Cover

Prolog

Ich könnte jetzt die Augen schließen und liegen bleiben, könnte vom Zuhören ins Hinhören und vom Hinhören ins Hören schalten, die Stimmen und die Melodie der Umgebung als leises Lied, nicht als Summen wahrnehmen.

Natürlich könnte ich wo anders sein, wo anders, wo es anderen befremdlich, gefährlich, ja klar, vielleicht auch lebensmüde wäre. Auf einem mit Textil bezogenen Gestell, einem Sofa, einer Daunendecke um die Schultern, vielleicht am Abgrund einer Klippe, umfangen, gestreichelt vom Wind, der mich mit seinen langen, schwerelosen Armen in die Tiefe oder aber auch in den Anfang vom Ende locken möchte. Vielleicht aber auch ungeschmückt, textillos, nackt, in der Nacht, im goldenen Glitzern der Straßenbeleuchtung, auf dem nassen Asphalt des herbstlichen Regens.

Wo fühlt es sich sicher an? Wo ist Wärme, Trost, vielleicht auch Liebe oder der rote Wein, der ja auch alles kann, wenn es die Hülle, von Kopf bis Zeh, topfeben mit Wehmut füllt und die Seele in wiegenden Wässern gefangen hält. Manchmal braucht es auch kein Besoffensein, um am nächsten Tag mit einem Kater im Herzen zu erwachen. Bestimmt, ganz sicher, reicht auch ein Schlag einer Faust, metaphorisch, natürlich. Ein Schlag also, von einer unsichtbaren Faust, von einer Faust, die man sich selber aus vielen mikroskopischen, hässlichen, schwarzen Kopfdämonen erzeugt hat, wie ein Geschwür, das triefender, lechzender und klebender nicht sein kann.  Ganz sicher haben viele eine Faust aus winzigkleinen Kopfdämonen, ja, auch du und er und sie und ich – wir alle – haben dieses Geschwür, das auf dem Herzen lastet, welches noch mit den Weinresten der letzten, einsamen Nacht zu kämpfen hat.

Aber zurück zum hier, zurück zum jetzt. Zurück zum Leichtsein, nicht zum Schwersein. Zurück zu dem Moment, in dem die Augen zu sind, in dem die Lichter vor den geschlossenen Lidern tanzen, zurück zu dem Moment, in dem auch Schwarz auf einmal bunt sein kann, in dem auch Motoren, also Autoreifen und hupen und schimpfen und schreien auf einmal Musik sein kann. In dem alles sein kann, wie es einfach ist – ohne mikroskopische, hässliche, schwarze Kopfdämonen.

Warum immer schwermachen? Warum nicht abheben, loslassen, echt sein? Warum nicht dieses lechzende, triefende Schwarz niederprügeln? Warum nicht Sonne und Farbe und Leben und Mut pflanzen, wachsen  und gedeihen lassen? Kann es sein, dass Menschen Leid zum Leben brauchen? Selbstmitleid, Mitleid, ein erfüllendes Leid, vielleicht eines, welches den Gegenpol noch schöner und befriedigender macht, als ein Leid, das nur hasst und weint und schreit. Natürlich, ja klar! Ein ganz einfaches Leid, das irgendwie die stumme Seele beschwipst und auf einmal aufblühen lässt, ein Leid, wie falsche Steine, die auf dem richtigen Weg liegen. Dieses Leid aus Steinen, nach dem man mit der selbst herangezüchteten Kopfdämonenfaust greifen, und einfach aus dem Weg schmeißen kann……………. um dann das Glashaus, in dem man saß, zu zerstören.

Und dann bist du, er und sie oder ich sowieso wieder am Anfang jener Wunschgeschichte. Auf dem Sofa oder nackt auf dem verregneten Asphalt. Die Geschichte, die sich nur in dem Moment veränderte, in dem wir unser einfaches Leid, mit unserer selbst kreierten Faust aufhoben und beseitigen wollten und nicht darauf achteten, dass wir bereits im Glashaus sitzen und mit Steinen werfen.

Also liegen wir in Scherben. Ja, ganz richtig, in den Scherben unseres Glashauses, zerbrochen von uns selbst, weil wir das einfache Leid loshaben wollten, weil wir nicht kämpfen, sondern einfach wegwerfen und frei und stark und glücklich sein wollten und weil wir, weil wir uns für so schwach empfinden, nicht den Skandal, das Drama und die Gefahr erkannten. Weil unser von Rotwein beschwipstes Herz zu blind war, zu erkennen oder um zu sehen oder zu fühlen, was wir lostreten und auslösen, wofür wir selber verantwortlich sein würden, verantwortlich sind oder schon immer waren.

Und genau deshalb könnte ich jetzt die Augen schließen und liegen bleiben, könnte vom Zuhören ins Hinhören und vom Hinhören ins Hören schalten, Stimmen und die Melodie der Umgebung als leises Lied, nicht als Summen wahrnehmen. Genau deshalb könnte ich wo anders sein, nicht hier, in meinem Bett, zu zweit und doch irgendwie allein, sondern wo anders, wo es anderen befremdlich, gefährlich, ja klar, vielleicht auch lebensmüde wäre. Vielleicht aber auch einfach ungeschmückt, textillos, nackt, in der Nacht, im goldenen Glitzern der Straßenbeleuchtung, auf dem nassen Asphalt des herbstlichen Regens.

Ohne Scherben, denn ich behalte lieber das einfache Leid, die falschen Steine, lasse sie liegen und sein und springe über sie oder gehe um sie herum, lasse lieber mein Glashaus sein, wie es war, wie es ist und immer sein sollte.

Eins

Oktober 2010 - 5 Jahre zuvor

 

Es ist Mitternacht. Auf die Sekunde. Meine Augen verfolgen den Zeiger schon seit einer Stunde. Nein. Seit einer Stunde und 37 Sekunden. Meine Hand zittert. Ich habe sie schon die ganze Zeit um das Telefon geschlungen. Ich halte es so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Ich flehe etwas an, woran ich nicht glaube, dass das Telefon gleich läutet. Bitte, bitte! Bitte, ruf an! Die Tränen fließen mir über das Gesicht. Seit einer Stunde und 48 Sekunden. Und es hört einfach nicht auf. Ich bin so traurig. So rastlos. Ich fühle mich so einsam, so verloren. Dieser Schmerz in mir, er droht mich zu ersticken. Ein Loch.
Meine Eltern gehen gerade schlafen. Ich höre noch meinen Vater die Toilette verlassen. Ich erkenne es am Klang seiner Schritte. Das leise Schleifen der rauen Socken auf dem Boden, weil er zu träge ist die Füße zu heben. Und weil er ein kaputtes Knie hat. Dann höre ich, wie er das Schlafzimmer betritt und, die Tür schließt.
Ich sitze alleine in meinem Zimmer. Ein Nachtlicht brennt. Das Telefon klingelt. Ich schluchze in den Hörer.
"Hi", meldet sich die warme Stimme am anderen Ende des Hörers. Es ist Lejlas Stimme. Ich liebe Lejlas Stimme. Ich liebe Lejla. Ich liebe Lejla, weil sie immer für mich da ist. Weil sie immer weiß, wann es mir schlecht geht. Sie weiß es einfach.
"H-hi", wimmere ich und bemühe mich um Fassung.
"Eulchen. Was ist los?"
Lejla ist 43. Sie ist wunderschön. Eine wunderschöne Frau! Sie hat etwas von Poccahontas. Sie ist stark und einfühlsam. Lejla ist der einzige Halt, den ich habe. Obwohl ich Lejla noch nie persönlich getroffen habe, weil ich sie aus dem Internet kenne, gibt es keinen Menschen, der mir jemals mehr bedeutet hat, als sie.
"Ich weiß es nicht", schluchze ich leise und wische mir die Tränen von den Wangen, "Ich weiß es wirklich nicht." Gleichzeitig weiß ich, dass das nicht stimmt, aber ich kann noch nicht darüber reden. Ich erinnere mich an den Schultag. Ich hebe meine Hand vor die Augen und sehe das angetrocknete Blut an meinem Handgelenk, das ich vergessen habe abzuwaschen. Die Wunde tut immer noch schrecklich weh, aber zumindest hat das höllische Brennen aufgehört. Stattdessen pocht der dumpfe Schmerz in meiner Handfläche. Aber wenn ich das jetzt aussprechen würde – die Bilder, den Vorfall, die Erinnerungen, die Schmerzen – dann würde ich nur noch mehr in Tränen ausbrechen.
Schweigen. Lejla schweigt viel. Das heißt nicht, dass sie aufgelegt hat. Das habe ich vor zwei Jahren immer gedacht. Wenn es auf einmal still war am anderen Ende, dann habe ich immer wieder nachgefragt, ob sie noch da ist und sie antwortete immer wieder mit "Ja". Lejla ist immer da. War sie schon immer. Lejla ist der einzige Lichtblick, voll mit Liebe und Hoffnung und Zuneigung, in dieser endlosen, dunklen, kalten Welt. Lejla und ich schaffen es über Stunden miteinander zu telefonieren. Wir reden über alles.
Lejla kennt mich bis in mein Knochenmark. Es gibt nichts, was sie nicht über mich weiß.
"Wenn ich jetzt bei dir wäre, würde ich dich in meinen Armen wiegen und du könntest dich geborgen fühlen", sagt sie schließlich leise in das Telefon, nachdem sie mir eine Weile beim Weinen zugehört hat. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich beiße auf meine Unterlippe, weil mich die Tränen wieder zu überwältigen drohen.
"Ich liebe dich", keuche ich ins Telefon, bevor mir die Stimme versagt. Ich liebe Lejla wirklich. Nicht so, wie man es im ersten Moment versteht. Ich liebe Lejla, weil sie immer da ist. Ich liebe Lejla, weil sie ehrlich ist, weil sie direkt ist. Weil sie meinen Kummer, den Schmerz, diese verdammten Qualen, die ich beinahe jede Nacht habe und an denen ich zu ersticken drohe, immer wieder beim Namen nennen kann. Sie weiß, warum ich traurig bin. Sie redet mit mir, fragt mich aus, tadelt mich oder tröstet mich und irgendwann wird mir klar, warum ich traurig bin, warum ich mich so leer und einsam und schmerzerfüllt fühle. Lejla kennt mich besser, als ich mich selbst.
Ich liebe sie, weil ich mich fallen lassen kann. Weil ich sein kann, wie ich bin, weil ich keine Angst zu haben brauche, was ich ihr sage. Deshalb sage ich jetzt, mit einem unterdrückten Schluchzen: "Was würdest du tun, wenn ich aus dem Fenster springen würde?"
Sie zögert keine Sekunde mit ihrer Antwort: "Ich würde unten stehen und dich auffangen."
"Wärest du traurig, wenn ich... tot wäre?" Ein kurzes, leises Lachen. Emotionslos. "Ich war auch traurig, als mein Goldfisch gestorben ist."
Obwohl mich ihre Antwort in der ersten Sekunde etwas überrascht und dann ein wenig traurig macht, muss ich lächeln. Lejla ist immer ehrlich zu mir. Indirekt meint sie mit ihrer Antwort nämlich, dass sie generell nah am Wasser gebaut war... und vielleicht auch, dass ich keine dummen Fragen stellen soll. Sie weiß immer ganz genau wann sie was in welchem Moment sagen muss. Sie spielt mit ihren Worten. Und manchmal auch mit mir. Das weiß ich, aber das ist okay – eben weil ich es weiß.
"Du wirst dir nichts antun." Sie sagt es mit einer Bestimmtheit, der ich mich nicht zu widersprechen traue. Diese Bestimmtheit in ihrer Stimme kenne ich seit dem ersten Telefonat. Seit dem ersten Mal, als sie mich mitten in der Nacht anrief und schimpfte, weil ich meine Nummer im Internet weitergegeben hatte. Sie hat fast gebrüllt, so wütend war sie: "Wie kommst du überhaupt auf diese naive Idee, deine Nummer im Internet zu verschicken? Wenn du meine Tochter wärst...", dann hatte sie aufgebracht gestöhnt.
Sie hat nämlich damals im Chat kein einziges Mal reagiert, wenn ich ihr geschrieben habe. Irgendwann meinte sie mit einer knappen, kühlen Nachricht an mich: "Denkst du wirklich ich bin so blöd und kaufe dir ab, dass du ein 14-jähriges Mädchen bist...............? Hör auf mir zu schreiben, sonst sperr ich dich...."
Aus kindlicher Angst heraus habe ich dann einem Administrator dieses Chats eine private Nachricht geschrieben, in der ich ihn bat mich anzurufen, um dann Lejla zu schreiben und zu bestätigen, dass ich wirklich ein 14-jähriges Mädchen bin.
Das hat er gemacht. Auch von ihm durfte ich mir eine Predigt über die Gefahren im Internet anhören. Aber dann hat er Lejla geschrieben und sie hat mich angerufen. Und geschimpft.
Meine Zimmertür wird aufgerissen. Ich erschrecke so sehr, dass mir das Telefon beinahe aus der Hand fällt. Mein Vater. Mein Erzeuger. Er steht da in der Tür, eine einzige Unterhose, die seinen jämmerlichen, nutzlosen Schwanz bedeckt.
Ich drücke instinktiv das Telefon auf stumm, damit Lejla die Diskussion zwischen mir und ihm gleich nicht mitbekommt. Er ist betrunken. Ich weiß es. Ich sehe es in seinen Augen. Er ist jeden Abend betrunken. Jeden Abend trägt er sieben Bier in seinem Bauch. Heute sind es 12. Ich habe die leeren Flaschen auf dem kleinen Kühlschrank gezählt.
"Es ist ein Uhr nachts. Leg das verdammte Telefon aus der Hand!"
Ich habe Angst vor ihm. Ich habe immer Angst vor ihm, wenn er aggressiv wird. Er hat mich noch nie geschlagen. Trotzdem habe ich Angst vor ihm. Das Zittern, das tief aus meinem Inneren herrührt, verrät es mir.
"Ja, gleich", sage ich, "Ich will mich nur noch verabschieden."
"Sofort!"
"Bitte", flehe ich, "Wirklich nur kurz..."
Ich kann nicht auflegen, ohne mich von Lejla zu verabschieden. Sie wird mir ärgerlich sein. Er stampft in mein Zimmer, reißt mir das Telefon aus der Hand. "Wenn ich sage, du sollst auflegen, dann legst du auf!" Das Telefon fliegt so nah an meinem Kopf vorbei, dass ich den Luftzug spüre und donnert an die Wand hinter mir.
Es zerspringt in tausend Stücke. Ich rühre mich keinen Millimeter, weil ich vor ihm keine Schwäche zeigen will. Eine Sekunde zu lange sieht er mir in die nassen Augen und ich sehe für einen Bruchteil einer Sekunde fast so etwas wie ein Bereuen in seinen Augen aufblitzen, aber dann dreht er sich um, knallt die Tür so fest hinter sich zu, dass ein Holzsplitter wegfliegt, und lässt mich sitzen. Ich zittere am ganzen Körper. Nach meiner Schockstarre, in der ich zwei Minuten und 54 Sekunden an die Tür starre, als stünde er noch vor mir, fange ich an die Splitter des Telefons in meinem Bett zu suchen und auf meinen Nachttisch zu legen. Lejla in kleinen Stücken. Dann verkrieche ich mich in meiner Decke und weine mich in den Schlaf.

 

Zwei

Dezember 2015 - heute

 

