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Du gehörst MIR

  

 

 

Tränen rannen über Selinas Wangen und leises Wimmern drang über ihre Lippen „Nein, bitte, tu das nicht. Bitte Michael. Tu mir das nicht an.“

 

Michael näherte sich. Selinas stand mit dem Rücken zur Wand. „Was hast du denn, mein Schatz? Man könnte ja fast meinen, du hättest Angst vor mir. Habe ich dir jemals Grund gegeben, dich vor mir zu fürchten? Du gehörst mir, Selina. MIR!“

Schreiend fuhr Selina aus dem Schlaf hoch. Ihr Herz drohte zu Verspringen, Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie atmete heftig. Ängstlich blickte sie sich in der Dunkelheit um. Da war niemand. Sie war vollkommen alleine.

 

Erleichtert ließ sie sich in die Kissen zurückfallen und richtete ihren Blick auf die Decke. Vor drei Jahren hatte sie Michael zum letzten Mal gesehen, blickte in das verhärmte und von Wut verzerrte Gesicht, als er von zwei Polizisten begleitet, aus dem Haus geführt wurde.

 

Michael, dachte Selina. Was wird er tun, wenn seine Zeit abgelaufen ist und er nach draußen kommt? Wird er nach ihr suchen? Versuchen, sich an ihr zu rächen? Oder noch schlimmer – seine Drohung wahr machen und sie sich zurückholen?

 

Noch lange lag Selina wach und betrachtete die Schatten, die die vom Wind hin und her wiegenden Zweige auf der Zimmerdecke machten. Die Lider wurden allmählich schwer, drückten nach unten. Nur wenige Minuten später war Selina erneut gefangen, in ihrem Traum. Jenem Traum, der ihr immer wieder ihr Geheimnis in Erinnerung rief, aus welchem sie die Stadt verlassen und hier in der Fremde einen neuen Anfang gewagt hatte.

 

Selina war gerade zweiundzwanzig Jahre alt und besuchte mit ihrer besten Freundin und Arbeitskollegin Andrea eine Poetry Slam Veranstaltung. Einen Sitz weiter nahm ein Mann Platz. Blonder Wuschelkopf, blaue Augen, strahlendes Lächeln, dazu zwei niedliche Grübchen. In der Pause wagte er den ersten Schritt und spendierte eine Cola. Selina schätzte ihn auf Anfang dreißig, was aber keineswegs störte. Ihr Vater war auch zehn Jahre älter als ihre Mutter und doch ergänzten sich die beiden wunderbar. Er stellte sich als Michael vor und erzählte, dass er Arzt am hiesigen Krankenhaus war. Es folgten ein paar amüsante Anekdoten aus dem Reich der Männer mit den weißen Kitteln und Selina war begeistert. Nach einem Jahr zog sie bei ihm ein.

 

Michaels Haus war ein Traum und lag etwas außerhalb, umgeben von einem großen Garten mitsamt Swimmingpool. Selina war rundum glücklich. Nicht einmal die Abgeschiedenheit des Hauses konnte daran etwas ändern. Im Gegenteil, diese war sogar sehr willkommen. Hier konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Nacktbaden im herrlichen Pool eingeschlossen. Niemand bekam mit, was sich hinter dem hohen Zaun abspielte.

Aber das sollte Selian schon bald schmerzlich bewusst werden.

 

Michael veränderte sich in den nächsten Monaten sehr. Nicht zu seinem Vorteil. Er wurde extrem ungeduldig und reagierte in Stresssituationen recht ungehalten. Anfangs nahm Selina dies wortlos hin, aber mit der Zeit wurden seine Reaktionen immer unberechenbarer.

 

Es war Samstag. Michael hatte Dienst und Selina saß alleine zu Hause, als das Telefon klingelte. „Hey Süße“, erklang es aus dem Hörer. „Was machst du gerade? Hast du Lust mit mir in die neue Cocktailbar zu gehen? Der Schuppen ist echt der Hammer“, schwärmte Andrea in höchsten Tönen.

