Meine beiden Leben
Der Anfang vom Ende
Jessica Johanna Winter
Über das Buch
Vor zwanzig Jahren lernte Jess unter mysteriösen Umständen den faszinierenden Vampir Christoph Ledoux kennen. Mit höchster Raffinesse umgarnte er sie und rang ihr das Versprechen ab, nach ihrem Tode für immer die Seine zu werden. Eine folgenschwere Entscheidung, wie sich herausstellte, denn ihr menschliches Leben nahm daraufhin einen vollkommen anderen Verlauf.
Nun aber ist der Moment gekommen, dieses Versprechen einzulösen, denn Jess sitzt in einem Flugzeug, das unweigerlich abstürzen wird. Mit einer riskanten Aktion sorgen Christoph und der Todesengel Raphael dafür, dass sie die Wandlung tatsächlich vollziehen kann, doch ihre neue Existenz als Vampirin und die ewige Liebe zu Christoph sind von drohendem Unheil überschattet.
Im Hintergrund zieht jemand sämtliche Register, um Jess zu vernichten – und dieser Jemand ist mächtig, skrupellos und äußerst gefährlich. Ein verzweifelter Kampf gegen einen gesichtslosen Feind beginnt …
Kapitel 1 – Wie alles begann
Ja, es war eine unausweichliche Tatsache, das wurde ihr in diesem Moment klar. Das Flugzeug wird abstürzen, und alle an Bord werden dabei ums Leben kommen.
Das erkannte sie an dem Blick, mit dem er sie ansah. Er war einerseits ruhig und besonnen, andererseits in freudiger Erwartung und aufgeregt. Für ihn war es das Ziel seiner Träume, das Ende einer sehr langen Wartezeit. Nun würde sie bald ihm gehören. Für immer und nur ihm.
Seine Ruhe und Gelassenheit übertrug sich auf Jess, die das Unvermeidbare zu akzeptieren begann. Ihr Blick schweifte über die Gesichter der Fluggäste in ihrer Nähe, die nicht ahnten, was auf sie zukam. Einige wirkten etwas beunruhigt wegen der schweren Turbulenzen, die ihre Maschine gerade durchflog, und andere schienen alles einfach hinzunehmen. Geradeso, als würden sie sich zurücklehnen und Frieden mit der Welt schließen.
Ihr blieb noch eine halbe Stunde. Was sollte sie tun? Toben, schreien, weinen?
Nein, so soll mein Leben nicht enden, entschied Jess ruhig.
***
Als sie vor einer Stunde in das Flugzeug gestiegen war, schien die Welt noch in Ordnung. Die letzten vier Tage waren die schönsten seit Langem gewesen.
Jess befand sich auf dem Rückflug von der Hochzeit ihrer Freundin Hetty, die mit ihrem frischgebackenen Ehemann Cloud in einem kleinen Vorort von Paris wohnte. Die Freundinnen hatten sich schon über zehn Jahre nicht mehr gesehen und entsprechend groß war die Freude über die Einladung gewesen. Es war so aufregend! Eine Hochzeit in Paris, der Stadt der Liebe ... Auch wenn ihr selbst nicht so viel Glück beschieden gewesen war; ihr Ehemann hatte sie vor dreizehn Jahren wegen einer Jüngeren verlassen.
Alle hatten bezweifelt, dass Hetty, die schon siebenundvierzig war, jemals in den Stand der Ehe treten würde, und nun war sie als Einzige der vier ehemals besten Freundinnen glücklich verheiratet.
Maria lebte zwar mit ihrem Mann Peter im selben Haus, aber mehr verband die beiden nicht mehr miteinander. Als die Kinder größer wurden und schließlich ihre eigenen Wege gingen, zog er in eines der leeren Kinderzimmer. Aus dem anderen wurde ein Fernsehzimmer, für ihn ganz allein. Er vergaß einfach, dass er verheiratet war, und Maria nahm es hin.
Sarah ließ sich nach nur drei Jahren Ehe von ihrem Mann Robert scheiden. Wegen „unüberbrückbarer Differenzen“, wie es offiziell hieß. In Wahrheit war der Zauber im Schlafzimmer verschwunden. Anfangs stellte Sarah es sich herrlich vor, immer nur mit demselben Mann zusammen zu sein. Sie würde seine Vorlieben kennen, seine Bedürfnisse, und könnte sich vollkommen auf ihn einstellen. Schon bald aber verlor sie das Interesse an dem stetig gleichen Trott und suchte anderweitig Abwechslung. Die Scheidung der beiden war für alle eine Erlösung, auch für die Freundinnen.
Und Jess? Ja, sie war noch verheiratet, aber nur auf dem Papier. Bald nachdem ihr Mann Alex einen unerwarteten beruflichen Aufschwung erlebt hatte, musste sie feststellen, dass er sie betrog. Nicht nur das eine Mal, als sie ihn in flagranti mit seiner rothaarigen Sekretärin im Büro erwischt hatte, sondern schon all die Jahre zuvor nutzte er jede Gelegenheit, die sich für ein Abenteuer bot.
Vor dreizehn Jahren war er dann ausgezogen. Er wohnte jetzt in einem netten kleinen Haus auf der anderen Seite der Stadt, mit seiner neuen, fünfundzwanzig Jahre jüngeren Freundin. Die Scheidung wurde nie eingereicht. Dazu fehlte ihnen der Mut. Aber sie wussten beide, dass es nie wieder ein „Jess und Alex“ geben würde. Das war völlig klar.
***
Paris! Der Eiffelturm, die Basilika Sacré-Cœur, die Champs-Élysées, der Triumphbogen, Notre-Dame de Paris, der Louvre, Centre Pompidou, das Pantheon, Moulin Rouge ... Jeden einzelnen Ort hatte sie besucht. Und erst die Hochzeit!
