Cover

Im Jahre 1963 erschien im französischen Buchhandel der Textbildband Pariser Frühlingserwachen. Paul Arnaud fand Gefallen an dieser Homage eines ihm unbekannten amerikanischen Dichters und einer berühmten deutschen Fotografin, die er, so wie er sich zu erinnern meinte, hin und wieder beim Fotografieren im Park von Sceaux beobachtet hatte. Dort ging er gewöhnlich hin, wenn er sehr nachdenklich war.

Wann immer Paul sich von seinem Betreiben einer Kaffeemaschinenmanufaktur in seinem Büro eine Pause erlauben konnte, öffnete er die mittlere Schreibtischschublade und entnahm daraus zärtlich besagten Textbildband, blätterte vorsichtig darin. Ja, ihm war so als würde er bei jedem Betrachten des Werkes etwas darin entdecken, was er vorher noch nicht wahrgenommen hatte. Er kam sich vor wie ein Wissenschaftler, der nach und nach einen sich erweiternden Zusammenhang der Verse und der Fotografien feststellte, ein noch-undefinierbares Etwas, das nur geduldige Gleichgesinnte wie er irgendwann vollkommen entschlüsseln würden.

Eines Tages nachdem er wie gewohnt als letzter seine Fabrik verlassen hatte, traf er in der Nähe eines Karussels einen ehemaligen Klassenkameraden, der es im Kultusministerium weit gebracht hatte. Der nun hochbeamtete Klassenkamerad rupfte Paul wiederholt auffordernd am Ärmel seines Trenchcoats, und tatsächlich folgte Paul seinem illustren Schulfreund in ein von lauter Musik untermaltes Café, in dem sich die Gesprächsfetzen der dort anwesenden Gäste in den fröhlich-bebenden Rhythmus lateinamerikanischer Klänge mischten.

Obwohl sich die beiden seit längerer Zeit nicht gesehen hatten, fanden sie es schwierig ein Gesprächsthema anzukurbeln. Der Beamte, sichtlich von einigen Damen im Café angetan, zwinkerte Paul zu, wenn eine besonders hübsche Frau an ihrem Tisch vorbeiging. Dann zwang sich Paul ein Lächeln auf und dachte an seine Frau Susette, die ihm, wie er sich wiederholt verwundert eingestand, die Flamme der Begierde in ihm nicht mehr entfachen konnte. Trotzdem oder auch gerade deswegen: er war davon unabbringbar überzeugt, dass er in der Gesellschaft, in der er vorbildlich und gewissenhaft agierte, seine Sittlichkeit nicht in Frage stellen zu lassen. (Nun ja, hier ein ehrlicher Hinweis: auch mit seinen sechzig Jahren gestatte er dem schönen Geschlecht, sich vorübergehend in seinen Phantasien aufzuhalten. Aber verurteilen wir Paul nicht!)

Gerard, der Beamte, offerierte seinem Gegenüber eine Zigarette. Paul nahm sie dankbar an, wenn auch nur um von seinem verlegenem Schweigen abzulenken.

Plötzlich jedoch legte er seine Aktentasche auf seinen Schoß und durchforstete sie, als sei darin etwas Großartiges verborgen. Er sah währenddessen nicht, wie Gerard ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf betrachtete, so als sei er ein liebervoller Verwandter, der weiß, wie es wirklich um das seelisch-geistige Wohlbefinden eines wunderlichen Familienmitglieds steht.

„Gerard“, rief Paul und reichte ihm freudebeschwingt seine ihm wertvolle Ausgabe von Pariser Frühlingserwachen.
Gerard blätterte so bedächtig-sanft darin wie es auch Paul während der seltenen Arbeitspausen und vorm Schlafengehen tat.

Dann aber: Gerard hielt das Buch etwas hoch und ließ es auf den Tisch knallen.
„Mein Guter“, sagte er, sich zu Paul vorbeugend, „was tust Du Dir damit an“? Gerard hielt kopfschüttelnd seine gekreuzten Zeigefinger wie ein Exorzist über den Bildband.

Paul war so stark von dem abfälligen Urteil Gerards verwirrt, dass er sich einbildete, im Café würde ihn jeder anstarren.

