Diese Erzählung ist frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit verstorbenen oder lebenden Personen
und mit tatsächlichen Begebenheiten wäre rein zufällig.
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Das Autofahren hat er beim Militär gelernt, doch es ist ein riesiger Unterschied, ob man schwere Geländefahrzeuge oder einen Omnibus bewegt. An einem frostigen Tag im Dezember schließt sich für immer das Kasernentor hinter Herrn Gutemut. Ein neuer Abschnitt in seinem Leben soll beginnen. Vor ihm liegt die Zukunft, geleitet von einer langen und sogleich monotonen, endlos wirkenden geraden Straße, eingerahmt von zu dieser Jahreszeit ebenso monoton wirkenden kahlen Bäumen. Hohe, vom Wind entlaubte Pappeln säumen die Straße und lassen sie am Ende zu einem kleinen Punkt zusammenschrumpfen. Doch wie eintönig auch immer der Weg sein mag, Herr Gutemut hat nur ein Ziel vor Augen. Er möchte seine Zukunft mit einem Wunsch beginnen, den er schon viele Jahre mit sich herumträgt: Er möchte Busfahrer bei den städtischen Betrieben werden.
Die zum Krankentransport umgebauten Militärbusse hatte er in der Vergangenheit zu Genüge über Straßen und Feldwege geführt, beladen mit geschminkten Soldaten, sie sollten den Ernstfall simulieren. Es war lustig aber nicht ernst genug, um der Realität auch nur ein wenig entgegen zu kommen. Zu dieser Zeit spielte er schon mit dem Gedanken, die roten Stadtbusse, die durch allerlei bunte Reklame noch poppiger wirkten, einmal selbst als „Kapitän“ durch die Stadt lenken zu dürfen. Und so begibt er sich auf den Weg dorthin, wo die schönen Busse zu Hause sind.
Die Damen und Herren des Busbetriebes empfangen ihn mit offenen Armen und loben das Betriebsklima der Firma. Es folgt eine betriebsinterne Spezialausbildung, ein Vertrag wird geschlossen und im nächsten Augenblick sitzt Herr Gutemut in einem der schönen Stadtbusse. Alle Mitfahrer freuen sich mit ihm und wünschen ihm eine gute Fahrt. Stolz und überglücklich nimmt Herr Gutemut alles in sich auf. Er ist zufrieden, so hat er sich das Leben eines Busfahrers vorgestellt.
Die Sterne sind erloschen, nur Venus hat ihren lieblichen Glanz noch nicht verloren. Unaufhörlich weicht die Nacht dem Tag. Noch scheint die Zeit stillzustehen. Es ist 3.30 Uhr am Morgen. Im Osten kündet sich der neue Tag mit einem feurig roten Lächeln an. Es ist Eos, die ihren ganzen Charme dem Tagesanfang widmet. Mit feurigem Lächeln kündet sie ihr Kommen. Glutrot färbt sie den Horizont, als wollte sie ihn zum Schmelzen bringen. Immer drohender schiebt sich die rote Pracht in den Zenit, ein farbenprächtiges Schauspiel, enorm in seiner Größe. Kaum ein Mensch ist zu dieser Stunde auf der Straße, um sich dieses Naturschauspiel anzusehen. Gäbe es da nicht Herrn Gutemut in der Bäckergasse Nr.73 im zweiten Stock eines ganz normalen Mietshauses.
