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1.




Helen spürte etwas zwischen ihren Fingern, etwas nasses, körniges. Sand.
Sand? Wieso Sand? Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Kopf, das Denken strengte sie noch zu sehr an.
„Reiß dich zusammen, Helen Hamilton!“, schalt sie sich selbst.
Also, wo gibt es Sand? Na klar, am Strand!
Nun war sie sich ganz sicher, dass sie am Strand ist, denn sie hörte hinter sich gedämpft den Ozean rauschen und jetzt spürte sie auch die unangenehme Feuchtigkeit an ihren Klamotten, die die immer wiederkehrenden Wellen verursachten.
„Helen?“ Sie kannte diese Stimme.
„Helen!“ Lucas.
Sie öffnete ihre Augen, schloss sie aber gleich wieder, da die unerwartete Helligkeit kaum auszuhalten war.
Sanft strich Lucas ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Mach die Augen auf, Helen!“ Und dieses Mal gelang es ihr. Das Erste, was sie sah, war auch gleichzeitig das Schönste. Er half ihr auf und erst jetzt bemerkt sie wo sie wirklich war. Sie saß am Strand beim Leuchtturm und über dem Ozean, der Nantucket umgibt, ging gerade die Sonne unter.
„Helen?“ „Ja, Lucas?“ Wie gut es tat, seinen Namen auszusprechen. „Helen, alle vier Häuser sind vereint und der Krieg steht kurz bevor, also...“ „Ja, Lucas?“, wiederholte sie ihre Frage und sah ihn seit langer Zeit mal wieder verliebt an, ohne ein missbilligenden Blick zu ernten. „Also, Helen, ich... jetzt ist eh schon alles verloren und ich muss das einfach tun...“ Sie spürte Lucas Wärme noch bevor er sie berührte. Und als sie dann endlich seine Lippen auf ihren wahrnahm, konnte sie nicht anders. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und presste sich an ihn, bis sie umschlungen im Sand landeten. Widerwillig löste sich Helen aus Lucas´ Umarmung und fing an zu lachen. Nun fing auch Lucas an zu lachen.
„Ich liebe dich, himmlische Hamilton!“ Er grinste.
„Für immer und ewig.“


2.