Cloud war ein liebenswerter Mann, und er liebte Hetty wirklich. Das konnte jeder sehen. Die Feier fand im kleinen Kreise statt. So um die fünfunddreißig Personen. Die Zeremonie auf Französisch verlieh dem Ganzen einen besonderen Touch. Die anschließende Zusammenkunft im Garten eines kleinen Restaurants, unter einem weißen Baldachin mit unzähligen Rosenarrangements, weckte nicht nur bei Jess romantische Gefühle. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Unter den Bäumen lud eine kleine gepflasterte Fläche zum Tanzen ein. Auf eine Band hatte man verzichtet, stattdessen wurden CDs abgespielt, die das Brautpaar für diesen Abend zusammengestellt hatte.
Das Schild an der Terrassentür wies auf eine geschlossene Gesellschaft hin, dennoch konnte jeder ungehindert in den Garten gelangen. In Erinnerung an frühere Zeiten, als sie noch gemeinsam unterwegs waren, schmuggelte Hetty auch ein paar Lieder für ihre beste Freundin auf die CDs. Eros Ramazzotti schmetterte gerade eine seiner Liebesarien, als zwei Hände Jess umfingen. Sie brauchte nicht erst nachzusehen, wessen Hände das waren. Die Berührung erfasste umgehend ihr Herz und wärmte es. Kein Zweifel, das konnte nur Christoph sein. Mit einem wissenden Lächeln drehte sie sich leicht zu ihm um.
Ohne ein Wort nahm er ihre Hand und führte sie auf die Tanzfläche. Sie fragte ihn nicht, was er hier machte. Sie sahen sich nur in die Augen und versanken vollkommen in dem Tanz. Selbst als der nächste Song begann, sprach keiner der beiden ein Wort. So wie er gekommen war, verschwand er wieder. Still und unauffällig.
Nun wusste sie, warum er da gewesen war. Er hatte vorausgesehen, was geschehen würde, und wollte ihr den letzten Tanz ihres Lebens schenken. Endlich löste Jess den Blick von den anderen Passagieren und wandte sich ihm zu. Ihm, Christoph.
Wie war es eigentlich so weit gekommen? Warum saß sie jetzt hier, Christoph vor ihr im Gang kniend, mit diesem allwissenden, beruhigenden Lächeln im Gesicht? Warum strahlte dieses Lächeln nur für sie? Warum empfand sie nicht jene Panik und Hysterie, die sie aus Filmen kannte, wenn den Menschen bewusst wurde, dass dies das Ende war?
Seinetwegen, kam ihr in den Sinn. Er hatte ihr gesagt, sie solle darauf vertrauen, dass alles richtig war und alles gut wurde. Und sie glaubte ihm, wie all die Jahre zuvor. Keine Ahnung, warum, es war einfach so, von Anfang an.
Von Anfang an, hallte es durch ihre inzwischen leicht betäubten Gedanken. Wann war dieser Anfang eigentlich gewesen? Wie hatte es begonnen? In ihrem Kopf entstand ein Bild.
***
Sommer 1992. Jess war fünfundzwanzig, verheiratet und Mutter zweier Kinder im Alter von vier und sechs Jahren. Die Familie verbrachte den Urlaub zusammen mit Freunden und deren Sohn in einem idyllischen Ferienhaus in der Toskana. In Montemassi genauer gesagt, knapp zwei Stunden von Florenz entfernt. Eine der schönsten Gegenden, die sie bisher gesehen hatte. Das Haus stand auf einem kleinen Hang unterhalb der eigentlichen Stadt, etwa fünfzehn Minuten Fußweg entfernt. Es gab dort insgesamt vier kleine, aber gemütliche, im toskanischen Stil eingerichtete Ferienwohnungen mit einem großen Pool und einem Spielplatz für die Kinder.
Erfreut nahm Alex sie in den Arm und betrachtete mit ihr die wild-romantische Gegend, nachdem er die Koffer ins Schlafzimmer gebracht hatte. Marc und Jonas, ihre Söhne, liefen mit ihrem Freund David vergnügt zwischen den beiden Wohnungen hin und her und begannen anschließend das gesamte Grundstück zu erkunden. Tanja und Manfred, die Freunde, gesellten sich zu Jess und Alex und gemeinsam genossen sie für ein paar Minuten die Ruhe und die fantastische Aussicht.
Das war der erste Urlaub, seit die Kinder auf der Welt waren. Dementsprechend groß war die Vorfreude auf die beiden bevorstehenden Wochen.
Ihre Wohnung und die der Freunde lagen nebeneinander. So konnten die Tische auf der ausladenden Terrasse zusammengestellt werden. Von dort bot sich ein weitläufiger Blick über Weinberge und Olivenhaine, die sich scheinbar unendlich dahinzogen. Sowohl während der gemeinsamen Mahlzeiten als auch bei dem anschließenden gemütlichen Beisammensein mit einem Gläschen Wein nahm Jess das einzigartige Panorama in sich auf.
Sie gehörte zu den Frühaufstehern in der kleinen Runde und freute sich jedes Mal aufs Neue über die Ruhe und den Frieden in den Morgenstunden. Die anderen schliefen noch tief und fest, als sie aufbrach, um zu Fuß den Weg in die Bäckerei zurückzulegen. Den Tag so zu beginnen, ohne den üblichen Stress zu Hause – ein befreiendes Gefühl. Jess fasste den Entschluss, dass dieser Spaziergang für den Rest ihres Urlaubs zu einem festen Ritual werden sollte.
Es war der dritte Urlaubstag, und sie genoss auch an jenem entscheidenden Morgen die Einsamkeit auf dem befestigten Schotterweg, zwischen Olivenhainen bis hinauf in die kleine Ortschaft.
Von Weitem schon sah sie einen Mann reglos in der Sonne stehen. Er betrachtete sie eingehend. Mit unverminderter Geschwindigkeit ging sie weiter, bis sie direkt vor ihm stand. Sein strahlendes Lächeln gab den Blick auf eine Reihe makelloser Zähne inmitten eines göttlichen Gesichtes frei, mit feinen Zügen, einem perfekten Kinn und den niedlichsten Grübchen, die sie je gesehen hatte. Ihr Blick wurde fast sofort von den smaragdgrünen, leuchtenden Augen und dem Meer von Wimpern abgelenkt, die ihm bis auf die Wangen reichten, wenn er blinzelte.
