Das könnte ein sehr schöner Montagmorgen sein: Ich sehe mich draußen an der geschlossenen Bahnschranke stehen. Der Zug donnert vorbei; sein Sog reißt mich bei-nahe mit. Der Kragen meiner Jacke ist hochgeschlagen und mein Kinn dahinter versenkt. Mit meinem kondensierenden Atem male ich Schleifen in die kalte, feuchte Luft. Dann endlich öffnen sich die Schranken und ich gehe hinüber in die Felder und tauche ein im Nebel noch bevor das stählerne Kreischen der Zugräder aus der Landschaft verschwunden ist.
Leider ist heute nicht so ein Morgen. Einmal in der Woche sitze ich in diesem Zug statt ihm nachzusehen. Wie üblich gönne ich mir die erste Klasse und trage die dazu passende Kleidung. Das ist mein Trick: Anzug und Krawatte machen mich dort, wo ich hinfahre, beinahe unverwundbar.
Wenigstens habe ich das Abteil für mich allein und kann in Ruhe hinaussehen. Leider ist auf der Hinfahrt die Fensterseite den Orten zugewandt, nicht den Feldern. So muss ich mir vor allem die Doppel- und Reihenhäuser ansehen, die sich in mehreren Ringen um die alten Dorfkerne gruppieren. Ein Ring für jeden Aufschwung? Überall steigen um diese Zeit Männer und Frauen in dunkelblaue, nicht zu repräsentative Kombis. Ein paar Jahre könnte ich vom Gegenwert eines solchen Wagens sicher leben.
Alle paar Minuten hält der Zug und Leute steigen ein und aus. Nein, das ist nicht ganz richtig. Kaum jemand steigt aus. In diesen kleinen Orten gibt es nichts zu arbeiten.
Ich schnaufe verärgert, als sich jemand an der Tür zu meinem Abteil zu schaffen macht.
Eine Frau zwängt sich an der schwer gängigen Schiebetür vorbei zu mir hinein Aber während die meisten anderen Leute heute morgen eine solche schlecht funktionierende Tür als Zumutung empfinden würden, reagiert sie auf dieses alberne Problem gar nicht. Ich sehe ihr an, dass sie ihre gesamte Konzentration für etwas anderes aufbringt, etwas Bedeutenderes.
Es dauert mehrere Sekunden bis sie mich erkennt. Genug Zeit für mich, an die unerträgliche Antwort zu denken, die berühmte Menschen im gehobenen Alter auf die Frage geben, ob sie in ihrem Leben etwas anders machen würden, wenn sie eine zweite Chance bekämen. Sie lächeln dann meist weise und schütteln mitleidig den Kopf. Nein, nein, soll das heißen...wir würden alles wieder genauso machen.
„Ich würde ALLES anders machen“, flüstere ich.
Und sie sagt endlich: „Daniel.“
Wir fallen uns um den Hals. Erst jetzt nehme ich den ersten Atemzug, seit sie herein kam, und die Luft schmeckt plötzlich nur noch nach ihr: Nina. Es ist, als sei ich schlagartig an einen anderen Ort versetzt worden, in ein Nina-Land. Wir schweigen und halten uns zu lange, wodurch die Szene aufgeladen wird mit Erwartung oder Bedeutung. Ein einfaches, erfreuliches Wiedersehen alter Schulfreunde ist jetzt kaum noch möglich.
“Wo bist du gewesen?", sagt sie und ich gleichzeitig: “Was machst du hier?"
“Wie geht es deinen Kindern?", frage ich und gebe damit preis, dass ich wenigstens über einen Teil ihres Lebens im Bilde bin.
Einen Augenblick lang zögert Nina. Sie sieht sich im Abteil um. Zieht sie Schlüsse daraus, dass ich einen Anzug und einen Aktenkoffer trage, und dass ich in der ersten Klasse sitze? Entwirft sie ein Konzept? Jedenfalls beginnt sie zu erzählen: Die Kinder, sagt sie, retten sie. Jeden einzelnen Tag. Diese schreckliche Gegend mit ihrer ferngesteuerten Bevölkerung, und die tägliche genauso schreckliche Zugfahrt ertrage sie nur wegen der Kinder und um der Kinder willen. Torsten, der Vater, sei vor über einem Jahr ausgezogen.
„Klingt sicher blöd, aber ich habe oft an dich gedacht in der letzten Zeit. Worüber auch immer wir uns Nächte lang aufgeregt haben damals...dass unsere Eltern sich schein-bar für nichts weiter interessiert haben, als ein neues, größeres Auto alle zwei Jahre, ...es ist alles auch mir passiert."
Sie schüttelte leicht ihren Kopf wie in tiefem Unglauben.
"'Passiert' ist eigentlich falsch. Hatte nicht irgendwer gesagt, dass man in einen Trichter fällt? Ich bin hinein gesprungen. Anfangs, oben am Rand, ist die Öffnung noch schön weit, und man kann von dort aus in alle Richtungen sehen. Aber nach kurzer Zeit reduzieren sich die Wege auf genau einen. Torsten war ziemlich erfolgreich, und ich war auch nicht schlecht. Und was haben wir gemacht? Alle zwei Jahre neue, größere Autos gekauft. Von deren Gegenwert kann man übrigens problemlos einige Jahre leben..."
Seltsamer Gedanke.
