1.
Piep. Piep. Piep. Ein Geräusch verfolgte mich in meinen Träumen. Piep. Piep. „Stellt es endlich aus!“, wollte ich schreien, aber ich konnte mich nicht bewegen. Es war so dunkel. Wo war ich, wer war ich? Piep. Piep. Ich musste etwas tun, mich bewegen. Ich musste aufwachen, realisierte ich. „Öffne die Augen, Mira!“
Das helle Licht blendete mich, als ich endlich die ein Auge aufriss. Alles war weiß und die Konturen des Zimmers wurden klarer verschwammen abwechselnd wieder. Nur langsam konnte ich richtig sehen. Ich war in einem Krankenhaus und ich war nicht allein.
Auf einem Bett neben mir lag mein kleiner Bruder Pascal, er schlief. Trotzdem konnte ich an seiner unregelmäßigen Atmung erkennen, dass er Schmerzen hatte. Eines seiner Augen war dunkelblau angelaufen und sein rechtes Bein war hochgelegt. Wahrscheinlich gebrochen, überlegte ich. Was zur Hölle war nur passiert?
Müde lehnte ich mich zurück und wollte wieder einschlafen, als die Tür geöffnet wurde und ein Mann und eine Frau, beide Polizisten, das Zimmer betraten. Sie sahen sofort, dass ich nicht mehr schlief und die Frau zückte einen Notizblock. Sie war etwa 1,80 groß, hatte kurze braune Haare und schmale Augen. Außerdem trug sie eine wunderschöne Kette und einen lockeren Schal um den Hals. Sie lächelte mitfühlend. „Wie fühlen sie sich?“
Ich spürte die falsche Höflichkeit und zuckte nur mit den Schultern. Mein Kopf tat weh und ich spürte ein seltsames Brennen an der Hüfte, aber sonst? „Wir würden ihnen gern ein paar Fragen stellen“, meldete sich der Mann zu Wort. Beim Sprechen hüpfte sein Bart lustig auf und ab, ansonsten sah er eher ernst und abgekämpft aus. Seine runden Augen lagen tief in ihren Höhlen, seine Haut war faltig und seine Lippen ein dünner Strich. „Sie wurden gestern Nacht hier eingeliefert. Woran können sie sich erinnern?“
„Ich...“, fing ich an, dann brach ich ab. Woran konnte ich mich erinnern? „ich... weiß nicht. Da war eine Feier?“. Unsicher sah ich zwischen den Beiden hin und her, doch sie gucken mich nicht an. „Da war eine Feier bei uns zu Hause.“ bestätigte ich etwas kräftiger. „Ich habe mit Jonas getanzt und dann ist das Licht plötzlich ausgefallen...“
„Und weiter?“, nun sah die Frau mich auffordernd an. „Ähm, …“ ich überlegte, aber irgendwie herrschte in meinem Kopf ein riesiges Durcheinander. „Jemand hat geschrien, alle sind zur Hintertür gerannt. Sie wollten raus, wissen sie?“, der Polizist beachtete mich aber nicht wirklich. Er machte sich Notizen, mehr nicht.
Mein Kopf brummte und meine Hüfte schmerzte inzwischen ziemlich, aber ich wollte meine Geschichte möglichste schnell zu Ende bringen. Ich wollte wissen, was mit Pascal und Jonas passiert war.
„In der Dunkelheit sind Sachen zerbrochen, glaub ich. Es hat geklirrt und eine Tür ist zugeschlagen – die hat wohl jemand mit Wucht zugeknallt“, verwirrt hielt ich inne. Warum erinnerte ich mich an die Tür und nicht genau an den Rest? Angestrengt kniff ich die Augen zusammen und versuchte, mir die letzte Nacht noch einmal in Erinnerung zu rufen. „Irgendwo waren Leute, die ich nicht kannte. Danach ein weißer Knall und nichts – Filmriss“, endete ich.
