Cover

Vom Niger zum Benue

Eine Afrikareise um die Jahrhundertwende

 

Zweite, vollständig überarbeitete Auflage 2018

 

von

Harald Faißt

 

Copyright © 2018 Harald Faißt, Feldberg

 

Das Werk ist urheberechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Ein denkwürdiger Sonntag

Unsere Geschichte beginnt an einem verregneten Oktobertag im Jahr 1902. Es war ein Sonntag, der einzige Wochentag, an dem der Hamburger Reeder und Kaufmann Wilhelm Godefroy das Mittagessen gemeinsam mit seinen beiden Söhnen einnahm. Wie gewöhnlich war auch Dr. Maurath, der Privaterzieher der Jungen, zugegen.

 

Die kleine Gesellschaft saß im Speisesaal der weitläufigen Gründerzeitvilla, welche die Handelsfirma Godefroy im vornehmen Hamburger Stadtteil Blankenese erworben hatte. Der ovale, wuchtige Eichentisch füllte die Mitte des Raumes aus. Um ihn herum standen zwölf schwere Eichenstühle mit gepolsterten Arm- und Rückenlehnen. Die schweren Samtvorhänge sperrten selbst das trübe Licht des Regentages aus. Die Gasleuchte brannte auf niedriger Stufe. Der riesige Raum lag im Halbdunkel.

 

Schweigend nahm die Tischgemeinschaft in dieser drückenden Atmosphäre ihre Mahlzeit ein. „Halte Dich gerade“, wies Wilhelm Godefroy seinen Sohn Franz urplötzlich barsch zurecht. Franz beeilte sich, die unbequeme Haltung, die er nur für einen Moment aufgegeben hatte, wieder einzunehmen. Allmählich verschwanden die beiden tiefen Falten des Unmuts zwischen den Augenbrauen des Vaters, auch seine Bewegungen wurden weniger unwirsch.

 

Melancholisch betrachtete er den für seine fünfzehn Jahre sehr großen und schlanken Jungen. Die zerbrechliche Blässe und die Zartheit seines jüngsten Sohnes, vom flachsblonden Haar noch unterstrichen, erinnerten Wilhelm Godefroy immer wieder an den frühen Tod seiner geliebten Frau. Knapp nur hatte sie die Geburt von Franz überlebt, aber stets kränkelte sie seither. So gab es keine Kraftreserven, die sie dem aggressiven Erreger der Cholera hätte entgegensetzen können.

 

Fast zehntausend Opfer hatte die letzte große Epidemie in Hamburg gefordert. Auch Franz litt an einer schwächlichen Konstitution. Die Ärzte, die um eine klare Diagnose verlegen waren, nannten dies „ein von der Frau Mutter geerbtes nervöses Leiden“.

 

Paul, der um ein Jahr ältere Bruder, kümmerte sich rührend um Franz. Musste dieser das Bett hüten, dann leistete er ihm Gesellschaft und las ihm vor. Am liebsten Reiseberichte aus den fernsten Teilen des deutschen Kolonialreichs. Ganz im Stil der Zeit, geprägt von kolonialer Begeisterung und der Schilderung einer wilden Exotik beflügelten diese Bücher die Phantasie der beiden Jungen. Während Paul vorlas, bannte Franz das Gehörte phantasievoll auf Papier, denn er hatte ein ungeheures Talent für das Zeichnen mit dem Bleistift.

 

Ein Außenstehender hätte die beiden sich so eng verbundenen Jungen dabei noch nicht einmal für Brüder gehalten. Denn nicht nur sein offenes, temperamentvolles Wesen unterschied Paul vom zurückhaltenden Franz, sondern auch die äußere Erscheinung. Paul war ein kräftiger und gesunder Junge von mittlerer Größe mit fast schon kohlschwarzem Haar. Er liebte Fußball, das neue Ballspiel aus England, und widmete sich auch leidenschaftlich dem Laufen, Springen, Werfen, Klettern und Ringen. Diese Sportarten, die ganz im Geiste der vormilitärischen Ertüchtigung seit Jahrzehnten den Turnunterricht bestimmten, hatten seinen Wuchs äußerst günstig beeinflusst.

 

Hin und wieder wagte sogar eines der wohlbehüteten Mädchen des seiner Schule benachbarten Lyzeums, oder auch „Höhere Töchter Schule“ genannt, einen schmachtenden, zuweilen auch kecken Blick.

 

Äußerst wissensdurstig interessierte sich Paul ganz besonders für Geographie und Technik. Das humanistische Gymnasium, das er besuchte, kam seinen Neigungen jedoch nur wenig entgegen. Jahr um Jahr plagte er sich mit Latein und Griechisch, den Sprachen der „toten Gipsköpfe“, wie er diese insgeheim bezeichnete.

 

Das Hausmädchen legte gerade dem Erzieher Kartoffeln nach. Da hob der Hausherr leicht seine rechte Hand. Das galt der Bediensteten als stummer Befehl und rasch zog sie sich zurück. Wilhelm Godefroy wandte nun seinen Blick Dr. Maurath zu, der seit dem Tod seiner Frau als Erzieher im Haus Godefroy tätig war. Der legte, obwohl noch hungrig, dienstfertig das Besteck zur Seite und schob den Teller mit dem Rest von Bratenfleisch und den Kartoffeln von sich. Er begriff, dass das Mahl beendet war und wusste, was sein Dienstherr nun von ihm erwartete.

 

In knappen Sätzen, ohne jegliche Ausschmückungen gab er Auskunft über die schulischen und häuslichen Leistungen des  ihm anvertrauten Nachwuchses. Der gewollt militärische Stil seines Berichtes passte jedoch nicht zu seiner für einen massigen Mann in den Fünfzigern viel zu hohen und auch zu leisen Stimme. Die weichen Gesichtszüge, unglücklich vereint mit einem Bart, wie ihn Kaiser Wilhelm der Zweite trug, vervollständigten das Bild. Auch die nach oben gezwirbelten Enden konnten nicht den Hauch eines militärischen Anscheins erwecken.

 

Nur mühsam konnte Paul ein Lächeln unterdrücken. Was erzählte der Mann da? Woher wollte er das alles wissen? Denn seinen eigentlichen Pflichten als Erzieher kam Dr. Maurath nur beiläufig nach. Seine Lieblingsbeschäftigung war nämlich das Sammeln von Insekten.

 

Aber nicht nur die heimische Insektenwelt musste den Erzieher fürchten. Jede Ankunft eines der Godefroyschen Schiffe aus fernen Ländern wurde von Dr. Maurath aufgeregt erwartet. Kaum setzte der jeweils vom Chef des Handelshauses mit dieser Aufgabe beauftragte Matrose seinen Fuß auf das Fallreep, stürmte ihm Dr. Maurath entgegen und entriss ihm die Holzkästchen mit den Insekten. Um dann nach Hause zu eilen und nachzusehen, ob die toten Insekten die lange Reise gut überstanden hatten.

 

In den Winter- und Herbstmonaten beschäftigte er sich dann stundelang mit dem Präparieren der Schmetterlinge, Heuschrecken, Libellen und Käfer. Die getrockneten Tiere mussten aufwendig in Aufweichbehältern wieder beweglich gemacht werden, dann begann die Feinarbeit mit Nadeln, Wachspapier und Spannbrettern.

 

Im firmeneigenen Kolonialmuseum, dessen Pflege und Organisation auch zu seinem Aufgabengebiet gehörte, nahmen die Vitrinen mit den aufgespießten Insekten bereits den größeren der beiden Räume ein. Die übrigen Exponate, wie Kleidungsstücke, Töpfereien und andere Gebrauchsgegenstände fremder Kulturen, waren dagegen achtlos angeordnet. Die dicke Staubschicht war nicht zu übersehen. Einige Artefakte verblieben gar monatelang in ihren Transportbehältern.

 

Die beiden Brüder und der Erzieher verbrachten nur wenig Zeit miteinander. In der Regel widmete sich Dr. Maurath der Lektüre seiner Fachbücher zur Insektenkunde, während Franz und Paul selbständig ihre Hausaufgaben erledigten. Das ging zumeist schweigend vonstatten, denn zu erzählen hatte man sich recht wenig. Erfüllten die schulischen Leistungen die Erwartungen des Vaters, dann ließ der Erzieher die beiden unbehelligt. Nur ein einziges Mal, als sich Pauls Abneigung gegen die alten Sprachen in den Noten niedergeschlagen hatte, war es zu einer Auseinandersetzung mit dem um seine Stellung besorgten Erzieher gekommen. Bald fand man jedoch zur alten, einvernehmlichen Haltung zurück, von der beide Seiten ihren jeweils ganz eigenen Nutzen zogen.

 

Langsam wurde Dr. Maurath nervös, denn ansonsten pflegte Wilhelm Godefroy seinen Bericht zumindest mit einem gelegentlichen Kopfnicken zu kommentieren. Kleine Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn, immer längere Pausen unterbrachen seine Ausführungen. Auch Franz und Paul bemerkten die geistige Abwesenheit ihres Vaters. „Wenn ich das tun würde, aber dann …“, ging es Franz durch den Kopf, als er sah, wie sein Vater nervös mit dem rechten Zeigefinger auf den Tisch trommelte.

 

Als Wilhelm Godefroy bemerkte, dass ihn alle erwartungsvoll ansahen, räusperte er sich und schnitt die Ausführungen des Erziehers mitten in einem angefangenen Satz ab. „Paul, ich habe beschlossen, eine wissenschaftliche Expedition auszurüsten, die Westafrika besuchen wird. Herr Dr. Mertens wird die Unternehmung leiten. Ich werde zwar seiner Mitarbeit entbehren, aber die Angelegenheit selbst erfordert den besten Mann! Die Firma muss in Kamerun expandieren! Dr. Mertens wird vor Ort die Möglichkeiten prüfen, Plantagen zu erwerben und prüfen, wie wir unseren Anteil am Eingeborenenhandel sichern können.“

 

Nah einer kurzen Unterbrechung seiner Ausführung sah er seinem ältesten Sohn direkt in die Augen und fuhr dann fort: „Nun zu Dir. Ich bin mit Deinem Direktor übereingekommen, Dich für ein oder zwei Jahre auf Reisen zu schicken. Danach wirst Du die Schule beenden und Deinen Dienst als Einjähriger ableisten, um anschließend in die Firma einzutreten. Betrachte diese Reise als Teil Deiner Ausbildung. Die Kolonien werden eine immer größere Bedeutung für unser Vaterland und unser Handelshaus erlangen. Wenn Du eines Tages die Leitung übernimmst, brauchst Du exzellente Kenntnisse unserer Besitzungen in Übersee.“

 

Schweigend saß die Tischgemeinschaft um den großen Eichentisch. Wilhelm Godefroy schob schroff seinen Stuhl zurück, erhob sich und sagte: „Franz, Du begleitest Deinen Bruder. Deine Ärzte glauben, dass das tropische Klima Deinem Gesundheitszustand förderlich sein wird. Sonne, frische Luft, viel Bewegung. Auch Sie, Herr Doktor, gehen mit auf die Reise! Sie werden zahlreiche Exponate für unser Museum sammeln können.“

 

Den Erzieher traf diese Mitteilung ebenso unvorbereitet, wie seine beiden Zöglinge. Er erhob sich, versuchte ungelenk die Hacken zusammenzuschlagen und ließ ein „Jawohl!“ hören. Sofort erkannte er die sich bietende Möglichkeit, nun bald selbst bisher unbekannten Insekten nachzustellen. Vielleicht würde auch eine Zikade, ein Schmetterling oder sonst irgendein Kerbtier nach ihm benannt werden. Dr. Maurath machte einen äußerst zufriedenen Eindruck.

 

Paul war ebenfalls begeistert, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Er sah diese völlig unerwartete Reise als willkommene Gelegenheit, der Enge und dem täglichen Einerlei zu entkommen. Er freute sich auf das bevorstehende Abenteuer. Seinem Vater entging keineswegs das glückliche Lächeln, das um die Mundwinkel seines ältesten Sohns spielte. „Ich glaube, ich muss Dir etwas verdeutlichen“, sagte er, als er mit einer herrischen Handbewegung seinen Sohn aus dem Esszimmer in das Herrenzimmer komplimentierte. Geräuschvoll schloss er die Tür und ließ seinen jüngsten Sohn, der diese überraschende Wendung des sonntäglichen Mahls einzuordnen versuchte, verblüfft zurück.

 

Paul sah, wie der Vater nach seiner Brusttasche fasste, und hörte dann das Knistern eines Streichholzes. Der Vater ging auf und ab und zog dabei an seiner Zigarette. Nach ein paar Minuten ergriff er das Wort: „Ich habe Dein Lächeln bemerkt. Täusche Dich nicht, ich kenne Deinen Hang zur äh, zur, sagen wir zur Nachlässigkeit in geschäftlichen Dingen!“ Hier war der Kern des Problems angesprochen, das Paul immer öfters beunruhigte. Für die in Aussicht gestellte Laufbahn am Stehpult mit Ärmelschonern zeigte er nur wenig Neigung.

 

„Mein Sohn, das wird keine Vergnügungsreise, damit Du Dich Deiner Pflichten entziehen kannst. Du sollst lernen. Lernen, Dich für unsere Firma verantwortlich zu fühlen. Das Haus Godefroy ist einer der größten Handelsfirmen Hamburgs. Unsere Schiffe gehören zu den modernsten Handelsschiffen Europas und durchkreuzen alle Weltmeere. Unsere Wechsel gelten in allen Kontoren dieser Welt wie bares Geld.

 

In Kaiser-Wilhelm-Land habe ich mit der Hilfe von Dr. Mertens unserer Familie einen großen Grundbesitz geschaffen, prosperierende Plantagen, profitable Handelsgeschäfte mit den Eingeborenen. Und wie bereits gesagt, genau das werden wir zukünftig auch in Deutsch-Kamerun unternehmen!

 

Und noch etwas, ich kenne Deine Abneigung gegen Herrn Dr. Mertens, aber bitte merke Dir: Er hat für die Firma enorm viel geleistet. Nimm´ Du Dir ein Beispiel an seiner Tüchtigkeit, seinem Geschäftssinn. Na, ja Du wirst ihn noch kennenlernen unterwegs!“ Bei den letzten Worten war seine Stimme leise geworden, und er legte die bereits erkaltete Zigarette in den Aschenbecher.

 

Eine Antwort seines Sohnes erwartete er nicht. Er war der Herr im Hause, er bestimmte, er diskutierte nicht. Mit einem müden Winken entließ er Paul.

Vorbereitungen

Da nicht alleine die europäisch besiedelte Küste, sondern vor allem das weitgehend unerforschte Landesinnere Deutsch-Kameruns und auch Teile Britisch-Nigerias besucht werden sollten, galt es, umfangreiche Vorbereitungen zu treffen. Von den zahlreichen deutschen Expeditionen der letzten beiden Jahrzehnte wusste man allerdings, welche Ausrüstungsgegenstände für eine solche Reise nötig waren. So war die Ausstattung des Schiffes schon weitgehend Routine.

 

Über 2.000 Reichsmark investierte man in den Erwerb von billigem Industrietuch, das man gegen Lebensmittel und Unterkunft einzutauschen gedachte. Auch Spiegel, Glasperlen und andere Dinge fehlten hier nicht.

 

Wesentlich zeitaufwendiger gestaltete sich jedoch das Beschaffen der britischen Dokumente. Man plante nämlich, von der britischen Kronkolonie Lagos aus, den Flüssen Niger und Benue folgend, in das Hinterland des deutschen Schutzgebietes Kamerun vorzustoßen. Ein sehr langer Weg durch das britische Einflussgebiet. Angesichts des kolonialen Wettstreits mit dem Wilhelminischen Kaiserreich zierte sich das Empire, einer deutschen Expedition Zugang und damit Einblick in die eigene Interessensphäre zu gestatten.

 

Franz und Paul erfasste in den Wochen vor der Abfahrt eine sonderbare Unruhe. So oft es ihnen möglich und erlaubt war, zog es sie zu den weitläufigen Anlagen des Kaiserkais. An dessen Spitze stand das Wahrzeichen des Hamburger Hafens, der imposante Kaispeicher A mit dem Turm und der Zeitball-Anlage, deren Signalball jeden Mittag um exakt zwölf Uhr fiel und den Schiffern die präzise Regulierung der für die Navigation wichtigen Chronometer ermöglichte.

 

Die beiden beäugten neugierig die Mannschaft und erkundigten sich nach dem Fortschritt der Verladearbeiten. Schwere Fässer, riesige Kisten und zu großen Stapeln aufgetürmte Säcke schwebten an den Stahlseilen der großen Krananlage durch die Luft, um im riesigen Bauch des Frachtdampfers zu verschwinden.

  

Einmal schauten sich die beiden auch die Kabinen an, von denen es auf dem Frachtdampfer nur etwa ein halbes Dutzend gab. Der sehr beschäftigte Kapitän hatte Verständnis, als die Brüder höflich den Wunsch äußerten, ihr Zuhause für die nächsten Wochen kennenzulernen. „Mein Sternchen“ nannte der Kapitän liebevoll den Dampffrachter, der eigentlich „Stella Maris“ (Stern des Meeres) hieß und erst zwei Monate zuvor die Belfaster Werft von Harland & Wolff verlassen hatte.

