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Wo ist Katja?

 

 Tränen kullerten unaufhaltsam über Katjas Gesicht. „Warum nur, Jerome, Warum?“ flüsterte sie in einem fort. Empfand er gar nichts für sie? Dabei begann alles so wunderschön.

 

Ein Missgeschick, das in einem Zusammenstoß vor dem Eiffelturm endete. Der tiefe Blick aus stechend blauen Augen, die ihr den Atem raubten. Schmetterlinge im Bauch. Zum ersten Mal das Bedürfnis Sachen zu tun, die sie noch nie zuvor mit einem Jungen getan hatte. „Warum nur? Warum?“, hauchte Katja.

 

Müdigkeit senkte sich über das junge Mädchen. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an, drückte mit beiden Armen vergebens nach oben. Holte sich in Erinnerung, was sie im Begriff war zu verlieren, wenn sie sich ihrem Schicksal ergab.

Das Flüstern wich leisem Wimmern. Erschöpfung gewann die Oberhand und langsam schlossen sich Katjas Augen.

 

***

Vier Tage zuvor:

„Okay, bis gleich“, trällerte Katja vergnügt in ihr Handy. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Mutter, als sie den verliebten Blick ihrer Tochter bemerkte. „War das Jerome?“

„Na klar, was denkst du denn?“, entgegnete Katja entrüstet.

 

„Ist er nicht ein bisschen zu alt für dich?“ Katjas Vater mischte sich in das Gespräch, sehr zu ihrem Verdruss.

„Nein, ist er nicht! Er wird im Herbst achtzehn!“ Herausfordernd baute sich Katja vor ihrem Vater auf. „Wie alt warst du damals, als du Mama kennengelernt hast? Fünfundzwanzig, wenn ich mich richtig erinnere. Und Mama gerade einmal sechzehn. Nein, ich denke nicht, dass er zu alt für mich ist.“

Beschwichtigend hob Harald die Hände. „Schon gut, schon gut. Ich wollte nur etwas mehr über diesen Knaben erfahren.“

„Sein Name ist Jerome. Er lebt in Paris. Im Herbst beginnt er zu studieren, und in zwei Wochen fahren wir wieder nach Hause. Ich bin Realistin, zudem alt genug, um zu verstehen, dass ich ihn danach vermutlich nie wieder sehen werde.“

 

Liebevoll streichelte Anna ihrer Tochter übers Haar. „Das wissen wir doch, Kleines. Aber wir sind deine Eltern. Wir müssen uns Sorgen machen.“

 

„Obwohl es nicht viel nützt“, brummelte Martin und lehnte sich lässig an den Türrahmen. Schon vor Beginn dieser Urlaubsreise hatte Katjas Bruder die Familie darüber in Kenntnis gesetzt, dass dies seine Letzte sei. Als achtzehnjähriger zuzugeben, noch mit den Eltern in Urlaub zu fahren, galt bei seinen Freunden als oberpeinlich.

 

Mit zusammengekniffenen Augen musterte er seine kleine Schwester. Sich dessen bewusst überzog Röte Katjas Wangen. Die Linke suchte automatisch den Weg an ihre Gesäßtasche. Martin grinste breit. Hatte er es doch gewusst. Gestern Abend lagen sechs Kondome in seinem Nachtkästchen. Heute waren es nur mehr fünf.

 

„Ich muss jetzt los“, stammelte Katja und eilte mit gesenktem Kopf auf die Tür zu. „Viel Spaß euch beiden“, meinte Martin sarkastisch.

„Um ein Uhr bist du zu Hause“, erhob Harald das Wort. „Keine Minute später, ist das angekommen?“

„Ja, doch“, giftete Katja und schloss lautstark die Hotelzimmertür.

 

***

„Wo sind wir hier?“

„In der Place Denfert-Rochereau. Komm mit, Katja. Ich möchte dir was zeigen. Du wirst begeistert sein!“

 

Mit Katja an der Hand steuerte Jerome direkt den Eingang zu den Katakomben an. „Einhundertdreißig Stufen, stell dir das Mal vor. Einhundertdreißig Stufen und du stehst inmitten des größten Friedhofes, den du dir vorstellen kannst. Über sechs Millionen Menschen wurden hier begraben, verteilt in einem unterirdischen Stollensystem vom mehr als dreihundert Kilometern. Es ist unglaublich.“

 

Im ersten Moment verzog Katja das Gesicht. Das war es also, was sie heute tun würden? Einen Haufen vertrockneter Knochen und Schädel anschauen? Etwas über die Geschichte der ehemaligen Steinbrüche und das Beinhaus erfahren? Was war nur los mit diesem Typen? Seit fünf Tagen wich er nicht von ihrer Seite. Ließ keinen Moment verstreichen, ohne zu betonen, wie hübsch sie war. Suchte ihre Nähe, schien sie zu vergöttern. Vorgestern hatte er gefragt, ob sie schon einmal mit einem Jungen zusammengewesen sei. Ihre Antwort trieb einen Glanz in seine Augen, der Katja heiße Schauer über den Rücken jagte. Seitdem hatte er seine Bemühungen um ein Vielfaches verstärkt.