Er liegt noch geborgen in seinem weichen Bett und träumt von einem frostigen Dezembertag. Er ahnt noch nichts von den bevorstehenden Ereignissen des kommenden Tages. Für diesen Morgen hat er den Wecker um 3.30 Uhr gestellt; aber nicht um sich den faszinierenden Sonnenaufgang ansehen zu können, sondern weil das seine Zeit ist, sich auf seinen heutigen Arbeitstag vorzubereiten. Kaum hat er den ersten Ton dieses entsetzlichen Weckers wahrgenommen, so wünscht er ihn auch schon zum Teufel. Die wohlige Bettwärme möchte er jetzt nicht hergeben, so mitten in der Nacht. Aber das markdurchdringende Piepsen dieser Höllenmaschine erinnert ihn unaufhörlich an seine Pflichten, denn Herr Gutemut ist Busfahrer bei den städtischen Betrieben. Heute hat er Frühdienst. Das bedeutet, dass er um 4.30 Uhr im Betrieb sein muss, und dass er, um es genau zu sagen, um 12.21 Uhr Dienstschluss hat. Bei seiner Firma handelt es sich ausschließlich um einen Linien-Busbetrieb. Die Schicht der Fahrer wechselt alle sechs Tage von Früh- über Nachmittags-bis hin zur Spätschicht. Zwischen der Nachmittags-und Spätschicht ist noch eine geteilte Schicht eingebaut, das heißt, die Fahrer müssen morgens und nachmittags jeweils vier Stunden während der Hauptverkehrszeit ihren Dienst verrichten. Mit den eingebauten freien Tagen wiederholt sich der Rhythmus alle acht Wochen. Kaum hat Herr Gutemut ein Bein vor sein Bett gesetzt, da macht er sich schon die ersten Gedanken über seinen heutigen Dienst. Wie wird er heute verlaufen? Wird es wieder Ärger mit Fahrgästen geben? Ein ungutes Gefühl macht sich in seiner Magengegend bemerkbar. Es ist das Angstgefühl welches man verspürt, wenn man zu einer bestimmten Situation noch nicht die richtige Erfahrung gemacht hat. Aber an Erfahrungen fehlt es Herrn Gutemut nicht, denn er ist schon seit vielen Jahren bei dieser Firma tätig.
In der Regel genügt ihm eine Stunde, um sich anzuziehen und zu frühstücken. Dann setzt er sich in seinen Wagen und ist in zehn Minuten im Bus-Depot. Doch im Sommer steht er gern etwas früher auf, denn er zieht es vor, bei schönem Wetter zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Das ist dann ein Spaziergang von einer halben Stunde. Er schaut durch das Schlafzimmerfenster und bewundert das grandiose Schauspiel des Sonnenaufgangs. Es sind wohl wenige Menschen zu dieser Tageszeit schon auf den Beinen, die sich an diesem Naturschauspiel erfreuen können, denkt er. In dieser frühen Stunde entfaltet Eos ihre ganze Pracht. Heiß haucht sie ihren glühenden Atem gegen das noch jungfräuliche Weiß dahinziehender Wolken. Doch bald wird sich in ihnen die Glut des neuen Tages widerspiegeln. Ein farbenprächtiges Schauspiel, enorm in seiner Größe. Der Horizont glüht. Triumphierend strahlt Eos' Gesicht und sie erfreut sich ihrer Stärke, die Nacht schmilzt dahin.
Da steht er nun, der Mensch, und lässt das Unbeschreibliche in sich hineinströmen. Ihm wird bewusst, wie klein, unscheinbar und folgsam er sein muss, um vor dieser Naturgewalt bestehen zu können. Eine Sommernacht, voll der lieblichen Reize, die Gefühle erwachen und Ängste vergessen lassen. So steht er da und staunt. Er spürt die Gewaltigkeit dieses Schauspiels, das doch bald der Vergangenheit angehören wird. Herr Gutemut schaut zur Uhr. Er hat nicht bemerkt, dass es schon so spät geworden ist. Während er sich im Bad zurechtmacht, sich ankleidet und im noch nicht ganz wachen Zustand seinen Gedanken nachgeht, weht ihm schon aus der Küche der Kaffee-Duft entgegen. Ein kurzes Gespräch mit seiner Frau über den heutigen Tagesablauf beendet das erste Frühstück. Es wird allerhöchste Zeit, dass er sich auf den Weg begibt. Er schwingt seine Diensttasche über die Schulter, die Frau bekommt zum Abschied einen kleinen Kuss, und frohen Mutes begibt er sich auf den Weg.
An dieser Stelle könnte eine persönliche Beschreibung von Herrn Gutemut folgen, aber ich will versuchen, anhand der Erlebnisse und den daraus resultierenden Reaktionen, das Wesen von Herrn Gutemut darzustellen. Gutemut soll nur ein Beispiel für viele Busfahrer, vielleicht auch für andere Kollegen und Kolleginnen in anderen Dienstleistungsbetrieben, sein und steht für: gutmütig, gutgläubig, geduldig, genügsam, großherzig, gedankenvoll, gesprächig, gütig und vielleicht auch etwas galant.