 

Der Kapitän war im dänischen Schleswig aufgewachsen und in seinen jungen Jahren auf einem Walfänger mitgefahren. Im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen sehnte er sich nicht nach der Zeit zurück, als Schiffe noch aus Holz gebaut und alleine vom Wind bewegt wurden. Solche Romantik war ihm fremd. Er freute sich, dass er die Jungfernfahrt des nagelneuen Dampfers kommandieren durfte.

 

Nachdem er seine beiden künftigen Passagiere höchstpersönlich ihre Unterkünfte gezeigt hatte, war es ihm ein noch größeres Vergnügen, sie durch den Maschinenraum zu führen. Der rund siebzig Meter lange Frachter war mit zwei hochmodernen Dreifach-Expansionsdampfmaschinen ausgestattet, die bei voller Fahrt an die 800 kg Kohle verschlangen.

 

„Ja, 800, und zwar in jeder Stunde!“, wie der Kapitän stolz feststellte. Den Heizern wurde alles abverlangt, um die Maschine unter Dampf und den riesigen Schornstein unter Rauch zu halten. Die Arbeit im dunklen und bis zu 40 Grad Celcius heißen Kesselraum war äußerst anstrengend, kräfteraubend und nicht ungefährlich. Verbrennungen und Verbrühungen durch undichte Ventile oder Rohrleitungen kamen oft vor. Paul begeisterte sich zwar für die Technik, war aber dann doch ebenso froh wie Franz, als das Tageslicht sie wieder umflutete.

 

Als das Brüderpaar wieder einmal das Tun und Treiben rund um die „Stella Maris“ beobachtete, entdeckte Franz eine bekannte Gestalt zwischen den mit ihren Sackkarren hin- und hereilenden Schauerleuten. Der hochgewachsene schlanke Mann mit der mächtigen Adlernase im immer blassen, etwas müde wirkenden Gesicht war nicht zu verkennen. Sein heller Leinenanzug mit dem steifen, unbequemen Kragen saß, wie stets, tadellos. Zu dieser äußerlichen Korrektheit passte auch der wie mit einem Lineal gezogene Mittelscheitel.

 

„Sieh´ mal einer an, Dr. Mertens“, murmelte Franz. Ein Unterton der Missbilligung schwang dabei in seiner Stimme mit. Pauls Augen bekamen einen trotzigen Ausdruck. Die beiden waren sich einig, sie mochten diesen Mann nicht. Zwar war er in der Gegenwart ihres Vaters immer äußerst höflich und zuvorkommend, indes galten ihnen die kalten, gefühllosen Augen und die arrogante Mimik als beredte Zeugen seines wahren Wesens.

 

Wilhelm Godefroy dagegen hielt große Stücke auf seinen Mitarbeiter und vertraute dessen Ratschlägen unbesehen. Denn es war in erster Linie dem ehrgeizigen Dr. Mertens zu verdanken, dass es der Firma gelungen war, in Deutsch-Neuguinea gewinnbringende Unternehmungen zu schaffen. Insbesondere die erst vor einem Jahrzehnt gegründeten Kakao- und Kokosnussplantagen erwirtschafteten außerordentliche Profite und vermehrten den Wohlstand der Familie Godefroy beträchtlich.

 

Das einträglichste Geschäft war allerdings der Tauschhandel mit Kopra, dem getrockneten Kernfleisch von Kokosnüssen, aus dem man Kokosöl gewann. Für Kleidungsstücke und Metallwaren allerschlechtester Qualität schafften die Eingeborenen den wertvollen Rohstoff aus den unzugänglichsten Gegenden der Insel zur Küste.

 

Es war Dr. Mertens Idee gewesen, das Kopra unbehandelt nach Deutschland zu verschiffen. Im Vergleich zur Verarbeitung vor Ort konnte durch die industrielle Pressung die Ausbeute erheblich gesteigert werden. Auch ahnte Dr. Mertens mit seinem ausgeprägten Geschäftssinn, dass Kautschuk in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen würde. Die Kautschukplantagen auf Deutsch-Neuguinea befanden sich allerdings noch im Aufbau.

 

Überdies gab es seit dem Tod seiner geliebten Frau immer wieder Zeiten, in denen Wilhelm Godefroy in tiefen Depressionen versank. Dr. Mertens schaltete und waltete dann ganz nach eigenem Ermessen, und der Firmenchef ließ ihn dankbar gewähren. In einem dieser dunklen Stunden hatte Wilhelm Godefroy auch die geänderten Nachfolge- und Eintrittsklauseln im Gesellschaftervertrag unterzeichnet. Auf den ersten Blick erschienen die Regelungen als vernünftige Vorsorge für den Fall seines Ablebens. Seine Söhne wurden in der Reihenfolge der Geburt zu seinen Erben bestimmt. Aber Dr. Mertens hatte sich über die Stellung eines Treuhänders und vor allem über die Eintrittsklausel, die ihn zum Gesellschafter machte, einen enormen Einfluss auf die Geschicke des Handelshauses gesichert.

 

Der gelernte Geograph galt als die „rechte Hand“ des Firmeninhabers und die übrigen Angestellten fürchteten ihn. Wann immer er das Kontor betrat, erstarrten die Schreiber an ihren Stehpulten und versenkten sich noch tiefer in ihren Lager- und Warenbüchern als sonst. Sie wagten es erst, wieder frei zu atmen, wenn sie den harten Blick des Leiters der Überseeabteilung nicht mehr spürten.

 

Presste Dr. Mertens seine ohnehin schmalen Lippen aufeinander, wuchs die Angst der Untergebenen. Denn so, wussten sie aus Erfahrung, kündigten sich heftige Zurechtweisungen an. Noch keinen hatte er ausgelassen. Ein kleiner Tintenspritzer in der Korrespondenz genügte ihm als Anlass für einen Wutausbruch.

 

Auch Dr. Mertens hatte die beiden entdeckt und näherte sich ihnen mit weitausholenden, energischen Schritten. „Na, ungeduldig?“, fragte er, als er sie erreicht hatte. „Wir wollen nur …“, begann Franz, aber Dr. Mertens schnitt ihm das Wort ab. „Ja, ja. Kann mir denken, was Sie wollen. Aber jetzt muss ich Sie leider auffordern, den Kai freizumachen. Wir erwarten eine wichtige Lieferung und benötigen den ganzen Platz.“

 

Die Art und Weise, in welcher er dies vorbrachte, ließ keine Widerrede zu. Franz und Paul nickten und machten sich in Richtung Berliner Bahnhof auf den Weg, um die Verbindungsbahn Richtung Altona zu erreichen. Zwar holten sie bei ihrem Vater die Erlaubnis für die Hafenbesuche ein, aber sie verschwiegen ihm, dass sie auf die Nutzung der eigenen Kutsche verzichteten. Es machte den beiden großes Vergnügen, mit den seit nunmehr drei Jahren verkehrenden grünen Wagen der „Elektrischen“ von Altona nach Blankenese zu fahren.

 

Als sie sich am Ende des Kaiserkais umwandten, bemerkten sie erstaunt, wie stämmige Seeleute sämtliche Passanten vom Liegeplatz der „Stella Maris“ abdrängten. In diesem Augenblick fuhr viel zu schnell ein Pferdefuhrwerk an ihnen vorbei. Der Kutscher trieb die massigen Gäule mit der Peitsche an. Erschrocken wichen die Schauerleute und Matrosen dem Gespann aus. Mit einem heftigen, für die Tiere schmerzhaften Reißen an den Zügeln brachte der Kutscher die Pferde zum Stehen. Sofort schlugen zwei Arbeiter die Wagenplane zurück und befestigten das Hebeseil des Krans an der offensichtlich eiligen Ladung.

 

Die beiden Brüder, jetzt neugierig geworden, blieben stehen und beobachteten wie einige nicht beschriftete, längliche Holzkisten durch die Luft rauschten. Kaum war die letzte Kiste im Frachtraum verschwunden, drückte Dr. Mertens den Arbeitern ihren Lohn in die Hand. „Hm, komisch“, wunderte sich Franz. Er wollte es aber damit gut sein lassen und sich auf den Heimweg machen. Paul dagegen schlug vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Er bestand darauf, das Kontor der väterlichen Firma in der Altstadt aufzusuchen.

 

Dort ließ er sich von einem Angestellten die Ladeliste der „Stella  Maris“ zeigen. Zwar wunderte sich der Angestellte über das ungewöhnliche Ansinnen, doch wer war er, um dem jungen Herrn Godefroy Fragen zu stellen oder gar etwas zu verweigern. Beflissen und unterwürfig händigte er Paul die Kladde mit dem gewünschten Verzeichnis aus. Die viele Seiten umfassende Liste enthielt jedoch nichts, was es Wert gewesen wäre, einen derartigen Auftritt am Liegeplatz zu rechtfertigen, stellte Paul enttäuscht fest.