"Ich weiß nicht, wieso, aber irgendwann ist Torsten aus dem Takt gekommen. Hat mich immer häufiger an unsere ursprünglichen Pläne erinnert, in denen solche Autos nicht vorkamen."
Sie sieht abwechselnd auf den Boden oder nach draußen. Ich kann also nicht genau sehen, ob sie ein "reuige Sünder"-Gesicht macht.
"Und ich hätte ihm zustimmen müssen. Müssen! Stattdessen habe ich ihn bedrängt, er solle wieder zurück auf die Spur. Er hat es auch versucht, aber es ist ihm nicht mehr gelungen."
Jetzt hebt sie ihren Kopf und sieht mich an. Die Beichte ist noch nicht ganz vorbei. Leider.
„Und zur Krönung lief dann auch nichts mehr...du weißt schon...gar nichts mehr."
Ja, ja, ich weiß. So ein mieser Film. Und ich glaube, den sieht man jetzt immer häufiger. Früher oder später bekom-men nur noch die Männer mit den wenigen guten Jobs eine Erektion.
Aber was soll’s? Deren Kinder können sich wenigstens ein Studium leisten. Die natürliche Auslese, oder? Außerdem ist genau das eben nicht mein Film und ich finde ihn auch nicht bewegend sondern eher ein bisschen blöd.
Nur Nina, wie sie vor mir sitzt, wie sie aussieht - zufällig die aufregendste Frau der Welt - bringt mich dazu, mir zu wünschen, noch einmal vor dem Haus ihrer Eltern zu stehen, wie damals vor fast zwanzig Jahren, wenige Tage vor dem Abitur, nachts, in diesem seidenweichen, gleichmäßigen Sommerregen, den es nur in Wirklichkeit aber nie im Film gibt. Aber diesmal kommt Nina nach Hause, verbringt nicht ihre erste Nacht bei Torsten, sondern steigt aus ihrem Käfer und sieht mich auf der anderen Straßenseite. Und wir wissen beide, dass alles gut wird, weil es zwanzig Jahre später eben nicht zu dieser Szene in diesem trostlosen Abteil kommen wird.
„Also bin ich es schuld. Hätte nie gedacht, dass all diese Dinge das Bewusstsein verändern, die lächerlichen Raten für ein langweiliges Haus. Ich dachte, ich würde trotzdem locker bleiben können.“
Dann beugt sie sich vor und tippt ihren Zeigefinger auf meine Nase. "Tja, und wer hat alles richtig gemacht? Erst mal eine Weile draußen bleiben und sehen, was es da alles gibt...und dann später umso sicherer wieder hereinkommen."
Denkt sie das wirklich? Sie verwechselt die Seiten. Ich bin drinnen geblieben, weil ich mich nicht hinaus getraut habe. So wie jetzt. Ich muss sofort Einspruch erheben, aber ich kann kaum sprechen. Die Schwerkraft hat sich plötzlich verdreifacht. Vor allem meine Augenlieder, Hände, mein Schädel drängen dem Erdmittelpunkt entgegen und das Gewicht meiner Schultern drückt auf die Lungen-flügel.
“Früher hätte ich das ja nicht sagen dürfen, aber solche Klamotten stehen dir richtig gut, jetzt siehst du aus, wie einer von diesen älteren Typen, die ich schon damals heimlich am attraktivsten fand.”
Sie zuckt bedauernd mit den Schultern, aber sie lächelt auch. Warum macht sie mir Komplimente, hält meine Hände, sucht meine Nähe? Natürlich denkt sie nicht an jenen Abend, an den Regen, sie war ja gar nicht dabei. Ihr verdammter Käfer stand bei Torsten vor der Tür. Und sicher denkt sie auch nicht daran, so zu tun, als sei in den vergangenen zwanzig Jahren nichts passiert, und sie plant auch nicht, noch mal zu starten, und es diesmal anders zu machen. Im Gegenteil, sie muss weiter gehen von hier an, weiter Raten für ein Haus bezahlen…oder bezahlen lassen.
Mittlerweile schmerzt mein Nacken vom viel zu hohen Gewicht meines Schädels, und meine angespannten Muskeln beginnen zu zittern. Sie ist unwiderstehlich, mehr noch als damals, was also könnte ich anderes tun, als die Zeit für die letzten vier Bahnhöfe zu nutzen, um an ihre Telefonnummer zu kommen, oder gleich ein Rendezvous zu vereinbaren? Ich werde einen Anzug wie diesen tragen, wenn ich in ihr Haus komme.
Dort werde ich schweigen und reden, zuhören und Fragen stellen, kokettieren mit unser beider Verzweiflung und natürlich witzig sein, aber das erste Mal seit Jahren nicht ironisch und distanziert. Kurz: Ich werde jedes Kunststück vorzeigen, das ich kann, um sie dazu zu bringen, mich am späten Abend zum Bleiben aufzufordern. Und ich glaube, dass es nicht mal allzu schwierig wird.
Dann am Morgen muss ich darauf achten, eher wach zu werden als sie, muss mich anziehen und ohne jede Spur verschwinden.
Die nächsten paar Montage danach fahre ich zweiter Klasse.
Vielleicht treffe ich Torsten irgendwann auf dem Arbeitsamt, und wir trinken zusammen ein paar Biere von unserem frischen Geld, oder machen uns über die freien McJobs lustig.
Ich hoffe nur, ich kann mich an dem Morgen daran erinnern, dass ich einen Plan habe, und dass es dabei um Rache geht.
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2009
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