Wahnsinn, wie kann ein Mensch nur so schön sein, war ihr erster Gedanke.
„Buongiorno“, grüßte er höflich, wobei er eine leichte Verbeugung andeutete.
„Buongiorno“, antwortete sie irritiert. Sie war so in seinen Augen versunken, dass sie nicht damit gerechnet hatte, er könnte sie ansprechen. Sein Lächeln wurde noch herzlicher, und er fragte: „Come stai?“
„Häh?“ Totaler Blackout.
„Come stai?“, wiederholte er seine Frage freundlich.
„Oh, benissimo, grazie, e tu“, hauchte sie leicht verlegen.
„Anch‘io sto molto bene“, antwortete er zuvorkommend.
Raschen Schrittes setzte sie ihren Weg fort. Nach fünfzig Metern, kurz vor der Rechtsbiegung, drehte sie sich verstohlen um. Er stand noch genau so regungslos da wie zuvor und sah ihr verwundert, aber auch interessiert hinterher.
„Unglaublich“, flüsterte sie leise und konzentrierte sich wieder auf den Einkauf.
Während sie in der kleinen Panificio dal Alfredo darauf wartete, an die Reihe zu kommen, dachte sie über die eigenartige Begegnung mit dem hübschen jungen Mann nach. Er wirkte rätselhaft, aber trotzdem hatte sie seine Gegenwart nicht als unangenehm empfunden. Das wurde ihr erst jetzt klar.
Eigenartig, eigentlich sollte ich mich nicht wohl dabei fühlen, mitten im Nirgendwo einem völlig Fremden gegenüberzustehen, aber …
„Prego“, sagte in diesem Augenblick die kleine rothaarige Verkäuferin, die sie auch schon an den letzten beiden Tagen bedient hatte. Jess kaufte zehn Brötchen und machte sich auf den Rückweg. Sie war spät dran, die Kinder würden schon auf das Frühstück warten.
An der Stelle, wo zuvor der geheimnisvolle Mann mit den wunderschönen Augen gestanden hatte, lag eine einzelne langstielige, blutrote Rose. Ohne darüber nachzudenken hob sie das kleine Präsent auf, sog den köstlichen Duft ein und erreichte fünf Minuten später ihre Lieben, die schon sehnsüchtig auf der Terrasse warteten. Alex wirkte sichtlich überrascht, als eine rote Rose den Frühstückstisch schmückte.
Schon bevor Jess am nächsten Morgen aufbrach, hoffte sie im Stillen, dass der geheimnisvolle Fremde wieder auf sie warten würde. Enttäuscht und erleichtert zugleich ging sie weiter, als die Stelle leer war.
Aber es sollte anders kommen. Suchend blickte sie sich um, als auf dem Rückweg an genau demselben Platz eine weitere langstielige rote Rose auf sie wartete. Die zweite von vielen, die bis zum Ende ihres Urlaubs dazukommen sollten.
Nach einer Woche war Alex bei ihrem morgendlichen Spaziergang mit von der Partie. Das war untypisch für ihn, denn normalerweise schlief er immer sehr lange. Allerdings beachtete Alex sie kaum. Er war zu sehr auf die Umgebung und den vor ihnen liegenden Weg konzentriert, um zu bemerken, dass sie ihn die ganze Zeit argwöhnisch von der Seite musterte.
„Jetzt verstehe ich, was los ist. Du willst gar nicht mit in die Bäckerei. Es geht dir um die Rosen. Du möchtest herausfinden, wer sie mir auf den Weg legt. Du bist eifersüchtig! Habe ich recht? Sieh mich an, ist das der Grund, warum du mich begleitest? Ich glaube es einfach nicht“, polterte sie ohne Vorwarnung los.
Darauf konnte Alex nichts erwidern. Er sah verlegen zu Boden und vermied es tunlichst, ihr in die Augen zu schauen. Sie hatte recht, und er wusste, dass er sie damit verärgert hatte. Er kannte sie gut genug, um zu ahnen, was nun kommen würde.
Jess war ein wirklich liebenswerter, hilfsbereiter und zuvorkommender Mensch, aber wenn sie richtig sauer war ... Tja, dann wurde der Himmel dunkel und die Wolken zogen mit hoher Geschwindigkeit und zerstörerischer Kraft über einen hinweg. Davon konnte er ein Lied singen. Nicht umsonst nannte er sie liebevoll seine „kleine Jess, der Tornado“.
Sie ging auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste zärtlich seine Wange. Überrascht hob er den Kopf und sah fragend in ihr lächelndes Gesicht.
„Tja, besser eine späte Reaktion als gar keine. Ich dachte schon, ich sei dir vollkommen egal.“ Fröhlich summend schlenderte sie weiter in Richtung Stadt.
Diesmal war der Rückweg leer. Keine Rose. So ist es auch besser, dachte sie und hakte sich zufrieden bei Alex unter.
Den Rest des Tages verbrachte die Familie zusammen mit Manfred, Tanja und David am etwas entfernten Strand in Follonica. Nach dem gemeinsamen Abendessen genossen sie eine eisgekühlte Flasche Weißwein, bevor alle zu Bett gingen.
In dieser Nacht fand Jess keine Ruhe. Es war unerträglich heiß und stickig. Der Tag hatte bereits über 43 Grad gebracht, und die Nacht kühlte auch nicht wirklich ab, was für diese Gegend vollkommen untypisch war. Meistens waren die Nächte um einiges frischer, sodass der Schlaf erholsam ausfiel. Nicht so in dieser Vollmondnacht.
Eine innere Stimme flüsterte, dass es draußen besser sei. Rasch schlüpfte sie in Shorts und warf sich ihr gelbes Lieblingsshirt über. Barfuß schlich sich Jess aus dem Haus, in der Hoffnung, dort das erhoffte frische Lüftchen zu erwischen. Aber selbst hier war es nicht besser als drinnen, musste sie ernüchtert feststellen. Ohne darüber nachzudenken schlug sie den Weg zum Pool ein, der ein Stück unterhalb der Wohnungen lag, umgeben von Zypressen und Oleanderbüschen. Dort setzte sie sich an den Rand und tauchte die Füße in das etwas kühlere Wasser.
