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Schöne Seele

Ich könnte Dir nun von meinen Stillständen und von meinem tastenden Voranschreiten erzählen; von meinem Verwundet-werden und von meinem Heilen, das beides aufrichtend meinen Geist geprägt hat. Aber meine Existenz ist ohne irgendwelchen herausragenden Belang, als dass ich Dir detailliert aus den verblassenden Versen meines geborgten Daseins erzählen möchte. Und dennoch will ich Dir auf diesem Wege einige Worte über mich, über Dich und auch über andere zukommen lassen.

Gestern noch glich mein Befinden der tiefsten Bassnote einer barocken Fuge. Heute, da ich Deinen neuesten Brief an mich wiederholt gelesen habe, könnt‘ ich Triolen trällern! Der Gesang Deiner Worte – beglückend! Wie ist es inhaltlich so schön, dieses Lied Deiner Gedankenkadenzen! Aus jedem Deiner von Dir gewählten Worte atme ich gedanklich die Essenz Deines Seelenadels ein. Du lässt mir in jenen Worten eine derart reine Zuneigung zukommen, dass ich meine, dass mir alles, was ich denke, schreibe und sage, unfertig vorkommt. Wär‘ ich nicht der, der ich bin, dann würd‘ ich einer Deiner Gedanken sein wollen!

Du fragst mich in Deinem Brief, ob es mir denn gut geht, und ich will Dir nun beschreiben, wie es darum steht: ich komm‘ mir manchmal so vor, als sei ich ein überbewerteter Pianist, dessen Fingerfertigkeit während einer Partitur schwindet, ja nach und nach erlahmt, dadurch das Publikum im Konzertsaale verunsichert wird. Dann, nach einer angespannt kritischen Stille, werd‘ ich von der Bühne gepfiffen...

Lob' mich doch nicht so sehr, das treibt doch die Schamesröte in das Antlitz der Unmöglichkeit!

Du willst erfahren, ob ich Lebensfreude empfinde? Hat denn das Leben an mir Freude – wer außer Dir will das wissen? Aber: solange die Freude in dieser brüchigen Welt bestehen bleibt, solange lohnt es sich auch, sie sich für das eigene Leben herbei zu wünschen, sie auch anderen Menschen zu gönnen, wenn denn diese Menschen dadurch etwas mehr Trost und Herrlichkeit in ihrem Leben erfahren.

Gegenwärtig nehm‘ ich auch an mir selbst Freude wahr, da ich Deinen Brief erhalten habe. Und so werd‘ auch ich behaupten können, „Auch mir, ja mir wurde im Leben an Freude zuteil“! Und ich danke Dir dafür!

Du denkst in etwa wie ich, wenn Du mich in Deinem Brief an mein Dir gewidmetes Gedicht erinnerst:

Versuche nie, dass Glück eines anderen zu verwünschen!
Gesät wurde es ihm von unenträtselbarem Schicksal,
muss stets ihn pflügen, des Daseins steinigen Acker,
um Augenblicke der Seligkeit zu ernten.
Und bist Du erhaben, dann segne sein Leben
mit guten Wünschen.

Und immer, schöne Seele, Du wünscht nur Gutes mir...

Von Dir, Trostbringende – von Dir hab‘ ich eine bestimmte Vorstellung. Ich wag’s dennoch nicht, Dir von Angesicht zu Angesicht zu sagen, dass Du für mich eine Vorstellung des Vollkommenen bist. Wie kann ich‘s denn widerspruchsfrei behaupten, wo ich doch seit langer Zeit mit dem Begriff der Vollkommenheit hadere?

Ich trachte nach der Begegnung mit dem Ideal, werd’s aber nie erkennen, wenn’s mir denn begegnen sollte. Wie denn auch, wie denn...? Aber dennoch müsste ich, der ich ein Mensch bin, doch auch Ahnung davon haben, was denn das Vollkommene sei, da ich, eben dieser Mensch, diesen Begriff in seinen Gedanken und in seiner Sprache vorfindet?

So scheint mir, dass ausschließlich das Ideale vollkommen ist. Aber da wir Menschen – zumindest ich nicht – keine definierbare Vorstellung von der Beschaffenheit des Vollkommenen haben, werden wir nie wissen, aus welchen Eigenschaften das Vollkommene besteht. All dies ist doch jenseits unserer Erkenntnis angesiedelt und daher unserem Verstand unzugänglich.

Ich kann also lediglich ahnen, nicht wissen. Ich kenne bedauerlicherweise meine Ungewissheit und mein törichtes Tasten nach Antworten, die im Sog der gedachten und gestellten Fragen schwinden. Töricht ist’s doch, weil ich Antworten auf unbeantwortbare Fragen will. Gewissheit!
Dennoch: Dir ist es gegeben, mir in Deinem Menschsein als Vergleichsmaß mit dem Vollkommenen zu wirken, will damit sagen: alles weniger als wie Du bist – all das ist unvollkommen, auf Dauer unvollkommen.

Adieu nun, schöne Seele! Und wenn Deine Vorstellung, die
Du von mir hast schwindet, dann hast Du eine vollkommenere Einsicht als zuvor.

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Tag der Veröffentlichung: 07.10.2011

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