 

Die Hamburger Zeitungen berichteten oft und ausführlich über die bevorstehende Expedition. Sie zitierten immer wieder Dr. Mertens, der den wissenschaftlichen Zweck der Reise betonte. Er gab an, dass man die ganzen Mühen auf sich nahm, um die Sammlung des firmeneigenen Kolonialmuseums zu erweitern. Wer jedoch nur den geringsten Einblick in die Geschäftswelt der Hansestadt hatte, der ahnte, dass das Ziel der Unternehmung eher im kaufmännischen Bereich liegen musste. Allein der Umstand, dass Dr. Mertens die Expedition leiten würde, ließ diese Vermutung zur Gewissheit werden.

 

Auch die Berliner Kreuzzeitung druckte einen Artikel über den Godefroyschen Reiseplan. Doch schon nach zwei Zeilen fand der Verfasser zu seinem Lieblingsthema und verlor sich in den leeren Phrasen der Kolonialagitation: „Deutschlands Platz an der Sonne“.

 

Zwar bemühte sich das Deutsche Reich seit nunmehr zwei Jahrzehnten um Kolonien und hatte stattliche Territorien in Afrika und in der Südsee erworben, aber den Kolonialenthusiasten war das noch lange nicht ausreichend. Ihre Propaganda forderte unablässig eine Ausdehnung des Deutschen Kolonialreichs. Dass die meisten der beanspruchten Gebiete bereits von anderen Mächten besetzt waren, spielte dabei keine Rolle.

 

Als man im Auswärtigen Amt in Berlin von einer ärgerlichen Bemerkung über den Artikel der Kreuzzeitung seitens des britischen Botschafters erfuhr, sah sich Herr von Düna zum Handeln gezwungen. Herr von Düna, ein untersetzter, alter Herr, der schon seit der Reichsgründung in der Wilhelmstraße tätig war, wünschte keine weiteren diplomatischen Verwicklungen wegen kolonialer Fragen. Er hatte genug von den ständigen britischen Beschwerden, die regelmäßig zur Beantwortung auf seinem Schreibtisch landeten.

 

Der ungestüme und stets um forsches Auftreten bemühte Kaiser hatte es geschafft, dass es selbst im fernen China Streitigkeiten mit England gab. Dabei hatte Reichskanzler von Bismarck auf der Berliner Konferenz „den ganzen kolonialen Kram“ mit den anderen Mächten geregelt, dachte Herr von Düna.

 

Er wies die zuständige Behörde in Hamburg an, bei der Erstellung der Empfehlungsschreiben an die deutschen Konsuln und Behörden in Übersee den privaten und den wissenschaftlichen Charakter der Reise deutlich hervorzuheben. Wer wusste schon, in wessen Hände die Papiere gelangen konnten.

 

Kopfschüttelnd saß der Diplomat zwei Wochen später an seinem Schreibtisch. Eine dicke Ledermappe voller Unterlagen lag vor ihm. Obenauf ein Schreiben des Reichsmarineamtes. In barschen, unhöflichen Worten verbat sich irgendein Dritter Sekretär jegliche Einmischung in das Godefroysche Reiseprojekt. Herr von Düna läutete zum Diktat, um heftig zu erwidern. Als sein Sekretär einige Augenblicke später eintrat, winkte er ihm ab: „Danke. Ich brauche Sie doch nicht.“

 

Der Angestellte knallte die Absätze zusammen, machte einen Diener und verschwand so rasch, wie er gekommen war. „Protektion von ganz oben, da lassen wir doch lieber die Finger weg. Wenn Wilhelm und seine Mannen so weiter machen, dann gibt es bald einen großen Kladderadatsch“, dachte Herr von Düna und legte das Schreiben mit dem Vermerk „Erledigt“ zu den Akten.

„Was uns wohl erwartet?“

Am 9. Mai 1903 ging es endlich los. Viele Hunderte von Neugierigen belagerten den Kaiserkai, um einen Blick auf die Forschungsreisenden zu erhaschen. Zwar gab es schon regelmäßig verkehrende Dampferlinien in die entferntesten Gegenden der Welt, aber das Auslaufen eines Expeditionsschiffes galt immer noch als Ereignis.

 

Auch Wilhelm Godefroy erschien zur Verabschiedung. Er ließ sich den Frachtraum zeigen und erteilte dem Kapitän einige Anweisungen, die diesen angesichts ihrer Belanglosigkeit verwunderten. Das tat Wilhelm Godefroy, um Zeit zu gewinnen und um ein persönliches Gespräch mit Franz und Paul zu vermeiden. Während der vergangenen Wochen hatte er sich ganz und gar seinen melancholischen Gedanken hingegeben und hatte nur selten das Firmenkontor aufgesucht. Keiner ahnte, welche Kraft ihn der Gang zum Hafen kostete.

 

Nachdem es keine Ausflüchte für den unglücklichen Mann mehr gab, musste er sich seinen Söhnen zuwenden. Er reichte ihnen die Hand und wünschte ihnen in knappen Sätzen alles Gute für die Reise und ermahnte sie zu steter Vorsicht. Ein leichtes Zittern seiner Stimme verriet, dass der äußerlich so ruhige Mann mit seinen Gefühlen kämpfte. Er zweifelte, ob er wirklich gut beraten war, als er eingewilligt hatte, auch den kränkelnden Franz mit auf die Reise zu schicken.

 

Die Argumente für Pauls Teilnahme waren von Anfang an schlüssig, so dass er ohne Zögern auf den Vorschlag von Dr. Mertens, dessen Idee die ganze Angelegenheit war, eingegangen war. Aber erst die ärztlichen Atteste, die ihm Dr. Mertens vorgelegt hatte, ließen ihn dessen Drängen nachgeben und auch der Teilnahme von Franz zustimmen.

 

Er unterdrückte seine Gemütsbewegung und erinnerte sich seiner großbürgerlichen Stellung. Erleichtert schritt er durch die schmale Gasse, welche die Menschenmasse am Kai dem mächtigen und angesehenen Kaufmann freigab. Wilhelm Godefroy erwiderte keinen der dargebotenen Grüße. „Ein feiner Herr, wirklich vornehm“, dachten die missachteten Seeleute, Tagelöhner, Handwerker und kleinen Kaufleute anerkennend.

 

Ein Schlepper zog den Schraubendampfer unter den schmetternden Klängen einer Militärkapelle und dem Jubel der Menge in die Fahrrinne. „Maschinen langsame Kraft voraus!“, befahl der Kapitän. Der nautische Offizier bewegte den Hebel des Maschinentelegrafen und übertrug so das Kommando in den Maschinenraum. Schnaufend liefen die riesigen Maschinen, die seit Stunden vorgeheizt wurden, an. Das ganze Schiff erzitterte, und der Frachtdampfer schob sich langsam aber unaufhaltsam über die träge dahinfließende Elbe der offenen See zu. Eine schmutzige Rauchfahne und ein zerfließender Schaumstreifen auf dem Wasser folgten dem Schiff.

 

Die wettergegerbten Gesichtszüge des Kapitäns zeigten eine Unternehmenslust, die ihn trotz seiner vielen Jahre auf See beim Auslaufen immer wieder überkam. Er strich sein graues Haar zurück und sagte zu seinem Offizier: „Angefangen hab´ ich auf ´nem ollen Boot aus Holz. Und jetzt schwimmendes Eisen und Dampf. Auf See wollen mir mal sehen, was in dem Kahn steckt.“

 

Franz und Paul standen derweil an der Reling und blickten auf das heimatliche Hamburg, von dem sie nun für lange Zeit Abschied nehmen sollten. „Was uns wohl erwartet?“, wandte sich Franz an seinen Bruder. Hätte Paul geahnt, welche Gedanken sich Dr. Mertens gerade hingab, hätte er seinen Bruder nicht mit einem zuversichtlichen Lächeln beruhigen können.

 

Keine fünf Meter von ihnen entfernt unterhielten sich die beiden Doktoren miteinander. Dr. Mertens durchdringender Blick ruhte auf dem Brüderpaar, seine Augen waren noch kälter als sonst. Nur für einen kurzen Augenblick und für seinen Gesprächspartner unmerklich zuckte ein böses Lächeln über sein Gesicht. 

 

Dr. Mertnes war äußerst zufrieden, denn er war seinem wahren Reiseziel jetzt schon deutlich näher gekommen.

Madeira

Nach knapp zwei Wochen erreichte die „Stella Maris“ die Insel Madeira und legte im Hafen von Funchal an. Hier wurden die Brüder und ihr Erzieher abgesetzt, während das Schiff weiter nach Südamerika fuhr, um dort Handelsgüter zu laden. Dr. Mertens blieb an Bord. Der Erzieher hatte sehr unter der Seekrankheit gelitten. Deshalb begleitete er die Brüder und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

 

Die ungleichen Reisegefährten logierten in einem vornehmen englischen Hotel in der Nähe von Camara de Lobos. Die Zimmer, das Restaurant, überhaupt alles war sehr luxuriös eingerichtet. Den Gästen bot sich jede erdenkliche Bequemlichkeit. Franz nutzte ausgiebig die Liegestühle auf der Terrasse des viktorianischen Hotels und genoss den Blick auf den fast 2000 Meter hohen erloschenen Vulkan Pico Ruivo.