„Was Du darin vorfindest“, ergänzte Gerard schulmeisterlich während er mit seinen Fingerspitzen auf den Schutzumschlag des Bildbands klopfte, „ist typisch ausländischer Dilettantismus. Darin soll man unser im Frühling erblühendes Paris erkennen? Darin? Was wissen eine deutsche Fotografin und ein amerikanerischer Schreiberling über unsere herrliche Stadt – der Stadt des Lichts. Unseres Lichts“!

„Aber nicht doch, nicht doch, nein“! erwiderte Paul. „Gerade das Leben, die Ereignisse darin, das...Alltägliche darin...das zeigt uns doch, wie im Alltäglichen die Verbindung mit dem Harmonischen vorhanden ist. Das erkennen wir, die wir Franzosen sind. Und das erkennen auch Deutsche oder Amerikaner. Alle Nationalitäten erkennen das“.

Gerard hatte ihn nicht richtig verstanden, winkte dennoch Pauls Aussage abwertend beiseite.

„Glaub‘ mir, dieser ach-so-lyrische Bildband, dieses touristische Fotomanifest ist dazu bestimmt, zum Ladenhüter zu werden“.

Es gab wenige Menschen in Pauls Bekanntenkreis, die ihm gegenüber einfühlsam waren, und so merkte auch Gerard ihm nicht an, dass Paul in seinem Inneren mit etwas Verstörendem rang.

Schließlich sagte ihm Gerard noch, „Menschen von unserem Format, Paul, geben sich mit dem wesentlich Wirklichem ab, begnügen sich nicht mit einer Postkartenidylle des Harmonischen im...Allllllltäääglichen“! Er grinste spitzbübisch und stupste kameradschaftlich Pauls Ellenbogen.

Als sie aufbrachen um das Café zu verlassen, spielte ein beliebtes, tiefbewegendes Liebeslied. Eine äußerst adrette Frau an einem Nebentisch blickte Paul verschüchtert an. Es stieg ihr etwas Röte in die Wangen. Paul war von dieser Begegnung so angetan, dass er den Bildband auf dem Tisch vergaß.

Vor dem Café legte ihm Gerard eine Hand auf die Schulter und sagte“, Vergiß die Süße, die es Dir dort drinnen sichtlich angetan hat“!

Gerard blickte ihn belustigt an. Paul durchschaute Gerards spielerische Haltung. Dann verabschiedeten sie sich voneinander. Paul drehte sich unentschlossen dem Eingang des Cafés zu.

Epilog:
Einige Monate nach diesen Geschehnissen im Leben des Paul Arnaud, wurde der Textbildband Pariser Frühlingserwachen mit einem der renommiertesten Kulturpreise Frankreichs ausgezeichnet.

Nach der Preisverleihung führte Gerard die Fotografin und den Dichter des Textbildbands in das Büro des Kulturministers. Dieser blätterte hinter seinem Schreibtisch in dem Werk und sagte: "Bevor wir gleich zum Bankett schreiten - eine Bitte"!

Er reichte den Künstlern den Band. Als die Künstler der Bitte des Kulturministers nachkamen und ihre Namen mit kurzen Widmungen eintrugen, sagte dieser:

"Unserem guten Gerard haben Sie es zu verdanken, dass ihr Werk zuerst meine Beachtung und daraufhin die Beachtung des französischen Volkes fand."

Sichtlich geschmeichelt erwiderte Gerard, "Nun ja, ich konnte nicht übersehen, wie hervorragend dieses Werk ist"!

"Auf der Innenseite des Schutzumschlages steht ein Name geschrieben: Paul Arnaud".sagte die Fotografin.

"O ja, ja ja", seufzte Gerard gekünstelt leicht aufgebracht. "Dieser Arnaud - seltsamer Zeitgenosse. Er drängte mich vor einigen Monaten, ihn in ein Café zu begleiten. Stellen Sie sich vor: er sprach sehr abwertend über Ihr Werk. Er ließ es mit vernichtenden Aussagen absichtlich an unserem Tisch liegen! Ich dagegen...nun, ohne mich damit rühmen zu wollen...meinte zu ihm, 'Aus dem Buch mache ich etwas', worauf er mir antwortete, 'Aus diesem Ramsch willst Du etwas machen'"? Nun, da er dieses hervorragende Werk nicht mehr wollte, nahm ich es mit...und na ja, hier sind wir nun..."

Der Kulturminister unterbrach die peinliche Stille in seinem Büro mit einem einmaligen lässigen Händeklatschen.

"Gut denn, schreiten wir zum wohlverdienten Bankett"".

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /