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Die Jäger

 

Die Jäger

 

Nachtschicht ist wie Klassik. Sie entkoppelt den Geist vom normalen Lauf der Dinge. Wenn man am sehr frühen Samstagmorgen von der Arbeit kommt, begegnet man nur Männern. Sie sehen einen an, sie pressen die Lippen aufeinander und nicken knapp.

"Gut gemacht, Junge!" scheinen sie zu sagen.

Dann steht man bei beginnender Dämmerung in seiner Wohnung und fühlt sich zufrieden und wertvoll und leicht benebelt.

Leider gehören meine Freunde nicht zu diesem Geheimbund. Sie sind Studenten oder arbeitslos oder beides, und deswegen stehen sie an einem solchen Samstagmorgen unten an der Tür, klingeln solange bis ich öffne, und beenden mit ihren dummen Problemen diese wundersame Paralyse.

Daniel kommt mit einer Zeitung herein und wartet darauf, dass ich ihm danke, dass er sie mir heraufgebracht hat.

"Ist nicht meine", grunze ich.

Er macht zuerst große Augen und zuckt dann mit den Schultern. Während er sich auf den Boden setzt und beginnt, in der Zeitung herumzublättern, schlafe ich auf dem Sofa wieder ein.

Als ich aufwache, höre ich ihn telefonieren.

"Ja, ich würde sie mir gerne sofort ansehen, wenn das geht", sagt er. Er schreibt etwas auf.

"Komm hoch", sagt er zu mir, "wir müssen uns ein paar Wohnungen ansehen."

Ah, ich befinde mich also mitten in einem Katastropheneinsatz.

Wir sitzen in seinem alten Benz. Ich hab die genaue Bezeichnung vergessen, es ist das Modell mit dem riesigen Kofferraum, ausreichend für nicht-seßhafte. Auf dem Rücksitz liegt eine Gitarre.

"Und?", frage ich. Er verdreht die Augen und imitiert dann eine Frauenstimme:

"Daniel, mir reicht es! Jede gottverdammte Woche bringst du eine andere Gitarre mit und legst sie in den Weg. Und was kriegst du damit geregelt? Nichts. Nicht einen beschissenen Song hab ich je von dir gehört."

Mir fällt auf, dass in seiner Imitation diesmal keinerlei Anzeichen von Hysterie zu erkennen sind, die Stimme klingt eher müde.

"Irgendwas neues?"

"Geduld", gestikuliert er mit der Hand.

"Und dass du jedesmal Klopapier auf den Tisch stellst, wenn ich etwas gekocht habe, fand ich schon vor drei Jahren nicht mehr witzig."

"Klopapier?" frage ich nach.

"Ja, bleib bloß locker. Das Zeug besteht aus praktisch genau dem gleichen Zellstoff wie Servietten."

"Hehe."

Wir stehen an einer roten Ampel, neben Daniel eine junge Frau auf einem Fahhrad. Er zieht seine Sonnenbrille vom Kopf.

"Na, Kleine. Willst du Schokolade?", fragt er sie mit seiner übelsten Kinderschänder-Stimme.

Sie lächelt. "Ja, hätte ich gern." Sie hält die Hand auf.

Dass er die Hoheit über seinen Witz verloren hat, deprimiert ihn sichtbar sehr.

"Hab keine." Wir fahren weiter.

"Andrea will Mami werden. Sie hat mich rausgeschmissen."

 

Die ersten beiden Wohnungen, die wir sehen, sind nicht der Rede wert. Die ganz alltägliche Unverschämtheit.

Eine weitere liegt in einem Stadtteil, der uns nicht sehr vertaut ist, und der aus besonders viel aufregender Fünfzigerjahrearchitektur zusammengewürfelt wurde.

Vor einem der typisch graubraun verputzten Häuser wartet bereits ein älterer, untersetzter Mann, dessen Cordhose und -hut farblich hervorragend zur Umgebung passen.

Kurzes Händeschütteln. Herr Haubrichs, aha. Er dreht sich schon zur Tür, als ihm noch einfällt:

"Also, damit eins gleich klar ist: An Homosexuelle vermiete ich nicht." Dabei hält er die Daumen in den Hosentaschen und streckt sich ein bißchen. Wer schlagfertig genug ist, in so einem Moment das Kommando zu behalten, der bekommt seine eigene Show im Fernsehen, wette ich.

"Eh, nein. Würde ich auch nicht machen. Mein Kumpel kann tapezieren."

Wir laufen ihm hinterher die Treppen hoch. Oben bekommen wir eine weitere traurige Wohnung zu sehen, die aber bezahlbar ist.

"Ich rufe sie morgen an", ächzt Daniel. Kurzes Händeschütteln.

 

Danach fahren wir noch eine Zeitlang planlos durch diesen Stadtteil. Wir sehen:

-eine Apotheke: "Da gibt's Frühstück!"

-ein Gymnasium: "Da, alles voll mit achtzehnjährigen Frauen!"

Wir hören Radio: "Lou Barlow. Geht in Europa auf Tournee. Aber die Miete zu Hause in Boston bezahlt seine Freundin."

"Kannst was auf's Maul haben", bietet Daniel mir an.

"Hab ich irgendwo gelesen", verteidige ich mich.

Wir erreichen eine der mehrspurigen Umgehungsstraßen am Stadtrand. Es ist schon früher Abend, die Sonne verschwindet eben hinter der Baumreihe am Straßenrand und dreht ihr grelles Weiß langsam auf ein schweres Dunkelorange zurück. Daniel hält sich an die Geschwindigkeit, der Diesel quittiert die geringe Belastung mit seinem schönsten Klang, tief und gleichmäßig. Ich hänge im kunstledernen Beifahrersitz wie kurz vor dem Einschlafen, bin aber so wach wie nur selten, spüre den an- und abschwellenden Fahrtwind und den Licht- und Schattenwechsel von den Bäumen und der Sonne auf meinen zugekniffenen Augen.

Zwischen den Entscheidungen gibt es kurze perfekte Momente. Sie scheinen uns hochheben zu können, und einen Moment lang denken wir, sie setzen uns dort ab, wo wir es wollen.

Aber die Fahrt geht zu Ende, wie jede andere auch.

 

Daniel hält vor meiner Wohnung an. Er legt die Arme auf das Lenkrad und stützt sein Kinn darauf ab.

"Haben die Geschäfte noch offen?"

"Bis sechs, glaub ich."

"Muß noch Servietten kaufen."

 

 

 

(ursprünglich veröffentlicht in "Ich sag's wie's ist")

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.07.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Charner und Robo, für wen sonst?

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