Wie schon erwähnt, heute hat er Frühdienst auf der Linie 37. Von einer Endstation zur anderen sind das vierzig Kilometer. Der Wagenabstand beträgt zwanzig Minuten, die Fahrzeit etwa eineinhalb Stunden. Es handelt sich dabei um einen Linienbus, der auf seiner Fahrt durch sechs, mehr oder weniger große, Orte kommt. Auf dieser Strecke befinden sich sechzig Haltestellen, die alle bedient werden müssen. Das sind in einer Schicht drei Runden, wie es in der Umgangssprache der Busfahrer heißt. Auf der Strecke begegnen sich die Fahrzeuge etwa alle zwanzig Minuten. Ansonsten hat ein Fahrer während seines Dienstes keinen weiteren Kontakt zu anderen Kollegen. Die neuesten Nachrichten werden immer vor oder nach einer Schicht ausgetauscht, das hängt aber wiederum davon ab, wie viel Zeit sich der einzelne Kollege nimmt, Konversation zu pflegen. Damit sinkt oder steigt dann das Betriebsklima im Fahrerlager. Begleiten wir nun Herrn Gutemut auf seinem Weg zum Bus-Depot.
Dieser frühe Spaziergang bedeutet ihm sehr viel. Er ist für ihn ein kleiner Ausgleich für die viele Sitzerei. In der dünnen, feuchtwarmen Sommerluft, die alle Gerüche und Düfte der Vorstadtgärten durch die Straßen trägt, fühlt sich unser Spaziergänger wohl. Er könnte vergessen, dass er jetzt zu seiner Arbeitsstelle unterwegs ist. In tiefen Atemzügen nimmt er die würzige Morgenluft in sich auf. Ein leichter Schauer des Wohlbehagens durchläuft seinen Körper. Seine Sinne sind wach und geschärft und versuchen die einzelnen Duftfarben zu unterscheiden.
Herr Gutemut liebt alle schönen Dinge, welche die Sinne reizen und das Gemüt erfreuen. Auch der Geist darf dabei nicht zu kurz kommen. Aus Angst, er könne bei der stupiden Fahrerei im Laufe der Jahre geistig abstumpfen, sucht er die Entspannung im musischen, geistigen Bereich. Oft wurde er schon deswegen von seinen Kollegen verspottet, weil er sich mit manch hochgeistigen Dingen befasst, von denen sie nichts verstehen oder verstehen wollen. So hat sich Gutemut im Laufe der Jahre zu einem kleinen Außenseiter im Kollegenkreis entwickelt.
Im Grunde ist es unserem Frühaufsteher egal, zu welcher Jahreszeit er seinen allmorgendlichen Spaziergang macht, sofern das Wetter ihm keinen Streich spielt. Für ihn hat jede Jahreszeit ihren besonderen Reiz, zum Beispiel der Frühling, mit seinen noch kühlen Nächten, wo nur vereinzelt das Erwachen der Natur zu beobachten ist. Kleine, feine Schwaden lauer, kühler Luft künden vom nahenden Frühling. Kleine Diamanten glitzern überall an Pflanzen und Zäunen. Statt von der Sonne vernichtet zu werden, müsste jeder Tautropfen herunterfallen und einen Ton erzeugen. Man versuche sich ein melodisches Klimpern aus tausend und mehr Tautropfen vorzustellen. Wie sie springen und kullern und sich dabei gegenseitig anstoßen. Jeder Tropfen scheint dem anderen zu gleichen, doch sind sie so unterschiedlich. Dicke und dünne, große und kleine Tropfen tanzen umher. In hohen, hellen Tönen komponiert die Natur ihre Symphonie. Von lauer Frühlingsluft emporgehoben schwebt sie dahin und lockt den Sommer aus seinem Schlaf.
Der Herbst, mit seinen bunten Blättern, erinnert unseren Kollegen an seine Kindheit. Es machte Spaß, das welke Laub mit den Füßen zu Durchfurchen. Doch am Morgen ist es noch nass vom Tau der Nacht und klebt nur langweilig auf dem Wege. Melancholisch und mächtig stehen die alten Kastanienbäume. Dürres Geäst hängt meterlang herab wie lange, dünne Bindfäden. Unzählige kleine Wassertröpfchen haben sich versammelt, um wie eine Perlenkette eins zu werden. Sie kleben an der Schnur aus Zweigen aufgereiht, bewacht von einst lebendem Grün, heute welk und dem Verfall nahe wie der Tau, bangend um den Wind, der sie herunterschütten und alles Ersonnene hinweg tragen wird. Für eine kurze Zeit wird alles in Vergessenheit geraten; doch sind beide dazu bestimmt, wieder neues Leben an das Licht zu bringen.
Modriger Duft steigt empor, verstärkt an den Tod erinnernd. Doch nichts ist vergänglich. Alles ist dazu bestimmt, wieder in einer anderen Form ans Licht zu steigen. Vielleicht nicht mehr dem Sinn und Zweck entsprechend, zu dem es einst bestimmt war. Doch es trägt in seiner neuen Art dazu bei, dass einst da gewesenes wieder neu leben und existieren kann. Doch leider wird das Alte unter den jetzigen Voraussetzungen seine Erfahrungen nicht weitergeben können. Das Neue muss sich allein entwickeln und bewähren, nach seiner alten Art ständig suchen und versuchen danach zu leben. Nur der Außenstehende wird die Verwandlung beobachten können. Wie könnte diese Verwandlung aussehen? Entsteht in ihr etwas Besseres als was zuvor gewesen ist, so wird man davon begeistert sein und es preisen und loben. Ach, wie schlecht war doch das Vergangene! Doch zu seiner Zeit war man davon begeistert und überzeugt. Es war das Vollkommene. Neue Ideen und Verbesserungsvorschläge wurden damals zurückgewiesen. Man war fest davon überzeugt etwas zu besitzen, das vollkommen war. Es wurde gehütet wie der eigene Augapfel. Wird aber das neue Bild nach der Verwandlung den jetzigen Erwartungen widersprechen, so wird man es zunächst verabscheuen und verachten, dann wird man sich an das Alte erinnern und Sagen und Legenden erzählen. Die Alten werden sich in die Vergangenheit einhüllen wie in einen schwarzen Mantel. Kein neuer Lichtschein soll sie treffen können. Was sie erlebt und erreicht haben war das Beste, was bisher da gewesen ist. Es hatte sich in den damaligen Verhältnissen bestens bewährt. Aber die Zeit ist fortgeschritten, die Verhältnisse und die Relationen haben sich geändert. Noch immer sitzt man auf den alten Stühlen und hütet die alten Geheimnisse, die längst keine mehr sind und schon der Vergangenheit angehören. Doch sind sie etwas Heiliges und müssen strengstens bewacht werden.
Zur gleichen Zeit in fremden Straßen und fremden Häusern. Menschen, die zur Arbeit müssen. Auch sie haben sich aus ihren warmen Betten erhoben und rüsten sich für den folgenden Arbeitstag, so auch Herr Sorgenfrei. Sein Tagesablauf ist auf die Sekunde genau geplant, das verlangt schon der Beruf von ihm. Hektisch und aufgeregt beginnt sein neuer Tag. Die größte Sorge bereitet ihm jeden Morgen das Busfahren. Aufgeregt schaut er in immer kürzeren Abständen zur Uhr und kann das Herannahen des Busses kaum erwarten. An der Haltestelle fragt er andere, auch auf den Bus wartende Menschen, ob der Bus noch nicht zu sehen ist. Doch das ist nur eine Floskel, um auf sich aufmerksam zu machen und um später eventuell einen Ansprechpartner zu haben, wenn es darum geht, sich über den Busfahrer vermeintlich äußern zu müssen. Ein Thema wird sich schon von selbst finden.
Noch immer ist Herr Gutemut auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle. Er erinnert sich an einen Wintermorgen auf dem gleichen Weg. Weiße Flocken waren herabgeschwebt und hatten die Nacht erhellt. Gleißendes Mondlicht spiegelte sich auf der erstarrten Fläche. Millionenfach strahlte es zurück und hinterließ seine Spuren am nächtlichen Firmament. Kaltes Kristall breitete seinen Mantel über die Erde. Eisiger Frost hatte es vereint und seine Oberfläche hart werden lassen. Bei jedem Schritt brach die dünne Decke mit einem leisen Knirschen ein. Gutemut hinterließ die erste Spur auf dem weißen Teppich. Dicke Wattebäusche zieren Pfosten und Zäune. Unter dem weißen Mantel wartet das Korn auf den Frühling, es wird wachsen und sich vermehren. Wege zur Sonne, doch fern waren Frühling und Sommer.
In einem Vorgarten blühte gelb der Jasmin. Dann der warme Sommermorgen. Es roch noch nach grünem Gras, das am Vorabend gemäht worden war.
An dieser Stelle muss berichtet werden, dass Herr Gutemut in einem Dorf auf dem Lande herangewachsen ist. Er wurde kein Landwirt, aber das Dorfleben hatte ihn geprägt. So ist er mit der Natur wahrscheinlich mehr verbunden als es die meisten Stadtmenschen sind. Und dieser Duft
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3776-1
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