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Paul Arnaud saß schreibend auf einer Bank im Park von Sceaux. Die herbstliche Kulisse seiner Umgebung beflügelte seine Phantasie, so dass ihm ein ihn zufriedenstellendes Gedicht gelang und er sich daraufhin, von Verfasserstolz beseelt, gelobte, dieses lyrische Vermächtnis an Eindrücken und Wunschdenken an die Redaktion seiner bevorzugten Tageszeitung einzusenden.

Tatsächlich wurde einige Tage später sein Gedicht im Feuilleton veröffentlicht, worauf hin er sich jedoch fragte, ob es nicht doch von ihm unüberlegt gewesen war, das Gedicht zur Veröffentlichung freigegeben zu haben.

Er wollte sich nun nicht vorstellen, wie andere über seine in Druckerschwärze auffindbaren Verse denken würden, wer alles aus seinem Bekanntenkreis in der auflagestarken Zeitung seinen dort gedruckten Namen entdecken würde.

Paul war darin erfahren wie sehr Menschen dem Klatsch zugetan waren, wie doch auch in den Kreisen, in denen er privat und berufsbedingt verkehrte, eine dauerhafte Hingabe zum Fabulieren gepflegt wurde.

So war er keineswegs überrascht - aber es ihm dennoch unangenehm gewesen - als er am Tag nach der Veröffentlichung seines Gedichts von seiner Sekretärin Lise erfuhr, dass man sich in dem Unternehmen, das er leitete, darüber wunderte, wer ihn zu seiner Verfasserlaune angestiftet hatte.

„Ich dachte dabei an keine bestimmte Person“, sagte er Lise vorgespielt gefasst. „An wen sollte ich dabei gedacht haben? Es ist ein Gedicht. Erkennen Sie etwas Sonderbares in dem Gedicht“?

„Ich bin wohl die Einzige hier im Betrieb, die das Gedicht nicht gelesen hat“, antwortete ihm die Sekretärin lachend.

„Meine Güte“, seufzte Paul wie schicksalsabweisend, „habt ihr alle hier nichts Besseres zu tun, als euch über euren Arbeitgeber zu amüsieren“?

Bevor Lise ihm antworten konnte, ging er in sein Büro und trat hinaus auf den kleinen Balkon.

Hinter der Scheibe des gegenüberliegenden Fensters sah er, wie eine betagte Frau abwechselnd auf ihn und auf die Zeitung in ihrer Hand deutete. In ihrem Eifer sich ihm verständig zu machen, presste sie die Zeitung gegen die Scheibe, öffnete das Fenster und verkündete in einer schrillen Stimme, „Mit diesem Gedicht stellen Sie unseren Nationaldichter weit ins Abseits, Monsieur Arnaud!“

Während die überschwänglich geartete Nachbarin weiterhin Lobeshymnen aussprach, kehrte Paul an seinen Schreibtisch zurück und blickte wie gedankenverloren vor sich hin. Kaum hatte er etwas bestürzt erkannt, dass er im Grenzbereich der Verwirrung verweilt hatte, läutete sein Privattelefon.

„Ja, hier Paul“ , sagte er wie meditierend in die Stille hinein, bedeckte seine Augen mit seiner Hand. „Hallo, ja“?

Ein krasses prustendes Lachen am andere Ende der Leitung. Daraufhin tönte ihm eine gekünstelt salbungsvolle Stimme folgende Worte ins Ohr:

„Im Herbst vernachlässigter Hecken,
hinter denen Paare liebesbesänftigt ruhen,
von stummen Skulpturen beäugt, geduldet.
Wo Einsame im lauen Abendwind
Kiespfade entlang schlendern –
von dort schreib‘ ich dir diese Zeilen.
Mit einem Kuss aber, mit einem Kuss
könnt‘ ich dir alles sagen“!

Im Hintergrund vernahm er nun weiterhin ein höhnisches Gelächter und ein darauffolgend gebrülltes "Alles, alles, alles"! das dann unfeierlich abrupt von einem Freizeichen unterbunden wurde.

Was blieb Paul anderes übrig als aufgebracht-ungeschickt den Knoten seiner Krawatte zu lösen und sich wie benommen in seinen Schreibtischsessel fallen zu lassen?

Je mehr er über diese eben stattgefundene telefonische Breitseite nachdachte, desto eifriger wollte er herausfinden, wer es gewagt hatte, sich auf seine Kosten lustig zu machen. Er rief Lise in sein Büro.

„Wissen Sie, ob man jedes Telefonat zurück verfolgen kann“? fragte er sie.
„Ich glaube, da muss man eine bestimmte Zeit lang telefoniert haben.“
„Ja, das wird wohl so sein“, sagte er enttäuscht.

Gerade als er Lise gehen lassen wollte, klingelte erneut das Telefon. Paul ließ es wiederholt klingeln, und als Lise ihn fragend ansah, räusperte er sich und sagte ihr deutlich betrübt, „Bedroht... ich werde telefonisch bedroht...glaube ich...“

„Das sollten Sie unverzüglich der Polizei melden“, meinte Lise sachlich.
„Meinen Sie“?
„Aber gewiss doch“.

