Wer jemals versucht hat, so etwas zu schreiben, weiss wie es mir gerade geht: Man findet keine Anfang. Man hat zwar viel zu erzählen, aber weiss nicht, womit man anfangen soll. Das Problem an meiner Geschichte ist auch, dass es keinen wirklichen Anfang gibt, da ich nicht weiss, wann das alles genau angefangen hat. Ich weiss auch nicht richtig, für was ich das überhaupt alles aufschreibe. Eigentlich schreibe ich das nur für mich. Ich will nicht, dass das jemals jemand liest und weiss, was ich denke und wie es mir in bestimmten Situationen gegangen ist. Aber andererseits will ich auch, dass andere lernen, mich zu verstehen. Und das geht so gesehen nur, wenn sie alles wissen und das hier lesen. Also, wo soll ich jetzt anfangen? Am besten stelle ich mich erst einmal vor: Mein Name ist Katja, ich bin sechzehn Jahre alt und ich habe vermutlich eine Borderline-Störung. Ob ich wirklich Borderline habe kann ich nicht sagen, da es mir bis jetzt von niemandem diagnostiziert worden ist. Aber die Symptome treffen so ziemlich auf mich zu. Meistens zumindest. Ich weiss es nicht. Manchmal denke ich auch, dass ich übertreibe, da die Geschichten von anderen Borderlinern meistens viel heftiger klingen, als meine. Vor allem wenn es mir gerade gut geht bin ich überzeugt davon, kein Borderline zu haben. Aber wenn es mir mal wieder schlecht geht, bin ich genau vom Gegenteil überzeugt. Noch dazu kommt, dass die meisten Borderliner eine schwierige Vergangenheit hatten, wodurch die Krankheit erst entstehen konnte. Ich allerdings hatte eine ganz normale Kindheit. Zumindest fast. Manchmal denke ich, dass es auch bei mir Gründe gibt, warum diese Krankheit entstehen konnte. Aber davon werde ich später noch erzählen.
Ich sitze gerade im Bus und fahre nach Hause. Ich war gerade zwei Wochen in Madrid am Weltjugendtag. In dieser Zeit habe ich so viel nachgedacht wie schon lange nicht mehr. Es gab so viele Höhen und Tiefen wie schon lange nicht mehr. Mehr Tiefen. Auf jeden Fall habe ich jetzt den Entschluss gefasst, mein Leben zu ändern. Und der erste Schritt ist es jetzt, mein ganzes Leben aufzuschreiben, damit ich es selbst verstehe. Denn wenn ich richtig darüber nachdenke, habe ich mich noch nie so richtig verstanden. Und wenn ich mich selbst nicht verstehe, wie sollen mich dann die anderen verstehen? Wenn ich so richtig darüber nachdenke, habe ich mich schon immer alleine gefühlt. Das heisst nicht, dass ich keine Freunde habe oder so etwas. Ich habe schon Freunde, aber das, was ich denke und fühle behalte ich lieber für mich. Es fällt mir sogar schwer, darüber zu schreiben, wie soll ich dann darüber reden? Wenn ich sage, dass ich mich alleine fühle dann heisst das nicht mal, dass das immer ein schlechtes Gefühl ist. Meistens fühle ich mich gerne alleine. Ich fühle mich gerne schlecht. Aber diese Leere die manchmal in mir auftaucht wenn ich alleine bin macht mich völlig Irre. Diese Leere ist schwer zu beschreiben. Sie steigt manchmal einfach in mir auf und frisst mich fast auf. In letzter Zeit taucht sie manchmal sogar auf, wenn ich nicht alleine bin. Ich kann ein paar Minuten davor noch glücklich gewesen sein und dann taucht sie auf. Ich werde nicht mit ihr fertig, ich weiss nicht, was ich dagegen machen kann. Aber ich werde jetzt mein Leben in den Griff bekommen – oder ich versuche es zumindest.