 

Aber als ganz besonders angenehm empfanden die beiden jungen Hamburger das milde Klima: Über 20 Grad Celcius und Sonnenschein. Das waren sie von Hamburg nicht gewöhnt, nicht einmal Ende Mai. Schon auf der Reise von Hamburg nach Madeira hatte sich Franz´ Gesundheitszustand erheblich gebessert. Nun wuchs sein Appetit von Tag zu Tag. Die zur Tea-Time gereichte Platte mit Muffins und Biskuitcremetörtchen verlor immer mehr leckere Fracht.

 

Ein portugiesischer Geschäftspartner des Hamburger Handelshauses hatte einen Angestellten mit einem Kraftwagen zur Verfügung gestellt, der den drei Deutschen die Schönheiten der Insel zeigen sollte.

 

Das Automobil war noch eine sehr junge technische Errungenschaft. Selbst im großstädtischen Hamburg bekam man nur sehr selten ein derart modernes Fortbewegungsmittel zu sehen. Im ganzen Deutschen Reich gab es noch keine zehntausend Kraftfahrzeuge, umso erstaunlicher war es, auf einer abgelegenen Insel ein solches Gefährt zu finden. Die Straßen waren aber noch für Pferdefuhrwerke und Eselkarren ausgelegt, so dass eine Geschwindigkeit von mehr als zehn Kilometern in der Stunde schon ein Wagnis darstellte.

 

Immer wieder hielt der Fahrer an, damit seine Passagiere die von den Naturgewalten geformten Felsklippen bestaunen konnten. Der Platzmangel hatte die ärmeren Inselbewohner gezwungen, ihre Gemüse- und Obstgärten bis an die Bruchkanten der Klippen vorzuschieben.

 

Franz, nicht ganz schwindelfrei, bekam eine Gänsehaut, wenn er den Bauern zusah, wie sie mit ihren kurzstieligen Hacken das mühsam der Natur abgetrotzte Kulturland bearbeiteten. Mit ein paar raschen Strichen fertigte er davon Skizzen an, die er später im Hotel zu Zeichnungen vervollkommnete.

 

Für eine Tageswanderung im Norden der Insel waren weder Dr. Maurath noch Franz zu begeistern. Für Paul dagegen stellten sie den Höhepunkt seines Inselaufenthalts dar.

 

Der enorme Wasserreichtum des Nordens konnte aufgrund des extrem steilen Geländes nicht landwirtschaftlich genutzt werden. Um das Wasser auf die trockene Südseite mit ihren sanft abfallenden Hängen zu bringen, wurden seit dem 15. Jahrhundert Bewässerungskanäle, die Levadas, angelegt. Steinmetze, vor allem afrikanische und maurische Sklaven, hatten hier unter extremsten Bedingungen Rinnen und Tunnel aus dem Felsen gehauen und Aquädukte angelegt. Wärter, denen jeweils ein genau bezeichneter Abschnitt des weitverzweigten Kanalsystems zugeteilt war, schritten Tag für Tag die Kanäle ab. Paul schloss sich auf Vermittlung des Chauffeurs einem dieser Streckengänger an.

 

Die beiden folgten den am Rand der Wasserläufe angelegten schmalen Pfaden. Zunächst ging es an der fast senkrecht abfallenden Wand einer Schlucht entlang deren Windungen immer tiefer in das Gebirge führten. Tunnel, die nur gebeugt zu durchschreiten waren, durchbrachen das Lavagestein an Stellen, wo die Wand über der Schlucht hing. An anderer Stelle überquerten Aquädukte tiefe Felsspalten.

 

Der Kanalwärter, ein bäuerlich aussehender Mann, kaum älter als dreißig Jahre, aber bereits von der harten Arbeit gezeichnet, schien anfänglich wenig erfreut über die Begleitung. Sein Beruf hatte ihn den Menschen entfremdet, und er liebte die Einsamkeit der Berge. Paul achtete die Eigenart des Mannes und verzichtete darauf, irgendwelche überflüssigen Fragen zu stellen. Erst nach ein paar Stunden entspannten sich die Gesichtszüge des Streckengängers. Wenn er sich umdrehte, um den Jungen wortlos mit einem Fingerzeig vor einer schlüpfrigen Stelle zu warnen, tat er dies mit einem freundlichen, ehrlichen Blick.

 

Die Wanderung war sehr anstrengend. Paul war über jede Pause froh, die entstand, wenn sein Führer den Wasserlauf von Geröll reinigte. Knapp zweihundert Meter unterhalb eines kegelförmigen Berges endete der Bezirk des Kanalwärters. Ein Fußpfad führte in sanft ansteigenden Serpentinen zum Gipfel hinauf. Der Ausblick auf die Gebirgslandschaft der Insel und das tiefblaue Meer, dessen Schaumkronen in der Sonne glitzerten, entlohnte Paul für die Mühe des Aufstiegs. Zufrieden saßen er und sein Begleiter auf Felsblöcken und stärkten sich mit Schafskäse und Oliven für den Rückweg.

 

Währen des Abendessens schilderte Paul das Erlebnis seiner Wanderung. Dr. Maurath verfolgte den Bericht mit wachsender Unruhe. Am Schluss seufzte er und sagte: „Ich hätte Ihnen das auf gar keinen Fall erlauben sollen. Viel zu gefährlich.“ Er führte das Thema jedoch nicht weiter aus, sondern widmete sich dem Rest der Flasche Madeira.

 

Franz und Paul waren froh, als er sich leicht säuselnd verabschiedete und sie alleine zurückblieben. Sie traten hinaus auf die Terrasse, es war immer noch angenehm mild. Der Sternenhimmel leuchtete über ihnen. Genussvoll ließ sich Franz in die Weiten eines Korbsessels sinken, streckte und dehnte sich. Er genoss die Meeresbrise.

 

„Wie freue ich mich, dass es Dir so gut geht!“, bemerkte Paul und blickte seinen Bruder freundlich an. „Ja, noch bevor die eigentlichen Tropen erreicht sind, hat das warme Klima mein Leiden nahezu beseitigt“, antwortete Franz, der sich immer noch genüsslich rekelte.

 

„Apropos eigentliche Tropen. Ich kenne jetzt schon die ganze Insel. Alles sehr europäisch und sehr zivilisiert hier. Jetzt freue ich mich auf Afrika. Ich will Abenteuer, richtige Abenteuer erleben. So einen Inselwanderung wird nichts dagegen sein. Unser teurer Herr Doktor, was hat der denn für Vorstellungen, wenn ihm das Gebirge hier schon das Fürchten lehrt", fügte Paul an. „Ja“, stimmte ihm sein Bruder zu, „ich bin auch schon ganz versessen auf die Weiterfahrt. Noch eine Woche, dann geht´s nach Afrika.“

Afrika!

Die „Stella Maris“ war aus Südamerika zurückgekehrt, hatte die Ladung gelöscht und die Gesellschaft wieder an Bord genommen. Nun trat das Dampfschiff die Fahrt nach Lagos an.

 

In der ewig gleichen See schien das Schiff stillzustehen. Nur die seitlich vorbeifließenden Schaumstreifen zeigten, dass der Dampfer sich wirklich von der Stelle bewegte. Nach wenigen Tagen einer ereignislosen und ruhigen Fahrt über das fast wellenlose Meer erreichte man die geschäftige westafrikanische Hafenstadt im Golf von Guinea.

 

Seit 1886 war Lagos eine eigenständige britische Kronkolonie. Der Export von Palmöl hatte den wirtschaftlichen Aufschwung ebenso unterstützt wie die Eisenbahn- und Telefonanbindung. Die Stadt war in den letzten Jahren immens gewachsen und hatte über einhunderttausend Einwohner. Sie erstreckte sich über eine Nehrung und eine Reihe zum Teil im Meer, zum Teil in der riesigen Lagune von Lagos gelegenen Inseln.

 

Nur wenige Straßen von den kolonialen Prachtbauten der fremden Herren entfernt erhoben sich die ärmlichen Viertel der Einheimischen. Die dicht aneinandergereihten Hütten mit den rostigen Blechdächern erschienen wie ein Meer des Elends. Nur wenige Palmen ragten daraus wie grüne Segel hervor, die im Dunst des tropischen Klimas reglos verharrten.