Ein Rascheln hinter ihrem Rücken ließ sie kurz erstarren. Dann fuhr sie hoch und drehte sich angespannt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Am Stamm der einzigen Schirmpinie in nächster Umgebung lehnte ein Schatten. Als er sich löste, wollte sie losrennen, wurde jedoch unvermittelt von einer inneren Ruhe überflutet, die sie lähmte. Der Schatten kam näher und bald erkannte sie den faszinierenden Fremden, der ihr vor einer Woche auf dem Weg zum Ort begegnet war. In der Hand eine einzelne langstielige, blutrote Rose. Es sind also wirklich seine, dachte sie erfreut.
Er trat auf sie zu, ein atemberaubendes Lächeln im Gesicht, und überreichte ihr die Rose. „Scusi, non abbia paura. È solo un regalino.“
Mit großen Augen sah sie ihn fragend an. „Non capisco, scusi.“
Sichtlich überrascht sprach er weiter: „Non parla l‘italiano?“
„Parlo l’italiano solo un poco, scusi. Sono austriaca“, gab sie mühsam von sich.
„Ah, Sie sprechen also Deutsch?”, stellte er ohne hörbaren Akzent fest.
„So was in der Art.”
Darüber lachte er herzlich. „So was in der Art?“, fragte er spöttisch.
„Wir haben unseren eigenen Dialekt, wie Sizilien und der Rest von Italien“, antwortete sie unbekümmert.
„Ich verstehe“, war seine einzige Reaktion. Er musterte sie eingehend mit seinen unergründlichen smaragdgrünen Augen und ihr wurde schwindelig. Dieser 1,85 Meter große Mann strahlte etwas Besonderes aus. Seine Bewegungen, die Art zu lächeln und zu sprechen zeugten von Ruhe, Geborgenheit und Sicherheit, gleichzeitig schlummerte etwas Gefährliches, Wildes in ihm. In ihr kämpften Gefühle höchsten Glücks und größter Alarmbereitschaft.
„Tut mir leid, dass ich Sie vorhin erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Ich hatte heute Morgen keine Gelegenheit, Ihnen diese Rose zu überreichen, und das wollte ich gerne nachholen“, erklärte er höflich.
Sie war verwirrt. „Warum haben Sie sie nicht auf den Weg gelegt, so wie immer?“
„Sie waren in Begleitung und ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen“, entgegnete er schnell.
„Vielen Dank, nun habe ich sie ja erhalten. Wie heißen Sie, wenn ich fragen darf? Ich bin Jess“, sagte sie und hielt ihm die Hand entgegen.
Mit dem Anflug eines Lächelns um die Mundwinkel ergriff er sie, verbeugte sich und gab ihr einen formvollendeten Handkuss. „Man nennt mich Christoph.“ Und so schnell, wie er gekommen war, verschwand er im Dunkel der Nacht. Da stand sie nun – erschrocken, glücklich, erleichtert, enttäuscht – mit einer langstieligen, blutroten Rose in der Hand.
Am übernächsten Morgen wollten die Kinder unbedingt an den Strand. Jess hatte keine Lust und blieb stattdessen allein zurück. In Ruhe ein Buch am Pool genießen und später mit dem Bus in die Stadt fahren, um ein paar Einkäufe zu erledigen. So stellte sie sich diesen Tag vor.
Gut gelaunt setzte sie ihren Walkman auf und begann zu lesen. Schon nach ein paar Seiten stieg eine Unruhe in ihr hoch, die sie sich nicht erklären konnte. Angespannt sah sie sich um – nichts. Alles ruhig, niemand da, der nicht hierhergehörte.
Nur die Familie aus der Wohnung im ersten Stock war hier. Ein russisches Ehepaar mit zwei Kindern im Teenageralter, die sich im Schatten unter den hinteren Bäumen aufhielten. Das Mädchen war wohl etwa sechzehn und schrieb die ganze Zeit in sein Tagebuch. Der Junge, etwas jünger, liebte es, seine Schwester zu ärgern. Gerade eben klaute er ihr das Tagebuch und lief in Richtung Auffahrt. Aber irgendetwas stimmte nicht.
Jess‘ Blick ging ständig zum Parkplatz hinüber, als warte sie auf jemanden. Ein sattes Motorengeräusch drang trotz der Kopfhörer an ihr Ohr. Wieder starrte sie erwartungsvoll auf den Parkplatz, als ein schwarzer Porsche vorfuhr. Sie hob eine Augenbraue und dachte, dass der sich ganz schön verfahren haben musste. Alle Wohnungen waren besetzt und weitere Häuser gab es in der näheren Umgebung nicht.
Die Wagentür öffnete sich und er stieg aus. In seinen schwarzen Hosen, dem halb aufgeknöpften weißen Hemd, und dunkler Sonnenbrille sah er aus wie ein griechischer Gott, der gerade dem Olymp entschwebt war.
Oh mein Gott! Etwas anderes zu denken überstieg im Moment ihre Fähigkeiten. Sie schluckte schwer.
Mit dem Lächeln, das sie schon bei ihrer ersten Begegnung aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, kam er direkt auf sie zu. Da sie keine Ahnung hatte, was sie als Nächstes machen sollte, blieb sie einfach liegen, das Buch in der Hand und den Walkman auf den Ohren. Gerade lief „Cosse de la vita“ von Eros Ramazzotti und sie schmolz dahin. Genau vor ihr blieb er stehen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Mit ernster Miene sah er auf sie nieder, hob eine Augenbraue und fragte: „Eros Ramazzotti und Danielle Steel?“
Uff, das war nun wirklich peinlich. Schnell entledigte sie sich der Kopfhörer, schaltete das Gerät aus und versuchte ihre Verlegenheit in den Griff zu bekommen, während das Buch unter der Liege verschwand. Er brach in schallendes Lachen aus und reichte ihr die Hand. „Würden Sie mich bitte begleiten? Wir müssen unbedingt miteinander reden.“
Als sie nicht sofort reagierte, fügte er hinzu: „Sie können Ihren Nachbarn gerne meinen Namen und mein Autokennzeichen hinterlassen, wenn Sie sich dann sicherer fühlen.“ Die Wärme in seiner Stimme brannte stärker als die Sonne. „Ich verspreche Ihnen, wir fahren nur nach Siena. Wir können gemeinsam zu Mittag essen, wenn es Ihnen recht ist. Dort können Sie dann gleich die Einkäufe erledigen, die Sie noch machen wollten. Wir sind rechtzeitig zum Abendessen zurück. Bitte vertrauen Sie mir. Es ist wirklich wichtig, und Ihnen wird kein Schaden entstehen. Das schwöre ich“, ergänzte er ernst.
