gegeben hatte, versuchte Kroznok sie zu öffnen. In diesem Augenblick gab es hinter ihnen ein lautes Geräusch und alle zuckten erschrocken zusammen, machten sich kampfbereit. Yam-Yam sah um die Ecke und bemerkte dann lapidar:
»War nur diese Tür. Ist zugefallen. Alles in Ordnung.«
Kurz entstanden Sorgenfalten auf Raytons Stirn, doch dann wendete er sich wieder der Tür zu.
Nun drückte Kroznok endgültig die Klinke nieder und die Tür gab den Weg frei. In einem großen Zimmer stand ein Mann in voller Kampfmontur, inklusive Breitschwert und rundem Buckelschild. Alle blieben ruckartig stehen, da sprach der Krieger sie an.
»Wer von euch ist Manns genug, mir einen guten Zweikampf zu liefern?«
»Warum sollten wir mit Euch kämpfen?«, fragte Lydia.
»Weil ich besitzen könnte, was ihr sucht.«
Kroznok nahm seinen Bogen von der Schulter.
»Ich schießen Pfeil in sein Auge.«
»So könnt Ihr mich nicht töten, nur in einem fairen Zweikampf.«
»Wir sollten ihn ignorieren und weiter gehen«, schlug Marco vor.
»Da wir nicht wissen, ob sich eine Konfrontation lohnt, stimme ich Marco zu. Er scheint den Raum nicht verlassen zu können, also schauen wir vielleicht später noch mal rein.«
Schon wollte Rayton die Tür schließen, als Marcia zu bedenken gab:
»Denkt an diese Inschrift. Nach der führt kein Weg zurück.«
»Es ist vielleicht sein Schwert, das wir suchen«, warf Marco ein, ohne dabei überzeugend zu klingen.
»Wir sollten abstimmen, falls sich jemand dem Risiko auszusetzen bereit ist.«
Und da dies niemand wirklich wollte, schloss man die Tür und ging weiter den Gang entlang. Einer Linksbiegung folgte kurz darauf eine zweite, dazwischen lag eine Tür. Auf dieser stand in gelber Farbe:
Ruht Euch aus
Denn noch lang
Ist der Weg
Da unverschlossen, betrat man den Raum, denn er war leer bis auf einen Tisch in der Mitte, um ihn herum etliche hölzerne Schemel. Auf dem Tisch war alles für ein Festmahl bereitet, der Braten und das frische Brot dufteten köstlich, das Obst schien frisch und knackig.
»Das kann doch nur eine Falle sein«, meinte Rayton fachmännisch. »Außerdem stinkt hier alles nach schwarzer Magie.«
»Wie kann das sein, da er laut Kju kein Magier war?«, fragte Marcia, aber da alle Raytons Urteil vertrauten, folgte man kurz darauf weiter dem Gang, doch schon nach zehn Schritt tauchte die nächste Tür in der Wand links von ihnen auf.
Hinter ihr fand sich eine Treppe, welche aufwärts führte. Sie endete an der nächsten Tür. Dahinter lag ein Quergang, dem sie nach links folgten. Die nächsten drei Türen ließen sich nicht öffnen, in der darauffolgenden Räumlichkeit tummelten sich zwei Wesen, die Marco an gigantische Tausendfüßler erinnerten und es vielleicht auch waren. Sie bewachten eine Truhe, die jedoch zu klein war, um ein Schwert zu bergen.
Hinter der letzten zu öffnenden Tür dieser Ebene fand sich nur die Statue einer tanzenden Frau, laut Rayton aus Bernstein bestehend, die trotz ihrer geringen Größe von zwei Ellen nicht anzuheben war, was bei den Kräftigsten zum Wettbewerb wurde, den keiner gewann. Also wechselte man in die dritte Ebene.
»Ich glaube, die Anlage funktioniert nach einem simplen Muster. Auf den Gängen droht uns keine Gefahr, nur die Räume bergen Herausforderungen und damit Gefahren. Man will quasi erreichen, dass wir jede Aufgabe lösen, aber die Logik sagt mir, die wichtigen Schätze werden weiter oben aufbewahrt.«
Alle stimmten Rayton zu, obwohl Marco zu bedenken gab, dass Logik in dieser Welt auch der falsche Führer sein könnte. Und schon standen sie vor der nächsten Tür. Doch erst eine Tür weiter wurde es erneut interessant, denn in einer Wand steckte ein Schwert. Das erinnerte Marco an die Artus-Sage, also riskierte er es und zog daran, jedoch ohne den geringsten Erfolg. So erging es der Reihe nach allen.
Ohne jeden Mut zum Risiko erbeuteten sie auch in den Zimmern der nächsten zwei Etagen nichts von Wert oder gar das Elfenschwert.