 

„Ich weiß nicht“, antwortete Selina. „Michael kommt um zehn vom Dienst. Er wollte einen Film aus der Videothek mitbringen.“

„Ach komm schon. Sei kein Frosch. Wir sind um elf zurück, dann könnt ihr immer noch euren Film ansehen, oder was ihr sonst so treibt.“

Selina lachte herzhaft. „Was du wieder denkst. Also gut. Ich leg eine Nachricht auf den Küchentisch. Er mag es nicht, wenn ich ihn im Dienst anrufe. Wenn wir um elf wieder da sind, kann er ja in der Zwischenzeit in Ruhe essen.“

 

Genüsslich schlürfte Selina ihre Pina Colada, als kurz nach zehn das Handy läutete.

„Wo bist du, verdammt noch Mal!“, brüllte Michael ungehalten in den Hörer, kaum dass der Anruf angenommen wurde.

„Hallo Schatz“, entgegnete Selina leicht überrascht. „Ich bin mit Andrea etwas trinken gegangen. Hast du meine Nachricht nicht gesehen? Ich habe sie dir auf den Küchentisch gelegt.“

„Ich will nicht wissen, mit wem du was tust. Ich will wissen, wo du bist. Sofort!“, blaffte er weiter.

Irritiert hob Selina eine Augenbraue und blickte verwundert in Andreas smaragdgrüne Augen. „Wir sind im Splash. Die Cocktails hier sind ausgezeichnet. Willst du vorbei kommen?“, fühlte sie sich gezwungen zu fragen.

„Ich bin in zehn Minuten da“, sprach er und legte ohne ein weiteres Wort auf.

Mehr als überrascht ob seiner barschen Art, schob Selina das Handy in ihre Handtasche und fragte sich, was heute wohl im Krankenhaus vorgefallen war. Michael war in letzter Zeit öfters etwas wütend gewesen, regelrecht angespannt und unausgeglichen, aber dermaßen unhöflich wurde er selten.

 

Pünktlich zehn Minuten später stand Michael in der Tür und ließ seine Augen suchend über die Tische schweifen. Sein Blick hart und abweisend gegenüber jedem, der es wagte, ihn direkt anzusehen. Selina hob lächelnd die Hand und winkte ihn zu sich. Schnurstracks eilte er auf sie zu. Wortlos, Andrea ignorierte er vollkommen, griff er nach Selinas Handtasche und Jacke und bellte: „Los, steh auf und lass uns gehen.“

 

„Hallo Michael, schön dass du gekommen bist. Wie war dein Tag?“, erwiderte Selina die unhöfliche Begrüßung freundlich. Sie würde nicht darauf eingehen. Ein Streit war das Letzte, das sie heute wollte. Schon gar nicht, wenn er in dieser Verfassung war.

„Ich habe gesagt wir gehen!“

„Aber, ich habe noch nicht ausgetrunken und Andrea würde sich gerne mit uns unterhalten.“

Auf den Einwand ging Michael nicht ein, sondern schnappte nach Selinas Arm, zerrte sie hinter dem Tisch hervor und aus dem Lokal. Unzählige Augenpaare folgten ihnen.

 

Die Rückfahrt zum Haus verlief schweigend. Selina musterte ihn die ganze Zeit von der Seite.

In der Diele warf Michael den Schlüsselbund in das kleine Körbchen neben dem Eingang, hängte seine Jacke an der Garderobe auf, streifte die Schuhe von den Füßen und schlug zu. Ohne Vorwarnung, ohne ersichtlichen Grund, ohne Bedauern.

 

Die Faust traf Selina so hart und überraschend, dass sie strauchelte und über ein Paar Schuhe stolperte. Unsanft kam sie auf dem Hintern zu sitzen. Augenblicklich war Michael über ihr, die Hand zum nächsten Schlag erhoben und drohte mit tief grollender Stimme. „Wage es nie wieder das Haus zu verlassen, wenn ich es dir nicht gestatte!“

Zu erschrocken über das, was gerade vor sich ging, blickte Selina mit großen Augen zu ihm hoch. Nicht einmal Tränen wollten kommen, obwohl ihr Gesicht ordentlich schmerzte.