„Lucas.“
„Helen, wach auf!“
Helen fühlte, wie ein weiche Hand an ihrem Arm rüttelte, doch sie ignorierte sie.
„Sie wacht einfach nicht auf! Okay, mir reicht´s, ich geb auf!““ Diese frustrierte Stimme klang ganz nach Daphne. „Lass mich mal.“ „Ich weiß, dass du wach bist, Prinzessin! Und wenn du nicht sofort die Augen aufmachst, schlag ich dich solange, bis noch mal fünf Tage brauchst um zu heilen!“ Hector. „Hast du verstanden?“ Die Drohung wirkte. Jetzt saß sie kerzengerade im Bett und sah, dass alle um ihr Bett herumstanden und sie anstarrten.
„Was?“, fauchte sie.
„Du hast von Lucas im Schlaf gesprochen, Prinzessin.“ Hector konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Arrggghhh!“ Jetzt reichte es ihr und sie zog sich die Decke über den Kopf, die ihr jedoch gleich wieder weggezogen wurde.
„Könnt ihr mich nicht einmal einfach in Ruhe lassen!“ „Nein! Wenn du selbst im Schlaf noch an Lucas denkst, können wir das nicht. Du weißt warum, Helen!“ Machte Daphne einen jetzt auf Mutter? Helen konnte es nicht fassen, da verdrückte sie sich fast ihr ganzes Leben lang, dann erfuhr sie, dass sie eine Halbgöttin ist, musste durch die Unterwelt wandern, um die anderen Halbgötter von dem Fluch der Furien zu befreien und plötzlich tut Daphne so als wäre sie eine fürsorgende Mutter.
„Als ob ich das nicht wüsste! Das ist aber so was von egal, die Häuser sind vereint und Krieg bricht auch bald aus, also lasst mich doch!“ Helen sprang aus dem Bett, rannte wütend zum Fenster, um gleich dadurch rauszuspringen.
„Helen!“ Sie hörte Daphnes Schrei nur noch dumpf, da der Wind zu sehr an ihren Ohren rauschte. Wie gut es tat endlich mal wieder zu fliegen. Doch ihre Freude hielt nicht lange an, da sie an Lucas denken musste. Das Fliegen gehörte ihnen, das Fliegen verband sie miteinander.
Sie flog so hoch, dass Touristen sie vom Boden aus nicht mehr sehen konnten, und ließ sich einfach von einer sanften Brise tragen. Doch sie konnte es immer noch nicht genießen, nur der leiseste Gedanke an ihn quälte sie so sehr, dass es mittlerweile schon fast schmerzhaft wurde. Also ließ sie sich sachte hinabgleiten, bis ihre Füße wieder festen Boden spürten. Ein Vibrieren in ihrer Jackentasche riss sie aus ihren Gedanken. Eine SMS von Orion. Warmes Prickeln breitete sich in ihrem Bauch aus.
Bin grad am Strand. Treffen?
Seltsam, Orion war auch am Strand und die SMS traf auch gerade ein, als sie überlegt hatte mit jemanden zu reden. Es fühlte sich an, als hätte Orion eine Verbindung zu ihr, als könnte er spüren wie es ihr geht. Doch das war es, was sie im Moment brauchte. Jemanden zum Reden, jemanden, der sie verstand.
„Helen!“ Die sanfte Vertrautheit in seiner Stimme beruhigte sie sogleich.
Sie drehte sich um, schlang die Arme um seinen Hals und umarmte ihn so fest es ging. „Hey, du zerquetscht mich ja noch...“ „Ist mir egal. Hauptsache, du bist da.“, nuschelte Helen in seine Jacke. Sie versank in seinem Geruch nach Wald, frischer Erde und Salzwasser. Er roch irgendwie nach Zuhause, ein Geruch in dem man sich geborgen fühlen konnte. Orion löste sich als Erster aus ihrer Umarmung und trat einen Schritt nach hinten, um sie verwundert zu betrachten. „Was ist los?“, eine tiefe Sorgenfalte entstand auf seiner sonst makellosen Stirn. „Ich habe Stress zu Hause, wegen Lucas und dem Krieg und ach, wegen allem einfach!“, schnaubte Helen. „Du weißt doch, dass du mich immer anrufen kannst, wenn du willst, dass komme, okay?“ Ich lehnte ich an seine muskulöse Brust. „Ja, ich weiß. Ich weiß, du bist immer für mich da.“ Wir standen noch eine Weile so da, bis Orion meinen Namen flüsterte. Ich hob meinen Kopf, blickte in seine azurblauen Augen mit grünen Sprenkeln und unsere Gesichter waren nur so weit entfernt, dass, wenn ich mich auf die Zehenspitzen gestellt hätte, sich unsere Lippen berührt hätten. Mein Blick wanderte zu seinen wunderschönen Lippen, um die sich ein kaum vorhandenes Lächeln spielte, und zurück. Aber... Orion senkte seine Kopf ganz leicht, bis sich federleicht unsere Lippen berührten. Ein wunderbar warmes Prickeln durchflutete meinen gesamten Körper. Automatisch krallten sich meine Finger an seinem T-Shirt fest. Anscheinend nahm er das als Zustimmung, denn sein Kuss wurde intensiver und der warme Druck seines Mundes fühlte sich so gut an. Seine Zunge fand meine, ich legte meine Arme um seinen Nacken und ich presste meinen Körper an ihn. Orions Hände strichen über meine Taille und meinen Rücken. Für diesen Kuss vergaß ich auf einmal meine ganze Sorgen, alles um mich herum und... Lucas. Lucas.
Ich nahm seine Hände von meinem Körper und löste mich aus diesem, zugegebener Maßen, wunderbaren Kuss. „Orion, es... es tut mir leid. Ich kann das nicht.“, murmelte ich, drehte mich auf dem Absatz um und sprintete los, um darauf gleich in die Luft zu springen.
Ich blickte noch einmal zurück zu Orion, wie er dort am Strand stand.
„Helen.“

