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„Nya!“, die scharfe Stimme meiner Mutter dringt durch meine geschlossene Zimmertür zu mir. Ich sitze gerade an meinem Computer, um wichtige Fakten für mein Geschichtsreferat zu recherchieren. Also schließe ich schnell die geöffnete Seite und stelle den Computer auf Standby, damit ich runter in die Küche zu meiner Mutter gehen kann.
„Nya, da bist ja. Nun, ich habe vor heute für uns zu kochen.“, erklärt sie mir. „Und wieso bestellst du nicht beim Service? Das würde doch viel schneller und besser gehen!“ Doch meine Mutter ignoriert mich einfach. „Heute kommt der Chef deines Vaters zu uns und ich möchte ihm doch nicht solchen Fraß vorsetzten.“ Mit Fraß meint sie das Essen vom Service, das eigentlich ganz lecker ist. „Ich mache eine Pilzsuppe. Deshalb musst du jetzt mir jetzt welche besorgen. Aber keine gekauften, nur frische, selbstgesammelte. Hast du verstanden?“ Sie drückt mir einen Korb in die Hand. „Heißt das,“, frage ich verwirrt, „ich soll in den Wald gehen und Pilze sammeln?“ „Ja, und trödele nicht. Um zwölf Uhr musst du wieder da sein.“ Ich bin nicht begeistert von der Idee, weil ich eigentlich an meinem Referat weiterschreiben wollte, doch ich beschwere mich nicht. Wie auch. Bei meiner Geburt wurde mir, sowie allen anderen meiner Generation, eine KIS eingepflanzt. Die KIS, Künstliche Intelligenz Schaltzentrale, ist ein Projekt unserer Regierung, besser gesagt unseres Präsidenten Hunt. Er will die Bevölkerung, vor allem die Bevölkerung unter 30, im Zaum halten. Mädchen mit KIS werden KI – Girls genannt, Jungs KI – Boys. Deshalb die KIS, denn diese unterbindet starke Emotionen, macht uns also quasi zu Marionetten der Regierung.
Bei uns gibt es nicht viele Regeln, doch diese ist die Wichtigste:

Jeglicher Kontakt zwischen Elite und Outsidern ist strengstens untersagt und wird ansonsten mit dem Tod beider Parteien bestraft.

