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Hörst du die Stille?

 

„Warum habe ich nur den Wecker abgestellt“, stammelte Maria leise vor sich hin. „Warum habe ich das nur getan? Wegen fünf Minuten. Fünf Minuten Schlaf, als ob das etwas ausmachen würde. So dumm, ich war so dumm!“ Schwere Tränen begannen zu laufen, und grenzenlose Verzweiflung übernahm die Kontrolle über Marias Verstand, als sie in die gähnende Leere blickte, die sie erneut umgab.

Drei Stunden saß sie bereits fest eingekeilt zwischen Lenkrad und Sitz. Die Kälte wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Bei dem Überschlag gingen die Seitenscheiben zu Bruch, und eisige Kälte drang ungehindert ins Wageninnere und ihren Körper.

Wenigstens begann der Schmerz in Beinen und Bauch, der ihr in den vergangenen Stunden beinahe den letzten Fetzen Verstand geraubt hatte, allmählich nachzulassen. Der pochende Wahnsinn ließ nach.

„Das kann doch alles nicht wahr sein, verdammt noch mal!“, hauchte sie entmutigt. Den Blick unverwandt auf die Straße hoch oben gerichtet. „Jemand muss mich doch hören“, warf sie verzweifelt in die Stille, nachdem das Geräusch des sich stetig entfernenden Motors verstummte.

Vor drei Jahren war Maria zusammen mit ihrem Mann Stefan in das Haus am oberen Ende der beschaulichen Ansiedlung gezogen, um der Hektik und dem Trubel, die in einer großen Stadt wie Innsbruck herrschten, zu entfliehen. Lange Zeit hatten sie Ausschau gehalten, bis das passende Objekt zum Kauf angeboten wurde.
„So eine Gelegenheit bekommen wir nie wieder“, verkündete Stefan enthusiastisch. Maria konnte in seinen Augen lesen, dass er seine Wahl bereits getroffen hatte. Auch wenn sie nicht sofort zugesagt, sondern ein paar kleine Einwände gegen den Umzug vorgebracht hatte, wusste sie doch, dass sie ihm um nichts in der Welt dieses kleine Stückchen Paradies verwehren würde.

Drei Monaten später war es soweit. Nach ein paar kleineren Umbaumaßnahmen und der Generalsanierung von Bad und Küche, stand einem Neubeginn nichts mehr im Wege. Es dauerte nicht all zu lange, bis sie sich eingelebt hatten und die Stille und ungestörte Zweisamkeit in vollen Zügen genossen.

Schnell wurden neue Freundschaften geschlossen, da alle Nachbarn bereits in der ersten Woche vorbeigekommen waren. Neben ihrem Haus standen noch zehn weitere auf dem Hügel, somit blieb das ganze Recht überschaubar. Die Straße, die zu der kleinen Ansiedlung führte war recht steil und zudem nur für ein Auto geeignet. Zum Glück gab es genug Ausweichstellen auf den vier Kilometern, die Stefan und Maria jeden Morgen, gemeinsam mit den restlichen achtundzwanzig Anwohnern, meistern mussten. Da es sich hierbei fast ausschließlich um junge Familien handelte, war ein jeder tagsüber in der Arbeit. Mit Ausnahme dreier Mütter, deren Kinder noch nicht die Schule besuchten.

Letzte Woche hatte Maria ein paar Tage freigenommen, um die Stille und den Frieden zu genießen, wenn der kleine Berg vollkommen verlassen war. Sie streifte durch die Gegend, durchkämmte den nah gelegenen Wald und besichtigte die Schlucht und den Wasserfall, der besonders an warmen Tagen viele Tagesausflügler in ihre Gegend führte. 

Am Samstag stand dann Stefans Geburtstag an und es wurde ein langer Abend. Übermüdet war sie gestern Abend ins Bett gefallen und augenblicklich eingeschlafen. Stefan erging es nicht anders. Den Wecker am Morgen nahmen beide nur wage wahr. Dann der Schock. Mit einem Satz sprang Maria aus dem Bett: "Oh mein Gott! Wir haben verschlafen!"
In aller Eile unter die Dusche, rein in die Klamotten, ab in die Garage, ein schneller Kuss und schon saßen beide in ihrem Wagen.