„Wage es nie wieder, mich mit einer simplen Nachricht auf dem Küchentisch abzuspeisen. Und wage es nie wieder, meine Anweisungen zu ignorieren. Wenn ich sage spring, dann springst du und fragst nicht erst wie hoch. Hast du das verstanden?“, brüllte er noch lauter und schon traf seine Faust erneut Selinas Kopf.

 

Nach zwei weiteren Schlägen ließ er von ihr ab, ging in die Küche, holte das vorbereitete Essen aus dem Kühlschrank und stellte es in die Mikrowelle.

 

Selina lag am Boden. Die Hände schützend vors Gesicht geschlagen, rollten schwere Tränen über ihr Gesicht. Zehn Minuten waren inzwischen vergangen. Sie konnte noch immer nicht fassen, was er getan hatte, als sich Schritte näherten. Michael hatte sein Abendessen beendet und stand nun vor ihr. Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte er für einen Augenblick mit eiskalten Augen auf sie nieder. Dann zog er sie unsanft auf die Beine. Selina begann sich gegen ihn zu wehren, aber das war Michael egal. Rücksichtslos drängte er sie gegen die Wand und baute sich drohend vor ihr auf. Durch seine 1,90 Meter überragte er sie einen ganzen Kopf und seine sonst so weichen und warmen Gesichtszüge glichen einer Maske. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er sie streng, bevor er leise zu sprechen begann.

„Du scheinst es nicht zu kapieren. Oder kapieren zu wollen.“ Verbesserte er sich rasch. „Es ist mir vollkommen ernst. Ich bin der Herr im Haus und du wirst tun, was ich dir sage. Hast du mich verstanden?“

 

Da Selina nicht gleich antwortete, verstärkte er den Druck an ihren Oberarmen und begann sie zu schütteln. Dass ihr Kopf dabei gegen die dahinterliegende Wand schlug, störte ihn nicht.

„Hast du mich verstanden?“, brüllte er dabei laut. Mit von Tränen verschleiertem Blick versuchte Selina zu nicken. Michael schüttelte sie jedoch so stark, dass er es nicht sehen konnte. Tiefe Schluchzer der Verzweiflung drangen aus ihrer Kehle und stachelten Michael noch mehr an.

 

„Okay, anscheinend bist du wirklich so dämlich, dann werde ich wohl deutlicher werden müssen.“ Unheilvoll klangen seine Worte in Selinas Kopf nach. Angst griff nach ihrem Herzen. Mit aller Kraft versuchte sie seinem festen Griff zu entrinnen. Sich loszureißen, um vor dem Monster zu fliehen, dass er bisher so gut unter Verschluss hielt. Aber Michael war zu stark. Offensichtlich war er auf ihren Ausbruchsversuch vorbereitet gewesen.

Er lachte laut auf, als er sich mit einem harten Schlag revanchierte. Selina ging abermals in die Knie. Noch bevor sie Gelegenheit hatte, sich von dem Übergriff zu erholen, griff er nach ihr und warf sie sich über die Schulter. Auf dem Weg zum Treppenaufgang grinste er hämisch und stieg gemächlich nach oben.

 

Im Schlafzimmer warf er sie aufs Bett und war augenblicklich über ihr. Selina schlug um sich, versuchte zu treten und schrie laut um Hilfe. Rittlings setzte sich Michael auf ihre Hüften, fixierte ihre Arme.

„Ja, schrei nur“, meinte er mitleidig lächelnd. „Niemand wird dir helfen.“

In diesem Moment wurde Selina etwas klar. Er hatte Recht. Niemand konnte sie hören. Das Haus war zu abgelegen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass ihr nun genau das, was sie zuvor so geschätzt hatte, zum Verhängnis werden würde. In dieser Stille und Abgeschiedenheit konnte er mit ihr machen, was er wollte und niemand würde es jemals bemerken. Die Schwere dieser Einsicht ließ Selina verstummen und kurz gab sie ihre Gegenwehr auf.