Elite, das ist die Oberschicht Noucitys, zu der auch ich gehöre. Wir sind privilegiert den Luxus unserer neuen Gesellschaft zu genießen.
Die Outsider, sind, wie der Name schon sagt, Außenseiter. Sie sind der Abschaum der Gesellschaft und müssen an den Randgebieten wohnen.
Und genau dorthin muss ich, denn nur da sind die Wälder.
Ich steige also in einen der Züge, die mich direkt an den Rand des Waldes bringt. Zwar bin ich schon oft mit diesem Zug durch Noucity gefahren, doch nie so weit hinaus zu den Randgebieten. Dort angekommen, steige ich schnell aus und gehe, den Blick auf den Boden gerichtet, geradewegs in den Wald hinein. Erst nach einer Viertelstunde wage ich es mich umzusehen. Niemand da. Ich atme erleichtert aus und habe gar nicht gemerkt, wie angespannt ich die letzten Minuten war.
Auf einer kleinen Lichtung zwischen jungen Tannen entdecke ich Purpursprösschen. Vorsichtig schneide ich welche ab und lege sie in meinen Korb, als ich ein Geräusch höre. Klang wie das Knacken eines Astes. Ich denke mir, dass das nur ein Eichhörnchen oder ein kleiner Marder war, nichts weiter. Ein paar Meter weiter entdecke ich noch mehr Pilze, diesmal Schwamm – und Kastanienpilze. Außerdem noch welche, die ich nicht direkt kenne, aber aussehen, als wären sie essbar. Ich will sie gerade in mein Körbchen legen, als -
„Die würde ich an deiner Stellen lieber nicht essen.“ Ich fahre herum, erschrocken über die plötzliche Störung. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, denn wer vermutet schon jemandem im Wald, die gehen schließlich alle einkaufen oder spazieren in den Parks. „Was?“ Ich schaue ihn verdutzt an. “Ich sagte, die würde ich an deiner Stelle lieber nicht essen.” „Und warum, wenn ich fragen darf?“ Er zieht belustigt, eine Augenbraue hoch und mustert mich. „Du kommst wohl nicht sehr oft hierher, oder? Dann wüsstest du nämlich, dass das ein Baumpilz und er giftig ist.“ „Oh.“ Ich mache ein überraschtes Gesicht, woraufhin er zu lachen anfängt, was mich leicht kränkt.
„Ich... ich wollte ihn nur... meinem Vater zeigen, er... er... er ist nämlich Biologe und der Pilz sah irgendwie komisch aus.“, sage ich wenig überzeugend. Was sein Lachen auch nur verstärkt. „Und warum bist du hier? Spielst du Waldschrat?“, fauche ich zurück.
Auf den ersten Blick sah er schon recht attraktiv aus, aber jetzt, als er lacht, sehe ich erst, wie gut er aussieht. Beim Lachen bilden sich süße Grübchen auf seinen Wangen und seine Augen strahlen wie zwei Saphire im Sonnenlicht. Seine Muskeln spannen sich an und ich kann erkennen, wie durchtrainiert er ist. Und er ist sehr durchtrainiert. Als er meinen prüfenden Blick bemerkt, verebbt sein Lachen und bringt mich wieder in die Wirklichkeit. „Wie heißt du überhaupt?“ „Nya. Und du?“ Doch er reagiert nicht auf meine Frage. „Du gehörst zur Elite, stimmts? So wie du aussiehst...“ „Was soll das heißen, so wie ich aussehe und ja, ich gehöre zur Elite.“ Er überlegt eine Weile und ich bin schon ein bisschen genervt. „Naja“, sein Finger zeigt von meinem Kopf bis zu meinen Füßen, „ so, hübsch, sauber, reich.“ Na toll! Aber war das nicht gerade ein Kompliment? Er hat gesagt, ich sei hübsch. Oh mein Gott! Halt stopp, reiß dich zusammen Nya. Du kennst ihn gar nicht. „Ach ja und nicht sehr erfahren, was den Wald angeht.“ Okay, er ist doch nicht so toll. „Aber ich kann dir beibringen giftige Pilze von ungiftigen zu unterscheiden oder so.“ Jetzt spielt er sich auch noch auf, als wäre er der Allertollste. „Ich glaube nämlich, dass du da dringend Nachholbedarf hast.“ Gott, ich dreh durch. „Okay.“, höre ich mich antworten. Was habe ich gerade getan? Er ist schon ein bisschen gegangen, als er sich noch mal umdreht. „Fionn.“ „Was?“ „Ich heiße übrigens Fionn.“ Und schon ist er weg.

Meine Mutter war zufrieden mit den Pilzen – es waren keine giftigen mehr dabei – und auch das Geschäftsessen mit dem Chef von meinem Vater lief perfekt ab. Abends setzte ich mich dann an mein Referat, doch ich konnte mich nicht konzentrieren, da meine Gedanken immer wieder zu dem Jungen aus dem Wald abschweifen. Fionn. Ich weiß nicht, ob ich seine Einladung annehmen soll. Immerhin ist er ein Junge, ich weiß nicht wer er ist und woher er kommt. Aber auf der anderen Seite würde ich ihn gerne noch mal wiedersehen. „Nein“, sage ich zu mir, „du wirst ihn nicht treffen.“ Und so mache ich es. Beziehungsweise nicht.
Am nächsten Tag bin ich durch meine Mutter eh so sehr abgelenkt, dass ich Fionn und unsere Verabredung total vergesse. Obwohl ich glaube, dass ich es eher verdränge, als vergesse.
Am Abend liege ich in meinem Bett und kann nicht einschlafen, weil ich ein schlechtes Gewissen Fionn gegenüber habe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Immer, wenn ich an ihn denke, breitet sich so ein warmes Gefühl in meinem Bauch aus. Und ich muss grinsen, bloß wenn ich seinen Namen sage oder denke. Ich muss ihn morgen einfach treffen.