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund glaubte sie ihm. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und steuerte auf das Apartment zu. Unaufgefordert wartete er vor der Eingangstür. Im Zimmer schlüpfte sie rasch aus dem Bikini, zog eine schwarze Caprihose an, dazu eine weiße, kurzärmelige Bluse mit Rüschen am Ausschnitt. Kurzerhand entschied sie sich für hohe Sandalen. Schließlich wollte sie zu dem prächtigen Auto passen, in dem sie gleich sitzen würde. Vorfreude machte sich breit, ob der Fahrt in dem Wagen der Extraklasse. Im Hinausgehen griff sie nach ihrer Tasche und spritzte geistesabwesend ein paar Tropfen ihres Lieblingsparfums hinter die Ohren. Schon verließ sie das Haus, ohne auch nur einmal daran zu denken, ihren Nachbarn den Namen und das Kennzeichen des unbekannten Mannes zu hinterlassen.
Wie erwartet war der Komfort in dem Porsche fantastisch. Noch nie hatte sie in so einem imposanten Wagen gesessen. Außen schwarz, mit getönten Scheiben, innen cremefarbenes Leder und die Armaturen aus edelstem Mahagoni. Sie vermutete, dass allein die Soundanlage mehr kostete, als sie als Chefsekretärin in drei Monaten verdiente. Sie war beeindruckt.
Die Fahrt auf der kurvenreichen Straße wurde rasch schneller. Christoph war ein sehr guter Fahrer und der Wagen lag in den Kurven wie auf Schienen. Trotzdem machte ihr die Geschwindigkeit Angst. Nach fünf Minuten wagte sie erstmals, ihn direkt anzusehen, und fragte: „Wird das Essen kalt?“
„Warum?“ Er starrte sie verwirrt an.
„Weil Sie fahren wie ein Irrer. Ist Ihnen eigentlich klar, dass man in Autos sterben kann? Das geht oft schneller, als Sie glauben.“ Für einen Italiener war er generell recht bleich, viel zu bleich, wie sie fand, aber jetzt wurde er weiß wie eine Wand. Bei diesem Anblick erschrak sie zutiefst.
Er trat sofort auf die Bremse und verlangsamte seine Fahrt drastisch. Erleichtert lehnte sie sich im Sitz zurück, und zum ersten Mal, seit sie in diesen Wagen gestiegen war, konnte sie die Landschaft wirklich genießen. Wie in einem Film zogen herrliche Dörfer, Sonnenblumenfelder, Weingärten und das saftige Grün der Zypressen vorbei.
Nach knapp einer Stunde hatten sie Siena erreicht und hielten direkt vor einer kleinen Trattoria am Rande der wunderbaren Altstadt. Ganz der alten Schule entsprechend stieg er aus und eilte auf die andere Seite, um ihr die Tür zu öffnen. Galant reichte er ihr die Hand und schneller als gedacht stand sie auf dem Bürgersteig.
Nachdem ihnen von einem Kellner ein freier Tisch zugewiesen worden war, brachte man ihnen die Speisekarte. Er bestellte eine Flasche Chianti und fragte höflich: „Was möchten Sie essen?“
„Wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich im Moment überhaupt keinen Hunger. Vielleicht eine Flasche Wasser zum Wein, wenn es Ihnen recht ist.“
Auch er habe keinen Hunger, versicherte er und nippte an seinem Glas. Ein Rosenverkäufer schlich an ihrem Tisch vorbei und wie selbstverständlich erwarb er eine weitere rote Rose. Als er zu sprechen begann, war seine Stimme belegt. „Jess, ich muss Sie etwas fragen.“
„Du!“, entgegnete Jess.
„Wie bitte?“
„Nach den goldenen Benimmregeln meiner Mutter darf man einem Mann nach der zehnten Rose das Du anbieten, und wenn ich richtig gezählt habe, ist das die zehnte“, sprach sie und sog andächtig den himmlischen Duft ein.
Er lächelte amüsiert. Seine Unsicherheit über das bevorstehende Gespräch schien zu schwinden. Er wirkte gelassener. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass er mit dem Du bereits sein Ziel erreicht hatte.
„Jess“, begann er von Neuem, „ich muss mit dir reden.“ Eine kurze Pause entstand, und er nahm einen großen Schluck Wein. „Aber hier ist nicht der richtige Ort dafür. Würdest du mir nochmals vertrauen und mich begleiten? Auf dem Weg dahin können wir gleich am Einkaufszentrum stehen bleiben, damit du deine Einkäufe erledigen kannst. Einverstanden?“
Sie überlegte kurz. War es das, was sie tun sollte, oder war es besser, hier und jetzt etwas zu beenden, das noch nicht einmal begonnen hatte? Sie verlor sich in den Tiefen seiner smaragdgrünen Augen, nur einen Moment, wie ihr schien. Aber dieser Moment veränderte alles.
„Aber sicher doch, gerne. Ich folge dir, wohin du willst“, hörte sie sich sagen und war von ihrer Antwort selbst genauso überrascht wie er. Was war das denn?! Aber jetzt war es zu spät. Sie hatte bereits eingewilligt und wusste nicht, wie sie da wieder herauskommen sollte. Eine Viertelstunde später standen sie auf dem Bürgersteig und stiegen in den Porsche.
Wie versprochen hielt er am Einkaufszentrum. Kurz wunderte sie sich noch, woher er überhaupt wusste, dass sie heute noch zum Einkaufen wollte.