 

Michael grinste breit und hob eine Augenbraue. „Ah, es gibt also noch Hoffnung. Allmählich beginnst du zu verstehen wie ausweglos deine Situation ist. Nun müssen wir nur noch dafür sorgen, dass du niemals daran zweifelst, wie ernst es mir damit ist.“

 

Selina gefror das Blut in den Adern, als er mit einer einzigen Bewegung, die neue blaue Bluse zeriss, die sie erst am Nachmittag gekauft hatte. Als sich dann seine Hand an dem Knopf ihrer Jeans zu schaffen machte, kam wieder Leben in ihren Körper. Beinahe wäre ihr gelungen, ihn von sich zu stoßen. Aber nur beinahe.

 

Michael schien dieses Machtspiel zu genießen. Immer wieder lachte er auf, bevor er sie hart niederrang und ihr dabei ein Kleidungsstück nach dem anderen vom Körper riss.

Er saß wieder rittlings auf ihr. Mit der Rechten hielt er Selinas Arme über dem Kopf zusammen. Mit den Beinen umklammerte er ihre Schenkel und mit der Linken machte er sich an seiner eigenen Hose zu schaffen. Selina atmete heftig, war inzwischen dazu übergegangen zu betteln. Flehte ihn an, ihr das nicht anzutun. Sie versicherte ihm, nun zu wissen, wer hier das Sagen hatte und schwor, nie mehr zu wiedersprechen.

 

Michael lachte nur.

„Tut mir leid, meine Süße. Ich glaube dir nicht. Außerdem tust du es doch gerade. Du verweigerst dich mir, obwohl du weißt, dass ich dich genau jetzt haben will. Das kann ich dir nicht durchgehen lassen. Ich muss dich bestrafen. Nur so ist sicher, dass sich das nie mehr wiederholt. Du gehörst mir, Süße. Verstehst du das? MIR!“

Mit massivem Druck spreizte er ihre Beine und nahm sich, was er wollte.

 

***

 

„Tut mir leid, Kleines. Aber du hast mir keine andere Wahl gelassen. Ich konnte dir das nicht durchgehen lassen. Was wäre als nächstes gekommen? Soll ich mir künftig selbst mein Essen kochen, weil du mit einer deiner dummen Weiber beim Kaffeekränzchen sitzt?“

 

Langsam ließ Michael den Schwamm über Selinas Schulter gleiten. Über eine Stunde hatte ihr Martyrium gedauert. Aber es war noch nicht vorbei. Nachdem er mit ihr fertig war, hob er sie hoch und setzte sich mit ihr in die Wanne. Da saß sie nun, mit dem Rücken an seiner Brust, während er sorgsam ihren Körper wusch.

 

„Ach komm schon, Kleines. Sei nicht mehr böse auf mich. Du weißt doch, dass ich dich liebe. Außerdem bist du selber schuld. Ich habe dir schon so oft gesagt, dass ich es nicht leiden kann, wenn du nicht zu Hause bist. Und trotzdem bist du losgezogen. Ich liebe dich doch und ich möchte dich immer bei mir haben.“

 

Fest drückte er sie gegen seine Brust, küsste ihr feuchtes Haar und flüsterte in ihr Ohr. „Ich liebe dich, Kleines. Du bist mein Leben. Ich werde dich nicht mehr gehen lassen. Wir gehören zusammen. Du gehörst mir.“

 

Seine Stimme änderte sich leicht. Von zärtlich zu dominant. „Und jetzt steh auf und beug dich nach vorne. Ich möchte dir zeigen, wie sehr ich dich liebe.“

 

***

 

Die nächste Woche verbrachte Selina zu Hause, oder besser gesagt im Bett. Michael hatte im Büro angerufen und sie krank gemeldet. Als praktizierender Arzt war es für ihn ein Leichtes es so zu drehen, dass niemand ihre schweren Misshandlungen sehen konnte.

 

Als Selina am darauffolgenden Montag ins Büro kam, war sie nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Mechanisch erledigte sie die Arbeit und eilte nach Feierabend sofort in die Abgeschiedenheit ihres trauten Heimes zurück. Andreas Fragen, was vorgefallen war am letzten Samstag und warum sie nie auf ihre Anrufe reagiert hatte, wich sie geschickt aus.