Stefan fuhr als Erster los und es dauerte nicht lange, bis Maria ihn nicht mehr sehen konnte. In Innsbruck musste sie nicht fahren. Von der Wohnung bis zur Agentur, in welcher sie als Grafikerin arbeitete, brauchte sie zu Fuß nur zehn Minuten. 

Stefan Büro lag etwas außerhalb, sodass er es gewohnt war, bei jedem Wetter und noch so miserablen Straßenverhältnissen, den Wagen sicher durch Regen und Schnee zu lenken. So auch hier oben. Seine Sicherheit und Präzision faszinierte Maria jedes Mal aufs Neue, wenn sie gemeinsam in die Stadt fuhren. Somit war es nicht verwunderlich, dass er so viel schneller die steile Straße bewältigen konnte, als sie selbst.

Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen trat sie leicht aufs Gas. Die Kurven konnten ein bisschen mehr Fahrt vertragen, dachte sie. Stefan konnte das auch und sie fuhr die Strecke nun seit drei Jahren unfallfrei. Was sollte also groß passieren?

Die Brücke kam in Sicht. Auf der rechten Seite zog sich die Schlucht in leichter schlangenlinie tief in den Berg hinein. Links schoss der Wasserfall in berauschendem Tempo in die Tiefe. Auf der Brücke angekommen, schlich sich bei Maria der Gedanke ein, dass sie vielleicht doch etwas zu schnell unterwegs war, als der Wagen auch schon ausbrach.

Mit weitaufgerissenen Augen und angehaltenem Atem steuerte Maria dagegen, trat auf die Bremse und sofort wieder aufs Gas, da ihr Stefan nicht nur einmal erklärt hatte, dass eine Vollbremsung in einem solchen Fall der größte Fehler wäre, den sie machen konnte. Die Brücke bereits überwunden, blieben Marias Augen angstgeweitet an der nächsten Kurve hängen, die in einer S-Kombination endete. Panisch riss sie das Lenkrad herum und begann zu beten.

Ein lauter Knall durchbrach die Stille, gefolgt von einem lang gezogenen Schrei. Glas splitterte, Blech verformte sich. Marias Körper wurde schlagartig nach vorne katapultiert und wieder kraftvoll nach hinten geschleudert. Ein harter Schlag gegen den Kopf folgte, und rasant wurde die Luft aus Marias Lungen gepresst. Scharfkantige Splitter gingen auf ihrem Gesicht nieder und rissen schmerzhaft die Haut auf. Immer lauter wurden die Geräusche von sich verbiegendem Metall, und Marias Herz schlug heftig.

Von rechts näherte sich etwas rasend schnell. Maria versuchte noch auszuweichen, aber der Gurt, der sich beim Aufprall fest um ihren Körper gestraft hatte, verhinderte das Ausweichmanöver. Ein heftiger Schmerz fuhr durch ihren Körper, als ein dicker Ast tief in Höhe ihres Magens eintrat. Maria wollte schreien, so sehr schmerzte es, aber dazu fehlte ihr der Atem.

Rundherum krachte und schepperte es, Marias Beine begannen zu kribbeln, und eine warme Flüssigkeit floss ihre Wange hinunter, sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Eben konnte sie den Himmel über sich sehen, als auch schon die Erde wieder deren Platz einnahm.

Der Wagen kam zum Stillstand und augenblicklich herrschte Stille. Lediglich Marias unkontrollierter, abgehackter Atem durchbrach die eigenartige Ruhe. Der kaum auszuhaltende Schmerz in ihrem Bauch erlangte seinen Höhepunkt, entlockte ihr einen qualvollen Schrei, und führte sie in eine erlösende Ohnmacht.