Mira nahm alle ihre letzten Kräfte zusammen. Noch eine Runde. Bis zum Supermarkt, dann mache ich Pause.
Sie hatte sich fest vorgenommen, heute joggen zu gehen. Sie musste sich auspowern. Sie musste fliehen. Sie musste fliehen! Fliehen vor etwas, wovor man nicht fliehen konnte. Nämlich vor sich selbst. Sie floh vor der aufkeimenden Leere, die sie seit Tagen immer wieder einholte und verschluckte, wie ein erbarmungsloses Monster. Sie verstand es einfach nicht. Das letzte Mal hatte sie diese Leere vor zwei Jahren gespürt. Mira war die letzten zwei Jahre so glücklich. Nun gut, zumindest zufrieden mit meinem Leben. Sie hat ihre Ausbildung angefangen, war von Zuhause ausgezogen und wohnte nun in einer hübschen Provinz. Eine Stunde entfernt von ihren Eltern. Weg von der grauen Stadt, weg von der Kälte, die von den Menschen ausging, weg von der Anonymität und der Unfreundlichkeit. Sie mietete sich eine billige, hübsche Zweizimmerwohnung in der Altstadt, die gerade mehr als überfüllt war wegen dem Weihnachtsmarkt. Sie verstand sich mit ihren Kollegen und ihren Mitschülern. Es gab kaum irgendetwas, worüber sie in ihrem Leben klagen durfte und trotzdem überfiel sie vor einigen Tagen auf einmal wieder diese Leere, die sie vor langer Zeit bekämpft hatte.
Lejla gab es schon lange nicht mehr. Sie hatte sich einfach nicht mehr gemeldet und da Mira weder ihre Telefonnummer noch ihre Adresse hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr E-Mails zu schreiben und zu hoffen, dass sie sie las. Es war eine Art Tagebuch mit Hoffnungsschimmer. Dem Schimmer Hoffnung, dass Lejla die Mails wenigstens las, wenn sie schon nichts mehr von sich hören ließ. Und dann, nach einem Jahr hatte sich Lejla dann mal wieder gemeldet und sie fingen sporadischen Mailkontakt an, aber es war lange nicht mehr wie früher. Obwohl Mira sie immer im Hinterkopf hatte, so wie man zum Beispiel auch Eltern oder die enge Familie "im Hinterkopf" hat, wenn sie nicht mehr wirklich da war, nicht greifbar. Mira fühlte sich manchmal richtig aufgeschmissen, seit es Lejla nicht mehr wirklich gab. Seit sie nicht mehr jede Woche anrief oder alle paar Tage schrieb. Seit sie nicht mehr ihren Kopf oder ihre Gefühle waschen konnte.
Mit heißem Atem bog Mira um eine Ecke und lief nun bergauf. Die Kälte biss sich in ihre Lunge, ließ sie in Eis gefrieren. Auf einmal packte sie so ein Schmerz in der Brust, dass sie anhalten musste. Er zog sich in ihre Ohren hinauf bis in die Schläfen und auf einmal wurde ihr schwarz vor den Augen. Blind tastete sie nach einer Laternenstange und hielt sich fest, weil sie wusste, dass sie vielleicht gleich das Bewusstsein verlieren würde. Das erste Mal in ihrem Leben war sie dankbar um Laternenstangen. Wenige Sekunden später gaben ihre Beine nach und sie spürte den kalten Asphalt unter sich. Ihr Kreislauf hatte sich wohl verabschiedet. Hatte keine Lust mit ihr vor ihren eigenen Dämonen zu fliehen. Verständlich.
Mira zitterte, fühlte sich wie Pudding. Ihr Kopf bebte, die Lunge brannte. Super. Selbst zum Joggen bin ich wohl zu blöd.
Sie hielt sich immer noch mit einer Hand an der kalten Laternenstange fest. Die dünne Jacke klebte an ihrem Rücken. Strähnen hingen in ihrem Gesicht. Sie wollte sie wegwischen, aber sie traute sich nicht, die Laterne loszulassen. Mit der anderen Hand stützte sie sich am kalten, feuchten Asphalt ab. Wenn sie mit einer Hand loslassen würde, würde es sie sofort hinlegen. In ihren Ohren rauschte es.
"Hallo?" Eine Stimme. Sie war irgendwo hinter ihr. Sie hörte alles, als wäre sie unter Wasser. Alles sah so unwirklich aus. So verschwommen. Mira war einfach schlecht.
"Brauchst du Hilfe?" Es war eine Frauenstimme. Sie war ganz nah an Mira dran. Mira ließ kraftlos ihren Kopf hängen, konnte aber aus den Augenwinkeln erkennen, dass die Frau sich zu ihr hockte. Sie legte eine Hand auf Miras Schulter.
"Können wir dir helfen?"
Wieder ihre Stimme. Mira schluckte den Schmerz aus ihrem Hals und wisperte: "Nein... mir geht es gut." Sie wusste selber, wie jämmerlich das klang. Jeder Trottel hätte gesehen, dass es ihr nicht gut ging. Aber sie wollte keine Hilfe. Sie wollte keine Aufmerksamkeit. Mira fühlte sich einfach so schwach, aber wenn sie noch ein paar Minuten hier sitzen bleiben würde, würde es ihr bestimmt bald besser gehen.
Unerwartet spürte sie zwei Hände an ihren Schultern. Zwei große, starke Hände, die so warm waren, dass sie die Wärme durch ihre dünne Jacke hindurch spürte. Irgendjemand musste hinter ihr hocken.
"Was sollen wir mit ihr machen?", fragte die Frau an die Person hinter Mira gerichtet. Kurzes Schweigen, dann hörte sie eine Stimme dicht an ihrem Ohr: "Wie heißt du?" Es war eine Männerstimme. Eine sehr angenehme, vertraute Stimme, wie sie feststellte.
"Mira."
Ihr war es peinlich, wie schwach und brüchig ihre Stimme klang, als läge sie im Sterben. So schlecht ging es ihr dabei gar nicht. Es war bloß ihr Kreislauf, der verschwunden war. War das tatsächlich so schlimm?
"Ist dir etwas passiert?", fragte er und nahm Mira die Haare aus dem Gesicht.
"Nein", antwortete sie mit einem sachten Kopfschütteln. Sie krallte ihre Finger fester um die Laterne, da sie bei der Bewegung der Schwindel überfiel.
"Bist du gestürzt?", fragte die Frau.
"Nein!......Nein. Mein Kreislauf."
"Warst du laufen?", fragte sie.
Mira nickte vorsichtig.
"Wo wohnst du denn?", fragte der Mann.
"Ich... in der Altstadt."
"Sollen wir sie nach Hause fahren?", fragte die Frau an den Mann gerichtet. Mira traute sich, ihren Kopf ein wenig in die Richtung zu bewegen, wo sie die Frauenstimme ausmachte, dabei entdeckte sie einen roten Kinderwagen. Glaube ich zumindest. Mira musste sofort wieder die Augen zu machen. Ihr wurde kotzübel.
"Bist du dort alleine?", fragte der Mann. Mira spürte die Wärme seiner Hände immer noch durch ihre dünne Jacke hindurch und nickte auf seine Frage.
Sie wusste nicht warum, aber sie wusste, dass der Mann und die Frau sich gerade ratlos ansahen.
"Ist dir kalt?", fragte er schließlich. Er musste bemerkt haben, dass Mira zitterte. Sie dachte, es käme nur von innen, dieses Zittern. Mira nickte, dann hörte sie, wie er sich aus seiner Jacke schälte und sie ihr um die Schultern legte. Ihr wurde sofort viel wärmer und sie war ihm unsagbar dankbar für diese Wärme.
"Sollen wir sie vielleicht hinlegen?", fragte die Frau. Der Mann hinter Mira sah sich um. Er nickte der Frau zu.
"Ich lege dich jetzt hin, okay?" Er ging so behutsam mit ihr um, dass es ihr im Herzen stach. Sie verstand einfach nicht, warum die Fremden ihr halfen. Warum sie so vorsichtig und fürsorglich mit ihr umgingen. Sie war ein fremdes, verschwitztes, nach Schweiß stinkendes Mädchen. Der Mann zog die dicke Jacke von Miras Schulter und legte sie auf den Boden, dann legte er Mira sanft auf seine Jacke.
"Ich glaube, wir sollten den Notarzt rufen", meinte die Frau schließlich und Mira konnte endlich kurz ihr Gesicht sehen. Sie würde es nie wieder erkennen. Es war ein Bruchteil einer Sekunde und das Einzige, was ihr in Erinnerungen blieb war der Ausdruck in ihren Augen. Sie war unsicher. Sie wartete auf die Zustimmung des Mannes. Ob es ihr Ehemann war? Gut möglich, in Kombination mit dem Kinderwagen und der Art, wie vertraut sie miteinander sprachen. Der Mann strich Mira wieder einige Strähnen aus dem Gesicht, legte ihr eine Hand auf den Arm. Auf einmal stiegen Mira die Tränen in die Augen.
"Wenn ich jetzt bei dir wäre, würde ich dich in meinen Armen wiegen..."
Warum? Warum kam ihr ausgerechnet jetzt ihre Stimme ins Gedächtnis? Und warum ... um Himmels Willen ... fühlte sie sich gerade im Moment so geborgen? Mira konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals ein Mensch so fest gehalten hätte wie dieser fremde, gesichtslose Mann, der gerade hinter ihr hockte.
Ihr lief eine Träne über die eiskalte Wange. Sie fühlte sich heiß an, wie Lava. Der Mann nahm ihr wieder einige Strähnen aus dem Gesicht und in dem Moment befahl Mira sich, nicht zu weinen. Auf gar keinen Fall. Der Notarzt traf schneller ein, als erwartet. Der Mann half Mira vom Boden auf und sehr bald fand sie sich im Krankenwagen wider.

Mira kam um 22:30 Uhr Zuhause an. Das Krankenhaus hatte sie nach 3 Stunden wieder gehen lassen, nachdem sich ihr Kreislauf stabilisiert hatte. Sie hatte nicht mehr viel gemacht. Sich ausgezogen und ins Bett gelegt und schon war eingeschlafen. Als am nächsten Morgen ihr Wecker um halb 6 klingelte, und sie im Bad ihr T-Shirt auszog, fiel ihr auf, dass noch so komische EKG-Teile an ihrem Körper klebten. Müde und etwas verwirrt riss sie die runden Teile ab und fluchte über den leisen Schmerz in aller Herrgottsfrühe. Auf ihrer Hand prangte ein atemberaubend schöner Fleck, der in allen Farben schimmerte.
Scheiß Infusion!
Vorsichtig strich sie sich über die Hand und verzog das Gesicht bei dem Schmerz. Ihre komplette rechte Hand fühlte sich an wie eine einzige Prellung. Während Mira sich für die Arbeit fertig machte und sich beim Zähneputzen im Spiegel betrachtete, fiel ihr auf, dass sie viel fitter aussah, als sie sich fühlte. Sie war weder außergewöhnlich blass, noch hatte sie Ringe unter den Augen. Wenn sie ihre Haare kämmen würde, würde sie aussehen wie neu geboren.
Na ja. Fast.
Gestern hatte Mira noch kurz überlegt, ob sie es heute überhaupt schaffen würde zur Arbeit zu gehen. Allerdings gab es nichts an ihrem Befinden auszusetzen. Sie war ein wenig schlapp. Die Hand tat ein wenig weh, aber sonst war alles okay. Mira kämmte sich die Haare und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen, da fiel ihr etwas ins Auge. Sie ging näher an den Spiegel heran und erkannte eine fette Krustenschicht an ihrem Ohrläppchen.
Puh. Sie war gestern so benebelt gewesen, dass sie kaum Erinnerungen an Details hatte, aber sie wagte sich zu erinnern, dass ihr eine Krankenschwester im Krankenhaus ins Ohrläppchen geschnitten hätte. Warum eigentlich? Blutzucker? Angewidert riss Mira zwei Feuchttücher aus dem Behälter und versuchte sich die Kruste vom Ohr zu wischen, was ihr nicht ohne wenig Schmerzen gelang. Es fing erneut an zu bluten.
Es war ein winzig kleines Loch, das dort unten ihr Ohrläppchen verzierte, aber es floss Blut, als hätte man ihr ein Ohrring ausgerissen. Fluchend nahm sie Wattepads und drückte sie sich an die blutende Stelle. Drückte und wartete, bis es aufhörte. Himmel. Mira ist in ihrem Leben noch nie so zerstochen worden, wie am gestrigen Abend. Auch die Infusion war die erste ihres Lebens - und durfte auch gerne die Letzte gewesen sein. Wenn sie sich daran erinnerte, wie sie permanent diesen Schlauch in ihrer Hand gefühlt hatte, wurde ihr schlecht. Seufzend packte sie die blutigen Pads in die Mülltonne, zog sich an und eilte zum Bus, um rechtzeitig in der Arbeit anzukommen. 

 

Drei

Die ganze Fahrt im Bus dachte sie über gestern Abend nach. Sie dachte an die Menschen, die ihr geholfen hatten, aber vor allem dachte sie an den Mann. Sie spürte immer noch den Druck seiner Hände an ihren Schultern, erinnerte sich noch haargenau an seine warme, freundliche Stimme. Sie klang fest und überdacht. Als wüsste er ganz genau, was er fragen und sagen sollte. Dann versuchte sie sich an das Gesicht der Frau zu erinnern, aber es fiel ihr verdammt schwer. Sie könnten beide einfach an ihr vorbeilaufen und sie würde die beiden nicht wiedererkennen. Schon gar nicht den Mann, den sie ja nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte.
Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte sie rote Haare. Oder orange... vielleicht auch blond? Auf jeden Fall kurz. Glaubte sie. Und sie trug eine Brille, wenn sie nicht alles täuschte. Vielleicht aber auch nicht. Sie hatte auf jeden Fall große Augen. Daran erinnerte sie sich ganz sicher. Und blau müssen sie gewesen sein. Mira glaubte auch, dass sie ganz hübsch war. Und jung. Vielleicht Anfang 30. Genau konnte sie es bei bestem Willen nicht sagen. Ob sie sich diesen Kinderwagen in ihren Augenwinkeln nur eingebildet hatte oder nicht, das wusste sie auch nicht mehr. Das alles kam ihr vor wie ein schwacher, verschwommener Traum, der ihr immer mehr zu entgleisen drohte. Gleichzeitig hatte Mira ein schlechtes Gewissen. Sie hätte sich so gerne bei den beiden bedankt. Für ihre Hilfe, für diese Fürsorge. Für ihre Freundlichkeit und ... seufzend lehnte sie ihren Kopf an die Fensterscheibe.
Ob die beiden sie erkennen würden? Und würden sie dann auf Mira zugehen? Würden sie sie ansprechen? Der Bus hielt und Mira stieg aus. Sie atmete die frische Luft tief ein, als sie aus dem stickigen, warmen Bus trat, der jeden Morgen so überfüllt war, dass Körperkontakt nicht zu vermeiden war.
Ihre Arbeit lag nur zwei Minuten von der Bushaltestelle entfernt. Das war praktisch, vor allem jetzt im Winter. Mira war schon immer ein verfrorener Mensch. Sie mochte es nicht, sich in der Kälte draußen aufzuhalten. Sie war mehr der Typ, der sich zu dieser Jahreszeit auf der Couch in einer Decke verkroch und las oder heißen Kaffee trank. Kakao wäre natürlich das Optimum an solchen Wintertagen, aber trotzdem nicht ihr Fall.
"Chéri!" Ein Arm flog um Miras Schultern und zog sie näher heran. Sie nahm den vertrauten Duft ihrer besten Freundin wahr und umarmte sie mit einem Lächeln.
"Seit wann bist du so früh in der Arbeit?", fragte Mira neckend.
Kate grinste ihr Julia Roberts-Lächeln und schlang einen Arm um Miras Taille.
"Ich bin noch nicht in der Arbeit."
Sie hielt Mira auf, bevor sie durch die Tür trat und zog eine Zigarette aus ihrer Jackentasche. Mira lachte leise und steckte ihre Hände in die Jackentasche. Kate war eine sehr schöne Frau. Wie gesagt, ein Julia Roberts-Lächeln mit perlweißen Zähnen. Ihre kurzen, wasserstoffblonden Haare kämmte sie vielleicht einmal kurz durch und trotzdem schmeichelten sie jeden Tag ihrem schmalen Gesicht mit dem markanten Kinn und den weichen Gesichtszügen. Sie hatte grün-braune Augen. Das Braun war hell und sah aus, wie flüssiges Gold.
Das Grün war blühend warm. Es waren keine kalten Katzenaugen, sondern warme, die an den schönsten Sommer erinnerten. Mira beneidete Kate für viele Dinge. Alles an ihr schien so perfekt. Das Gesicht, der Körper, selbst das kleine Muttermal an ihrem Ohrläppchen und mir ihrem Leben wollte Mira gar nicht erst anfangen! Kate war eine Frau, bei der man niemals auf die Idee käme, dass sie im Leben scheitern könnte.
"Und?", fragte Kate, während sie den Rauch in die Luft blies, "Gut geschlafen? Du siehst müde aus."
Mira strich sich eine Strähne hinter das Ohr und senkte den Blick. Müde war ein passendes Wort. Sie hätte sich jetzt gleich auf den Boden legen und in dieser Kälte einschlafen können. Da sie allerdings nichts Sinnvolles erwidern konnte, hob sie ihre kunterbunte Hand. Kate hob eine perfekt geschwungene Augenbraue, blies den Rauch in den Himmel empor und nahm Miras Hand, um sie sich genauer anzusehen. Ihre Finger waren, im Vergleich zu Miras, eiskalt.
"Hingst du an einem Schlauch, oder was?" Kate ließ vorsichtig Miras Hand wieder los und musterte ihr Gesicht eingehend, als suche sie nach anderen bunten Flecken.
"Ja. Gestern. Blut abgenommen und Infusion."
"Und warum, in Gottes Namen?" Sie zog ihre Augenbrauen zusammen, drückte die Zigarette aus und warf sie in den Mülleimer. Ein Kollege lief an ihnen vorbei und die Beiden nickten ihm lächelnd zu. Das Lächeln verschwand aus ihren Gesichtern so schnell, wie eine Seifenblase zerplatzte. Nicht, weil es ein falsches Lächeln war, sondern lediglich weil weder Kate noch Mira eines übrig hatten. Mira war müde und gerädert und Kate war prinzipiell nicht der berüchtigte Lächler.

"Ich hatte 'nen Kreislaufkollaps", murmelte Mira in ihren Schal hinein und spürte, wie ihre Wangen wegen der Kälte langsam rot anliefen.
"Oh Himmel", rief Kate, griff nach Miras Arm und zog sie mit ins Gebäude. Wie immer zog sie Mira erst ins Pub, um einen Kaffee zu holen.
"Wie hast du das schon wieder hinbekommen?", fragte sie, während sie eine Tasse unter den Automaten stellte.
"Ich habe keine Ahnung. Ernsthaft. Ich war joggen und auf einmal hat sich mein Kreislauf verabschiedet."
"Ja, und dann? Bist du ins Krankenhaus gekrochen, oder wie?"
"Nein", lachte Mira leise, schüttelte den Kopf und erinnerte sich wieder an die Stimme des Mannes, "Zwei Leute haben mich gefunden... sie haben den Notarzt gerufen."
Kates Augenbrauen flogen in die Höhe. Sie nahm ihren Kaffee und lehnte sich an die Küchentheke. Im Pub, das eigentlich einfach nur eine kleine Cafeteria in der Firma sein sollte, war es in der Früh meistens leer. Ein guter Ort, um persönliche Gespräche zu führen.
"Mensch, da hast du aber wirklich Glück gehabt! Wer dich alles hätte finden können! Oder was alles hätte passieren können!" Es klang beinahe so, als sei sie wütend auf Mira, aber in Wirklichkeit war viel eher die Sorge, die da gerade aus ihr sprach. Kate war 28, und sie kannten sich erst, seit Mira ihre Ausbildung hier angefangen hatte. Also ungefähr seit zwei Jahren. Die beiden hatten sich von Anfang an wortlos verstanden. Als könnten sie Gedanken lesen. Wenn sie Mittwochs beim Brezenfrühstück an einem Tisch saßen, das ihr Chef jede Woche anbot, und den anderen Leuten beim Reden zuhörten, dann warfen sie sich immer zur selben Zeit einen Blick zu, der meistens dasselbe bedeutete: "Wie blöd ist der denn? " oder "Oh mein Gott, wir sind im Irrenhaus gelandet". Dann grinsten sie sich durch die Augen vielsagend an, wobei sie stark darauf achteten, dass sie ihre schmunzelnden Lippen in der Kaffeetasse versteckten oder mit einem Räuspern verschwinden ließen. Irgendwann war Mira Kate dann einfach nach draußen gefolgt, als sie eine kleine Rauchersünde einlegen wollte. Seitdem lachten sie über dieselben Sachen, dachten immer an die gleichen Dinge und warfen sich einen einzigen Blick zu, um zu wissen, was gerade in einem vorging.
"Ja. Ich weiß", sagte Mira und öffnete ihre Jacke, "Aber diese zwei Leute waren unheimlich freundlich. Sie haben mich... ich weiß es nicht. Sie haben sich richtig um mich gekümmert."
"Warum siehst du so traurig aus?" Kate kniff Mira sanft in die Wange und fing ihren Blick auf.
"Ich bin einfach mit den Notärzten mitgegangen. Ich hätte mich so gerne bei ihnen bedankt, aber ich war so... neben der Spur... ich meine, die beiden könnten an mir vorbei laufen und ich würde sie beim besten Willen nicht wiedererkennen."
Kate runzelte nachdenklich die Stirn und trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Selbst dabei sah sie unschlagbar gut aus. Wie sie die Lippen an den Tassenrand legte und mit ihren feingliedrigen, langen Fingern die Tasse hielt. Mira senkte den Blick und betrachtete einen Fleck auf dem Boden, der schon seit einer Ewigkeit dort klebte.
"Ich glaube, ehrlich gesagt, dass du dir darüber gar keine Gedanken machen musst. Du lernst manchmal Menschen kennen und machst Begegnungen, bei denen wir alle meistens nur mit dem Kopf schütteln können. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass du ihnen über den Weg läufst und dann werden sie dich bestimmt darauf ansprechen. Sie wollen ja sicher auch wissen, wie es dir geht."
Mira sah ihr prüfend in die Augen und beobachtete sie dabei, wie sie an ihrem Kaffee schlürfte.
"Theoretisch hast du ja gar nicht so Unrecht, aber..."
"Und Theopraktisch habe ich Recht. Punkt."
Mira schmunzelte und irgendwie nahm Kate ihr eine Last von den Schultern. Sie fühlte sich etwas beruhigter. Außerdem musste sie Kate Recht geben, sie lernte Menschen immer auf sehr besondere Art und Weisen kennen und meistens entstanden dann entweder flüchtige, aber wichtige Momente oder eben sogar so etwas wie Freundschaft.
"Also, Schätzchen. Ich muss jetzt arbeiten. Machst du Pause?"
"Klar. Ich hole dich zu Mittag ab. Gehen wir dann essen?"
"Dann gehen wir essen."
Kate zwinkerte Mira zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie im Pub stehen. Mira sah ihr noch lange hinterher und musste in sich hineinlächeln. Sie wusste nicht genau warum, aber Kate brachte sie oft zum Lächeln. Ohne Grund. Kate war einfach ein wundervoller Mensch. Ehrlich, direkt, offen, fröhlich, dynamisch, authentisch, empathisch. Mira hätte sie gegen niemanden auf der Welt eingetauscht.