 

***

 

In den nächsten beiden Jahren häuften sich Selinas Fehlstunden im Büro. Michael war sehr kreativ und Selinas Krankenakte daher beachtlich. Es gab beinahe keine Krankheit, die Selina nicht schon gehabt hatte. Sie wehrte sich zwar nicht mehr und gab Michael an und für sich keinen Grund sie zu züchtigen, aber das musste sie gar nicht. Schon die kleinste Aufregung in der Klinik reichte aus, um ihn ausrasten zu lassen. Mit dieser Wut im Bauch fuhr er anschließend nach Hause und entlud sich an ihr.

 

***

 

„Es tut mir leid, Selina. Sie waren immer eine Bereicherung für mein Unternehmen, und es fällt mir sehr schwer, sie gehen zu lassen.“ Bekümmert blickte Robert Anhauser in Selinas erschrockenes Gesicht.

„Aber die ständigen Ausfälle sind einfach nicht mehr tragbar. Daher muss ich mich von ihnen trennen. Ich wünsche ihnen für die Zukunft alles Gute und vor allem viel Gesundheit.“ Damit erhob sich Selinas Chef und ließ sie in ihrem kleinen Büro alleine.

 

***

 

„Er hat dich gekündigt?“, brüllte Michael ungehalten. „Was bildet sich dieser Mistkerl ein? Glaubt er tatsächlich, dass das keine Konsequenzen haben wird?“

Bedrohlich baute er sich vor Selina auf und ihr war augenblicklich klar, was nun unweigerlich kommen musste. Aber es war ihr egal. Alles war egal.

Vielleicht schlägt er dieses Mal so fest zu, dass ich endlich sterbe. Mit leeren Augen blickte sie in Michaels wutverzerrtes Gesicht und wartete auf den ersten Schlag.

 

***

 

Die Türklingel schellte durchs Haus. Überrascht hob Selina den Kopf. Es war schon über ein Jahr her, dass zuletzt an ihrer Haustüre geklingelt wurde. Aber auch wenn es jemand gewagt hätte, es wäre egal gewesen. Michael hatte ausdrücklich verboten die Tür zu öffnen. Also ignorierte sie den Besucher und wusch weiterhin das Geschirr.

 

***

 

Am nächsten Morgen läutete es erneut. Michael war zu Hause. Er würde sich darum kümmern. Daher hob Selina nicht einmal den Kopf.

Plötzlich vernahm sie lauten Tumult im Eingangsbereich. Michael begann bedrohlich seine Stimme zu erheben. Jemand wollte offensichtlich ins Haus gelangen. Selina wusste aber, dass Michael dies niemals zulassen würde, deshalb bügelte sie desinteressiert weiter.

 

***

 

Draußen begann es bereits dunkel zu werden, als das Geräusch der Türklingel abermals erklang.

„Du rührst dich nicht von der Stelle“, knurrte Michael ungehalten und stürmte an ihr vorbei in Richtung Eingang. Mehrere aufgebrachte Stimmen drangen ins Wohnzimmer. Eine davon war Michaels. Er wirkte gereizt und aggressiv.

Ergeben schloss Selina die Augen. Das würde wieder eine qualvolle Nacht werden. Andererseits, sie war noch ziemlich geschwächt von vorgestern. Vielleicht würde er ja heute die Kontrolle verlieren. Dann könnte sie endlich gehen. An einen Ort des Friedens. Ohne Schläge, ohne Schmerzen, ohne Demütigung, ohne Drohungen. Vielleicht würde er sie heute Nacht totschlagen, damit das alles ein für alle Mal ein Ende fand.

 

Was war das? Selinas Kopf fuhr hoch. Augenblicklich waren die trüben Gedanken verschwunden. Eine besonders aufgeregte Stimme erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie war laut und überschlug sich beinahe. Trotzdem erkannte Selina sie sofort. Es war die Stimme ihres Vaters. Aber noch etwas konnte sie hören. Jemand weinte. „Mama“, flüsterte sie hoffnungsvoll.

 

Weitere Stimmen mischten sich ein, die Michael immer wieder aufforderten, die Tür freizugeben und sie einzulassen. Er hielt dagegen und verweigerte strikt den Zutritt.

 

Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Lautes Gepolter und ein schmerzvoller Schrei hallten durchs Haus, gefolgt von eiligen Schritten und lauten Rufen.

