Das Spiegelbild
Es gibt Tage, da zweifle ich an mir und meinem Sein. Da brauche ich eine Schulter, die mir uneigennützig Halt und Geborgenheit bietet. Manchmal begegne ich einem Menschen, der mir diese Schulter anbietet, und von dem ich sie annehmen kann. Dennoch weine ich, hadere ich, für Außenstehende unsichtbar, mit mir.
Ein Lächeln verläuft sich in mein Gesicht, Tränen zersetzen meine Seele, und nur wenige erkennen die Trauer hinter meinen Augen.
Die Menschen um mich sehen nur das, was ihre Phantasie ihnen vorgaukelt. Sie erkennen nur die ruhige, selbstbewusste starke Frau, sehen nur, was die Oberfläche hergibt.
Nur wenige geben mir das Gefühl, einen Blick hinter meine Mauern werfen zu wollen. Und zugegeben, auch diesen Wenigen öffne ich mich nur selten. Ich schütze mich, den filigranen Teil meines Wesens. Den Teil, aus dem ich Kraft schöpfe, der es mir ermöglicht, trotz meiner Traurigkeit und inneren Einsamkeit, am Leben zu bleiben. Er zeigt mir die Welt aus der Perspektive meiner Kindheit, in zahllosen bunten Farben. Viel zu früh verloren. Plötzlich war viele Jahrzehnte irgendwo in mir nur noch Schattendasein: namenlos, unbemerkt, wertlos, Jedenfalls für mich, der Wert nicht erkennbar. Bis zu dem Tag, an dem ich aus meiner Quelle diese Kraft schöpfen konnte. Ob andere ähnliches erleben, oder bleibt es ihnen verwehrt?
Gedankenlos streife ich das Haar aus meiner Stirn und begegne dabei im Spiegel dieser Frau mit dem müden Gesicht. Nichts in diesen blassen Zügen ist mir vertraut, nichts davon streichelt meine waidwunde Seele. Dieses Gesicht, mein Gesicht, ist mir fremd geworden. Wer bin ich? Bin ich noch der Mensch, der den Tag mit einem Lächeln begrüßt? Liebe ich mich selbst noch? Wo ist der kontrollierende nehmende Teil meiner Persönlichkeit? Der, der sich zufrieden im Glanz der Ihren sonnt? Wo bin ich?
Die Frau im Spiegel scheint von all dem unberührt, nur ihre Augen werden noch eine Spur matter und erinnern an die glaslosen Fenster leer stehender Gebäude.
Meine Augen ohne Glanz? Hastig wende ich mich ab, versuche vor der Erkenntnis, die sich in mich gräbt, zu fliehen. Das da im Spiegel bin nicht ich, kann nicht ich sein, ich bin nicht so.
Ich sehe erneut in den Spiegel, die Frau im Spiegel zwingt mich, mich mit mir zu beschäftigen. Wieder wird der Impuls, diesem Bild zu entfliehen, fast übermächtig.
Erkennen: Ich fühle mich schwach, verletzt, habe aufgegeben, will keine neue Perspektive für mich suchen. Warum schmerzt mich die Liebe so? Weshalb kann ich nicht annehmen, was ich längst weiss? Ich agiere nicht mehr, ich lasse geschehen. Warum lasse ich geschehen, dass mein Leben fremdbestimmt wird?
Das Gesicht sieht mich ungerührt an. Da ist nichts, in diesen müden Zügen, was Trost spendet. Nichts was mir sagt, das wir eins sind, es lässt mich allein mit all diesen Erkenntnissen und Fragen.
Allein, verlassen von mir selbst. Tränen suchen sich Wege, graben Spuren in die starre Maske meines Gegenübers. Seltsam, wie unbeteiligt dieses, mein Gesicht mich ansieht, obwohl die Tränen es zerfurchen.
Etwas in mir beobachtet uns lauernd, kauernd, zum Sprung bereit, darauf wartend, dass wir resignieren, uns ergeben, wie so oft in letzter Zeit. Es wartet auf die leichte Beute, auf einen weiteren Sieg. Ich höre eine Stimme in mir: Geh nur, gib auf, zerstör dich. Gut machst du das.
Ich erschauere.
Es gab das Erkennen, das Einsamkeit behüten mag, wenn auch nur mich vor mir selbst; doch von Mal zu Mal scheint die Einsamkeit mir unerträglicher. Die Sehnsucht nach einem Pedant ist übermächtig. Hoffnung? - gab es sie je?