Er sah, wie sich Orion zu seiner Helen beugte und sie küsste. Ein tiefes Grollen machte sich in seiner Brust breit und die schwarzen Flammen um ihn, die nur er sehen konnte, begannen bedrohlich zu zischen. Seine Hände krallten sich zu Fäusten, doch gegen die Eifersucht, die sein Herz in Besitz nahm, konnte das auch nichts verrichten. „Beruhige dich!“, schalt er sich selbst. Auch wenn er wusste, dass Helen und er niemals so zusammen sein konnten, wie er wollte, konnte er es nicht ertragen, dass ein anderer auch etwas für sie empfand. Klar, sie war unglaublich schön, auch wenn sie das immer noch nicht wirklich zugeben wollte, sie war die Schönste, aber er wusste, dass sie nie einen anderen so lieben konnte, wie ihn. Aber vielleicht war es gar nicht schlecht so. Vielleicht konnte sie Orion so sehr lieben, dass sie ihn vergessen konnte. Auch wenn er das insgeheim nicht hoffte. Dennoch war es besser so. Für Helen, für ihn, ja, für alle.
Als sie sich in die Luft erhob, spürte er instinktiv den Wunsch, ihr hinterher zu fliegen und sie einfach in den Arm zu nehmen. Doch er riss sich am Riemen, auch wenn es ihn schier verrückt machte. Also versuchte er zu vergessen, was er da gerade gesehen hatte und verschwand in die durchbrechende Dunkelheit.