„Selina! Selina, mein Schatz. Ich bin es, Mama. Wo bist du mein Kind?“


Wie angewurzelt stand Selina im Wohnzimmer, als mehrere Personen hereinkamen. Vorne voran Selinas Vater, dahinter ihre Mutter, dann Andrea mit einem Mann in Uniform, und noch ein Polizist mit Michael in Handschellen.

 

Ein Aufschrei und Selina sah, wie sich ihre Mutter die Hand vor den Mund schlug und wieder Tränen aus ihren warmen, grünen Augen flossen. Selinas Vater hielt abrupt inne, als er sie sah. Er war der liebeswürdigste und gutmütigste Mensch den Selina kannte, aber was sie in diesem Moment in seinem Gesicht sehen konnte, ließ sie frösteln. Niemand sprach ein Wort, alle sahen nur entsetzt auf sie. Selbst die Polizisten schienen geschockt zu sein.

 

Allmählich wurde Selina bewusst, was alle sahen und fuhr sich mit einer Hand ins Gesicht. Vorgestern war war einer von Michaels schlimmsten Wutausbrüche, die sie bisher miterleben musste.

 

Beide Augen verschwollen und blut unterlaufen. Die Lippe aufgesprungen auf der einen Seite, die andere zeichneten eindeutig Bisse. Über dem rechten Auge war die Haut aufgeplatzt und mit drei Stichen von Michael genäht worden. Die Nase gebrochen und wieder eingerichtet, aber noch massiv angeschwollen und beinahe lila. Der Hals sah nicht besser aus. In allen Farben schimmerten die Würgemale. Die unzähligen blauen Flecken an Armen und Beinen, dank des kurzärmeligen Shirt und den Shorts nicht zu übersehen. Selina hatte sich abgewöhnt in den Spiegel zu blicken und konnte nur erahnen, was ihre unverhofften Besucher sahen. Aber ihre Gesichter sprachen Bände.

 

„Selina Paulis-Neumann? Ihre Eltern haben uns gebeten nach ihnen zu sehen, da sie schon seit längerer Zeit nichts mehr von ihnen gehört haben“, durchbrach einer der Polizisten die Stille und stellte sich vor Stefan und Marion, um zu verhindern, dass sie auf Selina zugingen.

„Frau Paulis-Neumann, ich muss sie das jetzt fragen. Brauchen sie Hilfe?“

 

Tief blickte er in Selinas Augen, schien geradezu zu beten, dass sie mit einem deutlichen „Ja“ antworten würde. Michael knurrte und wollte etwas sagen. Durch einen raschen Zug an den Handschellen im Rücken, unterband der zweite Polizist sein Vorhaben.

 

Noch einmal drang der Polizist in sie: „Selina, sie müssen es mir sagen. Brauchen sie Hilfe? Wenn ja, bringen wir sie in Sicherheit.“ Angestrengt beobachtete er sie genau. „Wenn nicht, sind wir gezwungen zu gehen und sie mit ihm und seiner grenzenlosen Wut hier zurückzulassen!“

 

Ein lautes, herzzerreißendes „Nein“, erfüllte das ganze Haus. Energisch griff der Polizist nach dem Arm von Selinas Mutter, als sie auf sie zulaufen wollte. Langsam wanderte Selinas Blick von einem zum anderen. Blieb zuletzt an Michael hängen, dessen Gesichtsausdruck von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher wurde.

 

Ich komme hier raus. Ich muss nicht sterben. Sprechen konnte Selina nicht. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem rechten Auge und vorsichtig nickte sie einmal.

 

Dann ging alles ganz schnell. Michael begann zu schreien: „Du verdammtes Miststück! Ich schlag dich tot!“, und machte Anstalten, sich auf sie zu stürzen. Die Polizisten hinderten ihn hart daran und rangen ihn zu Boden. Mutter und Vater stürmten auf sie zu und schlossen sie schützend in die Arme. Michael lag am Boden, das Gesicht ihr zugewandt und brüllte in einem fort. Einer der Polizisten kniete auf ihm. Der andere zog sein Handy und gab Anweisungen. Andrea stand weinend und eingeschüchtert in der hintersten Ecke und bewegte sich keinen Millimeter.