Selbstzerstörung liegt in der Luft, schwebt zwischen mir und diesem Gesicht. Fasziniert betrachte ich die Spuren der Tränen, entsetzt darüber, dass wir diese Tränen wieder einmal nicht fühlen.
Bilder entstehen, einige erschreckend real, andere in diffusem Licht. Sie wechseln, drehen sich um mich, setzen sich fest, zerfließen: ich erkenne mich, das Rezept und die Zutaten, aus denen ich gebacken bin.
Das kleine blonde Mädchen, das immer hohe Ansprüche erfüllen musste um geliebt zu werden. Dasselbe Mädchen, das nicht verstand, weshalb es ohne ersichtlichen Grund geschlagen wurde. Das Mädchen, das einige Jahre später erfahren musste, dass man niemandem trauen darf. Die junge Frau, die sich selbst rettete, indem sie sich, in sich in ihren Käfig einsperrte. Die erwachsen Frau, die erkannte, woran sie krankte, und ihren Weg ging. Der Mensch, der sich mit dem Kind in sich aussöhnte, es annahm und zuliess, dass es zurückkehren konnte.
Bilder, intensiv in ihrer Traurigkeit, und doch voller Leben, meinem Leben. Düstere Szenarien voller Leid, aber auch leidenschaftliche Gefühle. Sonnenstrahlen, die alles in prächtige Farben tauchen und darüber der Glanz der Unschuld, dem die Zeit nichts nehmen kann.
Klar schälen sich feine Gesichtszüge aus dem Kreis der Bilder heraus und sehen mich ängstlich an. Stumm bittet mein Kindergesicht mich, nicht zuzulassen, dass es wieder zurück muss in die Dunkelheit des Vergessens. Bitte, lass uns fühlen…glauben. Lass zu, dass wir vertrauen können. Wir wollen leben, lieben, geliebt werden, wenn du dich selbst zerstörst, zerstörst du auch mich, wie andere schon vor dir, ermahnt es mich!
Die Angst in diesem, meinem Kindergesicht, zerrt mir meine Maske gewoben, aus Selbstmitleid, Selbstschutz und Selbstgefälligkeit herunter. Der erstarrte Panzer bekommt Risse, das Leben kann zaghaft in mich zurückkehren. Wieder mit etwas mehr Patina, wieder eine Illusion ärmer - und doch…
Erneutes Erkennen, ich kann nur ich sein, wenn ich mich auch ich sein lasse. Ich sollte mit Enttäuschungen lockerer umgehen und mich nicht von den Menschen abwenden. Rückzug als Schutz, denn wenn ich mich öffne, wenn ich wehrlos bin und verletzt werde, kann er immer wieder zuschlagen und siegen.
Diesem Trieb in mir gelingt es, mit mir unbemerkt zu spielen. Er, der mir zu vertraut, zu nah ist, er lässt das Kind in mir verstummen, oder versperrt mir den Zugang zu diesem. Wie gerne würde ich ihn früh genug erkennen, anstatt uns in seine Hände zu spielen. Ist dies mein Schicksal, mein Leben? In mir die Hoffnung, das dieses Kind dennoch immer stärker sein Recht zu Leben einfordert und ich seltener erstarre.
Wieder der Blick in den Spiegel, wieder das Erschrecken über das, was mir darin begegnet. Suchend, abtastend,verändern sich die Augen? Täuscht mich mein Sehnen?
Nein, kein Trugbild, ich fühle die Nässe auf meiner Haut, die ich auf den Wangen der anderen sehe. Ich fühle wieder Leben in mir. Leben, das mir helfen wird, die Wunden in mir zu versorgen. Die Zeit wird das Übrige dazu beisteuern. Aber erkannt: auch die Selbstzerstörung wird wieder ihre Zeit bekommen, zuerst unbemerkt nach mir greifen, mich lähmen. Und ich, ich werde leiden und dieses Leiden an mein Umfeld weitergeben. Warum nur, warum? Die Frau im Spiegel lächelt mir aufmunternd zu, als wolle sie sagen: Wir werden uns wehren und dem Kind in uns beistehen, gegen unsere Abgründe. Ich wende mich ab, verlasse den Raum, ahnend, dass dieses nicht das letzte Zwiegespräch mit der Frau im Spiegel oder dem kleinen Mädchen in mir war.
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
..den Menschen, die mich durch mein Leben begleiten