Auf ihrem Weg lag ein Spielzeugladen, in dessen Auslage ein teurer ferngesteuerter Jeep stand. Das wäre das Passende für unsere Kids, dachte Jess wehmütig, aber letztendlich siegte ihr Verstand und rasch eilte sie voraus. Bereits nach zwanzig Minuten saßen beide wieder im Auto und fuhren aus der Stadt. Es ging den Hügel hinauf ins Hinterland von Siena und schon nach ein paar Kurven waren keine Häuser mehr neben der Straße zu sehen.
Zehn Minuten später erreichten sie ein mit Sträuchern eingefasstes Grundstück. Das automatische Tor öffnete sich und gab den Blick auf eine fantastische Villa mit Pool und einer gepflegten Gartenanlage frei. Eine lange Kiesauffahrt, gesäumt von etlichen Metern hohen Zypressen, führte zum Haus hinauf. Auf den Hügeln links und rechts erstreckten sich unendlich erscheinende Reihen von Weinstöcken. Ein berauschender Duft von Lavendelsträuchern und Oleanderbüschen empfing Jess, als ihr Christoph aus dem Porsche half, um sie ins Innere des Hauses zu führen.
Die Empfangshalle war überwältigend. Das alte toskanische Weingut bestand aus einem Mitteltrakt und zwei Seitenflügeln. Mit zehn Schlafzimmern, ebenso vielen Bädern und einer Wohnfläche von über siebenhundert Quadratmetern, wie ihr Christoph erklärte. Der Traum eines jeden Hausbesitzers. Der sonnendurchflutete Eingangsbereich fesselte sie sofort. Zu beiden Seiten führte eine ausladende Treppe in den oberen Bereich. Im Bleikristallbehang des imposanten Kronleuchters brach sich das Tageslicht und spiegelte alle Farben des Regenbogens auf dem weißen Marmorboden. Andächtig bestaunte sie alles ausgiebig. Dann durchquerten sie die Halle und gingen durch die weit geöffneten Doppelflügeltüren eines weiteren Raums in den hinteren Bereich der Villa.
Eine überdachte Terrasse mit einer einladenden Rattan-Garnitur und gemauertem Grill erwartete sie. Auf dem Rasen erblickte Jess einen Pavillon, direkt daneben erhob sich ein Springbrunnen mit drei hochgestellten Delfinen in der Mitte, aus deren Maul in hohem Bogen das Wasser spritzte. Jess nahm die Schönheit des Ganzen mit ehrfürchtigem Blick in sich auf. Das passt perfekt zu diesem Mann, einfach unglaublich, dachte sie.
Christoph trat hinter sie und legte behutsam eine Hand auf ihre Taille. „Bitte setz dich doch“, bat er. Eine Frau Ende zwanzig mit schwarzem, schulterlangem Haar trat aus dem Haus und brachte ein Tablett voll eisgekühlter Getränke, Wein und eine Schale mit frischem Obst.
Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt hinüber, dachte Jess und beschloss, keinesfalls auf die Toilette zu gehen, solange sie hier war.
Über den mit Platten ausgelegten Weg schlenderten zwei weitere Personen auf die Veranda zu. Ein Mann und eine Frau. Der Mann stellte sich als Rodriguez vor. Er hatte dichtes hellbraunes Haar, das er bis zum Hemdkragen nach hinten gekämmt trug. Seine Koteletten wirkten reichlich altmodisch, passten aber recht gut zu seiner Gesamterscheinung. Im Gegensatz zu Christophs smaragdgrünen Augen wirkte das Grün der seinen verwaschen. Nicht einmal annähernd so strahlend. Er dürfte so um die dreißig sein, schätzte sie grob.
Die Frau, sie nannte sich Carla, war um einiges jünger. Höchstens zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt. Sie trug ein kurzes blaues Kleid, das ihre blonde Lockenmähne ausgezeichnet zur Geltung brachte, die ihr bis auf die Taille reichte. Mit den blauen Augen und den kindlichen Zügen erinnerte sie an eine Puppe. Lediglich die kleine Narbe auf ihrer Stirn zeugte davon, dass sie echt war und nicht aus Porzellan. Jess mochte sie sofort. Nachdem sie einander vorgestellt worden waren, nahmen alle an dem Tisch Platz und Carla goss jedem ein Glas Chianti ein.
„Jess, wie ich schon sagte, muss ich dringend mit dir reden. Du fährst in drei Tagen nach Hause und meine Zeit wird knapp.“ Irritiert und fragend sah sie zu Christoph hoch, während er einfach weitersprach. „Es gibt etwas, das du über mich wissen musst.“ Eine kleine Pause entstand, und es wirkte, als wisse er nicht genau, wie er sich ausdrücken sollte.
„Es wird dich erschrecken, aber ich versichere dir, egal, wie du dich entscheidest, dir wird nichts geschehen. Tu mir nur bitte den Gefallen und hör dir meine Geschichte bis zum Ende an. Erst dann triff deine Entscheidung. Okay?“
Seine Einführung begann sie zu verunsichern. Fest biss sie die Zähne zusammen, setzte sich aufrecht hin, straffte den Rücken, sah ihm in die Augen und nickte. Sprechen war ihr in diesem Moment nicht möglich.
***
Christoph begann ohne weitere Umschweife mit seiner Geschichte: „Ich wurde 1211 in Marseille geboren. Mein Vater war ein Cousin dritten Grades des Grafen Theobald IV. von Champagne, der seit 1234 als König von Navarra regierte.
Im Juli 1239 brach Theobald zu einem Kreuzzug nach Palästina auf. Für meinen Vater stand außer Frage, dass ich ihn begleiten sollte. Nach unserer Abfahrt in Marseille geriet unsere Flotte in einen schweren Sturm. Am nächsten Morgen war unser Schiff das einzige weit und breit. Keiner wusste, ob der Rest unserer Flotte gesunken war oder einfach nur weit verstreut irgendwo dahinsegelte.