Auf der sechsten Ebene befand sich im ersten Zimmer ein Ruheraum mit Schlaf- und Waschgelegenheit, ein Tisch, Stühle und ein Schrank. Rayton öffnete diesen vorsichtig und fand eine Handvoll eiserne Rationen sowie drei große Krüge, gefüllt mit unbekannter Flüssigkeit, weshalb man die ledernen Verschlüsse samt Wachsversiegelung nicht anrührte. Man nahm die Gelegenheit wahr, sich zu erholen, obwohl die Luft im Turm nicht die Beste war, da er keine Fenster besaß. Die Sachen im Schrank ignorierte man und nach einem schnellen Imbiss aus ihren Rucksäcken gingen alle zu Bett.
Am nächsten Morgen.
Kroznok saß schon am Tisch, als der Rest der Truppe nach und nach erwachte. Anhand der Wachspapierfetzen war sofort klar, weshalb er so zufrieden wirkte. Da man seinen ewigen Hunger kaum zu stillen vermochte, hatte er mitten in der Nacht eine der eisernen Rationen geöffnet und probiert, immer wieder, bis er sicher war, davon nicht zu sterben. Also öffnete man auch die letzten Päckchen und folgte seinem Beispiel. Ausgeruht und satt verließ man den Raum, bereit zu neuen Taten. Aber die folgenden Zimmer boten keinen Anhaltspunkt, hier könne ein Schwert auf seinen Besitzer warten. Dafür hielten sich dort manchmal Wesen auf, wie sie noch keiner der Gruppe jemals gesehen hatte. Ekelhafte Würmer mit Laufbeinen und riesigen Beißwerkzeugen, Kakteen mit abschießbaren Stacheln, Schleim spuckende Riesenschnecken, ganze Wesen aus Schleim, fliegende Augen und im Dunkeln lauernde Untote.
Als die Ersten eine Pause verlangten, fanden sie, als hätte man sie erhört, auf der elften Ebene einen Schankraum samt Wirt vor. Dieser agierte in Marcos Augen wie ein vorprogrammierter Roboter und hatte zudem angeblich keine Ahnung, was außerhalb seiner Kneipe vorging, was nicht nur dem Kölner zu denken gab, bis sich dieser an Kjus Worte erinnerte: Alamatis experimentierte mit Zeit und Raum. Kroznok schienen solche Nebensächlichkeiten nicht zu interessieren. Er machte erneut den Vorkoster und war begeistert von der Qualität der Speisen und dem süffigen Rotwein. Natürlich bestellten nun auch die anderen Sucher etwas, selbst Anjin bekam einen Knochen mit Fleischresten. Problematisch wurde es erst, als der Wirt bezahlt werden wollte.
»So, ihr habt also kein Geld! Verdammte Zechpreller!«, schrie der Wirt, wobei seine Stimme sich in ein Brüllen wandelte, welches nicht nur den gesamten Raum erzittern ließ, ihm zwei weitere Arme wuchsen und seine Haut plötzlich aus dunklen Schuppen bestand. Innerhalb weniger Augenblicke wuchsen ihm auch drei Hörner auf dem Kopf und Klauen an Händen und Füßen. Schon griff er an. Die Gruppe war geschockt, aber auch schnell auf den Beinen und bereit zur Verteidigung. Doch rasch mussten sie einsehen, dass ihre Waffen diesem dämonischen Wesen nichts anhaben konnten.
»Raus hier!«, rief Lydia, denn der Kampf drohte in einem Blutbad zu enden. Kroznok hatte es bereits übel erwischt, da eine Klaue ihn quer über Brust und Bauch bis auf die Knochen aufgeschlitzt hatte, und beinahe auch Marco, was Anjin verhindern konnte, indem er dem Monster blitzschnell an die Kehle sprang und sich festbiss. Aber das Vieh griff sich den Chuba, der trotz der Schmerzen durch die eindringenden Krallen nicht losließ, und zerrte an ihm. Schnell färbte sich Anjins Fell rot, dann riss das Monster ihn in zwei Teile. Während es den hinteren Teil zur Seite schleuderte, dabei Blut und Eingeweide verteilend, hing der vordere Teil noch immer an seinem Hals und ließ nicht los.
»Neeiiiiiiinn!«, schrie Marco entsetzt und stürzte vor, aber bevor er zuschlagen konnte, wischte ihn einer der neu gewachsenen Arme wie ein lästiges Insekt beiseite. Er prallte mit dem Kopf gegen einen Tisch und verlor das Bewusstsein.
»Marco!«
Lydia lief zu ihm, durchdrungen von Sorge um ihren Liebsten, derweil sich das Monster erneut darum bemühte, Anjins Überreste an seiner Kehle loszuwerden, da diese verhinderten, dass er sein markerschütterndes Gebrüll, welches seine Gegner einschüchterte und schwächte, weiterhin einsetzen konnte.