Unbarmherzig fuhr der Schmerz durch Maria hindurch, sobald sie die Augen öffnete. Wie lange sie bewusstlos war, konnte sie nicht sagen. Auch bereitete es ihr erhebliche Mühe, den Kopf nur ein paar Zentimeter anzuheben, um nachzusehen, was eigentlich los war. Gerade noch saß sie im Auto, fuhr vergnügt hinter ihrem Schatz die Straße hinunter, über die Brücke, am Wasserfall vorbei, als … Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Zumindest an jene bruchteilhaften Augenblicke, als der Wagen ins Schleudern kam und sich die Kurve vor ihr auftat … „Oh, mein Gott“, flüsterte sie geschockt. „Ich bin abgestürzt!“

Vorsichtig, mit einer enormen Kraftanstrengung verbunden, fuhr sich Maria mit der linken Hand an die Schläfe. Wimpern, Haut, Hals und Haaren waren verklebt. Mit einem leisen Fluch zuckte sie zusammen, als sie die Stelle berührte. 

Erschrocken blickte sie auf ihre Finger. Sie waren voll Blut, aber nicht nur diese, die ganze Hand, der komplette Arm. Noch etwas anderes störte empfindlich. Beinahe fünf Minuten blickte Maria auf den langen Ast, der genau vor ihr endete. Langsam, sehr langsam kam die Einsicht. Er endete nicht vor ihrem Bauch. Er steckte in ihr. Der Auswirkung dessen bewusst werdend, schloss Maria die Augen und versank erneut in der Dunkelheit.

Marias Lider flogen auf und mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete sie ihren Blick auf den dicken Ast. „In meinem Bauch“, wiederholte sie leise die Worte. „Er steckt in meinem Bauch. Er hat mich aufgespießt!“

Mit beiden Händen wollte sie danach greifen, in herausziehen, weit von sich werfen. Aber nichts geschah. Kraftlos hingen beide Arme an ihrem Körper hinunter, gerade so, als wären es nicht die ihren. Kontinuierlich forderte sie sich selbst auf, endlich in Bewegung zu kommen und den verdammten Ast raus zu ziehen.

Nach zehn Minuten gab Maria auf. Erschöpft und am Rande der Resignation versuchte sie es mit dem Kopf. Damit hatte sie mehr Glück. Es gelang ihr tatsächlich, diesen ein paar Zentimeter nach links zu drehen, um sich ein Bild von ihrer momentanen Lage zu machen. Der kleine Fiesta lag auf der Seite. Vor ihr tat sich der Abgrund auf. Ein paar Bäume verhinderten, dass sie mitsamt dem Wagen in den Abgrund stürzte. 

Mit ungeheurer Anstrengung und fest zusammengebissen Zähnen, um nicht laut aufzuschreien, wanderte ihr Blick die Böschung hinauf. Maria schätzte, dass die Straße in fünfzig Meter Entfernung lag. Unverwandt den Blick darauf gerichtet, setzten sich allmählich die Räder in ihrem Gehirn in Bewegung. Ein schweres Unterfangen, mit dem unbändigen Schmerz in Bauch und Beinen. Der Presslufthammer, der in ihrem Kopf wütete, tat sein Bestes, um selbst den kleinsten, vernünftigen Gedanken zu verscheuchen. Dennoch wurde Maria eines klar. Sie musste aus dem Wagen heraus und hoch zur Straße kommen, wenn sie gefunden werden wollte.

Aber wie schon zuvor, verweigerten Hände und Füße den Dienst. Tränen begannen in Maria hoch zusteigen. Mit herzzerreißenden Schluchzen bettete sie ihren Kopf auf das Lenkrad. Den Blick permanent auf die verlassene Straße gerichtet.

Marias Gedanken schweiften ab. Wie auf der Achterbahn starteten sie los, liefen immer schneller, wechselten die Richtung und endeten letztendlich wieder in der Einsicht, dass sie versuchen musste aus dem Wagen herauszukommen.

Leichtes Zittern durchströmte ihren Körper. Es war Anfang Jänner. Das Außenthermometer zeigte am Morgen minus zehn Grad. Wann hatte sie das Haus verlassen? Wie lange saß sie schon hier? Maria hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Nur eines durfte sie nicht, aufgeben. Die Straße im Auge behalten und auf sich aufmerksam machen, sobald sich ein Auto näherte. Das war der Plan. Aus eigener Kraft herauszukommen war unmöglich. Dieses Unterfangen galt bereits als gescheitert. Es blieb nur mehr die Hoffnung, dass bald jemand nach ihr suchte.
Um die Orientierung nicht vollkommen zu verlieren, begann Maria zu zählen, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig ….