 

Die Lagune selbst bestand aus einem unübersichtlichen Gewirr von Sümpfen und Mangrovenwäldern, umgeben von Regenwald und Kokospalmen. Rund um die Stadt wimmelte es auf der Lagune. Das flache und schlammige Wasser trug unzählige Kanus und Kähne aller Größen. Beladen mit Kisten, Säcken und Körben, ja sogar lebenden Schweinen und Ziegen suchten sie sich ihren Weg durch das Gedränge. Ein anderer Teil der Wasserfahrzeuge dienten der Fischerei. Unablässig warfen ihre Insassen Netze in das trübe Wasser und hörten erst damit auf, wenn zuckende Fischleiber den Boden ihres Kahns bedeckten.

 

Die britische Herrschaft konnte nur in der Kronkolonie selbst als gefestigt angesehen werden. In den anderen Teilen Westafrikas existierten zwar britische Protektorate und Territorien, in denen die Briten indirekt, mit Hilfe der einheimischen Eliten, herrschten. Aber trotz eines hohen Grades an Autonomie widersetzten sich die Fürsten, Könige und Stammesführer der Ibo, Yoruba, Hausa und Fulbe immer wieder. Regelmäßig versperrten einheimische Herrscher die Handelswege in das Landesinnere. Mit dem Kalifat von Sokto führte man bereits seit Jahren einen blutigen Krieg.

 

Es dunkelte schon, als die „Stella Maris“ Anker warf. Sanft schaukelnd lag der Schraubendampfer auf den blauen Wassern des Atlantiks, unweit der Sandbank, die die größeren Schiffe an der Einfahrt in den Hafen von Lagos hinderte. Der Hafenmeister musste zum Fernglas greifen, um den deutschen Dampfer in sein Protokollbuch eintragen zu können.

 

Am nächsten Morgen stürmten Franz und Paul ungeduldig an Deck und mussten zu ihrem Leidwesen feststellen, dass über Nacht eine Wetteränderung eingetreten war. Ein trüber, grauer Himmel hing über dem Wasser. Kaum ein Sonnenstrahl durchdrang die Wolkendecke. Das Wasser der jetzt stark bewegten See sah bleiern und grau aus. Enttäuscht kehrten die beiden wieder unter Deck zurück, wo sie ein einfaches Frühstück erwartete. Der Kapitän und seine Offiziere sowie die beiden Doktoren mussten schon vor ihnen dagewesen sein, denn deren Gedecke waren bereits abgeräumt.

 

Die beiden nutzten die Gelegenheit, die Marmeladenbrote einfach in die Hand zu nehmen und herzhaft abzubeißen. Ansonsten wachte Dr. Maurath über die Einhaltung der bürgerlichen Tischsitten, zu denen seiner Meinung nach der Verzehr von Broten mit Messer und Gabel gehörte. Auch der Leiter der Expedition war ein wahrer „Gabelakrobat“ spöttelten die beiden gerne. Selbst der Kapitän hatte sich schon mehrere Male ein unwilliges Stirnrunzeln zugezogen, wenn er nach Art der Seeleute nur wenig ausgefeilte Tischmanieren an den Tag gelegt hatte.

 

Franz und Paul traten kauend an Deck. Sie lehnten an der Reling und beobachteten, wie kleine Schleppschiffe, die mühelos die Sandbank überqueren konnten, die südamerikanische Fracht löschten. Das muntere Treiben um sie herum behagte ihnen und entschädigte sie für das schlechte Wetter. Eines der kleinen Schiffe, welches von einem erfahrenen Kapitän, der das Patent der britischen Hafenbehörde besaß, gesteuert wurde, nahm die Brüder und ihren Erzieher auf und brachte sie zur Stadt.

 

Kaum waren sie an Bord wurde das Boot steil angehoben und senkte sich anschließend rasant in das Wellental. Mit scharfer Wendung ging es im ruhigen Fahrwasser zwischen den Brechern hindurch in Richtung einer Boje, welche die Stelle mit der größten Untiefe markierte.

 

Als die drei Deutschen an Land gingen, machte der Offizier der Hafenpolizei Schwierigkeiten. Mit finsterem Gesichtsausdruck kontrollierte er die Pässe und Dokumente, welche die britische Botschaft in Berlin ausgestellt hatte. Er fragte äußerst unfreundlich und mit amtlicher Miene: „Wer bürgt für Sie?“ - „Das Deutsche Reich und der Konsul seiner Majestät in Lagos!“, gab Dr. Maurath zur Antwort, der immer noch ganz grün im Gesicht war von der stürmischen Fahrt mit dem kleinen Schleppschiff. Dabei versuchte er, den Engländer an Forschheit zu überbieten, und schaute ihn herrisch an.

 

Der Offizier ärgerte sich über diesen arroganten Ton derart, dass er entgegen jeder Bestimmung auf einer Sicherheitsgebühr von einem Pfund pro Person bestand, die Dr. Maurath wohl oder übel gegen Quittung hinterlegen musste.

 

Hinter der Zollbaracke wartete bereits der Sekretär des deutschen Konsulats, der die Hamburger in Lagos willkommen hieß. Sein Vorgesetzter, der Konsul, ließ sich wegen einer unaufschiebbaren geschäftlichen Verabredung entschuldigen. Der junge Mann bot sich als Fremdenführer an. „Aber nur das Wichtigste. Wir haben nur diesen Nachmittag Zeit“, sagte Dr. Maurath unwirsch, der seinem Ärger über den britischen Offizier an dem etwas schüchternen Angestellten des Konsulats ausließ.

 

Die knapp bemessene Zeit des Landganges reichte gerade aus, um einen kurzen Blick auf den britischen Gouverneurspalast zu werfen, der weiß leuchtend in der Nähe des Hafens lag. Auch erhaschten die drei Deutschen einen Eindruck von den kunstvoll errichteten Moscheen der islamischen Fulbe, die neben den Kirchen der Kolonialherren standen.

 

Besonders gespannt waren die beiden jungen Hamburger auf den zentral gelegenen Markt der umtriebigen Stadt. Afrikanische Hilfspolizisten in britischen Diensten schritten würdevoll, den kurzen Stock unter die rechte Achselhöhle geklemmt, in ihren Khakiuniformen durch die Händlerscharen. Wann immer sie Europäern begegneten, legten sie grüßend die rechte Hand an die Schirmmütze. Ihre afrikanischen Landsleute dagegen fürchteten die stetige Gewaltbereitschaft dieser dienstwilligen Büttel der Weißen und gingen ihnen geflissentlich aus dem Weg.

 

Guter Laune schlenderten die Brüder über den Markt, gefolgt vom schwerfälligen Dr. Maurath, der sich ärgerlich der aufdringlichen Händler erwehrte. Ein dumpfes Murmeln, von weithallenden Anpreisungsrufen unterbrochen, füllte den ganzen Platz. Zwischen den Ständen herrschte ein Schieben und Drängen. Käufer und Verkäufer feilschten lautstark und mit wilden Gesten. Auch das Wetter spielte jetzt mit. Die beiden jungen Hamburger betrachteten nahezu verzückt die Farbigkeit der afrikanischen Gewänder. Wollten sie etwas erklärt haben, gab der Konsulatsangestellte gerne Auskunft, ansonsten hielt er sich bescheiden zurück.

 

Während das Brüderpaar das bunte Treiben auf dem Markt bestaunte, ging der deutsche Konsul, Herr von Hardenberg, an Bord der „Stella Maris“. Schnaufend kletterte der korpulente Mann das Fallreep hinauf. Oben angekommen wischte er sich mit einem schmutzigen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirnglatze. Nach einer kurzen, sehr förmlichen Begrüßung ließ der Beamte den enttäuschten Kapitän stehen und verschwand mit Dr. Mertens in dessen Kabine.

 

Es mochten schon mehr als zwei Stunden vergangen sein, als der Konsul wieder an Deck erschien. „Herr Doktor, das Deutsche Reich und Seine Majestät werden Ihnen auf immer dankbar sein“, verabschiedete sich Herr von Hardenberg von Dr. Mertens und schlug die Hacken zusammen.

 

Auf dem müden Gesicht des Geographen erschien ein spöttisches Grinsen, als er einen Blick auf das Telegramm des Reichsmarineamtes warf, das ihm der Konsul überreicht hatte. „Tante Wilhelmine wartet auf Dein Rezept", las er und schüttelte den Kopf. Das entging dem Konsul allerdings, da er sich schon abgewandt hatte und dem Fallreep zueilte.

 

Und auch dieses Mal enttäuschte der Konsul den Kapitän, der gerne ein paar Worte mit dem Vertreter des Deutschen Reichs in der britischen Kronkolonie gewechselt hätte. Mit den Worten: „Ein anderes Mal, mein Lieber“, vertröstete dieser den Seemann und verließ das Schiff eilig.