Mira kam die Zeit vor wie Kaugummi. Nein, wirklich. Man zieht und zieht und zieht und es scheint einfach kein Ende zu haben. Das war der Grund, weshalb sie die letzten Minuten nur noch auf die Uhr starrte und ihren Kugelschreiber um Punkt 12 Uhr fallenließ und vom Bürostuhl aufsprang. Sie schnappte sich ihre Jacke, den Geldbeutel und rannte zu Kate in die Abteilung.
Sie wusste nicht genau, wieso sie es so eilig hatte. Vielleicht war es die Flucht vor dem allgegenwärtigen Bösen... Mira grinste über diesen ironischen Gedanken, schüttelte den Kopf und machte einen Schritt langsamer. Als sie um die Ecke bog, lief sie versehentlich in jemanden hinein. Ihr wurde schwindelig. So besonders gut war sie dann wohl doch nicht beieinander, wie sie heute früh noch geglaubt hatte.
"Wow. Tut mir leid, ich..."
Als Mira die Frau sah, in die sie hinein gelaufen war, blieb ihr beinahe die Luft weg. Sie war so umwerfend schön, dass sie dachte in irgendeinem billigen Hollywood-Film zu sein. Mira kannte sie nicht. Was tat sie hier? Wen hatte sie besucht? Die Frau lächelte Mira herzlich an, sagte: "Alles okay", und ging an ihr vorbei ihren Weg weiter. Mira sah in dem Moment Kate in der Tür ihres Büros stehen und sie angrinsen. Mira sah Kate an, hob eine Braue und ging auf sie zu.
"War die gerade bei dir?", fragte Mira leise, während Kate weiter nur blöd grinste und sich ihre Jacke anzog und die Tasche um die Schulter hing.
"Ganz nett, nicht wahr?", stellte sie eine Gegenfrage, aber der Unterton klang mehr als nur lüstern. Mira ignorierte das komische Ziehen der Eifersucht in ihrem Bauch. Kate sperrte die Bürotür ab, hakte sich bei Mira unter und sie verließen das Gebäude. Als sie aus der Tür in die Kälte traten, sagte Mira noch: "Du weißt schon, dass nett die kleine Schwester von Scheiße ist?"

 

Vier

Sie fuhren mit dem Bus ins nächste Café und bestellten sich dort etwas zum Essen. Kate hatte ihr die ganze Busfahrt über von irgendeiner Frau erzählt, die sie am Wochenende mit nach Hause geschleppt hatte. Kate war fast jedes Wochenende in München. Dort war die lesbische Szene einfach weiter ausgebreitet, als hier. Um genau zu sein, konnte man hier eigentlich fast komplett vergessen, als Lesbe irgendjemanden kennen zu lernen. Mira war zwar durch Zufall schon mehr Lesben über den Weg gelaufen als in München, aber hier lebte man das nicht ganz so offen aus. Kate war so ungefähr die einzige Lesbe, die Mira hier kannte. Sie war damals mit Kate mitgegangen, als sie den Postgang erledigen musste, damit sie das beim nächsten Mal selber machen konnte. Das war so ziemlich eines der ersten Aufgaben in Miras Ausbildung. Auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude kamen sie irgendwie auf das Thema Verhütung und Mira lachte, als sie von der Pille erzählte.
"Siehst du. Genau deshalb würde ich nie die Pille nehmen. Man wird fett und muss jeden Tag daran denken. Außerdem wäre das für mich sowieso die reinste Geldverschwendung."
Kate hatte Mira angesehen, hob eine Braue. Damals hatte Kate noch hüftlange Haare. Heute reichten sie ihr nur noch knapp unter das Kinn.
"Geldverschwendung? Ja. Für mich auch."
Mira hatte sie angesehen und den kleinen Wink sofort verstanden. Sie wusste nicht warum, aber sie hatte von Anfang an das Gefühl, dass Kate auf Frauen stand. Mira besaß eben einen sogenannten Gaydar.
"Ich gehe stark davon aus, dass du keinen Sex hast?", forderte Mira sie heraus.
"Doch, habe ich. Aber nicht mit Männern. Und du auch nicht." Dann hatte Kate ihr nur noch zugezwinkert und mit einem neuen Thema das Verwaltungsgebäude betreten.
"So, Chéri", Kate lächelte spitzbübisch, während sie an ihrem Spezi nippte und riss Mira aus ihren Gedanken, "Jetzt erzähl noch einmal genauer. Irgendwas beschäftigt dich doch. Liegt das an deinem Kollaps von gestern?"
Mira sah ihr fest in die Augen und überlegte, woran sie immer wieder erkannte, wie es ihr ging. Selbst wenn Mira sich die größte Mühe gab, um ihre Gefühle zu verbergen - Kate sah immer hinter die Maske. Seufzend senkte Mira den Blick und richtete ihn auf die Cocktailkarte, die in der Mitte des Tisches stand.
"Ich weiß nicht. Das ist komplett absurd..."
Kate setzte das Glas ab und streckte den Arm aus, um nach Miras Hand zu greifen. Sie hielt sie fest und fing ihren Blick auf. Mira fiel es ausgesprochen schwer, ihrem Stand zu halten.
"Es ist wirklich... ach. Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube, ich bin einfach so aufgewühlt."
"Und warum?"
Sie drückte sanft Miras Hand, als Aufforderung, weiter zu erzählen. Bei Kate hatte Mira das Glück, dass sie sie in- und auswendig kannte. Sie wusste, wie rastlos Mira sich in letzter Zeit fühlte, wie einsam sie sich fühlte, obwohl es so viele Menschen gab, die sie gerne hatten und die ihr helfen würden. Aber Mira wusste auch, dass sie diese Hilfe nicht annehmen wollte, nicht annehmen konnte. Dass sie nicht die Lust und Energie hatte, mit irgendjemandem über sich zu reden. Und deshalb mochte sie Kate so unheimlich gerne. Denn Kate war einfach da. Sie verlangte nicht von ihr, dass sie über sich erzählte. Sie drängte Mira nicht dazu. Sie wartete ab, bis Mira von sich aus Details preisgab und die würde Kate dann schon einteilen können.
"Dieser Mann... ich kann... ihn immer noch spüren."
Mira merkte, wie soe Gänsehaut bekam und erinnerte sich an den Druck seiner Hände, als er sie an den Schultern hielt. Wie er ihr die Strähnen aus dem Gesicht gestrichen hatte... Kate hob eine Braue. Sie sah verwirrt aus, nachdenklich. Miras Hand war eiskalt, obwohl ihre feuerheiß waren und Miras festhielt. Miras andere Hand nestelte in ihrem Schoß am Schal herum.
"Das musst du mir genauer erklären", bat sie.
Mira dachte nach. Versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Die Gefühle. Mira zögerte, irgendwie wurde ihre Zunge taub, "Du kennst meine halbe Lebensgeschichte. Als ich zehn war..."
"Ja. Ja, ja! Ich erinnere mich." In ihrem Blick lag eine große Sanftheit und sie streichelte Miras Hand. Damit wollte sie Mira zu verstehen geben, dass sie diese Geschichte kein zweites Mal erzählen musste. Diese Geschichte im Keller. Mit dem 15-jährigen Nachbarsjungen. Der Sex. Den Mira nie wollte. Mira schüttelte den Gedanken beiseite.
"Du weißt, dass sich mir alle Gedärme verkriechen, sobald mich ein Mann berührt."
"Ich weiß."
"Aber...", Mira konnte nicht weiter sprechen. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihr das erklären sollte. Sie konnte es sich ja selbst nicht erklären. Und schon gar nicht, warum sie das so aufbrachte. Warum sie das Gefühl hatte, dass deshalb die Welt untergehen müsse. Weshalb sie... ja, Angst hatte.
"Hey...", Kate stand von ihrem Stuhl auf und setzte sich neben Mira auf die Bank. Sie legte einen Arm um ihre Schulter.
"Man hat dir doch nichts angetan. Oder?!" Sie drehte Miras Kopf in ihre Richtung. Mira riss die Augen auf, sah Kate fest in das Gesicht und schüttelte entsetzt den Kopf: "Nein! Nein, oh Gott. Auf keinen Fall."
Kate schien erleichtert.
"Okay. Aber was ist dann das Problem?"
"Dieser Typ, der da hinter mir hockte. Weißt du, ich habe keine Ahnung, wie er aussieht. Aber ich erinnere mich an seine Stimme."
"Hat sie dich an ihn erinnert?" Kate zog die Brauen zusammen. Sie zog völlig falsche Schlüsse. Es waren keine negativen Gefühle, die dieser Mann in Mira geweckt hatte. Wieder schüttelte sie also den Kopf.
"Nein. Absolut nicht. Er klang so freundlich. Er hatte so eine warme, angenehme Stimme. Weißt du, was ich meine? Es ist wie... wie ein warmes Meer, völlig menschenleer, dem du den Rücken zudrehen kannst, und dich einfach fallen lassen willst." Mira war erschrocken über ihren Vergleich. Er war ein Mann! Über Kates Gesicht wich ein Lächeln und sie zog ihre Spezi über den Tisch, um noch einen Schluck zu trinken.
"Gut, ich würde sagen, du hast dich geborgen gefühlt. So hört sich das jedenfalls an."
Mira sah ihr in die Augen. Quatsch. Geborgenheit. Geborgenheit hat ihr Lejla geschenkt. Lejla war der einzige Mensch, der ihr hatte Geborgenheit schenken können. Allerdings erinnerte sie sich, wie sie gestern Abend ihre Stimme wieder im Gedächtnis hatte. Vielleicht hatte Kate ja doch Recht?
"Kann sein. Ich kann es nicht genau sagen. Aber es war nicht nur seine Stimme. Weißt du... wie er mit mir umgegangen ist! Wie er meinen Puls am Handgelenk und am Hals abgetastet hat, wie er nach meinem Bein getastet hat, meine Wange berührt hat. Er hat sich richtig um mich gesorgt. Er war so... behutsam", Mira spürte, wie ihr ein Kloß im Hals heran wuchs, "So ist noch nie in meinem Leben jemand mit mir umgegangen. Weißt du. Ich war total schutzlos. Man hätte alles mit mir machen können. Mich hätte jeder finden können."
Sie ignorierte diese lächerliche, peinliche und kindische Tatsache, dass sie nur deshalb so traurig war, weil sie sich wünschte, dass dieser Mann gestern Lejla gewesen wäre. Scheiße! Verschwinde aus meinem Kopf!
"Ja, Chéri. Ich glaube, du bist ein Glückspilz. Aber was ich nicht ganz verstehe... Du hast dich doch wohl gefühlt. Was genau wühlt dich dann gerade so auf?"
"Ich... er.." "Liegt es echt am Geschlecht?" Kate traf den Nagel auf den Kopf. Sie zog die Brauen in die Höhe, war beinahe amüsiert, als sie verstand. Mira sagte nichts, presste ihre Lippen aufeinander und zuckte die Schultern. Kate sah sie weiter an. Ihr Blick sagte alles. Und schließlich nickte Mira. Vielleicht war es tatsächlich das. Vielleicht hatte sie wirklich deshalb Angst, weil es ein Mann war. Weil ER ein Mann war und weil Mira nie im Leben gedacht hätte, dass ein Mann ihr jemals so ein großes Gefühl der Geborgenheit schenken könnte.
"Ja... ja, vielleicht liegt's am Geschlecht. Keine Ahnung. Ich meine... weißt du wie... seltsam das Gefühl ist... weißt du wie lange ich mich nach genau diesem Gefühl gesehnt habe, das er mir gestern Abend geschenkt hat?" Kate lachte leise in sich hinein und nahm Mira fest in den Arm. Ohne irgendein Wort. Mira spürte, wie stark ihr Herz hämmerte, während Kate sie so an sich drückte. Sie war aufgeregt. Sehr aufgeregt. Aber das war ihre eigene Schuld. Sie steigerte sich vielleicht auch einfach zu sehr in dieses Thema hinein. Sie musste runterkommen. Sie würde ihn vermutlich nie wiedersehen. Mira zählte bis zehn und versuchte sich zu beruhigen. Kate ließ sie los, lächelte sie an.
"Ich weiß. Ich bin ein Schubladendenker. Furchtbar", lachte Mira bitter und strich sich eine Strähne hinter das Ohr.
"Ich auch", zwinkerte Kate.
"Nein. Wirklich. Männer waren für mich immer irgendwelche Wesen... ich habe nie darüber nachgedacht, dass sie auch Gefühle haben könnten. Sie waren für mich immer wie so... Felsbrocken. Sie waren halt da. Aber bloß zum ficken. Mehr nicht."
"Hm. Gut. Das liegt wohl an deinen Erfahrungen. Dafür kann ich Inder nicht leiden. Die sind für mich auch alle gleich. Auch eine Erfahrung, die mich geprägt hat. Aber vielleicht ist das gut, dass er dich gefunden hat. Ich finde, jeder sollte die Chance bekommen, etwas an seinen Grundeinstellungen zu ändern. Es wäre ja langweilig, ein Leben lang mit denselben Ansichten zu leben."
Kate hatte Recht. Kate hatte immer Recht. Sie war nicht nur unglaublich hübsch. Sie war auch intelligent.

 

Fünf

Nach der Mittagspause verzogen sich die beiden wieder in ihre Abteilungen vor die Bildschirme. Beziehungsweise: Kate verzog sich an ihren Schreibtisch und steckte die Nase in einen großen Haufen Papiere, die eingekommen waren. Mira konnte den ganzen Tag kaum noch an etwas anderes denken, als an das, was Kate ihr gesagt hatte. Die komplette Konzentration auf die Arbeit war demnach auf dem Nullpunkt.
 Mira biss sich durch, so gut es ging. Nahm Telefonate entgegen und beendete sie mit zufriedenen Kunden, obwohl sie wenige Sekunden später schon gar nicht mehr wusste, worüber es in diesem Gespräch ging. Mira gab neue Datensätze ein, schrieb E-Mails, beantwortete wichtige Nachrichten und kümmerte sich um das schwarze Brett im Foyer. Mit allem, was sie tat, erzielte sie 100%-ige Leistung, war aber meistens nur halb dabei. Als sie um 17 Uhr dann endlich Feierabend machten, freute Mira sich eigentlich darüber, einfach in den Bus zu steigen und nach Hause zu fahren, aber Kate fing sie auf.
"Wohin so eilig?" Rief sie, noch bevor sie bei Mira angekommen war, und Mira drehte sich zu ihr um. Wartete, dass sie bei mir ankam.
"Feierabend? Nach Hause." Mira strich sich eine Strähne hinter das Ohr und zog ihren Schal weiter über die Nase.
"Planänderung. Feierabend - und ich lade dich ein. Was sagst du?"
"Oh. Sehr spontan."
"Ja. Sehr spontan. Und? Bist du dabei?"
"Worauf einladen?"
"Ich koche. Und du kommst mit und isst bei mir zu Abend", sie streichelte Mira sanft über den Arm, "Ein wenig Aufmunterung könntest du gut vertragen." Mira nahm ihre Berührung sehr bewusst wahr und sah ihr in die Augen. Sie wusste nicht warum, aber irgendwas in Kates Blick schien ihr etwas mitteilen zu wollen. Es lag mehr darin, als üblich. Mehr als nur Freundschaft. Mehr als... Mira presste die Lippen aufeinander, war hin und her gerissen. Nach kurzem Überlegen hatte sie schließlich eine Entscheidung getroffen.
"Ich glaube, ich sollte vorher noch einmal nach Hause." Kate schenkte ihr ein Lächeln. Eines ihrer Schönsten. Dieses sah man sehr selten. In ihren Augen lag Mira etwas völlig Unbekanntes. So hatte Kate sie noch nie angesehen. Kate hatte viele Emotionen. Ihr Gesicht war mehr als lebendig. Ihre Augenbrauen unterstrichen jedes Gefühl, das gerade in ihr vorging, ihre Augen sprachen mehr als tausend Worte. Manchmal hatte Mira das Gefühl, mehr mit ihrem Gesicht zu kommunizieren, als mit den Sätzen, die sie zu ihr sprach und Mira konnte gerade durchaus verstehen, wozu Kate sie aufforderte.
Sie verstand nur nicht, weshalb. Mira kannte Kate, wie gesagt, noch nicht besonders lange, aber dafür kannten sie sich verdammt gut. Mira wusste zum Beispiel, dass Kate eher zu älteren Frauen tendierte. Wie hatte sie einmal gesagt? "So ein bisschen Falten um die Augen und um den Mundwinkel sind schon ziemlich sexy, oder? Natürlich vögel ich nicht mit irgendwelchen Omas. Selbst ich habe da eine Schmerzgrenze."
"Wohl eher ein Verfallsdatum", hatte Mira darauf gemurmelt und Kate damit zum Lachen gebracht. Mira glaubte, Kates älteste Romanze war 41 gewesen. Eine wunderschöne Frau, die sie ihr einen Abend davor noch vorgestellt hatte. Aber Mira durfte nicht viel urteilen. Die älteste Frau, mit der sie selbst geschlafen hatte, war 38. Trotzdem: Was wollte Kate nun von ihr? Manchmal hatte Mira sogar das Gefühl gehabt, sie wolle ihr ganz deutlich mitteilen, dass Mira sich auf gar keinen Fall Hoffnungen machen sollte, weil sie ausschließlich auf ältere Frauen stand. Was sollte dann diese Einladung? Oder sendete Kate ihr gerade bloß ambivalente Zeichen? Fasste Mira ihre Einladung falsch auf?
"Dann komm." Sie streckte Mira ihre Hand entgegen. Nach kurzem Zögern legte sie ihre Hand in Kates und fuhren zu Mira nach Hause.