 

Katja staunte nicht schlecht, als am Morgen ein Strauß roter Rosen vor ihrer Zimmertür wartete.

 

– Wir treffen uns am Nachmittag vor deinem Hotel.

Ich kann es kaum mehr erwarten.

Bereite dich auf einen besonderen Abend vor,

mon ange. Jerome

 

– stand auf der Karte.

 

Wie es aussah, hatte er eine andere Vorstellung von Romantik. Ein wenig geknickt gab sich Katja einen Ruck und folgte die Stufen hinunter. Lauschte auf seine Worte und versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

 

***

„Wir müssen ein wenig Abstand zu der Gruppe vor uns bringen“, flüsterte Jerome. Kurz hinter dem Eingang zum Beinhaus stießen sie auf eine Reisegruppe mit Engländern, die recht laut ihr Erstaunen über die säuberlich aufgeschichteten Schädel und Knochen kund taten.

„Wieso“, flüsterte Katja zurück.

„Sie sollen nicht mitbekommen, dass wir uns gleich vom Acker machen!“ Zwinkerte und schenkte ihr sein umwerfendstes Lächeln. Katja jubilierte. Sie hatte sich also nicht geirrt. Jerome wollte die Nacht mit ihr verbringen.

 

Fast im selben Augenblick begann sie zu frösteln. Die Vorstellung, dass ihr erstes Mal auf dem steinigen, dreckigen Boden, umgeben von einem Haufen Knochen stattfinden würde, schmälerte ihre Euphorie erheblich. Ob sie dazu wirklich bereit war?

Reiß dich zusammen, Mädel, schalt sie sich selbst. Er weiß schon, was er tut. Sicherlich gibt es hier noch etwas anderes als, als … diese Toten.

 

***

„Langsam jetzt. Sonst übersehen wir die Stelle.“ Angestrengt suchte Jerome mit den Augen die Wand zu seiner Rechten ab.

„Was soll das sein? Hier gibt es nichts als Gräber und Knochen.“

„Ich suche nach einer bestimmten Inschrift.“

„Verrätst du mir welche? Dann kann ich dir vielleicht helfen“, bot Katja etwas verunsichert.

„Wo ist der Tod? Kaum ist er da, schon ist er fort …“

 

***

„Ich habs!“ Freudestrahlend wandte sich Jerome um und streckte die Arme nach Katja aus. „Mon petit ange!“ Hauchte er zärtlich und drückte sie fest an seine Seite. „Lass uns verschwinden. Die Party fängt bald an.“

 

Irritiert hob Katja den Kopf. Die französische Sprache war ihr sehr vertraut. Gehörte zu ihren drei absoluten Lieblingsfächern in der Schule. Daher blieben ihr die Gespräche zwischen den Hotelpagen und dem Liftboy nicht verborgen. Demnach wusste sie, dass in den Katakomben illegale Konzerte, Partys, Schwarze Messen und noch so einiges anderes gefeiert wurden.

 

„Du meinst, heute Abend steigt eine der berüchtigten Partys?“

„Ja, mein Engel – und wir beide mitten drin.“

„Das geht nicht, Jerome. Wenn meine Eltern davon Wind bekommen, ist es aus mit lustig. Mein Vater sperrt mich in meinem Zimmer ein, und lässt mich erst wieder raus, wenn wir nach Hause fliegen.“

 

Mit beiden Händen streichelte Jerome über ihr lockiges braunes Haar und umfasste ihr Kinn. „No, no, mon ange! Er wird es niemals erfahren. Niemand weiß, wo wir sind. Hier bist du vor ihm sicher. Vertrau mir. Komm schon.“

„Aber wenn die Polizei die Party stürmt. Jeder weiß doch, was hier abläuft. Ich darf gar nicht daran denken, was er mit mir machen wird, wenn …“

 

Sanft legten sich Jeromes Lippen auf Katjas. Leicht übte er mit der Zunge Druck aus, bis sie sich öffneten und ihn einliesen. Katja durchzuckte ein heftiger Schauer. Die Wirkung, die dieser Mann mit den lächelnden blauen Augen auf sie hatte, war unbeschreiblich. Dunkelhaarig, schön, sexy, bestimmt. Wie es wohl sein wird, mit ihm zu schlafen?