„Ein weißer... Knall?“, skeptisch beäugte die Frau mich, „Sie haben sich den Kopf angeschlagen und sie sind ja noch ein halbes Kind.“ „Nein, es war so!“ Ihre Halskette war gar nicht so schön, und sie sollte gehen!
Als hätte der Bärtige meine Gedanken gelesen, stand er auf und verabschiedete sich. „Wenn ihnen noch etwas einfällt, melden sie sich bei uns“
„Wie bitte?“, wollte ich wissen, „was ist hier eigentlich los? Wo ist Jonas?“ Mein älterer Freund hätte mich sicher vor diesen Idioten beschützt. Ich konnte nicht verstehen, warum er nicht an meinem Krankenbett saß und mich angrinste. Bestürzt wandte ich mich an die Polizisten, die unbehaglich in der Tür standen. „Was ist mit Jonas Schmitzer? Ist er verletzt?“ „Jonas Schmitzer ist tot“, erwiderte die Frau und verschwand schnell im Gang, ohne eine meiner Fragen zu beantworten.
2.
Seit drei Wochen war ich wieder zu Hause, und doch war nichts wie vorher. Es war nicht nur der dunkle Fleck auf den Dielen im Wohnzimmer, es waren nicht nur meine Eltern, die meinen Blicken auswichen. Es war viel mehr diese Leere, die mich so fertig machte. Wenn ich in der Schule neben Jonas leerem Platz saß oder wenn ich allein nach Hause fuhr, dann konnte ich dieses Gefühl nicht vertreiben. Ich war immerzu allein. Meine Freunde wollten „mir Zeit geben“ und waren auf Abstand gegangen, aber ich wusste, dass sie mich für Jonas Tod verantwortlich machten.
Wieso auch nicht? Schließlich hatte ich die Party organisiert, auf der er umgebracht worden war. Ich hatte zwar nicht selbst den tödlichen Stoß ausgeführt, schuldig war ich auch so schon. Dazu kam, dass niemand wusste, wer es wirklich getan hatte, wer meinen Freund mit dem Kuchenmesser zweimal in den Bauch gestochen hatte.
Die Polizei hatte keine Fingerabdrücke gefunden wie in einem Krimi, sie hatten nicht einmal das Haus durchsucht. „Was sollten wir da schon finden?“, hatten sie gesagt und mich vielsagend gemustert. Alle hielten mich für den Täter, auch wenn es keiner aussprach.
Hatte ich es getan? Selbst ich hatte keine Ahnung ob ich eine Mörderin war, denn ich wusste nichts mehr von der Zeit nach dem weißen Knall.
An dem Tag, an dem ich nach Hause gekommen war, hatte ich das ganze Wohnzimmer abgesucht, verzweifelt auf der Suche nach einem Beweis. Einem Hinweis dafür, dass die Leute mich belogen und Jonas noch lebte oder einem Foto des Täters, ich wollte nur etwas finden. Natürlich förderte ich nur ein paar schwarz-grüne Pailletten, eine Plastikhaarspange und haufenweise Kuchenkrümel zu Tage und musste schließlich unter den warnenden Blicken meines Bruders aufhören. Pascal war der Einzige, der mir noch vertraute.
Missmutig ließ ich mich auf meinen Stuhl in der Schule fallen. Heute sollte ich einen neuen Sitzpartner bekommen, einen neuen Schüler. Die Englischstunde hatte schon begonnen und Mr. Gruse schrieb bereits fleißig Vokabeln an die Tafel. Urban sprawl. Gentrification. Economy. Restriction. European Union.