Mira war komplett durcheinander. Sie lief drei Mal in das Bad rein und wieder raus, um zu überprüfen, ob sie ihre Haarbürste und Zahnbürste dabei hatte. Sie schaute drei Mal in ihre Tasche, ob sie frische Unterwäsche eingepackt hatte und vier Mal kontrollierte sie ihren Geldbeutel, ob alles drinnen war. Kate beobachtete sie die ganze Zeit mit einem leisen Grinsen um den Mundwinkel, bis sie auf Mira zuging und Miras Hände in ihre nahm.
"So. Ist gut jetzt. Du bist nur für eine Nacht weg."
Mit rasendem Puls seufzte Mira und fuhr sich über das Gesicht. Wie konnte man nur so hektisch sein?
"Okay...okay." Mira sah sich noch einmal in der Wohnung um, warf sich die Tasche über die Schulter und verließ mit Kate die Wohnung.
Als sie bei Kate Zuhause ankamen, war es 19 Uhr und sie stellte sich direkt hinter den Herd, um zu kochen. Mira war noch nie vorher in Kates Wohnung gewesen. Sie hatten sich immer nur außerhalb der eigenen vier Wände verabredet. In Cafés, Bars, Kinos. Manchmal auch einfach zum Spazieren oder Eis essen.
Aber hier bei ihr Zuhause zu sitzen... irgendwie war das wieder etwas komplett anderes. Mira fühlte sich ihr viel Näher, viel persönlicher, viel verbundener. Sie hatte das Gefühl, gewissermaßen in ihre Seele zu blicken. Die Wohnung sagt so viel über einen Menschen aus. Kaum, dass man durch die Schwelle tritt, hat man eigentlich schon einen ganz persönlichen Bereich betreten. Der Duft. Bei Kate roch es einfach nach... Kate. Der Gang hatte einen zarten Duft von Lilien. Vielleicht bildete Mira sich das nur ein, vielleicht aber auch nicht. Aus dem Keller schlich ein sanfter Hauch von frisch gewaschener Wäsche. In ihrem Wohnzimmer roch es warm. Heimelig. Es war eine Mischung aus etwas Süßem und Fruchtigem. Überhaupt nicht penetrant. Viel mehr schmeichelnd und angenehm. Sie war ein ordentlicher Mensch. Legte viel Wert auf Details und sie mochte dunkles Eichenholz. Die meisten ihrer Möbel bestanden aus diesem Material. Mira stand an Kates Bücherregal und sah sich gerade ihre Bücher an. Wenn sie alle diese Bücher gelesen hatte, musste sie eine wahnsinnig gebildete Frau sein.
Eine halbe Stunde später half sie Kate beim Tisch decken. Sie legten ein weißes kleines Tuch in die Mitte des Tisches. Darauf stellten sie eine einfache, weiße Kerze und Kate drückte Mira ein Feuerzeug in die Hand. Sie sagte nichts zu ihr, lächelte sie nur kurz an und ging wieder in die Küche, um zu servieren. Mira wendete kurz das kleine schwarze Ding in ihrer Hand, dann zündete sie die Kerze an und legte das Feuerzeug auf das Fensterbrett. Sie wollte zu Kate in die Küche, um ihr beim Servieren zu helfen, aber sie schüttelte den Kopf, drückte Mira sanft am Rücken wieder raus zum Tisch und bat sie, sich zu setzen. Mira setzte sich. Als sich Kate ihr gegenüber setzte und das Besteck in die Hand nahm, sah sie Mira an.
"Was ist? Du bist so ruhig. Bist du nervös?" Sie sagte es mit einem Unterton, als gäbe es überhaupt keinen Grund dazu. Mira nahm ebenfalls das Besteck in die Hand, schaute in ihren Teller und schüttelte den Kopf.
"Was genau hast du da gekocht? Es riecht köstlich." Natürlich war Mira nervös. Sie war noch nie bei Kate Zuhause gewesen und die Kerze in der Mitte des Tisches machte es nicht gerade leicht für Mira, sich nichts einzubilden.
"Khao Pad Gai. Ich hoffe, du hast nichts gegen Garnelen und ein wenig Experimentalisch."
"Experimentalisch?", Mira lachte und betrachtete den Reis auf ihrem Teller. Sie konnte ungefähr alles darin finden. Von Obst bis Gemüse bis Tier. Garnelen. Und ein paar Hähnchenbruststreifen. Ananas, Apfel, Bohnen, Mais, Karotten. Es sah toll aus.
"Wenn es so gut schmeckt, wie es aussieht, dann fall ich vom Glauben ab."
"Von welchem Glauben?", scherzte Kate, nahm ihr Glas mit dem Rotwein und stieß mit Mira an, die erst zögerlich einen kleinen Schluck von dem süßen Rotwein trank das Glas dann wieder abstellte. "Ich muss dich enttäuschen, wenn du vorgehabt hast, mich abzufüllen. Ein Glas reicht bei mir nicht."
"Ich will dich nicht abfüllen." Kate nickte ihr zu, als Zeichen, dass sie es sich schmecken lassen soll und Mira steckte sich eine gehäufte Gabel in den Mund. Es schmeckte unglaublich!

Nach dem Essen und zwei Rotwein saßen sie mit vollen Bäuchen auf der Couch und redeten und redeten. Sie redeten wirklich über alles. Sie machten sich über einige komische neue Leute in ihrer Firma lustig oder über sich selbst. Als Mira merkte, dass ihr der Alkohol langsam aber sicher in den Kopf stieg, konnte sie sich nun wirklich über jede Kleinigkeit amüsieren.
"Mit zwölf Jahren hatte ich Monstertitten", sagte sie irgendwann und verzog das Gesicht, weil sie sich das Lachen verkneifen musste. Kate zog eine Braue in die Höhe und lachte: "Ich habe mir deine Brüste noch nie so genau angesehen, um darüber zu urteilen."
"Ich sage ja: mit zwölf. Nach meinen hundertundein Diäten sind sie geschrumpft."
"Selber Schuld." Kate lachte leise und kniff Mira versöhnlich in die Hüfte. Dann starrte sie ihr alles andere bescheiden auf die Brüste. Mira lief rot an. Sie konnte die Hitze in ihren Wangen spüren.
"Ich finde, sie haben eine perfekte Größe. Aber mal ehrlich, was haben eigentlich alle mit diesen Brüsten? Es sind doch einfach nur... Möpse." Kate versuchte ernst zu bleiben, aber schließlich entwich ihr ein "Pfft" und sie musste lachen.
"Nein. Keine Ahnung. Ich kann es dir nicht sagen", ging Mira in ihren Scherz mit ein. Sie hatte zwei Gläser Rotwein getrunken und jetzt klammerten ihre Finger um die dritte Runde. Sie war schon leicht angeheitert, wusste aber noch durchaus, was sie sagte. Kate nahm den letzten Schluck von ihrem Glas und stellte es auf dem Couchtisch ab. Dann zog sie die Beine auf die Couch und rückte näher an Mira heran. Ihre Knie berührten Miras Oberschenkel. Mira lehnte sich mit einem Seufzen in die Couch zurück. Sie merkte, dass Kate ihr die letzten Stunden immer ein wenig nähergekommen war, was ihr aber nicht viel ausmachte. Sie mochte es, wenn Kate sie berührte. Gerade konnte sie allerdings nicht einschätzen, was dieses komische Kribbeln in ihrem Bauch war. Miras Blick wanderte durch Kates Wohnung. Sie versuchte die kleinen Bilder an der Wand zu erkennen. Es waren Fotos. Von ihr. Und von ihrer Familie. Auf dem einen Bild durfte sie ungefähr neun Jahre alt sein. Der kleine Junge in ihren Armen ungefähr halb so alt wie sie. Ihr Bruder. Sie hatte ihn ein einziges Mal erwähnt, aber nie von ihm erzählt. Mira hatte nur einmal nachgefragt, aber Kate hatte nie eine konkrete Antwort auf Familienfragen gegeben, deshalb hatte Mira nach einiger Zeit aufgegeben. Irgendwann spürte Mira, dass Kate sie anstarrte.
Sie konnte ihren Blick spüren und sie fühlte mich nackt. Es war nicht das Gefühl von Scham oder Unbehagen. Es war viel mehr die Gewissheit, dass sie alles von ihr wusste, dass sie manchmal einfach ihre Gedanken lesen konnte.
"Hat dir schon einmal jemand gesagt, wie schön du aussiehst, wenn du beschwipst bist?" Ihre Stimme war so dicht an Miras Ohr, dass sie ihren Atem spüren konnte. Sie sagte es leise, aber in dieser Stille hörte es sich unnatürlich laut an und Mira hatte das Gefühl, dass sich ihr Magen verknotet. Ihr Herz machte einen unsicheren Satz und sie lachte leise in sich hinein. Beschwipst war gut. Sie war nicht mehr nur noch leicht angetrunken. Sie war an der Grenze einer Bewusstseinsstörung.
"Ja. Du. In genau diesem Moment", gab sie genauso leise zurück und sah sie an. Mira war verwundert über die Intimität, die in ihrer Stimme mitschwang. Kate lächelte ein schiefes Lächeln, bei dem Miras Herz höher schlug und im selben Moment dachte sie darüber nach, ob das okay war, was hier geschah. Sie konnte allerdings keinen rationalen Gedanken fassen. Ihr ging so viel durch den Kopf. Warum tat sie das? Wollte sie sich mit Kate nur trösten? Nur ablenken? Oder schlimmer: Sich selbst beweisen, dass sie ganz sicher nichts von Männern wollte? Oder waren das gerade echte Gefühle in ihr? Spielte ihr der Alkohol etwas vor? Oh Gott...
"Nein", flüsterte Kate und legte eine Hand auf Miras Knie. Die Wärme spürte sie durch ihre Jeans hindurch.
"Das ist mein Ernst. Du hast rote Wangen. Und deine Augen glitzern. Deine Lippen sind rot. Du siehst... fast ein wenig verrucht aus." Mira bemühte sich die Fassung zu bewahren. Die verlor sie nämlich gerade. Sie spürte, wie ihr heiß wurde. Richtig heiß. Kates Hand wanderte langsam Miras Bein nach oben, streichelte ihren Bauch und nahm ihr sanft das halbleere Weinglas aus der Hand. Sie stellte es neben ihres.
"Weißt du, was man mit roten Lippen macht?" Mira sah sie an. Es war ein flüchtiger Blick, aber sie konnte erkennen, dass Kate nicht einmal angetrunken war. Ihre Augen waren klar. Sie waren so klar! Sie wusste genau, was sie tat. Sie wusste genau, was sie sagte.
"Ich... ja", sagte Mira leise und hielt ihrem Blick stand. Er war voller Sex. Einfach nur Sex.
"Dann sag es mir."
"Ich weiß, was du mit roten Lippen machst." Ein ganz leises, kurzes Lachen, welches sie in sich hinein schluckte und die Augen schloss. Das Lächeln auf ihren Lippen aber blieb.
"Dann sag mir, was ich mit roten Lippen mache."
Sie öffnete die Augen. "Du wirst sie küssen."
"Ganz richtig." In dem Moment beugte sie sich zu Mira herüber, schloss ihre Hände um ihr Gesicht und legte ihre Lippen auf Miras. Es war ein wahnsinniges Gefühl. So wahnsinnig, dass Mira sich nicht sicher war, ob sie das Richtige tat. Als sie allerdings Kates Zunge in ihrem Mund spürte, schaltete sie ihren Kopf ab. Sie schaltete einfach ab, und ließ sich gehen. Es war ihr sowas von scheißegal, was richtig war und was nicht. Sie wollte einfach nur Kate. Mira stöhnte an ihren Lippen, als Kate anfing, mit ihren Händen unter ihre Bluse zu gleiten und ihre Haut berührte. Mira ließ mich von ihr verführen. Mira ließ zu, dass sie ihr von der Couch half und sie ins Schlafzimmer führte, ließ zu, dass sie ihr die Hose auszog und die Bluse aufknöpfte. Mira genoss jede einzelne ihrer Berührungen. Jede einzelne Fingerspitze, die ihre nackte Haut berührte, jeden Moment, an dem Kates Lippen ihren Hals liebkosten oder ihre Zunge Miras Dekolleté entlang fuhr. Und sie genoss vor allem den Moment, an dem sie mit ihrer Hand zwischen ihre Beine wanderte, und sie berührte. 

 

Sechs

Kate hatte Mira am nächsten Morgen mit in die Arbeit genommen. Sie benutzte eigentlich sehr selten ihr Auto. So sah es auch aus. Es war so sauber, dass Mira ihr eigenes Spiegelbild in dem schwarzen Lack erkennen konnte. Die Ledersitze hatten keinen einzigen Schmutzfleck. Es sah aus wie neu. Der Morgen war äußerst merkwürdig. Mira hatte an die Wand geblinzelt. Es war dunkel, aber das Licht der Straßenlaterne leuchtete durch die Fenster und hüllte das Schlafzimmer in ein seltsam orangenes Licht. Sie spürte Kates Körper dicht an ihrem. Ein ungewohntes, neues, aber sehr schönes Gefühl. Sie hatte sich in der Nacht sehr eng an Kate herangekuschelt. Irgendwann, während Mira tief und fest schlief und in ihren Träumen lebte, hatte Kate sie in den Arm genommen. Mira hatte sich, als sie dann wach wurde, zu ihr umgedreht und sah in ihr schönes Gesicht. Merkwürdig war es nicht, weil ihr erst heute Morgen klar wurde, dass sie mit ihrer besten Freundin geschlafen hatte. Merkwürdig war es, weil es sich so... normal und vertraut anfühlte. Als würde sie jeden Morgen so aufwachen, als würde sie jeden Abend so einschlafen, als hätten sie... jeden Tag Sex. Kate hatte gewusst, wo sie Mira berühren musste. Es war, als kannte sie ihren Körper blind, dabei hatte sie Mira noch nicht einmal im Bikini gesehen. Ihre Berührungen waren heiß und leidenschaftlich.
 "Du bist nachdenklich", stellte Kate auf dem Weg zur Arbeit fest. Mira hatte aus dem Fenster gestarrt, ohne wirklich etwas anzusehen.
"Hm?" Sie lächelte, fuhr über die Ampel und tippte Mira kurz mit einem Finger sanft an die Schläfe.
 "Du denkst über etwas nach. Was geht da oben vor?" Mira rieb sich die Stelle, wo Kate sie angetippt hatte und verfiel wieder ins Starren.
"Ich denke über gestern Abend nach."
"Bereust du es?", fragte sie.
 "Nein", antwortete Mira und runzelte die Stirn, "Du etwa?"
"Mit keiner Faser meines Körpers."
"Und mit irgendeiner Faser deiner Seele? Nein. Deines Verstands?" Mira sah sie an und vergaß für einen Moment das Atmen. Kate schielte kurz zu ihr herüber, dann richtete sie den Blick wieder auf die Straße. "Wieso sollte ich? Warum machst du dir Gedanken darüber?"
"Weil wir Freunde sind. Und ich dich als Freundin nicht verlieren will", gab Mira ehrlich zurück und sah wieder aus dem Fenster. Die Ampel schaltete auf Grün und sie fuhr weiter.
 "Wir bleiben Freunde. Du brauchst keine Angst haben, dass sich jetzt etwas verändert. Meinerseits, jedenfalls, ist alles noch beim Alten."
 Mira war erleichtert, andererseits konnte sie nicht sagen, ob es ihrerseits genauso aussah, denn sie dachte an ihren Körper. An ihre Küsse. An ihre Berührungen. Und sie war sich nicht sicher, ob sie genug hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie nicht mehr wollte. Mehr Sex. Mehr spüren. Ihre Hände an ihrem Körper, ihre Zunge in ihrem Mund oder zwischen ihren Beinen, ihren Duft einzuatmen, ihre nackte Haut an ihrer zu spüren. Bei dem Gedanken wurde Mira wieder ganz heiß und sie schüttelte den Kopf.
 "Hey", ihre Hand ließ den Schaltknüppel los und griff nach Miras. Sie drückte sie fest und ließ sie nicht los, "Hör auf, dir Gedanken zu machen. Ich habe dich noch genauso gern wie vorher. Weder mehr, noch weniger. Okay?" Mira sah auf ihre Hände, betrachtete den hübschen Ring an ihrem Zeigefinger. Dann sah Mira sie an und nickte.

"Kaffee?", fragte Kate, als sie das Gebäude betraten.
 "Cappuccino."
"Oh ja. Du und dein Cappuccino", sie grinste, als sie den Empfangsbereich betraten und Mira sah Melanie am Empfang sitzen. Melanie war ebenfalls eine Auszubildende. Sie war im ersten Lehrjahr und wenn Mira ehrlich war, wusste sie schon gar nicht mehr, wie sie sich angefreundet hatten. Sie war mindestens genau so ein Vollidiot wie Mira und war ungefähr einen Kopf kleiner und hatte einen Freund, der so groß war wie ein Schrank. Es sah herzzerreißend niedlich aus, wenn sie zu ihm hinauf sah.
"Miraaa", rief sie, als Melanie sie sah und breitete ihre Arme aus.
 "Mellyyy", erwiderte Mira mit demselben Strahlen im Gesicht, beugte sich und umarmte sie. Kate war stehen geblieben und lächelte. Sie wusste nicht, wie Melly und Kate zueinander standen. Kate und Melly kannten sich nicht sonderlich gut, aber sie waren sich recht sympathisch.
 "Kommst du mit? Wir holen uns einen Cappuccino."
"Kaffee", warf Kate ein.
 "Okay. ICH hole mir einen Cappuccino", grinste Mira. Melanie sah sich kurz um und legte einen Zettel weg, den sie geschrieben hatte.
 "Öhm. Klar. Ich brauch aber nichts."
"Egal. Deine Gesellschaft ist immer erwünscht", entgegnete Mira halb lachend und drehte sich wieder um. Seltsamerweise machte ihr Herz einen kleinen Satz, als sie Kate da stehen sah, obwohl sie genau wusste, dass sie dort stand. Sie war einfach so unglaublich schön. Sie hatte einen seltsamen Reiz an sich, der Mira vorher nie aufgefallen war. Sie wirkte irgendwie unnahbar. Jedenfalls auf Menschen, die sie nicht besonders gut kannten.
Kate schenkte ihr ein halbes Lächeln, es war aber voller Herzlichkeit und Mira erwiderte es verlegen.
 "Du hast voll die Ringe unter den Augen. Hast du nicht geschlafen?", fragte Melly, als die Drei den Pub betraten. Kate und Mira warfen sich einen kurzen, ertappten Blick zu.
"Ähm... doch... ich... hatte wohl nur einen sehr leichten Schlaf."
 Kate trat vor, um sich als Erste einen Kaffee zu machen.
 "Ahhh ja." Um Mellys Mindwinkel spielte ein Grinsen und sie zog beide Augenbrauen in die Höhe. Kate und Mira hatten eigentlich die halbe Nacht miteinander geschlafen.
"Dann solltest du dafür sorgen, dass du mal wieder besser schläfst. Diese Ringe stehen dir nicht." Mira konnte förmlich spüren, wie Melly ihr Lachen schluckte.
"Vielleicht hatte sie ja Sex", hörte Mira es auf einmal aus Kates Richtung und sie konnte nicht fassen, dass sie das gesagt hatte. Sie trat von der Kaffeemaschine weg und ließ Mira ihren Cappuccino machen. Sie sah Kate fassungslos an. Kate schenkte ihr ein Zwinkern.
"Ziemlich guten Sex", warf Melly ein, war aber überrascht, dass Kate so etwas sagte. Kein Mensch würde ahnen, dass sie so etwas sagte. Mira spürte, wie die beiden sie anstarrten und sie schielte zu ihnen herüber, presste die Lippen aufeinander, um nicht zu grinsen.
"Was?!"
"Ja, sag schon", drängte Melly und stupste Mira in die Seite.
"Ja, genau", sagte Kate mit einem leisen Lächeln um den Lippen, "Sag schon."
Mira wusste nicht, ob sie es sich nur einbildete, oder ob Melly auch aufgefallen war, dass Kate sich hocherotisch angehört hatte. Nervös zog sie ihre volle Tasse unter dem Automaten hervor und nahm einen Löffel, um den Cappuccino zu verrühren.
"Ja. Vielleicht. Vielleicht war der Sex...", sie schielte kurz zu Kate und verbiss sich ein Grinsen, "...ganz nett."
Mellys Brauen fuhren wieder in die Höhe, während Kate in schallendes Lachen ausbrach. Ein Glockenspiel. Als sie aus dem Pub gingen, versprach Mira Melly, sie in ihrer Pause abzuholen und als Kate und Mira die Treppen nach oben liefen, sagte Kate mit einem Zwinkern zu ihr, bevor sie in ihrer Abteilung verschwand: "Du weißt aber schon, dass Nett die kleine Schwester von Scheiße ist?."