„Ich habe ein paar Freunden versprochen, dass wir vorbei schauen. Nur eine halbe Stunde, okay? Dann verschwinden wir. Mein Bruder hat heute noch etwas vor. Wir haben seine Bude für uns alleine.“

 

Verheißungsvoll wanderten seine Lippen über Katjas Wange bis zu ihrem Ohr. Dort knabberte er an ihrem Ohrläppchen. Katja ließ augenblicklich alle Ängste und Sorgen sausen und ergab sich seinen Wünschen.

***

Eine halbe Ewigkeit stolperte Katja an der Hand von Jerome durch die unzähligen Gänge. Wie er sich hier unten zurechtfand, war ihr ein Rätsel. Sie hatte schon vor geraumer Zeit die Orientierung verloren. Die Frage, ob er auch wisse, wie sie wieder zurück ans Tageslicht kämen, brannte ihr auf der Zunge. Die Sicherheit, mit der er einen Fuß vor den anderen setzte, ließ diese aber unausgesprochen.

 

Endlich. Am Ende des Ganges erhellte flackernder Kerzenschein die Abzweigung. Nun konnte es nicht mehr weit sein. Erleichtert atmete Katja auf. Jerome hielt mit unverminderter Geschwindigkeit darauf zu.

 

Die Party hatte wohl noch nicht angefangen, sinnierte Katja, sonst müsste Musik zu hören sein. Naja, es ist ja erst sieben. In ihrer Heimatstadt ging auch niemand, der etwas auf sich hielt, vor zehn Uhr fort. Warum sollte es in einer Großstadt wie Paris anders sein?

Den Gedanken mit einem Schulterzucken zur Seite schiebend, lenkte sie ihr Augenmerk auf den Lichtschimmer vor sich.

 

„Seid willkommen!“ Laut durchbrach eine tiefe Stimme Katjas Gedanken. Ohne anzuhalten, war Jerome in den durch Kerzen erhellten Raum getreten. Zwischen einer Reihe Menschen hindurch, direkt in die Mitte. Verwirrt blickte sich Katja um. An die zwanzig Menschen standen in dem Raum, nein nicht Menschen, ausschließlich Männer stellte sie schnell fest. Ein jeder trug eine schwarze Hose und ein rotes Hemd. Ebenso wie ihr Begleiter. Fragend blickte sie zu Jerome hoch, als die Stimme erklang.

 

Ein Mann trat näher. Er unterschied sich von den anderen nur durch den schwarzen Umhang, den er über seinem Hemd trug. Vermutlich war er der Partyveranstalter und die übrigen die Kellner, beruhigte sich Katja selbst. Unschlüssig versuchte sie sich an einem Lächeln, das den Männern zeigen sollte, dass sie kein Problem damit hatte hier zu sein. Außerdem, Jerome war ja da.

 

Unschlüssig ließ Katja ihren Blick umherwandern. Jerome und der Fremde sahen sich nur an und lächelten. Katjas Mund öffnete sich leicht, schloss sich aber augenblicklich wieder. Dies wiederholte sich ein paar Mal, wobei ihr Blick an dem hing, was sich direkt hinter dem Partymacher befand.

Endlich fand sie ihre Stimme wieder und brachte erschüttert hervor. „Jerome, da steht ein Sarg aus Stein. Und er ist offen. Wir sollten lieber ganz schnell verschwinden. Wenn sie uns hier erwischen. Damit möchte ich nichts zu tun haben. Bitte, lass uns gehen!“

 

Jerome reagierte nicht. Hatte nur Augen für den Mann mit dem Umhang. Dieser lächelte freundlich und bedachte sein Gegenüber mit einem anerkennenden Nicken.

„Didier, wir haben dich schon erwartet. Wen hast du uns denn heute mitgebracht?“

Ein breites Lächeln überzog das Gesicht jenes Mannes, von dem Katja noch vor Kurzem dachte, dass sein Name Jerome sei.

 

„Meister, das ist Katja, die Jungfrau!“

 

ENDE

Impressum

Texte: Traum Faenger
Bildmaterialien: Pixapay
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Kurzgeschichten-Wettbewerb März 2014 in der KG-Gruppe zum Thema: Die Katakomben von Paris

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