»Marcia«, rief Rayton, dessen Wurfmesser gerade von den Schuppen des Monsters abgeprallt war. »Unsere Waffen sind nutzlos. Wir haben keine Zeit nach einer Schwachstelle zu suchen, die jedes Lebewesen hat. Ihr müsst etwas tun oder alles endet hier!«
In diesem Augenblick drehte sich das Monster in ihre Richtung und Marcia versuchte verzweifelt, sich zu konzentrieren. Da strömte die Magie aus ihr heraus, formte sich zu einer hellen Kugel und fuhr dann wie ein Blitz durch den monströsen Körper ihres Gegners, aber auch durch den von Lydia, die sich in diesem Moment hinter dem Gehörnten befand. Ihr Schrei mischte sich mit dem röchelnden Gebrüll des Monsters. Noch im Fallen schienen die getroffenen Körper ohne Flammen zu verbrennen, beim Aufprall auf den Boden entstand eine kleine Wolke aus Asche.
Rayton sah, wie Marcia die Augen verdrehte, und konnte sie gerade noch auffangen, als sie ohnmächtig zusammenbrach.
»Was für ein Desaster!«, stöhnte er und fragte dann Yam-Yam:
»Wie geht es Marco und Kroznok?«,
»Der Mensch lebt noch, für Kroznok ist alles vorbei.«
»Marco wird durchdrehen, wenn er merkt, dass er auch Lydia verloren hat. Und dass Marcia eine Mitschuld daran trägt, macht unsere Situation nicht gerade einfacher.«
»Ich würde diesem Traumgott gern den Hals umdrehen, aber nach Lage der Dinge wäre es vermessen, noch eine Chance dafür zu sehen. Wie geht es Marcia?«, erkundigte sich der Umbralla.
»Wohl nur der Schock über Lydias Tod. Hoffentlich versteht Marco, dass es nur ein unglücklicher Zufall war. Aber dass er Anjin und Lydia gleichzeitig verliert, wird ihm das Herz zerreißen.«
Yam-Yam nickte nur. Auch sein Herz war schwer vom Verlust der Gefährten, aber das sah man ihm wegen der vielen Haare nicht an. Dann kümmerte er sich um die Beule an Marcos Kopf, indem er sie mit einem feuchten Stück Stoff kühlte.
Marcia kam wieder zu sich und fing an zu weinen. Yam-Yam setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme.
»Danke, kleine Frau, ohne Euch wären wir jetzt wahrscheinlich alle tot. Es ist immer schlimm, wenn trotz bester Vorsätze alles zu misslingen scheint, aber Ihr dürft Euch nicht die Schuld an diesem Desaster geben. Wir alle haben versagt.«
Zu diesen Worten konnte Rayton nur nicken, denn dieser ungewohnte Klumpen in seinem Hals wollte sich nicht schlucken lassen.
Nach einiger Zeit fand auch Marco zurück ins Bewusstsein. Als er realisierte, dass auch Lydia ihn für immer verlassen hatte, blieb er überraschend ruhig. Vor sich hinstarrend registrierte er nicht die Tränen, die ohne Unterlass über sein Gesicht liefen. Zudem reagierte er weder auf tröstende Worte noch auf Erklärungsversuche, verlor sich in einer Welt aus Trauer, Wut und Hass. Dann stand er plötzlich auf, wischte sich mit den Ärmeln über sein Gesicht, denn seine Sicht war verschwommen, und suchte sich, weiterhin schweigend, ein kleines Gefäß, füllte etwas von Lydias und Anjins Asche hinein und verschloss es danach sorgfältig. Danach verließ er mit hassverzerrter Miene den Raum. Besorgt eilte Rayton ihm nach.
»Wartet, Marco, wir sollten diesen Ort verlassen. Lasst uns zum Gasthof zurückkehren, vielleicht ....«
»Nein, dann wären alle umsonst gestorben. Ihr könnt ja aufgeben, ich werde diesen Bastard weitersuchen, und wenn ich ihn gefunden habe, werde ich alles tun, um ihn zu töten!«, stieß der Kölner mit grollender Stimme hervor.
»Dann lasst es uns gemeinsam tun, bis zum bitteren Ende. Sollten wir dabei sterben, treffen wir unsere Freunde an einem hoffentlich besseren Ort wieder.«
Raytons Worte entlockten Marco ein grimmiges Lächeln.
»Gut gesprochen, mein Freund. So soll es sein.«
Sie warteten auf Yam-Yam und Marcia, dann setzten sie ihre Suche nach dem magischen Elfenschwert fort.
Schließlich standen sie auf Ebene Dreizehn vor einer weiteren Tür, aber als sie diese geöffnet hatten, machte sich Enttäuschung breit. Der Raum war leer und hatte keinen sichtbaren Ausgang. Nur in der Mitte hing ein rotes Seil von der Decke, schien ohne Befestigung direkt aus der Zimmerdecke zu kommen, ohne
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Tag der Veröffentlichung: 16.03.2021
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