Auf einmal traf mich etwas an der linken Schulter und fiel leise Richtung Boden. Geübt fing ich es auf und faltete den Brief auseinander. „Heute Abend. Marco feiert in der alten Scheune. Komm um halb neun.“ Darunter ein misslungener Smiley und eine Hawaiblume, das Zeichen meiner besten Freundin. Ich grinste und drehte den Zettel um. Hastig und kritzelte meine Antwort und mit einem Armschwung, den man nur in hunderten langweiligen Englischstunden erlernt, warf ich das Papier über die Schulter. Ich musste mich nicht umdrehen um zu wissen, dass ich Sarah den Zettel direkt in den Schoß geworfen hatte.
Einen Moment später ging die Klassentür auf und ein Junge kam in den Raum. Er war groß, hatte blonde Haare und lächelte selbstsicher. „Ich soll mich hier zum Unterricht anmelden“, meinte er und ließ sich lässig neben mir nieder. Mr. Gruse sah nur kurz auf, die Tafel und die Vokabeln waren ihm deutlich wichtiger. „Alright!“
„Ich bin Lars. Und du?“ Der Typ schickte mir ein umwerfendes Lächeln und reichte mir die Hand. „Mira. Und nicht interessiert“, ließ ich ihn wissen, nahm aber seine Hand und schüttelte sie. Mit der anderen fing ich einen weiteren Zettel von Sarah auf. „Schnapp ihn dir, Kleines“, stand darauf und ein süßes Strichmännchen mit dem Daumen nach oben. Ich musste kichern und sah mir den Neuling verstohlen noch mal an. Er sah so anders aus als Jonas. „Gefällt dir, was du siehst?“, flüsterte Lars. Beschämt guckte ich zur Seite und blieb ihm eine Antwort schuldig.
Auch beim Mittagessen baggerte Lars fröhlich weiter. Er ließ Bemerkungen über meine ach so große Schönheit fallen, brachte teils nette und teils anzügliche Sprüche hervor und überredete mich, mit ihm zu dieser Party zu gehen.
„Nur ein harmloser Flirt. Was kann schon passieren“, sagte ich mir und freute mich einfach auf den Abend.
Gut gelaunt verbrachte ich fast eine Stunde vor dem Spiegel und stellte mir ein Outfit zusammen. Helle Lederjacke, beiges Top mit Spitze am Ausschnitt und ein breiter Gürtel. Dazu eine schwarze Jeans und ich war fertig.
Lars holte mich an der Haustür ab. Ich fragte nicht, woher er meine Adresse wusste oder woher er die Blumen hatte, aber ich strahlte wie... wie damals, als ich mit Jonas ausgegangen war. Entschlossen zog ich die Haustür zu und verbot mir Gedanken an ihn. Heute wollte ich Spaß haben.
„Wir sind ein bisschen spät dran“, bemerkte ich, als wir die hell erleuchtete Scheune betraten, in der die Party schon in vollem Gange war. Ein DJ hatte seinen Tisch auf zwei gigantischen Heuballen aufgebaut und überall wurde getanzt. „Hmm. Cool“, entschied meine attraktive Begleitung nach einer Besichtigung und zog mich mit einer Drehung in seine Arme. „Willst du tanzen?“ Wir hatten schon begonnen, also antwortete ich nicht. „Ich hab nächste Woche Sturmfreie. Willst du bei mir übernachten?“, schlug Lars vor und drehte mich wieder herum.
Ich weiß nicht mehr, was genau es war. Vielleicht waren es seine Arme, die genau dort waren, wo Jonas Arme vor drei Wochen gewesen waren. Oder die Musik, genauso laut wie bei uns in jener Nacht. Vielleicht war es aber auch der Anblick von Lars Mantel, der sich leicht geöffnet hatte und den Blick auf sein T-shirt freigab, in dessen aufgemaltem, glitzernden Totenkopf einige Plastiksteine fehlten.
Auf einmal fiel mir alles wieder ein. Einzelne Bilder schossen mir durch den Kopf, ordneten sich und ergaben Sinn. Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, doch es kam nur ein heiseres Flüstern heraus. „Oh mein Gott. Du hast ihn umgebracht“
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2011
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