Wenn ich über meine Kindheit nachdenke dann denke ich, dass ich schon immer etwas seltsam war. Ich dachte früher, ich hätte Zauberkräfte und wäre dazu auserwählt worden, die Welt zu retten. Ich war der Meinung, dass meine Zauberkräfte aufgeladen werden würde, wenn ich in die Sonne schaute. Ich war eine Träumerin und das bin ich heute noch. In meinen Tagträumen war und ist alles gut und ich bin glücklich… Sehr glücklich. Die Realität sieht zwar anders aus, aber diese Träume helfen mir, nicht durchzudrehen. Eigentlich hatte ich nie ein wirklich schlechtes Leben. Aber ich war trotzdem immer ein bisschen depressiv. Schon früher weinte ich wegen jeder Kleinigkeit. Manchmal sogar ganz ohne Grund. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Früher wollte ich immer Schriftstellerin werden. Ich habe dauernd Geschichten geschrieben. Mein grösster Wunsch war es, ein Buch herauszubringen und die jüngste Schriftstellerin der Welt zu werden. Wenn ich heute die Geschichten von damals lese muss ich immer ein wenig lachen, da man einfach merkt, dass die Geschichten von einem Kind geschrieben worden sind. Ich konnte damals überhaupt nicht formulieren. Heute kann ich das immer noch nicht richtig. Über jeden Satz den ich gerade schreibe, muss ich eine halbe Ewigkeit nachdenken. Was für eine Ironie ist es dann, dass ich gerade trotzdem nicht aufgebe und versuche mein Leben aufzuschreiben obwohl ich eigentlich weiss, dass es mir nicht viel bringen wird. Ich bin müde, mir ist viel zu warm, und trotzdem schreibe ich. Früher stand bei mir im Dorf ein altes Pony, das heute schon tot ist. Ihr Name war Flecka. Als ich etwa acht oder neun war besuchte ich sie oft und schrieb bei ihr im Stall meine Geschichten. Viele Geschichten handelten auch von ihr. Manchmal setzte ich mich auch einfach nur zu ihr in den Stall redete mit ihr und weinte sehr oft. Ich kann gar nicht in Worten ausdrücken, wie viel sie mir bedeutet hat. Ich weiss, viele verstehen das nicht, aber ich fühle mich heute noch mehr von Tieren verstanden als von Menschen. Tiere sind einfach immer da. Mit ihnen hat man keinen Streit und sie nehmen einen, wie man ist. Sie leben den Moment, kennen dieses harte Leben der Menschen nicht.
Später war es mir dann zu viel, dauernd zu Flecka zu gehen. Es wurde immer seltener. Als ich etwa elf war, stand meine Mutter an der Türe und erklärte mir, dass Flecka tot sei, aber dass ich am besten nicht zum Stall gehen sollte, da die Besitzerin sie erst noch wegbringen musste und Flecka noch tot im Stall lag. In diesem Moment machte es mir seltsamerweise überhaupt nichts aus, dass sie tot war. Ich mein, ich hatte sie schon sehr, sehr lange nicht mehr besucht, aber es hätte mir doch trotzdem ein bisschen nahe gehen müssen, da sie mir früher einmal so viel bedeutet hatte. Erst als ich dann am selben Tag nachts im Bett lag, realisierte ich es. Ich stand auf, zog mir eine Jacke an, packte eine Taschenlampe ein und schlich mich nach draussen. Es war kalt und dunkel. Trotzdem lief ich zum Stall.Als ich im Schein der Taschenlampe Flecka auf dem Boden liegen sah, began ich zu weinen wie ein kleines Kind. Ich setzte mich neben ihrfen leblosen Körper und weinte und weinte. Ich weiss nicht, wie lange ich da gesessen hatte, aber irgendwann wurde es schon wieder hell...
Nun, das, was ich gerade über Flecka erzählt habe, ist eigentlich eher unwichtig, aber es soll trotzdem zur Geschichte dazugehören, da ich es trotzdem nicht vergessen kann.
În der Grundschule hatte ich eigentlich viele Freunde. In der Grundschule ist das alles auch noch gar kein Problem, da versteht sich fast jedes Kind mit jedem, man verabredet sich mittags zum Spielen und alles ist gut. Nach der vierten Klasse ging ich aufs Gymnasium. In meine neue Klasse kam auch eine alte Freundin aus der Grundschule. Aber im Gegensatz zu ihr eckte ich überall an. Ich hatte Probleme, mich zurechtzufinden und freundete mich nur schwer mit den Klassenkamertaden an. Allerdings lernte ich trotzdem zwei Freundinnen kenne. Wir gehörten zwar zu den "Aussenseitern" aber immerhin war ich nicht allein. Richtig schlimm wurde es erst ab der achten Klasse. Da wurden die Klassen neu aufgeteilt, da wir neue Fächer wählen mussten und so weiter.Melanie, eine meiner beiden Freundinnen kam mit mir zusammen in die Klasse. Aber sie freundete sich sehr schnell mit ein paar anderen Klassenkameraden an. Ich war immer total eifersüchtig auf die anderen und wollte mich gar nicht mit ihnen verstehen. Alles was ich wollte, war dass Melanie nichts ehr mit ihnen zu tun hatte und wieder mehr mit mir machte. Ich verhielt mich immer seltsamer. Ich begann mit der Zeit zu stottern, sobald jemand mit mir redete. Eigentlich redete aber sowieso fast niemand mit mir. Ich wurde behandelt, wie Luft. Auch Melanie war immer mehr genervt von mir und wir redeten fast gar nichts mehr miteinander. Mit der Zeit, begannnen die anderen Witze über mich zu machen.Ich war in dieser Zeit sehr, sehr einsam. Ich fühlte mich hässlich und hatte überhaupt kein Selbstvertrauen mehr. Ich dachte oft über Selbstmord nach. Ich wollte auch gar nicht mehr wirklich leben. Nach der Schule sass ich fast nur noch in meinem Zimmer und weinte. Ich fing an, Tagebuch zu schreiben. Das half mir manchmal ein bisschen.
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2011
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