 

Dr. Mertens strich mit den Handflächen zu beiden Seiten seines Mittelscheitels über das gewachste Haar. Das tat er nur, wenn er äußerst zufrieden war. „Na ja, Herr Konsul, die Deutsche Kolonialgesellschaft und das Reichsmarineamt drücken ihre Dankbarkeit in Reichsmark aus. Und die Firma Godefroy oder besser das Handelshaus Mertens wird eines Tages am britischen Palmöl schwer verdienen. Aber einen Orden nehme ich auch gerne.“

Erster Landgang und ein neuer Weggefährte

Es war schon gegen Mittag als die Brüder an Deck traten, um die frische Meeresbrise zu genießen. Erleichtert zogen die beiden jungen Hamburger die saubere Luft tief in ihre Lungen ein. Fast die ganze Nacht hatten sie keinen Schlaf gefunden, denn von Land her hatte ein drückend schwüler Wind den süßlich fauligen Geruch aus den Slumvierteln von Lagos auf das Meer hinausgetragen.

 

Um sie herum herrschte ein geschäftiges Treiben. Dr. Mertens hielt eine Ladeliste in den Händen, während die Matrosen eilig auf- und abliefen. Ladelisten kontrollieren, die Arbeit anderer überwachen und die ihm Unterstellten maßregeln. Genau das war nach dem Geschmack des Geographen. Wann immer er die geringste Ungenauigkeit entdeckte, stieß er mit einer überraschenden Schnelligkeit seine Adlernase vor und zischte mit schmalen Lippen Zurechtweisungen.

 

Franz und Paul gingen wieder unter Deck in ihre Kabinen, um sich für den Aufbruch fertig zu machen. Da Paul das Rufen der arbeitenden Seeleute hörte, wusste er, dass er sich Zeit lassen konnte. Er setzte sich auf seine zerwühlte Pritsche und vergrub seine Hände im dichten, schwarzen Haar.

 

Er ließ das Geschehen der vergangenen Wochen in seinen Gedanken noch einmal Revue passieren: „Wie schnell das alles gegangen ist. Vor einem halben Jahr habe ich Afrika nur aus Büchern gekannt. Und jetzt bin ich hier … und in einer Stunde geht´s los in den Urwald. Wenn nur diese beiden Herren Doktoren nicht dabei wären. Unser Erzieher ist von grandioser Einfalt. Dieser Dr. Mertens schaut uns immer scheel von der Seite an, als ob er etwas im Schilde führen würde.“ Er seufzte und murmelte leise: „Hoffentlich geht alles gut!“

 

Schnell obsiegte aber seine zuversichtliche jugendliche Lebenseinstellung und vertrieb die dunklen Vorahnungen. Paul zog sich um und kehrte voller Vorfreude auf die unmittelbar bevorstehende Abfahrt an Deck zurück, wo Franz ihn schon ungeduldig erwartete.

 

Der jüngere der beiden Brüder hatte inzwischen sämtliche Anzeichen seiner Krankheit abgelegt. Die südliche Sonne zeigte bereits Wirkung und die Blässe verschwand zusehends. Obwohl er die Cremetörtchen Madeiras vermisste, hatte er weiter zugenommen. Der vor wenigen Wochen noch viel zu hagere, schlaksig wirkende Junge war nicht wiederzuerkennen. Selbst das tropische Klima mit der hohen Luftfeuchtigkeit schien ihm äußerst gut zu bekommen.

 

„Mein Gott, wie Du Dich verändert hast“, stellte Paul anerkennend fest und fuhr fort, „Du siehst vollkommen gesund aus.“ - „Ja, ich fühle mich auch wohl. Die Sonne, die Meeresluft, die Bewegung, das macht Appetit. Ich verstehe überhaupt nicht, wie ich früher so matt und anfällig sein konnte.“ - „Früher?“, lachte Paul und gab seinem Bruder einen Klapps auf den Rücken: „Gerade mal sechs Monate ist das her. Früher, ja, ja …“

 

Allmählich verstummte der Arbeitslärm. Das große, inzwischen beladene Beiboot wurde herabgelassen. Der Proviant, ein kleiner Teil der mitgeführten Tauschwaren und die Ausrüstung waren in der Mitte des Bootes untergebracht und fein säuberlich in Holz- und Metallkisten verpackt. Vier dicke Leinensäcke, die nach Ölpapier rochen, lagen gut verschnürt am Heck.

 

Dr. Maurath, der nach eigenem Bekunden „ganz afrikanisch“ gekleidet war, kletterte schwerfällig in das sich wiegende Boot. Zu seinem weißen Leinenanzug und seinen Schaftstiefeln trug Dr. Maurath einen monströsen Kolonialhelm auf dem Kopf. In seinem Ledergürtel steckte ein breites dolchartiges Messer und ein Pistolenhalfter hing daran. Schräg über dem Rücken baumelte ein Gewehr und an einem Riemen befestigte Behälter sowie ein Kescher für die Insekten, die er einzufangen beabsichtigte. Eine Ledertasche mit kleinen Fläschchen voller Spiritus vervollständigte seine Ausrüstung. „Karl May hätte eine solche Type nicht besser erfinden können“, flüsterte Paul seinem Bruder zwinkernd zu.

 

Alle anderen, die beiden jungen Hamburger eingeschlossen, waren zwar auch bewaffnet und trugen Stiefel und Leinenanzüge, hatten aber als Kopfbedeckung breitkrempige Hüte gewählt. Und keiner, nicht einmal Dr. Mertens, hatte sich derart martialisch ausstaffiert wie der Erzieher. Das fanden auch die sechs Seeleute, die als Ruderer abkommandiert waren. Sie hatten bereits ihre Gewehre zu ihren Füßen abgelegt.

 

Die kräftigen, bärtigen Männer, die nach harter Arbeit aussahen, warfen sich versteckt amüsierte Blicke zu. Sie trugen weite, offene Hemden über der sonnenverbrannten Brust und der Erzieher erschien ihnen mit seinem Kaiser-Wilhelm-Bart, seinen weichen Gesichtszügen und seiner dicklichen Blässe völlig fehl am Platz.

 

Ächzend setzte sich Dr. Maurath neben den schlanken und hochgewachsenen jungen Mann, der gleich nach den Matrosen das Boot bestiegen hatte. Es handelte sich um Hans Kolbe, einen Angestellten der in Lagos ansässigen Niederlassung des Hamburger Handelshauses Knopp. Er kannte Land und Leute bestens und sollte als Dolmetscher dienen.

 

Der Mann mit den sympathischen Gesichtszügen, denen eine feingeschnittene Nase eine gewisse Vollendung verlieh, war Anfang dreißig und beherrschte immerhin drei der gängigsten der über dreihundert Sprachen Westafrikas. Er war am Vorabend an Bord gekommen und hatte sich zugleich mit Franz und Paul bestens verstanden.

 

Zwischen ihm und Dr. Mertens dagegen hatte von Anfang an ein wechselseitiges Gefühl der Abneigung vorgeherrscht. Der Expeditionsleiter hatte abschätzend das lange blonde Haar, das nur wiederwillig in der vom Kamm vorgegeben Stellung verharrte, und den legeren Anzug des neuen Reisegefährten gemustert. Dass diese Abneigung nicht nur auf Äußerlichkeiten beruhte, sondern vor allem in der Wesensart und den ethischen Prinzipien begründet lag, würde sich auf der langen Reise noch zeigen.

 

Nicht ohne Hintergedanken hatte der Leiter der Knoppschen Niederlassung gerade Hans Kolbe mit der Unterstützung eines immerhin konkurrierenden Handelshauses beauftragt. Mit den Worten „Er spricht drei dieser Negersprachen und ist viel gereist in den englischen Territorien. In Deutsch-Kamerun, zumindest an der Küste, war er auch schon. Er wird Ihnen sicherlich von großem Nutzen sein“, hatte er gegenüber Dr. Mertens seine Auswahl begründet.

 

Diesem war jedoch das ironische Lächeln dabei nicht entgangen. Auch hatten sich die anderen Mitarbeiter der Firma Knopp kaum von Hans Kolbe verabschiedet und schienen wenig traurig über dessen Weggang.

 

Hans Kolbe war beim Erlernen der Sprachen eng mit der Kultur und Gefühlswelt der Afrikaner in Berührung gekommen. Das hatte zur Wertschätzung der Einheimischen und dadurch zu Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen geführt, denen ein schwarzer Mensch nichts galt. So war man froh, den „Niggerfreund“ auf elegante Weise loszuwerden.

 

Kaum waren alle auf ihren Plätzen, gab Dr. Mertens das Kommando: „Leinen los!“ Sofort legten die Seeleute die Ruder in die Riemen und zogen sie kraftvoll durch das Wasser. Rasch entfernte sich das Boot von der „Stella Maris“, von der Kapitän Jahn zum Abschied winkte.

 

Immer der Küste entlang fahrend in Richtung Osten, plante man, vier bis fünf Tagesreisen von Lagos entfernt an Land zu gehen und ins Landesinnere bis zum westlichen Ende der Lagune von Lagos vorzudringen. Die „Stella Maris“ sollte derweil nochmals Güter aus Südamerika holen und die Expedition in rund vier Wochen in Lagos wieder aufnehmen.

