Cover

Die Großstadt und Ich

 

 

Oh Mann, was habe ich mir nur dabei gedacht, fragte ich mich schon zum fünfzehnten Mal an diesem Tag. Genervt lief ich die Straße entlang und hielt meinen Blick fest auf den Boden gerichtet.

 

„Hallo, wie geht´s denn so?“, drang auch schon die nächste zuckersüße Stimme an mein Ohr. Tief sog ich die Luft ein und zauberte ein falsches Lächeln auf mein Gesicht, bevor ich es hob und meinem Gegenüber direkt die Augen blickte. Das darf doch nicht wahr sein, stieg es in mir hoch. Die meint das doch tatsächlich ernst. Und dieses dämliche Grinsen, das hält doch auf Dauer keiner aus. Das reinste Irrenhaus, in das ich da hineingeraten bin.

 

Stark um Selbstbeherrschung bemüht antworte ich: „Oh sehr gut, danke der Nachfrage. Und selber?“

 

„Ach, das freut mich aber zu hören. Mir? Mir geht es gut, ausgezeichnet sogar. Kein Wunder, oder? Bei diesem Wetter. Was machst du eigentlich hier? Ihr jungen Leute gehört an die frische Luft, im Schwimmbad solltest du jetzt sein. Zusammen mit gleichaltrigen Mädchen nach Jungs Ausschau halten.“

Ein paar Mal zog sie die Augenbrauen wissend in die Höhe und grinste noch mehr als zu vor. Sofort setzte sie ihren Redeschwall fort. „Es war ein Glückstag für uns alle, als dein Vater die Praxis von Dr. Waldmeister übernommen hat.“ Zähneknirschend nicke ich nur mit dem Kopf. Bleib ruhig, bleib einfach ruhig, ermahne ich mich selbst. Es nützt dir gar nichts, wenn du hier gleich ausrastest.

 

Vor meinem geistigen Auge sehe ich schon die Schlagzeilen im Bezirksblatt. Wütende Großstädterin läuft Amok in unserem kleinen beschaulichen Örtchen. Neben siebenunddreißig Dorfbewohnern fanden auch noch fünf Kaninchen, drei Katzen und der Zwergpudel unseres Herrn Bürgermeisters ein tragisches Ende. Oh Gott, in was für ein Schlamassel bin ich da nur wieder hineingeraten?

 

Bis vor drei Wochen war mein Leben noch in Ordnung gewesen. Es geht doch nichts über die Anonymität in einer Großstadt. War mir langweilig streifte ich einfach durch die Gegend. Ständig war dort etwas los, bei Tag und bei Nacht. Dennoch beachtete mich kein Mensch.

Niemand, der mich ansprach, wenn ich vor mich hin sinnierend die Straßen entlang lief. Keiner, der mir lästige Fragen stellte, wenn ich mich einfach an den Straßenrand setzte und den Tränen freien Lauf ließ. Warum auch? Wir sind in einer Großstadt, hier leben mehr als eineinhalb Millionen Menschen, mehr noch als in München oder Prag.

 

Soll man sich etwas um jeden Einzelnen kümmern? Nein, hier ist sich jeder selbst am nächsten und das ist auch gut so. Es ist meine Sache, was ich tue. Wenn ich reden will, kann ich jederzeit in einer der unzähligen Discos nach einem Typen suchen. Wenn mehr daraus wird, auch gut?

Wenn er morgens aufwacht, bin ich sowieso schon lange weg. Meine Adresse und Telefonnummer verrate ich niemals. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mir in einem der unzähligen Shoppingcenter irgendwann einmal über den Weg läuft, ist sehr gering. Und falls doch, kann ich immer noch so tun, als hätte ich ihn nie zuvor gesehen.

 

Ansonsten kann ich machen, was ich will. Keine Menschenseele interessiert es, wenn ich auf dem Dach unseres achtstöckigen Mietshauses sitze und die Beine über den Rand baumeln lasse. Hier oben bin ich vollkommen unsichtbar.