Gerade erreichte Maria die neuntausendsechshundertdreiundfünfzig, als das hochtourige Dröhnen eines Motors durch den Wald drang. Unbändige Freude und maßlose Hilflosigkeit überfielen sie.

Ein Auto! Da kommt ein Auto! Was soll ich machen? Was wenn sie mich nicht sehen? Marias Gedanken überschlugen sich. Die letzten Kraftreserven mobilisierend, rief sie. „Hier! Ich bin hier! Ihr müsst mir helfen!“ Aber selbst, wenn der Fahrer des Wagens direkt neben ihr stünde, wäre es ihm nicht möglich gewesen, ihre geflüsterten Worte zu hören.

Maria wollte schreien, das Leid und den Schmerz, den sie nun schon seit unendlich langer Zeit erdulden musste, laut hinausschreien. Aber es ging nicht. Die Kraft, die sie dazu benötigte, war nicht mehr vorhanden. Das Zittern wurde stärker, der Strom an Tränen wollte nicht versiegen. Lediglich ihr einsamer Dialog unterbrach kurz die wieder eingetretene Stille.

Aus weiter Ferne drang eine Stimme zu ihr durch. „Maria, mein Schatz? Was machst du hier? Komm ich helfe dir. Du bist ja schon ganz durchgefroren.“ Mit neuer Hoffnung im Herzen blickte Maria in das tadelnde Gesicht von Stefan. Die Missbilligung, die in seiner Stimme lag, wurde von der Wärme, mit der er sie anblickte, Lügen gestraft. Langsam streckte er eine Hand aus und berührte sanft ihre Wange.

Maria schenkte ihm ein Lächeln und er schloss sich an. Die Wärme seiner Hand drang in sie ein, erfüllte ihren Körper, linderte den Schmerz, brachte ein Gefühl von Glück und Erleichterung mit sich. Alles war mit einem Schlag vergessen. Der Schrecken, als ihr bewusst wurde, dass sie die Kontrolle über den Wagen verlor, die unheilvollen Geräusche, die ihren Weg nach unten begleiteten, der unsägliche Schmerz als der Ast sie durchbohrte, die abgrundtiefe Angst, die sie überfiel, als ihr klar wurde, dass es hieraus vermutlich keine Rettung mehr gab und die Hoffnungslosigkeit, als ihre einzige Chance in einem schwarzen Kombi an ihr vorüber fuhr.

Nun war alles gut. Stefan war hier. Er hatte nach ihr gesucht und sie gefunden. Nun konnte es nicht mehr lange dauern bis die Rettungsmannschaften eintrafen, um sie aus dieser misslichen Lage zu befreien. Ein paar Tage im Krankenhaus und schon wäre alles überstanden. Die angenehme Wärme, die von Stefans Hand ausging, mit der er sanft über ihre Wange streichelte, tat unheimlich gut. Ein Gefühl der Unbeschwertheit und Leichtigkeit fegte jegliche Sorgen hinweg, nahm den Schmerz mit sich und …

„Lass uns nach Hause gehen, mein Schatz. Gib mir deine Hand“, unterbrach Stefan ihre Gedanken. Dankbar blickte sie in seine Augen, lächelte und streckte die Hand nach ihm aus. „Gerne“, flüsterte sie leise.

In dem Moment, als sich ihre Hände trafen, schlossen sich Marias Lider, wich der letzte Atem aus ihrer Lunge, und hörte ihr Herz auf zu schlagen. Ein einziger Gedanke hatte gerade noch Zeit, um kurz aufzuflackern. „Seid wann hat Stefan Flügel?“

 

Impressum

Texte: Traumfaenger
Bildmaterialien: Traumfaenger
Lektorat: Wortspieler
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme meine allererste Veröffentlichung Astrid Rose, Nadine Pohler und Markus Hedströhm für ihre Unterstützung und Ermutigung auf BX Zudem Wortspieler für die Erklärungen und Korrekturen zu meinem Text

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