Theobald entschied, erst einmal den Hafen von Akkon anzulaufen, um dort abzuwarten, ob noch Schiffe folgen würden. Also setzten wir unsere Reise allein fort und erreichten nach fast zwei Monaten endlich unser Ziel. Im Laufe eines Monats trafen sämtliche Schiffe ein, mit Ausnahme der Arasha. Sie war mit dreihundertzwanzig Mann während des Sturmes untergegangen, wie uns vom Kapitän der Tabalon berichtet wurde, die in unmittelbarer Nähe gesegelt war.
Kurze Zeit später zogen wir mit viertausend Mann die Küste entlang Richtung Süden. Unser Ziel war, die Zitadelle von Askalon wieder zu errichten. Die Festung sollte der Grafschaft Jaffa als Deckung gegen Angriffe aus Ägypten dienen. Anschließend sollten wir Damaskus angreifen. Leider entpuppte sich Theobald als schlechter Anführer. Er war nicht in der Lage, die Disziplin seiner Männer aufrechtzuerhalten.
Wir erfuhren, dass sich ein Heer Ägypter in der Nähe von Gaza aufhielt. Eine Truppe von vierhundert Rittern trennte sich unter der Führung von Graf Bar von uns und griff sie an. Graf Bar fiel in dieser Schlacht, und die meisten seiner Männer kamen um oder wurden gefangen genommen. Als unser Hauptheer das Schlachtfeld erreichte, zogen sich die Ägypter zurück.
Meine Aufgabe bestand darin, die linke Flanke zu sichern. Eine kleine Gruppe unserer Feinde hatte ihre Flucht vorgetäuscht und hielt sich im nahen Wald versteckt. Ich nahm mit fünfzehn Mann die Verfolgung auf. Es war eine Falle, wie wir erst viel zu spät erkannten. Wir hatten keine Chance. Es gab ein kurzes, aber grausames Gemetzel. Schwer verletzt ging ich zu Boden.
Es war bereits dunkel, als ich erwachte, und zudem verdächtig still. Niemand in meiner Nähe atmete mehr und Angst durchflutete mich. Nach geraumer Zeit hörte ich jemanden auf mich zukommen. Ein Mann beugte sich über mich und musterte eingehend meine Verletzungen. Ich hatte wahnsinnigen Durst und bat ihn um Wasser. Er versicherte mir, dass ich sterben müsse, wenn ich nicht genau täte, was er mir sagte.
Mit den Zähnen öffnete er sein Handgelenk und hielt es mir an den Mund. ‚Trink‘, sagte er, ‚trink, ich befehle es dir.‘ Ich hatte so schrecklichen Durst. Kurze Zeit später schlief ich ein.
Als ich wieder erwachte, lag ich auf einem Strohlager in einer Hütte. Der Mann, sein Name war Estephan, erzählte mir seine Geschichte, so wie ich dir gerade meine erzähle. Er war ein Vampir, Jess, so wie ich seit jenem verhängnisvollen Tag vor siebenhundertdreiundsiebzig Jahren einer bin.“
Schweigen breitete sich auf der Veranda aus.
„Jess!“ Vermutlich sah er ihren ungläubigen Blick und das Entsetzen, das durch jede Faser ihres Körpers kroch. „Jess!“
Mit erhobener Hand gebot sie ihm Einhalt. Sie musste erst einmal verdauen, was sie da gerade gehört hatte. Hysterisch begann sie zu lachen, unterbrochen von einem geflüsterten Monolog: „Das ist nicht wahr, das gibt es nicht, das ist nicht echt. Du wirst hier ganz schön verscheißert, Jess. Aber das kommt davon, wenn man zu wildfremden Männern ins Auto steigt und mit ihnen in einsame Villen fährt. Tja, Jess, dumm gelaufen, aber die Rechnung dafür wirst du jetzt zahlen müssen.“
Christoph wartete still ab. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch. „Ich weiß, dass das schwer zu glauben ist“, begann er von Neuem, „aber ich schwöre dir, es ist die Wahrheit. Ich bin ein Vampir.“ Bei den letzten Worten sah er direkt in ihre Augen und entblößte seine Zähne. Sein strahlendes Lächeln hatte sich verändert. Das eben noch makellose Gebiss wurde durch zwei lange, spitze Eckzähne unterbrochen. Sie machte einen Satz und sah fassungslos zu Carla und Rodriguez. Tja, Pech gehabt – noch mehr spitze Zähne.
Schneeweiß, von Angst erfüllt und einer Ohnmacht nahe verbarg sie ihr Gesicht hinter vorgehaltenen Händen. Das war einfach zu viel. Augenblicklich kniete Christoph neben ihr und griff nach ihrer Rechten. Seine Fangzähne waren verschwunden und das vertrauenswürdige, liebevolle Gesicht jenes Mannes, mit dem sie schon den halben Tag verbracht hatte, blickte ihr entgegen.
„Wir leben im Verborgenen. Menschen geben wir uns nur zu erkennen, wenn wir sie lieben. Wir suchen unsere ganze Existenz über nach dem einen Menschen, der diese Liebe bedingungslos erwidert. Ich habe sehr lange nach dir gesucht, und nun habe ich dich endlich gefunden. Jess, du bist die eine, auf dich habe ich all die Jahre gewartet.“
Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Sie wollte ihn trösten, wie eines ihrer Kinder nach einem schrecklichen Albtraum. Aber sie war es, die in einem gefangen war und am liebsten schreiend davongelaufen wäre. Weg von diesem Ort, weg von diesem Mann und weit weg aus diesem Land. Sie konnte es nicht.
Wie gelähmt saß sie einfach nur da. Es war kaum zu glauben, was hier gerade ablief. Nach fünf unendlichen Minuten hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie sich zutraute, eine Frage zu stellen. Ihre Stimme hörte sich zwar sehr zittrig an, aber das war im Moment nebensächlich. „Was erwartest du also jetzt von mir?“
„Du sollst mir nur sagen, ob du dir vorstellen könntest, nach dem Leben mit deinem Mann und deinen Kindern noch ein weiteres langes, langes Leben an meiner Seite zu verbringen.“
„Habe ich denn eine Wahl?“, entgegnete sie argwöhnisch.