Den Blick direkt auf die Straße gerichtet, laufen die Passanten unter mir auf den Gehsteigen hin und her. Folgen einem vorbestimmten Pfad, der sie in die eine oder andere Richtung leitet. Wie Ameisen, die aus ihrem Bau ausströmten um für ihre Königin Nahrung und Baumaterial ranzuschaffen. Haben sie Erfolg gehabt, kehren sie um und eilen wieder zurück. Da bleibt keine Zeit, um nach oben zu sehen, was sich hoch über ihren Köpfen tut.

 

Aber die meiste Zeit war ich unterwegs. Von einer U-Bahn Station zur nächsten. Fast überall lungerten Freunde von mir rum. Okay, meine Mutter wäre ausgerastet, wenn sie gewusst hätte, mit wem ich mich da treffe. Aber wer sollte ihr das verraten?

 

Oft haben meine Freunde und ich uns einen Spaß daraus gemacht und so getan als stünden wir unter Drogen. Oder wir gaben vor Prostituierte zu sein. Die Blicke der Leute – einfach fabelhaft. Es war ein Leichtes zu unterscheiden, wer hier lebte und wer von außerhalb zu Besuch war, um sich die vielen Sehenswürdigkeiten anzusehen. Während die einen desinteressiert vorbei liefen, standen in den Augen der Fremden Mitleid oder Entsetzen.

 

Am liebsten war mir aber die Nacht. Es gab ausreichend Plätze, die so einsam und verlassen waren, dass ich mich einfach hinstellen und mir alles von der Seele schreien konnte, was mich bedrückte. Meist fing ich danach hemmungslos zu heulen an. Eine Weile blieb ich danach liegen und wartete darauf, bis mich ein Lachkrampf einholte, der mir beinahe die Luft zum Atmen nahm.

Hie und da kam jemand vorbei, blickte kurz in meine Richtung und ging dann weiter. In dieser Gegend waren alle so mit ihrem eigenen Leid beschäftigt, dass sie entweder wirklich keine Notiz von mir nahmen, oder sich bemühten, geflissentlich über mich hinwegzusehen, nur um sich nicht mit mir oder meinen Tränen beschäftigen zu müssen.

 

Ich liebe diese Anonymität, ehrlich. Keiner kennt mich, niemand kann meine Eltern anrufen und mich verpetzen, weil keiner weiß wer ich bin und vor allem wessen Sprössling. Es ist das Paradies auf Erden für eine sechzehnjährige, vollpubertierende Göre, wie ich es bin. Ich bin frei, frei und vollkommen ungebunden. Keine Regeln, an die ich mich halten muss. Niemand sieht mich schräg an, wenn ich im Bus nicht aufstehe und der alten Frau mit dem Rollator meinen Sitzplatz überlasse. Keiner quatscht mich von der Seite und will wissen, wie es mir geht, oder was ich heute noch vor habe.

Aber das Allerbeste ist, das wirklich kein Mensch Notiz von mir nimmt. Sturzbetrunken bin ich mal auf einer Parkbank liegen geblieben und habe meinen Rausch ausgeschlafen, bevor ich nach Hause getorkelt bin. Wie erhofft, blieb der große Zoff mit meinen Eltern aus. Eine kurze Gardinenpredigt, warum ich in meinem Alter nicht die ganze Nacht unterwegs sein sollte, zu gefährlich und all so was, das war´s dann auch schon. So musste ich mir wenigstens keine Sorgen machen, dass sie mich zu den anonymen Alkoholikern schleppten, um mein kleines Problem in den Griff zu bekommen.

 

Nein, ich liebe diese Stadt. Ich liebe es!

 

Aber nun ist alles vorbei. Irgendwie hat mein Vater doch Wind von der ganzen Sache bekommen. Meint nun, dass ich mich zu stark in die falsche Richtung entwickle und er das nicht zulassen könnte. Er und meine Mutter seien verantwortlich dafür, dass aus mir ein ordentlicher und vor allem respektabler Mitbürger wird.