Als ich den Wald betrete, halte ich Ausschau nach Fionn. Doch ich kann ihn nirgendwo entdecken, also spaziere ich lustlos weiter zwischen den hohen Bäumen. Ein Knacken – doch als ich nachsehe ist es nur ein Eichhörnchen. Frustriert seufze ich auf. „Suchst du was? Aber bitte nicht schon wieder Pilze!“ Ich schrecke herum und vor mir steht Fionn. Er sieht irgendwie zerknirscht und gekränkt aus. „Tut mir leid, Fionn...“, flüstere ich. „Das du nicht gekommen bist? Mich stört´s nicht so, ich kann schließlich giftige von ungiftigen Pilzen unterscheiden.“ Ein Grinsen huscht über sein Gesicht, das mich auch zum Grinsen bringt. „Na komm schon.“, sagt er und geht schon vor, um mit seinem Vortrag über den Wald zu beginnen.
Er zeigt mir gerade eine kleine violette Blume, die wunderschön aussieht, und ich will sie gerade pflücken, als seine Hand vorschnellt, um mich davon abzuhalten. Ein Prickeln, von da ausgehend, wo er mich berührt hat, klettert meinen Arm hinauf. „Nicht. Sie sieht so viel schöner aus. Unberührt.“, wispert Fionn, ohne von meinen Augen abzulassen. „Wunderschön...“ hauchend, streicht seine Hand eine Strähne aus meinem Gesicht. Seine Lippen schnellen vor und treffen warm und trocken auf meine. Überrascht ziehe ich mich zurück und schaue ihn atemlos an. Da beugt er sich wieder zu mir und dieses Mal unterbreche ich den Kuss nicht. Ich schmiege mich an Fionn, lege meine Arme um seine starken Hals und erwidere seinen Kuss. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen wir uns voneinander und sogleich vermisse ich das fast schon vertraute Gefühl seiner Lippen auf meinen. „Nein.“ Fionn schaut mich zuerst verwundert und dann sauer an. „Nein, nein, Fionn, so war das nicht gemeint. Ich meinte nicht dich, den Kuss. Der Kuss, er war... unbeschreiblich. Und das ist es ja gerade!“ „Aha und was ist es gerade?“, er schaut mich fragend an. „Na, eigentlich sollte ich solche Gefühle nicht haben. Ich hätte GAR nichts fühlen dürfen!“, schreie ich fast. Fionn sieht mich immer noch fragend an. „Welche Gefühle solltest du nicht haben?“ „Welche Gefühle wohl?! Meine Gefühle zu dir natürlich! Ich dürfte mich gar nicht in dich verlieben!“ „Du bist in mich verliebt?“ „Ja.“ Ich tigere hin und her, ohne, dass Fionn mich aus den Augen lässt. „Eigentlich sollte meine KIS aktiv sein und deine auch. Hast du was gefühlt?“ Fionn dreht sich um und seufzt. Es klingt so als würde er irgendeinen inneren Kampf ausfechten. „Ja, ich habe was gefühlt. Dasselbe wie du.“ Ich muss lächeln, doch ich wende mich wieder dem Problem mit der KIS zu. „Vielleicht ist sie ja kaputt oder sie wurde von der Regierung wieder abgestellt...“ „Nya, ich – „ Oder ich habe gar keine, bei mir wurde sie vergessen...“ Fionn dreht sich um und kommt zu mir, um mich festzuhalten. „Nya!“ „Was?“, fauche ich. „Nya, ich habe gar keine KIS. Ich bin ein Outsider.“ Ich kann nicht anders, als ihn anzustarren. Regel eins: Kein Kontakt zwischen Outsidern und Elite. Ansonsten Todesstrafe. Todesstrafe, oh mein Gott! „Das ist verboten, was wir hier machen! Das weißt du doch, kein Kontakt!!!“ „Ich weiß, ich weiß, ich musste dich aber wiedersehen. Du machst einen süchtig! Ich – „ Doch weiter kam er nicht, denn das laute Flattern eines Helikopters unterbricht ihn. „Nya Light! Fionn Hawkhorn! Wegen unerlaubter Aktivität Regel eins betreffend müssen wir sie festnehmen!“ Ich stehe noch wie versteinert da, doch Fionn zieht mich an meinem Arm weiter in den Wald hinein. Da ertönen erste Schüsse und ich ziehe instinktiv den Kopf ein. Plötzlich bleibt Fionn stehen und ich wundere mich, wieso, bis ich fast über ihn falle. Er liegt zu Boden gesunken auf dem harten Waldboden und ich sehe rotes Blut aus seiner Brust hervorquellen. „Nein!!!“, schreie ich gegen den Lärm. Mein Blick ist verschwommen von meinen vielen Tränen und Fionn zieht mich zu sich herunter und haucht: „Ich liebe dich!“ Und dann schließen sich auch schon seine wunderschönen Augen. „Nein! Nein! Bitte verlass mich nicht!!!“ Noch ein Schuss. Ich spüre einen leichten Schmerz in meinem Rücken.
Und dann nichts mehr

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Tag der Veröffentlichung: 12.09.2012

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