 

Sie war es, die alles ins Rollen gebracht hatte, nachdem Selina gekündigt worden war. Noch am selben Abend stand Andrea Kaufmann vor dem Haus von Familie Paulis und erzählte von der Kündigung, den vielen Krankenständen, Selinas Rückzug von allem, der melancholischen Stimmung in der sie immer war. Auch der Vorfall mit Michael von vor zwei Jahren, mit dem ihrer Meinung nach alles begonnen hatte, kam auf den Tisch. Selinas Eltern wussten nichts von alle dem.

 

Michael machte sich Sorgen, Selina könnte sich ihnen anvertrauen. Also entschied er kurzerhand, dass sie keinen Kontakt mehr mit ihnen pflegen durfte. So kam es, dass Stefan und Julia Paulis ihre Tochter mehr als eineinhalb Jahre nicht mehr gesehen hatten.

Mit brachialer Gewalt brachte Michael Selina dazu, am Telefon einen Streit mit ihren Eltern herauf zu beschwören, worauf er ihnen den Umgang mit ihr und den Zutritt zu seinem Haus untersagen konnte.

Er hatte wirklich alles genauestens geplant und durchgeführt. Sogar die Hochzeit verlief still und leise, sodaß niemand etwas davon erfuhr, geschweige denn, es verhindern konnte. Selina war sein Eigentum und nichts und niemand konnte etwas dagegen unternehmen, so dachte er zumindest. Aber Andrea beobachtete in all der Zeit ihre beste Freundin genau.

 

Gemeinsam standen die Drei am Vortag vor dem prächtigen Haus und klingelten. Da niemanden öffnete, fuhren sie unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Nicht allerdings ohne zu vereinbaren, sich am nächsten Morgen erneut hier einzufinden. Sie würden nicht gehen, bevor es ihnen nicht möglich war, ein paar Worte mit Selina zu wechseln.

Als sie dann am Morgen von Michael unsanft daran gehindert wurden, das Haus zu betreten, waren sie zur Polizei gefahren. Die Polizisten gingen davon aus, dass es sich lediglich um eine Familienstreitigkeit handeln würde, und die Tochter einfach nicht mit den Eltern sprechen wollte, erklärten sich aber bereit, sie bei einem weiteren Besuch zum Haus ihres Schwiegersohnes zu begleiten.

 

Die Art und Weise, wie der hoch angesehene und bis dahin unbescholtene Arzt sie in Empfang genommen hatte und vehement zu verhindern versuchte, dass sie mit Selina Paulis-Neumann sprechen konnten, erregte dann allerdings doch den Argwohn der Polizisten. Als er schließlich handgreiflich gegen den Vater wurde, schritten sie ein.

Die Aggressionsbereitschaft des Mannes war ihnen von Anfang an nicht entgangen. Was sie allerdings zu sehen bekamen, als sie endlich ins Haus eingedrungen waren, schockierte selbst so erfahrene Einsatzbeamte, wie diese beiden.

 

Selina weinte leise in den Armen ihrer Mutter, als eine zweite Streife und der Notarzt eintrafen. Trotz ihrer Versicherung, dass ihre Verletzungen bereits ausreichend versorgt worden waren, Michael nahm seinen hippokratischen Eid trotz allem sehr ernst, bestanden alle darauf, dass sie eine Nacht zur Überwachung ins Krankenhaus fuhr.

„Es ist vorbei“, flüsterte Selina leise, als ihr Blick vom Inneren des Krankenwagens auf das Haus fiel, in welchem sie so viel Schmerz erfahren musste.

 

***

 

Im Schlaf zog Selina die Bettdecke über den Kopf und kuschelte sich tiefer in die Kissen. Ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit flackerte am Rande ihres Bewusstseins auf. Ein Jahr. Ein Jahr würde noch vergehen, bis er wieder aus dem Gefängnis kam.

 

ENDE

Impressum

Texte: Traum Faenger
Bildmaterialien: Traum Faenger
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum 65. Wortspiel Thema "Das Geheimnis"

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