Ach, wie ich dieses Gerede satthabe. Ich bin jung, ich bin temperamentvoll, ich brauche dieses ständige ruhelose Treiben um mich herum. Ich … ich will ein unbekanntes Gesicht unter vielen sein. Und wenn es soweit ist einsam und alleine in meinen eigenen vier Wänden die Augen schließen und für immer allem Lebewohl sagen.

 

Aber nein, was macht mein Vater? Denkt sich mit meiner Mutter diesen bescheuerten Plan aus, um mich zu retten. Mich zu retten! Als wenn ich das nötig hätte. Spaziert einfach bei seinem Chef ins Büro und kündigt seinen Job als Chefarzt der Notaufnahme im Krankenhaus und übernimmt die Praxis eines kürzlich verstorbenen Landarztes in diesem kleinen Kaff mit gerade einmal zweitausend Einwohnern. Sechs Wochen später hat er alles zusammengerafft, mich in den Wagen verfrachtet und fünf Stunden später bin ich dann hier gelandet.

 

Seitdem muss ich täglich diese naiven und vollkommen überzogenen Dorfbewohner oder besser Kleinstädter, wie sie sich selbst nennen, ertragen. Von früh bis spät überschütten sie mich mit ihrer Freundlichkeit und Fürsorge. Na Kleines, geht es dir gut? Hast du dich schon eingelebt? Wie gefällt dir unser kleines Städtchen? Morgen ist Sommernachtsfest, die örtliche Blasmusikkapelle spielt auf. Da musst du unbedingt dabei sein.

 

Ich kann es nicht mehr hören! Ich muss hier raus, und zwar schnell! Ich hau ab. Ich steige in den nächsten Bus und in zehn Minuten bin dich von hier verschwunden. Zurück in die Großstadt. Dort finden sie mich nie. Ich tauche einfach unter und lebe mein unbekanntes, herrliches Leben weiter wie bisher.

 

Ein Lächeln zaubert sich wie von selbst auf mein Gesicht. Dieses Mal sogar ein echtes. „Sagen sie mal, wo ist denn die nächste Bushaltestelle?“, frage ich scheinheilig die Brünette mit den großen braunen Rehaugen, die noch immer auf eine Antwort von mir wartet.

 

„Wo willst du denn hin?“

 

„Nirgendwo. Ich möchte es einfach wissen“, antworte ich gleichgültig.

 

Fünf Minuten später erreichte ich die Bushaltestelle. Auf ihre zuckersüße Art und Weise, ausgeschmückt mit unzähligen Details, die mich in keinster Weise interessierten, beschrieb sie mir den Weg dorthin.

 

Nun stehe ich hier. Mit weit aufgerissenen Augen. Schon seit fünf Minuten. Und starre in einem fort auf den Fahrplan vor meiner Nase.

 

„Geht es dir nicht gut, Kleines? Du bist ja ganz blass im Gesicht“, erkundigt sich auch schon die nächste liebenswürdige Stimme. Der Schock steht mir wahrscheinlich noch immer ins Gesicht geschrieben, als ich mich langsam zu ihr umdrehe und antworte: „Der Busfahrplan, der kann nicht stimmen. Wo ist die zweite Seite?“, beinahe hysterisch hört sich meine Stimme an.

 

Die junge Frau lächelt und legt liebevoll einen Arm um meine Schulter, während sie mich langsam mit sich Richtung Hauptplatz zieht. „Nein, meine Kleine. Der ist schon richtig. Wenn du wohin willst, musst du wohl noch warten. Der letzte Bus ist um 18.00 Uhr abgefahren. Der Nächste kommt erst wieder übermorgen früh.“

 

 

ENDE

Impressum

Texte: Traumfaenger
Bildmaterialien: Traumfaenger
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All jenen, die sich wohl in ihrer Umgebung fühlen

Nächste Seite
Seite 1 /