„Du hast nichts von mir zu befürchten. Wenn du zustimmst, werde ich die nächsten fünfzig oder sechzig Jahre auf dich warten. Ich werde natürlich über dich wachen und dich ab und an einmal besuchen, aber ich werde dich weder bedrängen noch vor deiner Zeit herüberholen. Versprochen!“ Seine Stimme klang sehr einfühlsam.
In Jess‘ Kopf machte es klick. Als würde ein Schalter umgelegt. Die Situation überforderte sie maßlos und dementsprechend reagierte sie. „Du stehst also auf ältere Frauen?“
Die Vampire starrten sie fassungslos an. Der Ausdruck in Jess‘ Gesicht wechselte von unsicher zu grimmig. Mit einem Satz sprang sie auf und schrie jetzt beinahe: „Das ist ja fantastisch! Ich sehe es schon vor mir: du und ich beim Lunch im Jachtklub. Du frisch und faltenfrei mit deinen grob geschätzt dreißig Jahren und ich als alte, verschrumpelte Achtzigjährige mit weißen Haaren und Zahnprothese.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. „Natürlich, du hast kein Problem damit, alle werden dich bewundern und sagen: ‚Sieh mal, wie nett! Der hübsche junge Mann führt seine Oma zum Essen aus.‘ Oh ja, großartig, genau so stelle ich mir die nächsten eintausend Jahre vor! Ich kann es gar nicht mehr erwarten!“ Mit in die Hüften gestemmten Händen baute sie sich vor ihm auf.
Als nichts mehr folgte, brachen die drei Vampire in schallendes Gelächter aus.
„Entschuldige bitte, ich wollte nicht unhöflich sein, aber deine Reaktion hat mich doch ziemlich überrascht.“ Christoph musste sich sichtlich bemühen, nicht gleich wieder loszulachen. „Jess, genau das ist der Grund, warum ich dich heute um dein Einverständnis bitten muss.“ Sanft drückte er sie auf die Bank zurück und nahm neben ihr Platz. Ein tiefer Blick aus seinen magischen Augen traf sie, die unweigerlich an einen tiefen, klaren Bergsee erinnerten. „Es ist nämlich so: Der Zeitpunkt der Entscheidung ist das Ausschlaggebende“, setzte er an. „Nach deiner Wandlung wirst du an jenen Tag zurückkehren, an dem du dein Einverständnis gegeben hast. Es bedarf nur einer kleinen Zeremonie. So etwas wie eine Unterschrift auf einem Vertrag“, erklärte er sanft. „Er ist für beide Seiten gültig und von keinem Dritten anfechtbar. Einzige Ausnahme: Der gebundene Vampir ist bis dahin seinen zweiten, endgültigen Tod gestorben. Oder aber du entscheidest dich für das Licht.“
Auf Jess wirkte das alles noch immer, als wäre sie in einem schlechten Traum gefangen. „Und als Nächstes kommt der Osterhase in den Garten gehoppelt und spielt mit dem Weihnachtsmann Ringelrei.“ Wie von der Tarantel gestochen sprang sie von ihrem Platz auf, stürmte die Stufen der Veranda hinunter und rief über ihre Schulter: „Tut mir leid, ich brauche jetzt etwas Zeit für mich allein. Ich kann nicht denken, wenn so viele Leute um mich herum sind. Sorry.“
Mit schnellen Schritten rannte sie förmlich in Richtung Pavillon. Dahinter blieb sie nach Luft ringend stehen. Hier konnte sie niemand sehen und das war gut so. Mit dem Rücken am Pavillon sank sie zu Boden, vergrub den Kopf in den Armen und weinte.
Was ist hier los? Was geschieht hier? Warum passiert das ausgerechnet mir? Das kann nicht wahr sein! Das geht nicht. Es gibt keine Vampire. Was soll ich nur tun? All diese Fragen drängten immer wieder in ihr Bewusstsein. Nach einer Weile erhob sie sich und ging weiter Richtung Wald. Die Vampire hatten sich ins Haus zurückgezogen. Sicherlich wollten sie ihr den Freiraum geben, den sie jetzt so dringend brauchte.
Verzweifelt wanderte ihr Blick hinüber zum Waldrand. Eine Bewegung unter der großen alten Akazie erregte ihre Aufmerksamkeit. Mit der Hand beschattete sie die Augen und blieb reglos stehen. Da war ein Hund, und er starrte in ihre Richtung. Während sie ihn ansah, trottete er langsam auf sie zu. Allmählich keimte der Verdacht in ihr, dass das gar kein Hund war. Er sah eher aus wie ein Wolf. Aber gab es in der Toskana überhaupt Wölfe?
Diese Gegend ist wirklich verrückt, kam ihr in den Sinn. Der Vierbeiner näherte sich und blieb zwei Meter vor ihr stehen. Den Kopf seitlich geneigt, musterte er eingehend ihr tränennasses Gesicht. Langsam überwand er das letzte Stück und stupste mit der Nase vorsichtig an ihren Ellbogen, als wollte er sie trösten. Zögerlich streckte sie die rechte Hand aus und gab ihm Gelegenheit, daran zu schnuppern. Sie hatte keine Ahnung, ob für Wölfe das Gleiche galt wie für Hunde, aber schaden konnte es auf keinen Fall.
Nach einem kurzen Beschnuppern leckte er einmal über die dargebotene Hand. Sie verstand das als Zeichen und richtete sich wieder auf. Der Wolf schlich an ihre linke Seite, nahm behutsam ihren Unterarm ins Maul und zog sachte daran. Er wollte, dass sie ihm folgte, das war ihr klar. Lediglich der Grund war noch eine Unbekannte in dieser Gleichung. Noch etwas unschlüssig, was genau zu tun war, folgte sie ihm erst einmal in den Wald. Es konnte ja sein, dass sein Besitzer schwer verletzt dort drinnen lag und dringend Hilfe benötigte. Was sollte ein wolfsähnlicher Hund ihr schon groß antun, nachdem sie gerade ein nettes Beisammensein mit drei Vampiren hinter sich hatte? Nein, noch schlimmer konnte es nicht werden.
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Ende der Leseprobe
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Texte: J.J. Winter
Bildmaterialien: J.J. Winter
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2016
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