Gerade als Helen sich eines der Kleider von Ariadne über streifte - sie durfte ja nicht nach Hause gehen, um sich neue Sachen zu holen – rauschte diese auch prompt an der Tür vorbei, drehte sich kurz um, aber nur, um sich anzuschnauzen, dass sie sich beeilen solle, weil sie sonst zu spät zur Schule kämen.
Schule. Das war genau das, was sie jetzt noch brauchte.
Griesgrämig stand sie in der Tür und grübelte.
„Hey Prinzessin! Mach nicht so ein Gesicht, das steht dir nämlich überhaupt nicht!“, kam es von Hector, der grad aus dem Badezimmer kam, und knuffte ihr in die Seite, „Und ich glaube, Orion würde es auch nicht gefallen!“, sagte er mit seinem umwerfenden Halbgrinsen und zwinkerte ihr zu.
Orion?
„He, warte mal!“, sie packte in an der Schulter, so dass er sich zu ihr umdrehte. „Was soll das heißen? Orion geht doch gar nicht auf unsere Schule!“ „Doch, seit gestern schon! Und jetzt komm, wir fahren gleich, die anderen warten schon!“
Tatsächlich warteten die anderen brav unten auf sie beide.
„Da seid ihr ja endlich!“, kam es von Ariadne. „Also ich muss sagen, Helen, mein Kleid steht dir fast noch besser als mir!“ Sie liebte ihr entzückendes, glockenhelles Lachen.
Noch bevor Helen die Stufen zur Schule betrat, rannte ihr auch schon Claire entgegen. Obwohl sie so klein ist, riss sie sie fast mit zu Boden, doch sie konnte sich noch rechtzeitig fangen, so dass sie beide nicht die Stufen hinunter fielen.
„O mein Gott, Helen! Ich hatte das voll vergessen. Wusstest du es noch! Gott, wie soll ich das nur schaffen! Hilfe, Helen, hilf mir, bitte!“ Sie starrte sie perplex an. „Okay, Giggles, du atmest jetzt erst mal tief ein und aus. Ein und Aus. Ein und Aus. Besser?“ Sie nickte, immer noch mit einem hochroten Kopf. „Gut, und jetzt erzähl mir ganz ruhig, was überhaupt los ist. Was soll ich denn noch wissen? Oder überhaupt wissen? Und wobei soll ich dir helfen?“
„DER ABSCHLUSSBALL!!! Helen, in zwei Wochen ist Abschlussball!“
Abschlussball? Daran hatte sie wirklich nicht dran gedacht. Erst recht nicht vor der ganzen Halbgötter – Sache, denn eigentlich wollte sie gar nicht hingehen – weil sie eh niemand fragen würde - , sie wollte sich an dem Abend einfach mit einer DVD und Popcorn vor den Fernseher hocken.
„Ich... Ich hatte, um ehrlich zu sein, nicht vor hinzugehen.“, sagte sie, den Blick auf ihre Schuhe gerichtet.
„Was?! Helen! Natürlich gehst du hin, dass ist das Ereignis der High School!“
„Aber mit wem sollte ich denn gehen? Mit wem gehst du?“
„Dumme Frage, mit Jason! Er hat mich vorhin an meinem Spind abgefangen. Er stand da mit einer einzelnen blauen Kornblume – nicht diese abgedroschenen roten Rosen oder so – und meinte, dass eine blaue Blume für die Sehnsucht und die Liebe stehe. Und er sehne sich nach mir und liebe mich über alles! Ist das nicht unglaublich romantisch...“ Sie seufzte verliebt. „Und dann hat er mich auch noch geküsst, vor allen anderen!“
Helen freute sich mit Claire, doch sie konnte es ihr nicht wirklich zeigen. Insgeheim hatte sie sich mal gewünscht mit einem Jungen auf den Ball zu gehen...
„Helen?! Hallo, lebst du noch?“ Sie wedelte mit ihrer kleinen Hand vor ihrem Gesicht herum. „Was? Was ist los?“ Grinsen. „Da ist jemand für dich!“ Helen drehte sich um und blickte sofort in die blauen Augen von Orion.
Wie er so da stand, mit seinem T – Shirt, das geschickt seine Muskeln umspielte, dem unglaublichen Lächeln, seinen Grübchen und wie die Sonne in von hinten anstrahlte, dass er förmlich leuchtete, sah er wirklich aus wie ein Gott. Wahrscheinlich selbst für die, die nicht die leiseste Ahnung hatten, was er war.
„Orion? Seit wann gehst du hier auf die Schule?“ Sie konnte die Augen nicht von seinem Gesicht lassen. Im Hintergrund hörte sie Claire leise kichern und zu den anderen sagen: „Kommt, lassen wir die beiden kurz allein.“.
„Seit vorgestern, um genau zu sein. Naja, ich dachte mir halt, dass es nicht so gut wäre, wenn ich immer hin und her fahren müsste. Und außerdem hätte es ja sein können, dass du mich vermisst...“ Sie schlang ihm die Arme fest um den Hals. „Ja, ich hätte dich vermisst und es war eine großartige Idee!“ „Oh puh, das freut mich aber!“ Helen wollte ihn schon mit sich in Richtung Klassenzimmer ziehen, als er sie zurückhielt und sagte: „Wir haben ja noch ein bisschen Zeit bevor der Unterricht anfängt und ähhm... würdest du kurz mit mir rausgehen?“ So unsicher wie jetzt kannte sie ihn ja gar nicht, obwohl es irgendwie süß war.
Sie gingen den Strand entlang auf den Leuchtturm zu. Sein Anblick versetzte ihr immer noch einen Stich ins Herz.
„Komm!“ Leichtfüßig sprang Orion in die Luft und landete zwei Sekunden später auf der Aussichtsplattform des Turms. Helen machte es ihm nach.
„Orion, was willst hier mach – "
„Sieh nach unten!“
Und Helen sah nach unten.
Im Sand lagen Muscheln. Und sie bildeten Buchstaben. Eine Frage.
Ball? Dahinter ein kleines Herz.
Erstaunt über das, was grad geschehen war, drehte sie sich zu Orion um, der direkt neben ihr stand.
Doch er stand nicht mehr neben ihr.
Er kniete vor ihr und hielt eine weiße Lilie entgegen.
„Helen Hamilton, willst du mit mir auf den Abschlussball gehen?“


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Bildmaterialien: Dressler Verlag
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2012

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