Das Abenteuer beginnt

Bisher hatten Franz und Paul nur das europäisch geprägte Lagos kennengelernt oder waren in einer komfortablen Kabine über das Meer gereist. Jetzt sollte sich die Wildnis und die geheimnisvolle Welt der Afrikaner vor ihnen auftun. Übernachten unter freiem Himmel, sich ernähren von dem, was man selbst erlegen würde.

 

In Erwartung kommender Abenteuer saßen die beiden im schaukelnden Boot, das sich immer mehr der Küstenlinie näherte. Immer wieder spähten sie zum Festland, ob sich nicht ein wildes Tier oder ein Eingeborener zeigen würde.

 

Schnell wurden die Mangroven durch eine baumlose, sandige Küste abgelöst. Nur verkrüppeltes Buschwerk, das keinen nennenswerten Schatten zu spenden vermochte, streckte seine niederen Äste himmelwärts. Die Sonne tauchte alles in ein grelles, gleißendes Licht. Trotz ihrer breitkrempigen Hüte mussten sie ihre Lider zusammenkneifen, bis diese als schmale Schlitze erschienen. Dr. Maurath hatte inzwischen seine gesamte Ausrüstung abgelegt und nahm ständig seinen Tropenhelm ab, um sich mit einem Taschentuch den Schweiß abzureiben.

 

Dr. Mertens setzte sein Fernglas ab und sagte: „Hässlich und öde.“ – „Hier an der Küste gibt es nur Strandvögel. Im Landesinnern, so ungefähr ein halbe Stunde vom Meer entfernt, beginnt die eigentliche tropische Vegetation.“, entgegnete Hans Kolbe freundlich. „Na ja, wenn Sie meinen, dass der Dschungel weniger hässlich ist. Sie waren wohl schon lange nicht mehr im deutschen Wald?“, gab Dr. Mertens ärgerlich zurück, und seine Augen blitzten streitlustig über der Adlernase.

 

„Ich kenne den Dschungel aus Kaiser-Wilhelm-Land, einfach nur furchtbar. Etwas für Neger, aber nichts für Christenmenschen und Deutsche“, setzte er noch nach, als Hans Kolbe nicht sogleich antwortete. „Ein aggressiver, herrschsüchtiger Mann“, dachte sich dieser und beließ es bei einem Achselzucken als Antwort. Er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass eine Diskussion keinen Zweck hatte.

 

In seiner entfachten Streitlust begann Dr. Mertens, die Matrosen der Faulheit und Langsamkeit zu beschuldigen. Die Ruderer gaben in der hellen Sonne Afrikas ihr bestes und mühten sich redlich ab. Stetig und gleichmäßig schob sich das Boot unter ihren kraftvollen Schlägen über die glitzernde Oberfläche des wellenlosen Meeres.

 

Am Abend des ersten Tages schlug man in der Einöde der kargen Küste das Nachtlager auf. Die weiteren Tagesetappen verliefen genauso ereignislos wie die erste. Nur ein zu den Augen freundliches Grün löste allmählich die karge Landschaft ab. Zugleich ging die trockene in eine feuchte Hitze über, wobei die Meeresluft den Reisenden und vor allem den rudernden Seeleuten etwas Linderung brachte.

 

Am Nachmittag des vierten Tages entdeckte Dr. Mertens zwei halbzerfallene, steinerne Gebäude, zwischen denen sich einfache Strohhütten erhoben durch sein Fernglas. Etwa eine halbe Marschstunde entfernt gingen die Deutschen an Land. Das Boot wurde entladen, auf den Strand gezogen und mit abgehauenen Ästen des niedrigen Buschwerks vor allzu begehrlichen Blicken verborgen. Zur Sicherheit ließ man zwei bewaffnete Matrosen als Wachen zurück. Der Rest der Truppe marschierte zur Siedlung.

 

Da das eigentliche Ziel im Landesinnern lag, hieß es nun, Afrikaner als Träger anzuwerben. Schnell wurde Hans Kolbe mit den Dorfbewohnern, die zu einem früh mit den Weißen in Kontakt getretenen Küstenstamm der Yoruba gehörten, handelseinig.

 

Je näher an der Küste gelegen umso deutlicher war der Niedergang der einst über mächtige Königreiche herrschenden Yoruba zu sehen. Kriege untereinander, die gegenseitige Versklavung und das gleichzeitige Vordringen der Weißen hatten den Niedergang beschleunigt. An der Küste hatte fast jeder kleine Stamm nun seinen eigenen König.

 

Als man die zwanzig angeheuerten Träger zur Landestelle geführt hatte, stellte sich heraus, dass die Transportkisten, Leinensäcke und Fässer sehr unfachmännisch gepackt waren. Die Afrikaner waren äußerst unzufrieden mit ihren ungleichen Lasten, so dass sich ein wortreiches Hin und Her entspann. Das dauerte solange an, bis Hans Kolbe die Seeleute anwies, die Ausrüstung umzuräumen, um ungefähr gleichschwere Traglasten sicherzustellen. Dauerhafte Konserven, Zucker, Öl, Trockengemüse, Petroleum für die Sturmlaternen, Seife, Zündhölzer, Moskitonetze, Zelte und viele weitere Ausrüstungsgegenstände mussten neu sortiert werden. Dr. Mertens achtete argwöhnisch darauf, dass niemand seine Leinensäcke öffnete.

 

„Endlich fertig“, sagte Hans Kolbe erleichtert, doch dann schien es schon wieder erneut loszugehen. Einer der Träger wollte die ihm vom Expeditionsleiter zugewiesenen Leinensäcke nicht nehmen und ein Wortschwall stürzte auf den überraschten Weißen ein. Dabei gestikulierte der Afrikaner wild und zeigte abwechselnd auf seine Traglast und die der anderen.

 

Wütend schaute Dr. Mertens den widerspenstigen Mann an. Als dieser den Blick des Deutschen bemerkte, veränderte sich sein Verhalten schlagartig. Er verstummte und stand erstarrt vor dem weißen Mann, Angst war plötzlich in seinen Augen zu sehen.

 

„Was will der Nigger?“, fragte Dr. Mertens den Dolmetscher, obwohl er genau wusste, um was es ging. Seine Stimme klang dabei leise drohend, fast wie ein böses Fauchen. „Das alte Problem mit der Gewichtsverteilung. Er ist sich sicher, dass die Lasten der anderen geringer sind. Lassen Sie uns die Säcke aufmachen und den Inhalt verteilen“, antwortete Hans Kolbe.

 

„Du fauler Nigger! Ich werd´ Dir helfen“, schrie der Expeditionsleiter. Mit einem Sprung war Dr. Mertens bei dem Träger und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Er holte zu einem neuen Schlag aus, während sich der Schwarze duckte und schützend die Hände vor sein Gesicht legte.

 

Hans Kolbe trat dazwischen und ergriff das Handgelenk des wütenden Dr. Mertens. Dabei sagte er: „Wenn Sie nicht aufhören,  laufen alle weg und Sie können das Zeug selbst tragen.“ Aus Erfahrung wusste er, dass ein praktisches Argument mehr wog als alle Appelle an Ehre und Gewissen.

 

Tatsächlich hatten die anderen Afrikaner das Geschehen mit feindseligen Blicken verfolgt. Ein hochgewachsener, kräftiger Mann wich dem Blick des Weißen nicht aus und schaute ihn sogar herausfordernd an. Dr. Mertens ärgerte sich über diese Dreistigkeit. „Lassen Sie mich auf der Stelle los!“, zischte er ungehalten und seine erhobene Hand entspannte sich.

 

Er überlegte kurz, grinste und holte ein paar Geldstücke aus seiner Tasche. Er warf die Münzen auf die Leinensäcke und bedeutete dem Träger, dass diese ihm gehören würden, wenn er die Last annehmen würde. Der derart grob behandelte Afrikaner zögerte einen Augenblick, schließlich bückte er sich und sammelte die Münzen ein. „Für meine Familie!“, dachte er und schämte sich wegen der eben erfahrenen Demütigung. Er hob die viel zu schwere Last auf.

 

Auch die anderen schulterten ihre Lasten und bildeten eine Marschkolonne, die sich sofort in Bewegung setzte. Angesichts des eben erlebten brutalen Auftritts schwiegen alle.

 

Mit jeder Viertelstunde Fußmarsch gestaltete sich die Vegetation üppiger. Hier flog ein bunter, farbenprangender Schmetterling, dort blühten nie gesehene Blumen oder reiften fremdartige Früchte. Der Dolmetscher warnte vor der möglichen Giftigkeit der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 07.09.2018
ISBN: 978-3-7438-8021-4

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /