Cover

Träum weiter, mein einsamer Freund

 

 

Langsam, mit kleinen Schritten, trippelte er die Straße hinunter. Triefnass von dem schweren Regen, der bereits seit zwei Tagen unaufhörlich nieder ging. Vorbeifahrende Autos spritzten riesige Fontänen auf all jene, die es wagten, bei diesem Wetter zu Fuß unterwegs zu sein. Es dämmerte und die Dunkelheit begann sich allmählich über die Dächer zu legen.

 

Unsicher trat er in die schmale Seitengasse, aus der ihm ein verführerischer, geradezu berauschender Duft in die Nase stieg. Speichel sammelte sich augenblicklich, rann entlang seiner Lefzen aus seinem Maul und mischte sich mit den Regentropfen in seinem Fell. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Der Hunger war in den letzten Wochen zu einem ständigen Begleiter geworden. Eigentlich hatte er zwischenzeitlich gelernt, das ständige Verlangen zu ignorieren, sich nicht von seiner Suche ablenken zu lassen. Aber in diesem Moment brach es einfach an die Oberfläche, betäubte jedes andere Gefühl und bahnte sich unerbittlich einen Weg hinauf zu seinem Gehirn. Drang in jeden seiner Gedanken und lenkte von nun an seine Schritte. Eine Pfote vor die andere setzend, führte ihn sein Weg bis fast ans Ende der Gasse, direkt zu der Quelle.

 

Ein groß gewachsener Mann stand neben einer angelehnten Tür und rauchte genüsslich eine Zigarette. Direkt neben ihm die Mülltonne, welche diesen unwiderstehlichen Duft nach Hähnchen verströmte. Mit gesenktem Kopf näherte er sich langsam. Der Mann blickte sich um, sah direkt in seine Richtung und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Dies alleine hätte ihm eigentlich schon Warnung genug sein müssen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es besser wäre, sich gleich aus dem Staub zu machen.

 

Aber der Hunger war einfach zu groß, besonders, da der Geruch eine längst vergangene Erinnerung in ihm wachrief. Eine Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit. Eine Erinnerung an Momente des Glückes, der Zufriedenheit, grenzenloser Zuneigung, Vertrautheit und wohliger Wärme.

 

Drei Meter vor dem Fremden legte er sich flach auf den Boden, den Kopf zwischen den Vorderpfoten, die Ohren wach nach oben gestellt, den Schwanz freundlich wedelnd, den Blick auf den Mann gerichtet. Da dieser keine Anstalten machte ihn zu verjagen, wagte er es, sich ganz langsam zu nähern. Nicht aufrechten Ganges, nein. Flach auf den Boden gedrückt, robbte er vorsichtig ein Stück weiter. Dabei leise winselnd. Mit jedem kleinen Trippler rückte die Tonne etwas näher und mit ihr auch die Hoffnung. Ein Meter trennte ihn noch, nur ein klitzekleiner Meter. Der Sapper begann immer schneller zu laufen und tränkte sein ohnehin schon nasses Fell noch mehr.

 

Der Fremde nahm einen letzten tiefen Zug und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Dann neigte dieser den Kopf ein wenig zur Seite und blickte auf den glühenden Stummel in seiner Hand. Breites Grinsen machte sich auf dessen Gesicht breit, als er den Arm ausstreckte und den Zigarettenstummel in seine Richtung schnippte. Er traf ihn genau am Nasenrücken, nur wenige Millimeter von seinem linken Auge entfernt. Die plötzliche Bewegung des Mannes und die unerwartete Hitze, ließen ihn erschrocken aufheulen und fluchtartig die Gasse hinunterstürzen. Weit weg von dem Mann und dem verführerischen Duft der Essensreste aus dem Schnellimbiss.

 

***

 

Mit hängenden Ohren und laut knurrendem Magen, setzte er seinen Weg fort. Sich über das Verhalten des Mannes Gedanken zu machen, hatte keinen Sinn. Zu vertraut waren ihm die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen geworden, seit er mit seiner Suche begonnen hatte.

 

Inzwischen war es dunkel geworden und die Straßen leerten sich allmählich. Aus einem Geschäft trat ein Mann mit einem kleinen Jungen an der Hand. Blonde Locken ragten unter seiner Mütze hervor und sein fröhliches Lachen durchbrach den monotonen Straßenlärm. Lukas! Schoß ihm der Gedanke durch den Kopf und schon sprintete er los. Im Augenwinkel musste der Mann ihn gesehen haben, denn er reagierte schnell. Mit irrer Geschwindigkeit schnappte er nach dem Jungen, begann zu schreien und senkte abwehrend den Regenschirm.

 

„Hau ab! Verschwinde du Mistköter!“, schrie er laut und hielt den Jungen schützend hinter sich.

„Papa, Papa, ich habe Angst!“, begann der Junge zu weinen.

Mitten in der Bewegung hielt er inne und musterte mit zur Seite geneigten Kopf den kleinen Burschen. Ja, die Ähnlichkeit war groß, aber das war nicht Lukas. Nicht sein Gesicht. Nicht sein Geruch. Außerdem würde sich dieser niemals vor ihm fürchten.

 

Der Mann bewegte sich einen Schritt auf ihn zu, den Schirm dabei wie ein Schwert vor sich herschiebend. Mit tief hängenden Ohren und eingezogenem Schwanz trat er den Rückzug an. Es tat ihm leid, dass er den Jungen erschreckt hatte, aber er war sich so sicher gewesen, endlich gefunden zu haben, wonach er nun schon seit drei Monaten suchte. Lukas. Seinen Lukas. Den kleinen Jungen mit den blonden Locken und dem herzlichen Lachen. Der freundlichen, einfühlsamen Stimme und der Güte und Wärme in seinen Augen, mit denen er ihn jeden Tag dankbar anblickte, wenn er an seiner Seite die Straße entlang marschierte.

 

***

 

Der Regen wurde stärker, ebenso das Knurren und Brennen in seinem Magen. Zwei Tage war es nun schon her, dass er das letzte Mal etwas zu Fressen ergattern konnte. Er musste unbedingt etwas finden. Irgendwas. Und wenn es nur eine Rate war. Er brauchte dringend etwas zwischen den Zähnen, um seinen Magen wenigstens ein bisschen zu beruhigen. Satt essen würde er sich nicht können, soviel Glück würde er nicht haben, das war ihm schon klar. Aber wenigstens eine Kleinigkeit, nur um den größten Hunger zu stillen.

Lukas, kam ihm wieder der Gedanke. Lukas, wo bist du nur?

 

***

 

Nach zwei weiteren Stunden gab er es auf. Heute würde er nichts essbares mehr finden. Langsam trottete er Richtung Fluss. Erst am Vormittag war er in diese Stadt gekommen, fest darauf fixiert erst einmal Nahrung zu finden, sodass er noch keine Gelegenheit hatte, sich einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen. Aber das war egal. Er wusste, wo ein Fluss ist, war auch eine Brücke. Er musste nur die Uferpromenade entlang laufen, dann würde er früher oder später auf eine treffen. Ein trockenes Plätzchen wäre ihm somit gewiss.

 

Fünfzehn Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Unter der vierspurigen Autobahnbrücke war es laut. Permanent rasten Fahrzeuge über die holprige Straße und entfernten sich rasch mit lautem Dröhnen. Langsam ließ er seinen Blick umherschweifen, um ein geeignetes Plätzchen zu finden. Trocken musste es sein und windgeschützt, auch sollte er nicht sofort von einem jeden gesehen werden, der sich zufällig hierhin verirrte. Sein Magen rebellierte noch immer. In gewohnter Manier ignorierte er es. Hier, unter der einsamen Brücke gab es wenigstens keine verlockenden Gerüche, die ihm das erschwerten.

 

Den Schock und die Freude, als er den kleinen Jungen vor sich stehen sah, konnte er allerdings nicht so leicht abschütteln. Er trottete weiter, hatte das passende Plätzchen gefunden. Schnell schüttelte er den Regen aus seinem Fell. Auch wenn er hungrig und vollkommen verdreckt war, wollte er wenigstens nicht frieren.

 

Ein paar Mal drehte er sich im Kreis, bis er die richtige Position gefunden hatte, dann rollte er sich auf dem kalten Lehmboden zusammen. Die Hinterbeine unter die Vorderpfoten geschoben, den Kopf oben drauf, den buschigen Schwanz über die Nase gelegt, schloss er die Augen.

 

Sein Herz pochte ungewohnt laut, viel zu schnell, um zur Ruhe zu kommen. Tief atmete er ein und wieder aus. Horchte auf die Geräusche um sich herum, versuchte die über ihm rasenden Autos zu ignorieren und sich auf das gleichmäßige Plätschern des Flusses zu konzentrieren. Allmählich verdrängte er die Erinnerung an die Begegnung mit dem kleinen Jungen und die Gefühle, die das in ihm hervorrief. Das Knurren seines Magens wurde leiser und verstummte allmählich. Der Schmerz ließ nach und nur mehr das vertraute leichte Ziehen blieb zurück. Aber damit konnte er leben. Sein Atem wurde regelmäßiger und langsam fing er an abzugleiten.

 

***

 

Lautes Lachen holte ihn aus seiner Versenkung. Sofort fuhr sein Kopf in die Höhe und blickte er sich um. Die Sonne brannte vom Himmel. Um ihn herum flatterten Schmetterlinge und summten Bienen. Unzählige Mücken und andere Insekten erfüllten die Luft. Ein warmer Wind fuhr ihm durch das Fell und wieder hörte er das Lachen. Suchend drehte er sich im Kreis und blickte in alle Richtungen. Hinüber zum Waldrand, zurück zu der großen Eiche, die Mutter Seelen alleine mitten auf der Wiese stand. Jeden Zentimeter des hohen Grases suchte er mit den Augen ab. Achtete auf jede noch so kleine Bewegung, die nicht vom Wind verursacht wurde. Nichts. Überhaupt nichts.

 

Da, eine Bewegung im Gras links von ihm. Rasch duckte er sich und schlich näher. Wieder hallte das Lachen über die Wiese und erwärmte sein Herz. Leise, ganz leise pirschte er sich an, verharrte kurz, bevor er zum Sprung ansetzte. Ein erschrockener Schrei durchbrach die Stille, gefolgt von herzhaftem Lachen. Mit einem Satz war er dorthin gesprungen, wo er kurz zuvor noch die Bewegung wahrgenommen hatte und traf damit genau ins Schwarze.

 

Unter seinen großen Pfoten lag ein kleiner blondgelockter Junge von neun Jahren und lachte herzhaft, als er ihm mit der Zunge übers Gesicht fuhr.

„Ich ergebe mich, Benno. Ich ergebe mich. Du hast gewonnen!“, kicherte Lukas und versuchte ihn daran zu hindern, noch mehr Sabber in seinem Gesicht zu verteilen. Aber er ließ sich nicht davon abhalten. Er hatte gewonnen, wollte seinen Sieg voll auskosten. Zudem wusste er ganz genau, dass Lukas nicht wirklich wollte, dass er aufhörte. Er liebte es, wenn er ihm auf diese Art seine Zuneigung zeigte, genauso wie er, wenn er sich nachts an ihn kuschelte, und der Kleine liebevoll seine Arme um seinen Hals schlang, bis sie am Morgen gemeinsam erwachten.

 

Nach geraumer Zeit ließ er endlich von ihm ab und Lukas erhob sich noch immer lachend. Rasch zwinkerte er ihm zu, drehte sich um und lief Richtung Waldrand. Ihm signalisierte er, still sitzen zu bleiben. So machten sie es immer. Lukas lief und versteckte sich, Benno blieb an Ort und Stelle und wartete, bis das unverkennbare Lachen erklang, dass er unter Tausenden erkennen würde.

 

Er wartete vergebens. Unruhig rannte er nach ein paar Minuten los. Direkt in den Wald hinein und versuchte Lukas Witterung aufzunehmen. Immer weiter drang er vor, folgte der Spur, aber nirgends konnte er den Kleinen entdecken. Er irrte herum. Rannte weit in den Wald hinein, nur um dann wieder an den Waldrand zurückzukehren. Verzweifelt weitete er seine Suche aus, zog immer größere Kreise. Panik begann in ihm aufzusteigen und er beschleunigte seinen Lauf. Er rannte und rannte, wie er es noch nie getan hatte. Lukas, schrie es in ihm. Lukas, wo bist du?

 

Lukas Eltern kamen hinzu und forderten ihn immer wieder auf, nach dem Kleinen zu suchen. Nach einer Viertelstunde wurde die Mutter nervös. „Komm schon, Benno. Zeig uns, wo Lukas ist.“ Erneut hielt er die Nase in den Wind und nahm die Witterung auf. Wieder rannte er los, hinein in den Wald. Immer dichter ins Unterholz, bis er plötzlich auf einer kleinen Forststraße stand. Es dauerte eine kleine Ewigkeit bis Vater und Mutter hinter ihm auftauchten und suchend um sich blickten. Lukas war nirgends zu sehen. Immer wieder hob er seine Nase, schnupperte ausgiebig. Senkte sie zu Boden, suchte nach der Spur, die ihn hierher geführt hatte. Lief ein Stück zurück, nur um dann wieder an exakt derselben Stelle anzukommen.

 

Er war weg. Sein Lukas war verschwunden und mit ihm der feine Geruch. Geradeso, als wäre er in ein Auto gestiegen und von hier weggefahren, ohne ihn, ohne seinen besten Freund.

Die Mutter, alle nannten sie Daniela, begann zu weinen und rief verzweifelt den Namen ihres Sohnes. Martin, Lukas Vater, der an seinem Verhalten sofort erkannt hatte, was hier vor sich ging, hing bereits am Telefon und verständigte die Polizei.

 

Es dauerte eineinhalb Stunden, bis ein Streifenwagen sich den schmalen Forstweg entlang schlängelte. Aber auch die Einsatzbeamten konnten Lukas nicht finden. Weitere Fahrzeuge trafen ein und viele Menschen, die bei der Suche nach Lukas mithelfen wollten. Selbst ein Suchhund wurde hinzugezogen. Allerdings konnte dieser nur das bestätigen, was er ihnen bereits vor Stunden zu verstehen gegeben hatte. Lukas war weg.

 

Mit Tränen in den Augen kniete Daniela vor ihm nieder und nahm seinen Kopf zwischen ihre zittrigen Hände. Mir erstickter Stimme flüsterte sie: „Es gibt noch Hoffnung, Benno. Es gibt immer Hoffnung. Wir müssen nur ganz fest daran glauben. Wir werden ihn uns zurückholen, hörst du. Wir werden nicht aufgeben, bis wir ihn gefunden haben. Niemals!“

 

Mit einem tiefen Blick in ihre wässrigen Augen, begann er zu verstehen. Erkannte, wie es tief in ihr aussah. Sie würde nicht aufgeben, immer weiter nach dem Kleinen suchen. Ebenso wie er.

Sein Entschluss stand fest. Er wusste, was nun zu tun war. Leise winselnd trat er einen Schritt näher und stupste sanft mit seiner Schnauze gegen ihre Wange. Rasch leckte er die Tränen fort, um sich dann abzuwenden und ohne einen weiteren Blick zurückzuwerfen, rannte er los. Vorbei an den Polizeiautos, vorbei an unzähligen Helfern, die durch den Wald streiften. Immer weiter die einsame Forststraße entlang. Er rannte und rannte und würde nicht zurückkehren, bevor er seinen einzigen Freund gefunden hatte.

 

 

***

Ein Obdachloser schlurfte müde in den Schutz der Brücke, auf der Suche nach einer trockenen Schlafgelegenheit für die Nacht. Mit geübtem Auge suchte er einen Platz, wo er sich unbemerkt niederlassen konnte.

 

Leises Winseln drang an sein Ohr und ein schabendes Geräusch. Vorsichtig näherte er sich. Traurig blickte er auf den verwahrlosten Mischling, der in der hintersten Ecke lag, leise vor sich hin winselte und mit den Beinen zuckte. Er wusste, was das bedeutete. Hatte dies schon oft bei streunenden Hunden beobachtet. Dieser hier erinnerte sich. Träumte vermutlich von glücklichen Tagen und rannte dabei über sattgrüne Wiesen und durch Wälder.

 

„Träum weiter, mein einsamer Freund“, flüsterte er leise. „Und behalte dir deine Erinnerungen. Denn diese sind das Einzige, das unsereins noch bleibt.“

 

Leise zog er die Reste seines Abendessens aus der Tasche und legte sie vor dem Streuner auf den Boden, bevor er sich etwas weiter hinten in seine alte Decke wickelte und selbst in seine Erinnerungen flüchtete.

 

ENDE

 

Impressum

Texte: Traumfaenger
Bildmaterialien: von Lizzyliz und pixapay
Tag der Veröffentlichung: 04.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen vierbeinigen Wegbegleitern

Nächste Seite
Seite 1 /