Lises Mitgefühl ihm gegenüber berührte ihn so sehr, dass er an seine Kindheit zurück dachte, an seine Mutter, wie sie ihn tröstete, wenn er zum Beispiel während eines Gewitters weinend auf dem Boden neben dem Bett kauerte. Wo war nun seine Mutter, da er sie brauchte? (Nun ja, er war Anfang 60, aber das ist doch wirklich kein gewichtiger Grund, das familiäre Band zu seiner Mutter zu leugnen).

„Kann ich Ihnen noch etwas Gutes tun, Monsieur Paul“?

Er schüttelte seinen Kopf, bedankte sich mit einem aufgesetzten Lächeln, und in einer Pantomime der Beschwingtheit ging er auf die Tür zu, sagte, „An die Arbeit mit uns, die Menschheit sehnt sich weiterhin nach unseren Arnaud-Kaffeemaschinen“!

Paul war im Begriff den Türknauf in die Hand zu nehmen, als von der anderen Seite der Tür der Knauf gedreht wurde.

„Mach‘ auf, Du...“, hörte er die Stimme seiner Frau Susette, die Paul jetzt durch einen Türspalt erbost-beleidigt anblickte. Sie ging kopfschüttelnd an ihm vorbei, setzte sich in seinen Bürosessel und blickte ihn eindringlich forschend an.

Leicht heiserstimmig sagte sie, „Du willst also liebesbesänftigt hinter einer Hecke im Park ruhen...“?

„Susette...“, began er ihren Namen langgedehnt auszusprechen.
„Susette ja, Susette Susette Susette“! äffte sie ihn nach. „Susette ist zutiefst gedemütigt. Zutiefst, mein Lieber!“

Er blickte sie wie entgeistert an, drehte sich nach links, dann nach rechts, hob urteilsabweisend seine Schultern an, sagte wie von Unverständnis gezeichnet:

„Susette...“
„Meine Freundinnen lachen bestimmt schon über mich“, teilte sie ihm vorwurfsvoll mit. „Du weisst doch selbst wie sie alle gackern – gack gack gack!“

Da waren nun Tränen in ihren Augen, und als sie sah, dass Paul davon berührt wirkte, stand sie auf und ging hinaus auf den kleinen Balkon. Er ging ihr nach, stand hinter ihr, drückte beschwichtigend seine Stirn gegen ihr leicht bebendes Schulterblatt.

„Susette...“, gab er erneut von sich, als würde er sanft ein trotziges Kleinkind rügen.

„Du beneidest in Deinem...seltsamen Gedicht die Liebenden“, meinte Susette wie eine ewig Gekränkte. „Wie wenig bedeute ich Dir wohl, dass Du Menschen, die Du nicht mal kennst - ja die Du erfunden hast! - beneidest“.

Das dumpfe Ticken der großen Standuhr im Büro schien beide dazu aufzufordern, sich ein jeder für sich zurückzuziehen und auf eine dem Sachverhalt richtungsweisende Einsicht zu warten.

„Tu etwas, Paul, damit es kein großes Gerede geben wird.“
„Aber nein, das wäre falsch, genau das wäre falsch“! erwiderte er flüsternd. „Ich muss doch zu meinen Worten stehen“!

Susette sah ihn verdutzt an, ihn, mit dem sie drei Jahrzehnte lang verheiratet war. Der Gedanke, dass sie ihn nicht wirklich kannte, beängstigte sie etwas.

„Wir entdecken uns doch in diesem Gedicht, das ich für uns verfasst habe. Für uns“! betonte er. „Für uns, ja ja für uns“.

„Paul“, sagte sie, sich von ihrem Kummer lösend, „Du meinst das, so wie Du es mir jetzt sagst...“?
„Aber doch, natürlich“, sagte er. „Und es ist so wundervoll, so...menschlich. Man wird erkennen: da lieben sich zwei“!
„Ja...“, stimmte sie ihm nun zu. „Liebe, die nicht rostet“.
„Ja, das ist...so, doch, so wie Du es sagst, wie ich es denke, es geschrieben habe – ganz Paris darf es wissen“!

Susette streichelte mit ihrem Daumen das Grübchen in seinem
Kinn und blickte ihn dabei von seinen Worten sichtlich gerührt, erleichtert an.

„Das mit dem Anruf vorhin tut mir leid“, sagte sie gleichzeitig reumütig und andeutungsweise selbstgerecht.

Als sie an seiner fragenden Mimik erkannte, dass er um den Sinn ihrer Worte rätselte, fügte sie hinzu: „Du hast doch vorhin einen sehr...einen nicht gerade freundlichen... Anruf erhalten. Nun ja, das wurde von mir eingefädelt, um dadurch an Dein Gewissen zu appellieren. Verzeihst Du mir...“?

Wie die Augen einer Eule blinzelnden seine Augen,und er durchrang sich dann dazu, versöhnlich wirkend zu lächeln.

Als sie dann sein Büro verlassen hatte, fühlte er sich schuldiger als er es jemals in seinem Leben an sich selbst erfahren hatte.

Ja, er hatte vor einigen Minuten Susette gegenüber wiederholt ein „Uns“ verlautet. Doch er hatte versäumt, ihr zu erläutern, dass am ihn gegenüber liegenden Pol dieses „Uns“ Susette nicht mehr auffindbar war. Da war nichts weiter als eine ihn lockende Silhouette seines Wunschdenkens – und dies betrübte Paul sein weiteres Leben lang...


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Tag der Veröffentlichung: 09.10.2011

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