Die kleine Schwester von Scheiße. Ganz sicher. Der Sex mit Kate war göttlich. Sie hatte noch nie zuvor besseren Sex gehabt. Sie war sowas von... in einer anderen Welt. Eigentlich war es überhaupt nicht ihre Art. One-Night-Stands. Insgesamt war sie in letzter Zeit mit den Gedanken bei allem anderen, als bei Sex. Sie hatte nicht das Bedürfnis danach gehabt. Weder danach, noch nach irgendeiner Beziehung. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, mit ihren Sorgen, ihrem Leben, dass sie keinen einzigen Gedanken daran verschwendete. Sie war so sehr damit beschäftigt, jemanden zu suchen, dem sie ihr Herz ausschütten konnte, so sehr damit beschäftigt, die Menschen in ihrer Umgebung zu analysieren und festzustellen, dass der Großteil aus Arschlöchern und schwanzgesteuerten Vollpfosten bestand. Sie hatte das Wesentliche aus den Augen verloren. Die Tatsache, dass es vielleicht Menschen gab, die ihr zu helfen versuchten. Menschen, die Gutes in ihr sahen und nicht das, was sie selbst in sich sah. Mira sah nämlich nichts weiter als Dreck. Sie empfand es nicht als wert, dass jemand um sie weinte - das war der Grund, weshalb sie sich damals doch nicht das Leben nahm. Sie fand es peinlich und abstoßend, dass jemand um sie weinen könnte. Sie konnte mit dem Gedanken nicht leben.
Nicht, weil sie Mitleid mit den Menschen hatte, die um sie trauern würden, sondern weil sie sich selber davor ekelte, wie man um sie trauern konnte. Sie empfand es nicht als wert, dass man Gedanken an sie verschwendete. Weder lebendig, noch tot. Man mochte es im ersten Moment nicht glauben, weil Mira auf andere Menschen selbstbewusst wirkte. Sie wusste durchaus, wie sie auf andere Menschen wirke. Zum einen Teil deshalb, weil sie es schon oft von Leuten gehört hatte und zum anderen Teil, weil sie gewisse Eigenschaften bewusst zur Schau setzte. Sei es der aufrechte Gang oder das offene, freundliche Lächeln, das sie für viele, eigentlich fast alle Menschen übrig hatte, die ihr entgegen kamen.
Sie wollte nicht eingebildet wirken und schon gar nicht arrogant. Sie wollte den Menschen bloß zeigen, dass sie keine Angst vor ihnen hatte. Und dass man keine Angst vor Freundlichkeit haben musste. Mira fand schon immer, dass die Welt viel zu kalt und trostlos ist. Nur weil 98 % der Menschheit mit einem Sieben-Tage-Regen-Gesicht herum lief, hieß es nicht, dass sie es genauso machen musste. Es machte so viel aus, Eine der wenigen 2 % zu sein, die sich bereit erklärten, einen Bus zu verpassen, um einer alten Dame über die Straße zu helfen oder einem kleinen Kind die Hand zu reichen, wenn es vom Roller gestürzt war und weinte. Sie verstand nicht, warum so viele Menschen mit offenen Augen, und doch irgendwie blind durch die Welt wanderten. Warum sie Jugendlichen, die einem Obdachlosen vor die Füße spuckten, keinen bösen Blick zuwarfen oder sie aufhielten, wenn sie ihm das Geld aus einem leeren Pappbecher stahlen. Genauso wenig verstand sie, warum eine Kassiererin so unfreundlich und schroff mit einer Seniorin umging, die Schwierigkeiten beim Zählen ihres Kleingeldes hatte. Warum kam ihr keiner zur Hilfe? Warum standen diese ganzen Menschen in der Schlange, verdrehten die Augen, stöhnten oder sahen genervt auf ihre Armbanduhr? Warum machten sie nicht einen einzigen kleinen Schritt auf die alte Frau zu und halfen ihr dabei, das Kleingeld zu zählen? Stattdessen blieben sie lieber stehen und murrten vor sich hin.
So jemand war sie nicht. So jemand wollte sie nie sein. Natürlich hatte Mira auch ihre schlechten Tage, an denen sie den Blick gesenkt hielt und keinem Menschen in die Augen sah, weil sie ihnen in dem Moment kein Lächeln hätte schenken können. Und wenn sie einem Menschen kein Lächeln schenken kann, dann sah sie ihn nicht an. Warum auch? Sie brauchte jemandem, der ihr entgegen kam, nicht genauso eine verzerrte, alltagsgestresste Maske zeigen, die er ebenfalls aufsetzte. Die Menschen machten so vieles grau und trüb, beschwerten sich darüber, kamen aber kein einziges Mal auf den Gedanken, dass sie die Welt besser machen konnten, in dem sie einfach mal aus ihrem kleinen, verkorksten Schneckenhäuschen schlüpften und sich ein wenig bemühten. Ein einziges Lächeln! Was war das schon? Es kostete kein bisschen Anstrengung, die Mundwinkel zu bewegen. Und wenn es nur ein Millimeter war. Es konnte so viel verändern! Wie oft lief ihr jemand über den Weg, bei dem sie das Gefühl hatte, ihm schweben dicke graue Wolken über dem Kopf. Aber kaum, dass sie ihr Lächeln sahen, konnte sie die Sonne durch die grauen Wolken locken. Es war nicht schwer. Wirklich! Sie hoffte ja nicht, dass heute auf morgen sich die ganze Welt veränderte und half, anstatt wegsah, wenn jemand überfallen wurde - wobei das auch zur Selbstverständlichkeit werden sollte - aber ein Lächeln einem alten oder jungen Menschen zu schenken, half genauso viel, wie einer Schwangeren schwere Einkaufstüten abzunehmen.
Es war einfach viel zu wenigen Menschen bewusst, was sie mit einer einzigen, klitzekleinen guten Tat anstellen konnten. Mira sah nicht ausschließlich das Schlechte in einem Menschen, auch, wenn man das im ersten Moment von ihr meinen sollte, wenn man ihre Geschichte kennt. Aber sie fand es absurd, alle Menschen zu hassen, weil ihr einer etwas Schlechtes angetan hatte. Es waren nicht alle Menschen gleich. Es war eine Tatsache, dass sie Männern von Grund auf misstraute. Natürlich. Sie konnte Freundschaften mit ihnen schließen, konnte sie in den Arm nehmen und mit einigen von ihnen sogar tiefsinnige Gespräche führen, aber in ihrem Hinterkopf läuteten immer die Alarmglocken.

-Neun Jahre zuvor

"Mira! Jetzt komm endlich rein. Es wird dunkel!"
Meine Mutter fuchtelte wütend mit den Händen am Fenster herum, als wäre ich ein Blindfisch. Mit einem Stöhnen rutschte ich noch einmal von der Rutsche und starrte in den Himmel. Er war orange und rosa. Wie eine Filmkulisse. Die Mücken schwirrten in Schwärmen auf ein- und derselben Stelle im schwachen Strahl der Abendsonne und sie sahen aus, wie kleine Feen. Ich würde mir noch zehn Minuten Zeit lassen, dann würde meine Mutter noch einmal rufen und dann würde ich nach oben gehen.
Der Innenhof war leer. Es war unüblich, dass kaum ein Kind draußen war, in den Sommerferien. Ich hatte bei meiner Freundin geklingelt, die im Nachbarshaus wohnte, aber sie war nicht Zuhause. Es war aber warm und schön draußen. Außerdem war es der vorletzte Tag der Ferien und ich wollte ihn nicht Zuhause im Zimmer verbringen.
Das Geräusch einer Tür riss mich aus den Gedanken und ich starrte zum Nachbarshaus. Es war Jakob. Jakob wohnte seit vier Jahren über der Wohnung meiner Freundin. Er war fünf Jahre älter als wir und ich konnte ihn einfach nicht einschätzen. Manchmal war er total nett und lustig, ein wenig brutal, aber nicht böse. Dann konnte er aber von einer Sekunde auf die Andere zum Arschloch mutieren. Dann schmiss er mit Sand nach uns oder schlug uns. Ich weiß nicht, ich glaube, er meinte es nur aus Spaß, wenn er uns an den Armen packte und auf dem Boden herum schleuderte, aber uns tat es weh. Wir trauten uns nur nie, irgendwas zu sagen. Wir wollten ja nicht wie Kleinkinder dastehen. Ich war immerhin schon zehn!
 Er kam mit seinem selbstsicheren Grinsen auf mich zu und blieb vor dem Sandkasten stehen. Ich wollte gerade wieder die Rutsche hinauf klettern, hielt aber inne, als er bei mir ankam und sah ihn misstrauisch an. Ich konnte nie einschätzen, wie er gerade drauf war. Letzte Woche hatte er mir einen Schuh ins Gesicht geworfen, als wir Hofkinder alle draußen zusammen Fußball spielten und ich den Ball in das Tor ließ. Er ist total ausgerastet.
 "Was machst du?", fragte ich ihn schließlich.
"Nichts. Mich langweilen. Hab' gesehen, dass du draußen bist und bin auch raus. Ist Sabi nicht da?" Jakob sah sich um. Sabi war meine Freundin. Die, die unter ihm wohnte.
Ich schüttelte den Kopf. "Die ist bei ihrer Tante."
 "Aha", machte er, "Und was machst du dann hier alleine?"
"Rutschen", antwortete ich monoton und sah ihn an, als wäre er blöd. Als würde er das nicht sehen.
 "Ich hab vorhin Videos angeschaut. Und gezockt."
"Ah", machte ich uninteressiert, sah ihn noch eine Weile prüfend an und kletterte dann die Rutsche hoch. Er stellte sich an den Fuß der Leiter, sah zu mir herauf und grinste. Ich hatte ein grünes Kleid mit einem Schmetterlingsmotiv an. Es war mein Lieblingskleid. Ich hatte meiner Mama gesagt, sie darf dieses Kleid niemals in meinem Leben weg schmeißen. Ich wollte es unbedingt über mein Bett hängen. So hatte ich das mal in einem Film gesehen. Da hatte das Mädchen auch ihre Lieblingsklamotten an die Wand gehangen.
"Was ist?", fragte ich, wollte aber am liebsten fragen, was er so blöd grinste.
 "Hübsche Unterhose", bemerkte er. Ich runzelte die Stirn und setzte mich, um zu rutschen. Er lief einmal um die Rutsche herum und fing mich unten auf. Dort riss er mir das Kleid in die Höhe. "Hey", quietschte ich erschrocken und sprang auf.
"Ich weiß eh, wie sie aussieht."
"Weißt du gar nicht."
"Und ob."
"
Ach ja?" Ich verschränkte die Arme vor der Brust und machte einen Schritt von ihm weg, "Welche Farbe hat sie dann?"
"Hellblau."
Ich zögerte und log: "Stimmt nicht."
Er lief auf mich zu, ich quiekte wieder und lief vor ihm weg. Es war wie fangen spielen und ich lachte, als ich in den Sand fiel und schrie, als er mich beinahe am Fuß packte. Ich stand allerdings rechtzeitig wieder auf und lief weiter. Er war langsamer als ich. Wir liefen die ganze Zeit nur um die Rutsche herum, mein Adrenalinpegel stieg, bis er mir auf einmal den Weg abschnitt und mich festhielt. Sehr fest. Er drehte meine Arme auf den Rücken und ich schrie auf: "Aua! Spinnst du? Lass mich los! Das tut weh!"
 Er ließ mich los, sah sich um, ob jemand mein Schreien bemerkt hatte und staubte sich dann seine Hose ab. Wir waren beide leicht aus der Puste.
"Soll ich dir mal zeigen, was ich für Videos angeschaut habe?", fragte er. Jakob war manchmal eigentlich ganz nützlich. Er erzählte viele Gruselgeschichten, wenn es dunkel wurde. Und einmal hatte er Sabi, Leonie und mich zu sich nach Hause eingeladen, um einen Horrorfilm zu schauen. Ich liebte Horrorfilme schon immer. Ich war kein schreckhaftes Kind.
"Ja", sagte ich also.
"Okay. Setzen wir uns auf die Tischtennisplatte?"
 Ich zuckte die Schultern und folgte ihm. Wir sprangen auf die Tischtennisplatte die in den Boden eingebaut war, und rückte näher an ihn heran, um in sein Handy schauen zu können. Was er mir zeigte, fand ich irgendwie verstörend. Ich wusste, was der Mann und die Frau auf diesem Video taten. Sie hatten Sex. Sabi und ich hatten uns auch schon einmal zusammen Hefte angeschaut, die ich bei Papa im Schlafzimmer gefunden hatte. Da waren wir acht. Wir haben sie immer wieder heimlich aus der Schublade geholt, sind in mein Zimmer gerannt und haben es durchgeblättert. Irgendwann, als Sabi bei mir übernachtete, fragte sie, ob wir mal ausprobieren wollen, was die da im Heft machen. Sabi und ich haben uns seitdem dann oft im Klo versteckt oder eingesperrt, um immer wieder diese Dinge, die da in den Heften drinnen waren, nachzumachen und irgendwie gefiel es uns beiden.
Es war mir also definitiv nicht neu, was er mir zeigte. Aber das Video, diese Bewegungen, dieses Stöhnen, nein, Schreien. Es war einfach verstörend.
Es war etwas anderes, als einfach nur Bilder zu sehen. Ich sah weg und starrte ihn an: "Das ist ja ekelig."
"Findest du? Warte, ich zeig dir was anderes." Er hielt mir sein Handy wieder hin und zeigte mir, wie ein Mann im Mund einer Frau kam. Ich verzog das Gesicht: "Sowas schaust du dir an, wenn du alleine bist?"
"Ja. Und dann hol' ich mir einen runter" Er grinste und steckte sein Handy wieder weg. "Bäh." Ich streckte die Zunge raus und rümpfte die Nase, ohne zu wissen, was er mit dem sich-einen-runterholen meinte. Ich hatte kaum bemerkt, dass es dunkel geworden war und sprang schließlich von der Tischtennisplatte.
"Ich muss jetzt hoch", sagte ich, dann fiel mir aber noch mein Roller ein, den ich in den Keller stellen musste. Meine Mutter wurde schnell wütend, wenn ich solche Sachen einfach im Hof liegen ließ, obwohl bei uns nie etwas geklaut wurde. Ich ging auf meinen Roller zu, den ich neben der Schaukel liegen gelassen hatte, und schob ihn zu meinem Eingang. Jakob folgte mir schweigsam. Er folgte mir bis in den Keller.
"Hast du eigentlich schon deine Tage?", fragte er. Ich drehte mich zu ihm um, als ich den Roller abgestellt hatte und zog meine Brauen in die Höhe.
"Deine Tage", wiederholte her, "Erdbeerwoche? Periode? Regel? Ob du da unten schon blutest."
"Ich weiß, was das bedeutet", schnaubte ich ihn an und zog die Brauen zusammen, weil es mich wütend machte, dass er mich für so blöd hielt. Ich wollte an ihm vorbei, aber er stellte sich mir in den Weg. Ich blieb fassungslos stehen.
 "Hast du?"
"Nein. Ich muss jetzt nach Hause."
 "Musst du gar nicht", widersprach er. Als ob er das wüsste! Meine Mutter würde jetzt schon ausrasten.
"Lass mich durch", bat ich ihn seufzend und sah ihn an.
 "Hast du das schon einmal gemacht? Was die da im Video gemacht haben."
Ich runzelte die Stirn, dachte kurz an Sabi und schüttelte dann den Kopf.
"Ich schon."
"Aha", machte ich und machte einen Schritt nach links, um an ihm vorbei zu gehen. Er hielt mich fest, drückte mich an die Wand und stemmte seine Hände dagegen. Ich war gefangen. Ich machte gar nicht erst irgendwelche Anstalten. Erstens, weil es mir peinlich gewesen wäre, dass das ganze Haus mitbekam, dass ich da unten war und zweitens, weil er sowieso stärker war als ich. Und weil er mir gerade mächtig Angst einjagte.
"Wollen wir's mal versuchen?" Ich sah zur Kellertür, die zugefallen war. Normalerweise schob ich immer einen Keil unter die Tür, weil ich es alleine im Keller unheimlich fand. Ausgerechnet heute hatte ich daran nicht gedacht.
"Komm. Versuchen wir's mal. Wenn du deine Tage nicht hast, kann nichts passieren."
Ich sah ihn wieder an. Er roch nach Schweiß. Er stank. Ich schüttelte den Kopf: "Ich muss wirklich nach Hause." Ich versuchte, unter seinem Arm durch zu schlüpfen, aber er hielt mich davon ab und fasste an meine Brüste.
Ich hatte schon relativ große Brüste für mein Alter. Größere, als alle in meiner Klasse. Es fühlte sich unangenehm an. Ich war verunsichert. "Komm. Es dauert nur kurz." Er sah mich lange an. Sehr lange. Und als ich mich genauso lange nicht traute, zu widersprechen, zog er mich in die Ecke des Kellers, und nahm sich, was er wollte.

 

Sieben

Er ließ mich liegen. Er zog seinen Schwanz aus mir heraus, zog die Hose an und ließ mich liegen. Dieser elende, dreckige Bastard. In meinem Leben hatte ich mich noch nie so schmutzig und verbraucht gefühlt. Und noch nie hatte ich mich so sehr danach gesehnt, einfach tot zu sein, um nichts zu spüren. An meinen Beinen klebte Blut, mein Rachen tat weh, obwohl er mich nicht lange dazu gezwungen hatte, ihm eine zu blasen. Aber er war so brutal gewesen. Das Kleid hatte ich an diesem Abend weg geworfen.

"HUHU! MIRA!"
 Mira erschrak so sehr, dass sie die Maus auf den Tisch schlug und sie kaputt ging.
 "Scheiße!", fluchte sie lautstark und wurde von ihren Kollegen, die ein Büro mit ihr teilten, erschrocken angesehen. Sie zogen sich gerade Jacken um die Schultern und kramten in ihren Taschen herum. Mira hatte die Zeit vergessen. Es war Mittag.
"Wow. Sorry", entschuldigte sich Melly hastig und starrte die kaputte Maus mitleidig an.
 "Galt das jetzt dem kaputten Ding oder mir?", fragte Mira sarkastisch und sammelte verzweifelt die Einzelteile vom Boden auf.
 "Ich denke, die Maus hatte mehr zu leiden", murmelte Melly mit ernsthaft berührt. Mira boxte ihr scherzhaft in den Arm und legte die Teile auf ihren Schreibtisch.
 "Hast du überhaupt gearbeitet?", fragte Melly schließlich, als sie Miras Monitor anstarrte. Auch ihr fiel erst jetzt auf, dass er immer noch gesperrt war. Verdammt. Wie konnte sie so sehr mit den Gedanken abdriften?
"Puh", machte Mira erschöpft und pustete sich dabei eine Strähne aus dem Gesicht.
"Jetzt tu nicht so, als hättest du hart geackert", grinste Melly und stemmte die Hände in die Hüften, "Ich wollte eigentlich fragen, ob du mit in die Mittagspause möchtest, aber ich bin mir gerade nicht ganz so sicher, ob du schon eine gemacht hast..."
"Jetzt hör schon auf. Ich habe nachgedacht", schnaubte Mira, nahm ihre Jacke und zog sie an, "Sowas kann durchaus anstrengend sein."
"Ja", räusperte sich Melly und verbiss sich ein Lachen, "Für jemanden wie dich vielleicht schon." Mira verdrehte die Augen, musste dann aber schließlich doch in Mellys Lachen mit einstimmen. Ihre trübe Stimmung war verfolgen.

Mira hatte Kate in der Mittagspause nicht gesehen. Melly und sie hatten im Pub ihre Pause verbracht, weil Melly sich etwas zum Mittagessen bestellt hatte. Hunger hatte Mira nicht, deshalb hatte sie sich einfach nur einen Cappuccino gemacht, aber Mira war sich nicht sicher, ob es vielleicht daran lag, dass ihr Kopf so voll war. Spätestens am Abend würde ihr Magen sowieso knurren und sich beschweren. Ein altbekannter Prozess in Stresssituationen. Aber so schlimm fand das Mira nicht. Dann konnte sie ihre vier überflüssigen Kilos auch verlieren. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass für ihre Größe ein Körpergewicht von 54 kg das Idealgewicht wäre. Konnte nicht schaden. Nachdem sie dann ihren Cappuccino getrunken hatte, stützte sie den Kopf in ihre Hände und sah Melly beim Essen zu. Sie war eine langsame Esserin. "Und", sagte Melly, während sie sich eine große Gabel Reis mit Gemüse in den Mund schob, "Erzähl. Wie wars?"
"Was war wie?", fragte Mira verwirrt und beobachtete sie beim Kauen.
 "Na, jetzt tu nicht so. Die Nacht. Der Sex." Sie schluckte und schnitt etwas vom Fisch ab. Dann sah sie Mira an und zog die Brauen erwartungsvoll in die Höhe. Sie witzelte eigentlich nur, denn dass Mira wirklich Sex gehabt hatte, konnte Melly gar nicht wirklich wissen. Hätte Kate heute Morgens nichts gesagt, dann wäre Melly nie auf den Gedanken kommen. Danke, Kate. Mira runzelte die Stirn und machte mit einem Halbgrinsen: "Pffft. Ich hatte kein Sex."
"Ja klaaaaaar", prustete Melly los, kaum dass sie geschluckt hatte, "Das war der Witz des Jahrehunderts." Dann nahm sie die Gabel und kreiste mit ihr vor Miras Nase herum "Ich sehe dir an, wenn du Sex hast."
"Ganz sicher nicht", lachte Mira und schob Mellys Hand von ihrem Gesicht weg. Sie aß weiter.
"Ganz sicher doch. Also?"
Mira seufzte.
"Ja, ich weiß. Du bist so arm. Und jetzt spuck's aus."
"Du wirst sowieso keine Ruhe geben, oder?"
"Du kennst mich." Sie zog die Schultern in die Höhe und grinste in ihren Teller hinein.
"Du bist ein Arschgesicht. Und neugierig. Das weißt du."
"Ja", wieder zuckte Melly die Schultern und bemühte sich, nicht zu lachen, "Aber nur so kommt man im Leben weiter."
"Indem man die Nase in anderer Leben steckt?"
"Ja, wie sonst? Ich erweitere meinen Horizont."
"Ach. Schön, dass mein Sexleben deinen Horizont erweitert." Mira lachte. Melly sah sie an und grinste: "Also hattest du Sex. Ich wusste es."
"Puuuh. Ja. Vielleicht."
"Nein, nein. Details bitte." Sie pickte haargenau mit einer Gabelzacke ein Maiskorn auf und streckte ihn Mira entgegen. Eine Augenbraue in die Höhe gezogen.
Mira verdrehte die Augen und fuhr sich über das Gesicht.
"Es war gut. Jaaa", grinste sie, "Vielleicht der geilste Sex meines Lebens."
"Uiuiui. Gefühle oder keine Gefühle?" Mit der Frage hatte Mira nicht gerechnet. Sie spürte, wie ihr Herz einen kleinen Sprung machte und dann wie in Zeitlupe weiter schlug. Für eine kurze Sekunde verlor sie die Kontrolle über ihre Gesichtszüge. Wieso wollte Melly das wissen? Wieso war diese Frage wichtig? Mira wusste natürlich, dass diese Frage wichtig war. Sex ohne Gefühle war einfach Sex. Aber mit jemandem zu schlafen, für den man etwas empfindet – eine tiefe, unerklärliche Zuneigung... Scheiße. Sie hatte keine Antwort.
"Du überlegst zu lange. Also Gefühle." Melly nahm das Maiskorn in den Mund und kaute langsam auf ihm herum, starrte Mira an. Irgendwann hörte sie auf zu kauen und zog die Augenbrauen zusammen.
 "Oh. Okay. Ernstes Thema. Habs verstanden. Wer ist die Glückliche?" Melly wusste, dass Mira auf Frauen steht. Eigentlich wusste das fast jeder. Sie hatte es nie geheim gehalten, weil es für sie selbst kein Geheimnis war. Es war weder etwas Verwerfliches, noch etwas Außergewöhnliches. Sie hatte sich mit zehn Jahren so festgelegt, als sie sich das erste Mal in eine Lehrerin verknallt hatte.
"Es gibt keine Glückliche", murmelte Mira und starrte in ihre leere Tasse, "Es gibt überhaupt niemanden. Es war einfach Sex."
"Du bist eine verdammt schlechte Lügnerin. Ich fühle mich fast beleidigt." Mira schwieg. Was sollte sie auch sagen? Sie hätte ihr keine Antwort geben können. Mira hätte selber erst darüber nachdenken müssen. Sie war sich nicht sicher. Natürlich gab es Gefühle. Kate war ihre beste Freundin! Hatte man mit der besten Freundin Sex? Mira wurde klar, dass das ein Fehler gewesen war. Wie hatte sie denken können, dass sie mit einer so tollen Frau wie Kate ins Bett hüpfen und sie dann weiterhin eine "beste Freundin" nennen konnte? Das war sie nicht. Nicht mehr. Die Gefühle, die Mira für Kate hatte, waren keine freundschaftlichen Gefühle. Sie waren voller Zuneigung, voller Anziehung, voller... Leidenschaft. Sie spürte eine wohlige Wärme in ihrem Bauch, als sie an Kate dachte und biss sich auf die Unterlippe. Gefühle hin oder her. Sie hatte einen großen Fehler gemacht. Auf einmal hatte Mira das dringende Bedürfnis, vom Tisch aufzuspringen und Kate zu suchen, um mit ihr darüber zu reden. Das musste aus der Welt gebracht werden.
"Mira?" Melly griff über den Tisch und piekte Mira in die Backe. Mira piekte zurück. Melly piekte zurück.
 "Warum schaust du so?"
"Wie?", fragte Mira.
"Keine Ahnung. Als wäre jemand gestorben."
Es ist etwas gestorben. Eine Freundschaft.
Mit einem lautlosen Seufzen schüttelte Mira den Kopf und sah sie an "Alles okay. Ich war nur in Gedanken."
"Schon wieder. Du hast doch den ganzen Vormittag damit verbracht, nachzudenken. Was denkt man denn so nach?" Sie sah Melly an und dann auf ihren Teller. Er war noch halbvoll, aber sie machte nicht den Eindruck, als würde sie noch etwas essen. "Hast du keinen Hunger mehr?", fragte Mira.
Sie sah auf ihren Teller, dann wieder in Miras Gesicht: "Du lenkst ab."
Mira konnte nicht mit ihr reden. Das ging einfach nicht. Sie konnte Melly nicht erzählen, dass sie mit Kate im Bett gewesen war. Vielleicht wäre es etwas anderes gewesen, wenn Kate nicht hier arbeiten würde - wenn sie Kate nicht kennen würde, aber nicht so. So konnte Mira es ihr einfach nicht erzählen.
"Ich habe einen Fehler gemacht."
"Was denn?"
"Ich... kann dir das nicht sagen. Aber... scheiße."
"Okay, ich verstehe", Melly sah sich kurz im Raum um, "Du brauchst Ablenkung."
"Wir müssen in 15 Minuten weiter arbeiten."
"Ja klar", lachte sie, "So wie du den ganzen Vormittag auch gearbeitet hast?" Mira warf ihr einen bösen Blick zu, der nicht ernst gemeint war, dann stand Melly vom Tisch auf und wartete, dass sie es ihr gleich tat.
"Was hast du vor?", fragte Mira und blieb eisern auf dem Stuhl sitzen. Melly warf einen Blick aus dem Fenster.
"Es schneit. Und wir gehen jetzt raus, spazieren."
"Oh wow. Das lenkt mich sicherlich ab", sagte Mira sarkastisch, stand aber auf.
"Glaub mir."
Sie zogen sich ihre Jacken und Kapuzen an und gingen raus.. Es schneite so sehr, dass sie in wenigen Minuten aussahen wie lebendige Schneemänner. Der Schnee blieb am Boden liegen und sehr bald war die ganze Welt einfach nur weiß. Weiß und schön. Sie spazierten um das Gebäude herum, schlenderten im Schnee. Melly zog Mira auf eine Fläche, auf der noch niemand gelaufen war, damit sie Spuren hinterließ. Melly trat in ihre Fußstapfen und Mira sah immer wieder zu ihr zurück, um grinsend den Kopf über sie zu schütteln. Melly war zwar genauso alt wie sie, verhielt sich aber manchmal wie ein Kind. Vielleicht war aber auch gerade das, was Mira an ihr so gerne mochte. Sie brachte sie mit ihrer nicht verloren gegangenen Kindlichkeit immer zum Lachen. Manchmal riss sie Mira sogar mit. Sie sprang mit einem Satz auf Miras Seite und wäre beinahe ausgerutscht, hätte Mira sie nicht festgehalten. Sie lachten. "Erzähl mal", sagte sie, "Wie ist das eigentlich? Sex mit 'ner Frau, meine ich."
Mira sah sie entgeistert an, dann starrte sie in den Schnee vor ihren Füßen.
"Ich nehme an, du willst Details", schlussfolgerte Mira amüsiert.
"Ich sage ja. Du kennst mich." Auf ihrem kleinen Gesicht ein fettes Grinsen.
"Okay", Mira holte Luft, "Lass mich überlegen, wie ich es christlich ausdrücken kann."
"Ich will hier knallharte Fakten. Details bis in die Pussyhärchen."
"Ich habe keine Pussyhaare", grinste Mira sie an.
"Guter Anfang, Miss", grinste sie zurück, "Sind alle Lesben kahl geschoren?"
"Ich hatte noch nicht mit allen Lesben Sex. Aber alle Lesben, mit denen ich bisher etwas hatte - ja."
"Mit wie vielen hattest du?"
"Sex?"
"Was sonst?" Sie sah Mira an, als sei sie komplett bescheuert. Mira lachte leise.
"Drei."
"DREI?!" Melly sah sie ungläubig an, dann lachte sie lauthals, "Okay. Das war ein guter Witz. Ich hätt's dir fast geglaubt."
"Das war kein Witz." Mira zog eine Augenbraue in die Höhe.
"Du willst mir nicht erzählen, dass du erst mit drei Frauen Sex hattest? Plus der von gestern?"
„Vier", Mira zog die Schultern in die Höhe und ließ sie dann kraftlos wieder sinken.
"Okay", sie war sichtlich aus den Socken, "Und Männer?"
"Null."
"Null? Du bist also durch und durch vom anderen Ufer?"
"Sieht so aus." 
Melly blieb stehen und sah Mira von oben bis unten an.
"Ähm. Nein. Du siehst ganz sicher nicht so aus."
Mira war ebenfalls stehengeblieben, sah Melly an und lachte. Gut, in dem Fall hatte sie Recht. Wenn man es optisch in Betracht zog, dann sah es wirklich nicht so aus. Mira war alles andere, als diese typische Klischee-Lesbe. Kate aber auch nicht. Kein Mensch wäre jemals auf die Idee gekommen, dass sie auf Frauen stand. Wie oft hatten Männer schon versucht, sie anzugraben! Und es hörte nicht auf. Wie oft hatte sie den Spruch gehört, dass Lesben doch immer kurze Haare haben und rumlaufen wie Cowboys, die gerade vom Pferd gestiegen sind. Mira konnte inzwischen über solche Kommentare nur noch die Augen verdrehen.
 "Okay. Ich gebe zu. Ich seh' nicht aus wie eine Lesbe. Aber es gibt nichts, womit du mich schneller verjagen kannst, als mit Schwänzen." Melly kam wieder an Miras Seite und runzelte die Stirn: "Völlig absurd. Sex ohne Schwanz. Das ist doch das Beste an der ganzen Sache!"
 Mira zuckte die Schultern, schlenderte mit ihr weiter und behielt die Uhrzeit im Auge. Fünf Minuten noch.
"Du hast mir jetzt allerdings immer noch nicht gesagt, wie das so funktioniert. Benutzt ihr Dildos?"
"Ja klar. Schwänze sind scheiße, aber Dildos sind völlig okay", rief Mira euphorisch und zeigte ihr dann den Vogel, damit sie beide lachten. Als sie sich wieder beruhigt hatten, drehten sie um, damit sie rechtzeitig wieder in die Arbeit kamen.

Der Rest des Tages verlief ereignislos. Mira hatte sich relativ früh am Abend im Bad fertig gemacht und dabei noch einmal ihre Hand betrachtet. Sie sah furchtbar aus und sie erinnerte sich wieder an die zwei Leute, die ihr geholfen hatten. Sie fragte sich schon wieder, ob sie heute vielleicht an ihr vorbeigelaufen waren. Seufzend schüttelte Mira den Kopf und zog ihr T-Shirt an, das sie immer zum Schlafen benutzte. Komisch, dass sie diese komischen Gefühle nicht vergessen konnte. Die Geborgenheit war eine Sache, aber die andere war auch noch diese große Traurigkeit und Verzweiflung, die in dem Moment gekommen waren, in dem der Mann sie festgehalten hatte. Festhalten. Das war es, was ihr fehlte. Ein Halt. Irgendein kleiner, verdammter Halt.
Im Bett konnte sie dann noch lange nicht schlafen. Erst dachte sie eine halbe Stunde über die zwei Leute und ihren Zusammenbruch nach und zerbrach sich den Kopf, wie sie die Beiden ausfindig machen konnte und als sie merkte, dass es keinen Sinn ergab und sie eigentlich nur hoffen konnte, dass sie die Zwei irgendwie durch Zufall mal wieder traf, fingen ihre Gedanken an um Kate zu kreisen und Mira verfluchte sich dafür. Kate würde ihre beste Freundin bleiben. Punkt. Sie steigerte sich gerade so dermaßen in eine Sache hinein, die komplett sinnlos war, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Es war bloß Sex gewesen. Kate war nun einmal eine hinreißende Frau. Eine furchtbar hinreißende Frau. Aber mehr war da nicht. Mira liebte sie, weil sie ihre Freundin war. Alles andere war reine Fehlinterpretation.

 

Acht

Der nächste Tag in der Arbeit fing mit großen Turbulenzen an. Die Ablage musste gemacht werden und sie durfte viele E-Mails bearbeiten, da ihre Kollegen es beim besten Willen nicht geschissen bekamen, auf eine Anfrage ein Angebot zu schreiben. Das machte die Tatsache nicht besser, dass Mira sowieso schon schlecht gelaunt war. Sie war kein Mensch, der seine schlechten Launen offen zeigte. Meistens schaffte sie es dann einfach zu schlucken und sich selbst in den Verstand zu rufen, dass es nichts gab, worüber sie sich aufregen musste. Heute allerdings fiel ihr das verdammt schwer. Sie war mit dem falschen Fuß aufgestanden. Mit einem völlig falschen. Sie ärgerte sich so sehr über die liegengebliebene Arbeit ihrer Kollegen, dass sie ihren Kiefer anspannte und er ihr anfing wehzutun. Manchmal fragte sie sich, was die Leute hier ohne sie überhaupt machen würden. Sie würden vermutlich kaum noch Aufträge empfangen. Und das Schlimmste war, dass ihre Ausbilderin das nicht einmal juckte. Als sie dann auf der Ablage dann auch noch eine ausgedruckte Anfrage von vor über einem Monat fand und sich wunderte, warum diese nicht als E-Mail angekommen war, donnerte sie den Stapel Papiere auf ihren Schreibtisch, die Anfrage in der Hand und stampfte in das Nachbarsbüro.
Ohne zu klopfen öffnete sie die Tür und schmiss Leon das Papier vor die Nase auf seinen Schreibtisch.
 "Hast du nicht in meinem Urlaub an meinem Platz gearbeitet?", schnauzte sie ihn genervt an und versuchte sich im selben Moment auf die Bremse zu treten. Er konnte nichts für ihre schlechte Laune. Ben, der Typ, der mit ihm ein Büro teilte, sah Mira aus den Augenwinkeln an, wie sie die Hände in die Hüfte stemmte. Ben war in dieser Firma der Frauenschwarm schlechthin. Es gab kaum eine Frau, die ihn nicht binnen weniger Sekunden gedanklich nackt ausgezogen hatte, wenn er einen Raum betrat. Sie hätten vermutlich nach dem kleinsten Goldkorn gegraben, um mit ihm ins Bett zu springen. Mira konnte das beim besten Willen nicht nachvollziehen. Klar, hatte sie Augen im Kopf und konnte sehen, dass Ben durchaus ein attraktiver Mann war, aber bitte! So einen Aufstand und das wegen einem Mann?
"Ähm...", Leon sah auf das Blatt vor ihm und dann verunsichert in Miras Gesicht, "Ja?!"
"Okay. Und könntest du mir dann erklären, wie es sein kann, dass die Anfragen von vor Wochen nicht bearbeitet sind? Liest du überhaupt, was hier einkommt oder legst du einfach alles gleich auf einen Stapel und hoffst, dass es der nächste Idiot liest?" In diesem Fall war der nächste Idiot Mira. Schon wieder biss sie die Zähne zusammen weil sie ihre schlechte Laune nicht im Zaum halten konnte. Sie fluchte im Stillen über sich selbst und entschuldigte sich in Gedanken bei ihm. Andererseits hatte sie guten Grund – er hatte wirklich Mist gebaut. Leon war durchaus überrascht. Mira hatte noch nie jemanden so blöd von der Seite angekackt, aber gerade war sie einfach genervt. Genervt wegen der Situation mit Kate und weil sie nicht wusste, wie sie ihr gegenüber treten sollte, genervt wegen der vielen Arbeit, die heute anstand und genervt, weil sie schlecht geschlafen hatte. Er war jetzt halt der Pechvogel, der ihre Laune abbekam.
Schmunzelnd beobachtete Ben Miras wütendes Gesicht und stellte fest, dass es ihn amüsierte. Sie sah hübsch aus, mit den vor Zorn geröteten Wangen den zwei kleinen Zornesfalten zwischen ihren Augenbrauen.
"Schon gut", hörte Mira Ben hinter ihr auf einmal sagen. Sie drehte mich um, die Hände immer noch in die Hüften gestemmt und sah ihn, eine Augenbraue in die Höhe gezogen, an. Er kam auf Mira zu, stellte sich neben sie und nahm das Blatt in die Hand, um es durchzulesen. Mira nahm das Männerparfüm wahr, das seine warme Haut ausstrahlte. Er roch gut. Nicht zu stark, als wäre er in einen Parfümeiner gefallen. Gerade genug, dass sie die Note in der Nase kitzelte.
"Ich bin mir sicher, Leon kann eine kurze Pause machen und das hier übernehmen." Er sah ihn dabei nicht einmal an, drückte ihm einfach das Blatt in die Hand und sah dann in Miras Augen.
"Ähm", machte sie überrascht, "Danke?!"
 Leon würde sowieso nicht widersprechen. Ben war zwar nicht sein Vorgesetzter, hierarchisch gesehen aber über ihm und er strahlte etwas aus, dem man sich nicht zu widersprechen traute. Seufzend nahm er das Blatt und las es sich tatsächlich durch. Mira runzelte die Stirn, weil sie nicht gedacht hätte, dass Ben sich einmischen würde. Er war eigentlich eher so ein Typ, der sich im Hintergrund hielt und beobachtete. Er redete nur das Nötigste und auch nur mit bestimmten Leuten. Anderen nickte er zum Gruß vielleicht einmal kurz knapp zu, aber mehr war da nicht. Als sie schließlich ihre Arme wieder hängen ließ und Ben kurz ansah, zwinkerte er ihr zu und setzte sich zurück auf seinen Platz. Verwirrt drehte sich Mira um und verließ das Büro, um wieder zurück auf ihren Platz zu gehen und sich auf ihre eigene Arbeit zu konzentrieren.

In der Mittagspause erzählte Mira Melly von der Aktion und ihr klappte Wort wörtlich die Kinnlade bis zum Boden. Kate hatte sie heute noch kein einziges Mal gesehen. Darüber, ob das nun gut war oder nicht, versuchte sie erst einmal nicht zu urteilen. Jetzt stand erst einmal das Ben-Thema im Vordergrund. Allein schon Mellys Blick war es wert, ihr davon zu erzählen.
"Sag mal", sagte Melly dann, "Mir ist schon im Pub oft aufgefallen, dass er dich anstarrt."
"Mich starren alle Männer an", erwiderte Mira scherzhaft, "Weil sie wissen, dass ich lesbisch bin."
"Denkst du, er weiß es auch?"
"Ich bitte dich. Mich würde es eher wundern, wenn es in den 1,5 Jahren immer noch jemand nicht weiß."
 Melly hatte wieder etwas zum Mittagessen bestellt und Mira setzte sich zu ihr an den Tisch. Der Hunger blieb wie so oft aus.
 "Na gut. Aber ich versteh's nicht. Vor Laura oder Marie gibt er sich total arrogant und dich flirtet er eiskalt an."
 "Er flirtet nicht", seufzte Mira, "Und natürlich ignoriert er sie gekonnt. Er ignoriert vermutlich alle Frauen gekonnt, weil er weiß, dass sie auf ihn stehen. Und Marie schmachtet ihm ja geradezu hinterher. Aber ich stehe nicht auf ihn. Ich stehe auf keine Männer. Er meint, er könnte mich sicher rumkriegen."
"Dann liegt er aber arg daneben", stellte Melly mit vollem Mund fest und Mira grinste.
 "Ganz recht."
"Was ist jetzt eigentlich mit deiner Bettgeschichte?", fiel ihr zu Miras Bedauern wieder ein und wedelte mit der Gabel vor ihrem Gesicht herum. Mira schob ihre Hand wieder weg.
"Nichts. Wie gesagt. Es war nur Sex."
Melly hielt im Kauen inne und sah sie unbeeindruckt an. Dann seufzte sie und aß weiter.
"Na gut. Wenn du's dir nicht eingestehen willst, dass das mehr als nur Sex war - dein Unterbewusstsein wird's dir danken."
"Tu nicht so, als wüsstest du etwas über mein Unterbewusstsein." Mira zog eine Braue in die Höhe und sah sie amüsiert an. Sie grinste. In dem Moment sah sie aus dem Fenster und erblickte Kate, wie sie gerade aus dem Auto ausstieg. Ihrem Impuls nachgehend entschuldigte sich Mira bei Melly und stand auf. Sie sprintete aus dem Gebäude und rannte Kate entgegen, lief ihr beinahe in die Arme. Ganz knapp vor ihr blieb sie stehen und holte tief Luft.
"Alles klar. Dass mir Frauen hinterherlaufen ist eine Sache, entgegenrennen ist mir allerdings neu." Sie sah Mira amüsiert von oben bis unten an und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie feststellte, dass sie sich ihr gegenüber ganz normal verhielt.
 "Ja. Ich laufe auch niemandem hinterher", sagte Mira. Kate lächelte.
"Und was bringt dich dazu, mir entgegen zu laufen?"
 "Ich wollte mit dir reden. Eigentlich."
"Eigentlich aber auch nicht?", schlussfolgerte sie. Mira schloss kurz die Augen, genoss das Gefühl, in dem die Angst von ihr herab fiel und sie merkte, dass das warme Gefühl im Bauch ausblieb und lächelte in sich hinein. Dann sah sie Kate an, schüttelte den Kopf und umarmte sie. Kate stand einige Sekunden einfach nur da, weil sie verwirrt war von Miras Reaktion, dann erwiderte sie die Umarmung.
"Ich habe dir doch gesagt, für mich hat sich absolut nichts geändert. Oder?", flüsterte sie in Miras Haare.
"Vielleicht solltest du mir einfach mal glauben."
 Mira löste sich von ihr und lächelte sie dankbar an. Dann runzelte sie die Stirn, weil ihr auffiel, wie unüblich sie gekleidet war.
"Ähm?! Blazer? Schlaghose? Muss ich mir Sorgen machen? Du siehst furchtbar aus!"
Kate sah an sich herab und lachte dann. Ihre kurzen blonden Haare waren sehr ordentlich und seriös gemacht. Nicht zu streng aber auch nicht so spielerisch wie sonst. Irgendwie stimmte das nicht, dass sie furchtbar aussah. Im Gegenteil. Mira schluckte allerdings schnell diese Bemerkung.
"Ich hatte einen Termin beim Landratsamt."
"Ach so", machte Mira, "Einschleimen, um sich in öffentliche Gebäude einzudrängen." Sie zwinkerte mehrfach übertrieben.
"Wer keine Ahnung hat, sollte lieber schweigen und zuhören - das erweitert den Horizont."
Auch Kate zwinkerte und Mira schüttelte halblachend den Kopf, während sie beide auf das Gebäude zusteuerten.
"Ach, ich hatte vorher einen interessanten Zwischenfall mit Ben."
"Mit Benjamin Rhode?" Kate sah sie an und hob eine Augenbraue, als sie Mira die Tür aufhielt und sie im leeren Foyer zum Stehen kamen.
 "Ja. Ben."
"Tja", seufzte sie, "Was soll man dazu noch sagen? Hat er dich endlich mal angesprochen?"
"Wieso endlich mal?" Mira sah sie stirnrunzelnd an.
"Na, als ob das keinem aufgefallen wäre, wie er dich schon seit einer Ewigkeit versucht in einen Augenflirt einzubeziehen. Du ignorierst das gekonnt. Oder du bist so minimal auf der Höhe, dass du es gar nicht merkst."
"Natürlich merke ich das", gab Mira ein wenig beleidigt zurück, "Und, ja klar, ignoriere ich das. Warum auch nicht? Was würde mir das bringen, auf seine dummen Flirtereien einzugehen?"
Um Kates Mundwinkel spielte ein Lächeln. "Nun ja. Du bist eine interessante Nummer für ihn. Außerdem solltest du dir fast was darauf einbilden. Rhode weiß, wie er auf Frauen wirkt. Und diese Sorte von Männern sucht sich meistens die Bestaussehendste von allen heraus, weil er alle haben kann." Sie kniff Mira sanft in den Arm.
"Ach ja", Mira lachte, "Wieso hat er dich nicht angeflirtet? Blond, groß, schlank. Wenn er bei Gedanken an dich nicht das Sabbern anfängt..."
Kates Augen lächelten amüsiert, und kurz sah Mira wieder etwas von jener Nacht aufflackern, was ihr den Magen zusammen zog. Ein Hauch eines Flirt-Blicks.
"Weil er dich nicht kennt und nicht weiß, dass du nicht naiv bist."
 "Ach so. Aber er weiß, dass ich lesbisch bin."
"Und auch das ist ein Faktor. Außerdem siehst du bildschön aus."
Mira lachte emotionslos auf: "Ja klar! Mit meinen 1,65 m und bin ich ja im Gegensatz zu dir ein pummeliger Gnom. Dieser wundervolle, fette Muttermal an meiner Stirn, den ich mit den Haaren zu verdecken versuche, ist auch für nichts weiter nützlich, als vielleicht mal irgendwann meine Leiche zu identifizieren." Mira hätte noch hundert Dinge aufzählen können. Mira mochte es nicht, so etwas zu hören. Derartige Komplimente, die völlig übertrieben waren. Bildschön war Aubrey Hepburn, die ja so viele Menschen als die schönste Frau der Welt bezeichneten. Auch Marylin Monroe fand Mira ausgesprochen schön. Oder Kate. Mira sah ihre Freundin an und hasste sich für diesen Gedanken.
"Erstens: Du bist schlank. Wenn ich noch einmal das Gegenteil höre, muss ich dich, glaube ich, über's Knie legen. Zweitens: Ich habe mit dir geschlafen. Ich schlafe nur mit schönen Frauen." Wieder dieser Blick, als sie vorsichtig ihre Finger um Miras Kinn legte, um es anzuheben. Mira sah weg und ignorierte das wabernde Gefühl in ihrem Bauch.
"Okay. Aber Zweitens stimmt nicht so ganz." Sie ließ Miras Kinn los und hob eine Augenbraue. Sie sah sehr amüsiert aus, weil sie wusste, was Mira sagen würde. Natürlich wusste sie es.
"Diese eine Blonde, die du mal mit nach Hause genommen hast. Die sah ja atemberaubend scheiße aus."
"Mit der habe ich nicht geschlafen." Kate klopfte Mira auf die Schulter und lachte. Dann zwinkerte sie ihr zu und verließ das Foyer, um auf ihren Arbeitsplatz zu gehen. In diesem Moment kam Melly um die Ecke. "Wem schaust denn du so sabbernd hinterher?", bemerkte sie grinsend und Mira streckte ihr mit einem stillen Lachen die Zunge raus und ging, um sich ebenfalls an ihre Arbeit zu machen.

 

Neun

 Am Nachmittag gönnte sich Mira noch einen Cappuccino und schleppte Melly vom Empfang mit in das Pub. "Du hast heute aber nicht viel zu tun. Schließe ich aus deiner Kaffeesauferei", bemerkte Melly und lehnte sich neben Mira an den Küchentresen, auf dem die Kaffeemaschine stand.
 "Ach, fleißige Arbeiter können sich schon mal ein Tässchen leisten."
"Mhm", machte Melly, "Dann hätte ich mir schon 10 Tässchen leisten können."
Mira lachte, nahm ihre volle Tasse und warf zwei Süßstoff rein.
"Süßstoff ruiniert den Stoffwechsel", hörte sie hinter ihr jemanden sagen und sie drehte sich um. Ben stand vor ihr und nahm sich eine Tasse. Um seine Mundwinkel haftete ein Lächeln. Melly warf Mira einen Blick zu, den nur sie deuten konnte.
 "Zucker ist genauso ungesund", stellte Mira klar und trat vom Automaten weg.
"Deshalb trinkt man Kaffee ungesüßt", erwiderte er und wieder warf Melly ihr einen vielsagenden Blick zu. Mira konnte förmlich spüren, wie sie ihr Grinsen stetig schluckte. Natürlich fand Mira den Gedanken reizvoll, dass Ben sie gut finden könnte, dass er ausgerechnet sie als sein „Ziel" setzte. Nicht, dass sie sonderlich davon angetan wäre, aber schmeichelnd war es dennoch. Und gerade deshalb versuchte sie noch selbstbewusster zu wirken, als normalerweise. Er sollte sehen, dass er tun und lassen konnte, was er wollte - meinetwegen auch vor meiner Nase nackt einen Tango tanzen - und es sie kein bisschen beeindrucken würde. Sofern ein nackter Tango beeindrucken kann. Mira grinste wegen dieser Vorstellung in sich hinein.
"Schwarzer Kaffee schmeckt scheußlich", bemerkte Mira. Ben hob seine Tasse, nachdem sich der letzte Tropfen Kaffee vom Automaten verabschiedete und nahm demonstrativ einen großen Schluck von der schwarzen Brühe. Mira verzog das Gesicht, genauso wie Melly, und Ben schmunzelte über die beiden. Er fand Mira wirklich süß. Vor allem ihre Bemühungen cool zu bleiben und Desinteresse zu zeigen, wenn er etwas länger Augenkontakt hielt. Er wusste, dass sie an Männern keinerlei Interesse hatte, aber gerade das amüsierte ihn so sehr. Er war fest davon überzeugt, dass kein Mensch ausschließlich nur ein Geschlecht bevorzugen konnte.
"Ihr seid noch nicht abgehärtet. Glaub mir, sobald du deine Chemietabletten da weg lässt, wirst du nie wieder die Süße vermissen." Er deutete auf den Süßstoff.
 "Das stimmt nicht", widersprach Mira und trank ebenfalls, einfach aus Prinzip, einen großen Schluck, "Einige Zeit würde mir die Süße nämlich sehr wohl fehlen. Aber wie wir ja alle wissen: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Deshalb werde ich wohl nach meinem fünften, zuckerlosen Kaffee kaum einen Unterschied bemerken."
"Also habe ich Recht?", forderte er sie schmunzelnd heraus und ihr Blick blieb an der kleinen Lachfalte neben seinem rechten Mundwinkel heften.
"Nur bedingt. Eine minimale Kleinigkeit hat gefehlt", sie sah ihm wieder in die kristallblauen Augen, „Nämlich die Gewohnheitsphase. Aber schon okay. Man kann auch mit dem Alter noch dazulernen." Mit diesem Satz brachte sie ihn zu einem leisen Lachen, das er sich sehr zu verkneifen versuchte. Dann schüttelte er den Kopf, trank noch einen Schluck und verließ den Pub.
"Kannst du mir erklären, was das war?!" Melly boxte Mira sanft in den Arm.
"Das war eine stinknormale Unterhaltung. Ich würde sagen, sogar eine konstruktive Diskussion." Auf Miras Lippen lag ein leises Lächeln.
"Oho", Melly grinste, „Seit wann drückst du dich denn so gewählt aus?"
"Ach, manchmal ist das ganz cool, intelligent zu klingen." Sie lachten, als sie den Pub verließen und sich wieder an die Arbeit setzten.

Als Mira am Abend die Firma verließ, um mit ihrem Feierabend in Gedanken mit einem Glas Rotwein anzustoßen, hielt sie eine Hand am Arm zurück und zog sie um die Ecke des Treppengebäudes. So knapp vor dem Ausgang. So knapp vor dem Glas Rotwein. Hach ja. Und dann lagen zwei Lippen auf ihren und sie hoffte, ihr Feierabend würde ihr die kurze Affäre mit Kate verzeihen. Ihre Zunge suchte sich sanft einen Weg in Miras Mund und sie konnte absolut nicht anders, als diesen plötzlichen, sinnlichen Kuss zu erwidern. Die Wärme in ihrem Bauch explodierte zu einem heißen Feuer, das ihr bis in den Brustkorb stieg. Sie musste sich beherrschen, nicht an ihren Lippen zu stöhnen. Es war riskant genug, dass jemand um die Ecke laufen und sie sehen könnte, sie musste es nicht auch noch herausfordern durch Geräusche diesen Kuss vorzuwarnen, wenn jemand die Treppen herunterkam. Seufzend löste sich Kate von ihren Lippen und sah ihr in die Augen. Mira war geschmolzen und spürte ihr Herz klopfen. Es war angeschwollen wie ein nasser Schwamm.
"Wofür war das?", fragte sie atemlos in die Stille hinein. Die Hitzewelle in ihrer Brust ließ sie immer noch nach einen herzhaften Stöhnen sehnen. Außer ihnen waren kaum noch irgendwelche Leute im Gebäude.
„Ich hatte das Bedürfnis danach", hauchte sie. Kates Lippen berührten noch Miras.
"Ich dachte, für dich hätte sich nichts geändert?", bemerkte Mira rhetorisch und drehte sich vorsichtig von Kate weg, um ihrer Nähe und der testosterongeschwängerten Luft zu entfliehen, sonst konnte sie für nichts garantieren.
"Hat es auch nicht", gab Kate ihr dennoch als Antwort und machte einen Schritt von Mira zurück, da sie merkte, dass sie einen Freiraum für ihre Emotionen brauchte.
"Gute Freunde stecken sich nicht die Zunge in den Hals." Neckte Mira sie, um die heiße Nervosität zu verdrängen. Irgendwie funktionierten die Synapsen in ihrem Gehirn nicht ganz richtig, sonst hätte Mira längst gemerkt, dass sie schon wieder mit ihrer Freundschaft spielte. Scheiß Situation. Aber ihr Herz flatterte wie wild. Und wie konnte etwas so falsch sein, wenn es sich so schön anfühlte?
"Ich schon", konterte Kate.
"Habe ich bemerkt."
"Ich möchte dich zu mir nach Hause einladen."
Jetzt verlor Miras Herz seine Flügel. Das ging nicht. Das ging einfach nicht. Mira wich Kates verführerischem Blick aus und starrte an ihr vorbei auf eine trostlose Plastikblume, die am Empfang stand. "Ich kann nicht", sagte sie entschuldigend und schüttelte den Kopf. Kate legte eine Hand auf ihre Wange und fing ihren Blick mit einem Lächeln in den Augen wieder auf. "Wieso nicht? Wartet dein Göttergatte Zuhause auf dich, den du bekochen und bezirzen musst?"
"Kate", Mira klang verzweifelter, als sie sich eigentlich fühlte. Es war schrecklich, gegen so ein großes Verlangen anzukämpfen und vernünftig sein zu wollen. Aber Vernunft war das Einzige, was ihre Freundschaft aufrechterhalten konnte.
"Ich habe wirklich Angst."
"Wovor?"
"Um unsere Freundschaft. Verstehst du nicht, dass du momentan so ungefähr der einzige Halt in meinem Leben bist? Du kennst mich in- und auswendig. Du bist der einzige Mensch, zu dem ich gehen kann, dem ich mein Herz ausschütten würde."
"Das ehrt mich, Mira, wirklich. Und ich verstehe dich." Kate nahm ihre Hand von Miras Gesicht, gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Stirn, der keinerlei Sinnlichkeit in sich trug, und trat noch einen Schritt von ihr weg, so dass Mira ihre Körperwärme nicht mehr spürte. Mira war sich nicht sicher, ob sie das nun enttäuschte oder nicht. Kate war einfach umwerfend. Sie hätte Tag und Nacht mit ihr schlafen können, ihren nackten Körper an sie drücken und ihr beim Stöhnen zuhören können. Aber Kate war mehr als nur Sex. Sie war mehr als nur körperliche Leidenschaft. Sie konnte tief in Miras Kopf, und noch tiefer, in ihre Seele blicken. Mira durfte das nicht riskieren, nur weil sie chronisch untervögelt war. "Okay, pass auf", setzte Kate nun in normaler Lautstärke an und auf einmal war sie wirklich wieder Miras beste Freundin, "Ich nehme dich mit und werfe dich Zuhause aus dem Auto. Okay?" Mira forschte in ihrem Gesicht nach irgendwelchen ambivalenten Zeichen, erkannte aber absolut nichts, als Eindeutigkeit. "Okay", erwiderte Mira mit einem dankbaren Lächeln.

Mira setzte sich neben Kate in das Auto und ihr stieg der Geruch von nagelneuem Leder in die Nase, dabei war das Auto nicht so neu, wie es roch. Es lag eben einfach an dem seltenen Gebrauch.. Deshalb wunderte Mira das auch eigentlich, dass sie heute mit dem Auto da war. Der Gurt rastete schnell ein und Miras Po wurde warm wegen der Sitzheizung. Kate schrieb noch etwas auf einen kleinen Zettel, steckte es in ein kleines Fach neben dem Lenkrad und fuhr los. "Du wirst den Zettel dort vergessen", erinnerte Mira sie und öffnete ihre Jacke, da ihr wegen der Sitzheizung schnell warm wurde.
"Wenn ich nicht vergessen habe, es aufzuschreiben, dann vergesse ich es auch nicht, wo ich es versteckt habe", zwinkerte sie und fuhr vom Parkplatz auf die Hauptstraße. Mira beobachtete den Feierabendverkehr, starrte unhöflich durch das Fenster in andere Autos und fragte sich, warum dieser eine Trottel sich darüber aufregte, dass ein anderer Fahrer ihm aus Freundlichkeit die Vorfahrt ließ. Sie konnte aus seiner Gestik und Mimik schließen, dass er wohl sowas wie: "Was bleibst du denn jetzt stehen, du Arschloch?!" rief. Die Frau neben ihm am Beifahrersitz starrte konzentriert auf ihr Handy. Diese Art von Fahrer sah Mira auf dem Weg in die Altstadt zu genüge und als Kate vor ihrer Haustür stehen blieb und Mira sie ansah, wurde sie wieder ruhig und war dankbar, so eine gelassene Freundin zu haben, die wirklich über nichts auf dieser Welt fluchte und sich schon gar nicht über irgendwelche belanglosen Dinge aufregte.
"So. Wie versprochen, Chéri", lächelte Kate, "Du bist heil Zuhause angekommen."
Mira starrte das hellblaue Gebäude über dem Fliesengeschäft an. Ihr fiel auf, dass sie die Fenster im Schlafzimmer gekippt gelassen hatte und hoffte, dass nicht alles vom Fensterbrett geweht wurde. Dort legte sie ab und zu mal fünf oder zehn Euro ab, wenn sie davon am Abend beim Umziehen etwas in ihrer Hosentasche fand. Mira machte keine Anstalten, aus dem Auto zu steigen, wusste aber nicht genau, warum. Sie senkte den Blick, sah durch die Glasfront in das Büro ihrer Vermieterin und lächelte zaghaft, als sie den Bürokater Leo vor der Tür schlummern sah. Er war wirklich ein Garfield.
"Was ist?", fragte Kate, "Bist du gerade einfach zu faul, um aufzustehen oder hat das einen tiefsinnigeren Grund, weshalb du hier schweigend sitzen bleibst?"
 Mira sah sie an und musterte eingehend ihr schönes Gesicht.
"Das erinnert mich gerade an eine Szene, in der ein Ehepaar sich Gedanken darüber macht, wie sie ein unangenehmes Thema ansprechen könnten", murmelte Kate nachdenklich mit einem dezenten Lächeln in den Augen.
"Du liest zu viele Bücher", meinte Mira dazu nur und kratzte an einem angetrockneten Schlammfleck an ihrer Jacke herum, der herab bröselte und ihrem Auto endlich ein wenig Leben verlieh.
"Nein. Wirklich. Was ist los?" Kate zog den Schlüssel aus dem Auto und setzte sich auf ihre Hände, die ihr wohl einfroren.
"Ich weiß es nicht", sagte Mira mit gesenkter Stimme und versuchte in sich hinein zu horchen, um ihr eine Antwort geben zu können, doch sie konnte ihre Gefühle gerade einfach nicht in Worte fassen. Sie war durcheinander. Sie wollte nicht, dass Kate ohne sie weg fuhr. Eigentlich wollte sie, dass Kate sie fragen würde, ob sie mit Mira nach oben kommen dürfte. Andererseits war da diese heuchlerische Vernunft, die Mira eigentlich schon immer verabscheut hat. Diesmal aber konnte sie nicht einfach unvernünftig sein, weil viel zu viel auf dem Spiel stand.
"Wie geht es dir? Gesundheitlich, meine ich. Nach deinem Kreislaufzusammenbruch ist nichts mehr passiert?"
 Mira schüttelte den Kopf und ihr fiel der blaue Fleck an ihrer Hand wieder an. Kate entwich ein leises Seufzen, dann sah sie sich um und meinte: "Okay. Komm, lass uns noch irgendwo reinhocken und etwas trinken. Was sagst du dazu?"
Mira war froh über diesen Vorschlag. Heilfroh! Es war ein verdammt guter Kompromiss. In der Öffentlichkeit konnte nichts passieren. Mira sah sich ebenfalls um und ihr fiel spontan der Dréssole ein. Ein gemütliches, kleines Café kurz vor der Stadtmauer mit äußerst freundlichen Mitarbeitern.
"Das finde ich eine wundervolle Idee." Kate lächelte sie an und zog den Geldbeutel aus ihrer Tasche.
"Lass dein Zeug hier. Ich lade dich ein."
"Auf keinen Fall!"
"Wer von uns beiden verdient hier knapp 1000 € mehr?" Sie zwinkerte. Eine Frechheit. Tausend Euro mehr! Tausend! Und das war noch untertrieben. Denn genau genommen waren es tausendvierhundertsechsundsechzig Euro mehr.
"Okay. Ich nehme die Einladung an."

 

Zehn

Kate und Mira setzten sich im Dréssole in das hinterste Eck auf eine rot gepolsterte Bank an einen dicken Tisch aus Eichenholz. Kate hatte sich ein Milchkaffee bestellt, Mira Cappuccino. Mira war cremigem Milchschaum total verfallen und sie kannte kaum ein Café, das bessere Cappuccinos zubereitete, als das Dréssole.
Sie löffelte gerade genüsslich den Schaum aus ihrer Tasse, bevor sie den Cappuccino trank. "Du isst in letzter Zeit nichts, kann das sein?", griff Kate ein Thema auf, mit dem Mira nun wirklich überhaupt nicht gerechnet hatte.
"Kann sein." Sie zuckte die Schultern und Kate legte den Kopf schief.
"Dann kann es also auch sein, dass du an dem Tag, wo du auf der Straße zusammen geklappt bist, auch nichts gegessen hast?" Es klang eher wie Vorwurf, als eine Feststellung und nach kurzem Überlegen und der Erkenntnis, dass sie Recht hatte, zuckte Mira wieder nur die Schultern.
"Warum, Mira? Wieso isst du nichts?" Sie klang, als würde sie sich Sorgen machen.
"Weiß ich nicht. Ich habe momentan keinen Hunger."
"Und du gehst neuerdings joggen", erinnerte Kate sie. Mira winkte ab und trank einen Schluck von ihrem Cappuccino. Sie erwähnte lieber nicht, dass das Joggen keine Methode war, um abzunehmen, sondern viel eher, um ihren Gedanken zu entkommen, die sie manchmal zu verschlucken drohte. Oder sollte sie Kate doch lieber davon erzählen? Verdammt, dieser Sex hatte einfach alles verändert!
"Das ist kein Witz, Mira! Du isst seit Tagen nichts mehr und gehst mit leerem Magen in dieser Scheißkälte joggen. So blöd bist du nun auch wieder nicht, um nicht zu wissen, dass das gar nicht funktionieren kann."
"Ach, hör doch auf", seufzte Mira ermüdet. Sie wollte jetzt nicht über Essen und Nichtessen reden. Schon gar nicht über gesunde Ernährung. Kate senkte den Blick und sah in ihre Tasse. Sie rührte mit dem Löffel in ihrem Kaffee herum.
"Ich sage das nur, weil es von irgendwoher kommen muss. Was kompensierst du mit dieser Kontrolle? Warum lässt du den ganzen Druck an deinem Körper aus?"
Sie sah Mira an und ihre Augen trafen sie wie ein hinterhältiger Schlag in die Magengrube.
"Ich kompensiere gar nichts", widersprach Mira. Natürlich wusste sie, dass das eine jämmerliche Lüge war.
"Das stimmt nicht. Hat das etwas mit deiner Rastlosigkeit zu tun? Verstehe mich nicht falsch, ich nehme dich immer sehr ernst. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das wirklich so ein großes Thema ist."
Ja, und jetzt kommt noch dazu, dass ich Angst habe, meine beste Freundin zu verlieren, dachte Mira bedrückt, sprach diesen Gedanken aber nicht aus.
"Woher kommt das? Ist irgendwas passiert?" Sie griff über den Tisch nach Miras Hand, die sie um die Tasse geschlungen hatte und drückte sie. Mit ihrem Daumen streichelte sie ihren Handrücken. Eine Geste der Beruhigung. Mira beobachtete diese Geste eine Weile, dann sah sie Kate an und schüttelte den Kopf.
"Es ist nichts passiert. Wirklich nicht. Ich kann es ja selber nicht erklären. Kennst du das nicht, dass auf einmal... ich meine, es kam wirklich so plötzlich..."
Mira runzelte die Stirn, als sie sich zu erinnern versuchte, wann das gewesen war.
"Was?", Kate drückte ihre Hand und ließ sie dann wieder los, um einen Schluck von ihrem Kaffee zu nehmen.
"Ich denke, vor einer Woche... ich weiß nicht, woher es kam. Eigentlich bin ich glücklich mit meinem Leben, aber..."
Ein Seufzen entwich Miras Lippen. Kate runzelte die Stirn, sah nun wirklich besorgt aus.
"Aber was denn, Mira?"
"Ich weiß es einfach nicht. Ich saß auf der Couch, und auf einmal überkam mich so ein erdrückendes Gefühl aus dem Nichts. Es... tat richtig weh!" Mira merkte, wie ihr ein Kloß im Hals wuchs und verflucht sich dafür, dass ich so überempfindlich war.
Kate wartete geduldig ab, bis Mira den Kloß zu schlucken schaffte, um weiter zu reden: "Bildlich betrachtet könnte ich sagen, es war wie ein zentnerschwerer, schwarzer Umhang, der sich auf einmal um mich legte. Und das völlig ohne Grund. Ich fing auf einmal an alles zu hinterfragen. Meine Zukunft, meine Gegenwart, meine Vergangenheit... und ich fragte mich, wie es dazu gekommen ist, dass ich jetzt alleine in dieser Wohnung lebe und irgendwie alles auf die Reihe kriege. Ich dachte an dich, an Melly, an meine Arbeit und an mein Leben. Alles ist irgendwie perfekt, aber ab der Sekunde... machte mich das einfach nicht glücklich."
Mira war auf einmal todmüde. Sie traute sich nicht, in Kates Gesicht zu sehen. Es spiegelte absolut alle ihre Emotionen wider, ihre Gedanken – ihre Augenbrauen unterstrichen jedes Gefühl, das in ihr wütete. Mira wusste nicht, wie sie sich fühlen würde, wenn sie Kate jetzt ansehen würde. Irgendwie sprang ihr das Wort Scham in den Kopf, konnte aber nicht erklären, weshalb. Scham...
"Warum hast du mir nicht gleich davon erzählt?" Sie klang traurig, als sie das sagte. Wirklich betroffen.
"Weiß ich nicht", seufzte Mira schuldbewusst, "Ich konnte es selber nicht erklären. Außerdem habe ich versucht, das abzutun. Und die letzten Tage war ich nicht mehr so schrecklich traurig, wie an diesem einen Tag."
"Aber so wirklich glücklich bist du auch nicht", stellte sie fest und Mira spürte, wie sehr Kate dagegen ankämpfte, sich zu ihr zu setzen und sie in den Arm zu nehmen. Vermutlich weil sie befürchtete, Mira würde es falsch interpretieren. Dabei hätte sie jetzt verdammt gerne ihre Arme um sich gehabt.
Stattdessen seufzte sie still in sich hinein und trank noch einen Schluck von ihrem Kaffee.
"Ich gehe schwer davon aus, dass du deshalb nichts isst. Dass du Sport machst. Gefühle kann man nicht kontrollieren. Aber du hast die Macht über deinen Körper. Ich schätze, genau das war dein Grund. Vielleicht unterbewusst", sie zog kurz die Schultern in die Höhe, "Aber dennoch. Und dann kam auf einmal dieser Mann, legte dir seine warme Jacke um die Schultern und kümmerte sich um dich. Du fühltest dich sicher und geborgen und weil er ein Mann ist und du vergewaltigt wurdest und dich vor Männern eigentlich ekelst bist du nun völlig durch den Wind. Habe ich Recht?"
Mira war kurz wie erschlagen, von ihrer schnellen Zusammenfassung ihrer Gemütslage und sprachlos, wie sie es schaffte, immer wieder so tief in sie hinein zu blicken. Sie musste zwanghaft verdrängen, dass sie das gerade sehr an Lejla erinnerte.
"In diesem Moment fühlte ich mich wirklich einfach... gut", antwortete Mira deshalb nur. Kate schwieg lange und dachte nach, aber zum ersten Mal, seit Mira sie kannte, schien ihr nun auch nichts mehr einzufallen. Sie wusste einfach nicht, was sie dazu sagen sollte. Mira nahm es ihr nicht übel. Absolut nicht.
Kate war ein Mensch, mit dem man schweigen konnte, ohne dass es unangenehm wurde. Als Mira schließlich merkte, dass sie wohl nichts mehr dazu sagen würde, trank sie ihren Cappuccino leer und sah sie verstohlen an. Sie hätte jetzt gerne gewusst, was in ihrem Kopf vorgeht, aber ihr Blick ging an Mira vorbei an die weiße Wand und sie wirkte, als wäre sie gerade ganz wo anders, also fragte Mira nicht, woran sie gerade dachte und ließ sie ihren Gedanken nachgehen. So hatte sie auch Zeit, ihren eigenen Gedanken eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen, die sie in letzter Zeit einfach nicht übrig hatte. Mira hatte Angst vor ihren Gedanken, aber gerade schien es ihr eine gute Möglichkeit, um sie zu sortieren. Kate war da, und wenn diese bösen Monster sie angreifen würden, konnte sie sich in Kates Armen Schutz suchen.
Wie lächerlich. Aber so sehr Mira gerade auch nachdenken wollte, ihr Kopf war leer. Auf einmal war da nichts als eine große, schwarze Leere und sie fragte sich, wo all die Stimmen und Bilder sind, die sie von morgens bis abends nerv tötend begleiteten. Warum konnte sie gerade nicht nachdenken, nach überhaupt nichts greifen, was da in ihrem Kopf war?
Alles, was gerade zu greifen war, waren Gefühle und Erinnerungen, doch keine Gedanken. Absolut merkwürdig. In dieser kurzen Minute, in der die beiden sich anschwiegen, vibrierte Miras Handy und nach einem kurzen Schrecken zog sie es aus ihrer Hosentasche. Es war eine unbekannte Nummer, die Nachricht kam allerdings beim Messenger an. Stirnrunzelnd öffnete sie die Nachricht, während Kate nun wieder mit ihren Gedanken angekommen war und aufmerksam Miras Gesicht studierte. Im selben Moment, wie Mira die Nachricht öffnete, wurde ihr klar, wer das sein musste, auch wenn sie es kaum fassen konnte. Ihr Herz flatterte vor Aufregung einmal um die eigene Achse, dann stieß sie einen kleinen Laut der Freude aus.
"Was grinst du denn so vor dich hin?" Fassungslos, von dieser riesigen und unerwarteten Überraschung, reichte sie Kate ihr Handy und Kate las laut vor:

 

Liebe Mira, nachdem wir dich vor knapp einer Woche auf der Altenstadter Straße in Schongau gefunden haben, wollte ich mich noch einmal erkundigen, wie es dir geht. Ob es wirklich nur ein Kreislaufproblem war und nicht etwas Schlimmeres (z.B. ein Überfall)... Ich würde mich freuen, von dir zu hören :-) Liebe Grüße Mark

 

Elf

 "Du hast wirklich irgendwas an dir, das Menschen magisch anzieht. Oder das Schicksal. Nimm’s, wie du’s willst. Trotzdem total abgefahren", murmelte Kate mit einer wegwerfenden Handbewegung und trank ihren Kaffee leer.
Dann lächelte sie Mira an, weil sie relativ verstört dreinblickte. Wie bezaubernd sie aussieht, wenn sie wie ein erschrockenes Reh in meine Augen schaut, dachte Kate schmunzelnd.
"Das war positiv gemeint, Schätzchen. Es ist einfach nur immer wieder krass mitzubekommen, wie du Leute kennen lernst. Und dabei kennen wir uns nicht einmal ganz so lange."
Mira lächelte sie dankbar an und tippte dann im Messenger auf das Profilbild von dem Mann, der ihr geschrieben hatte. Das Bild war unterbelichtet und nicht gerade gestochen scharf. Ein typisches Messenger-Profilbild eben. Aber es war dennoch klar genug um zu erkennen, dass die Person auf diesem Bild ein relativ attraktiver Kerl war. Sofern Mira das überhaupt beurteilen konnte. Sie fand Männer noch nie wirklich hübsch. Klar hatte sie Augen im Kopf. Sie konnte ja auch sehen, dass Ben von den Männern im Betrieb mit Abstand am besten aussah, aber sie konnte ihn nie und niemals auch nur ansatzweise anziehend finden. Nun ja, Mark sah sehr sympathisch aus. Wie ein Familienvater mit drei süßen Kindern und einer wundervollen Ehefrau, der bisher in seiner Ehe und seiner Familie nur Glück und Freude erleben durfte. Auf der anderen Seite war Mira natürlich klar, dass er durchaus auch die dunklen Facetten des Lebens kannte. Er war immerhin schon durch einige Jahre mehr im Leben gestolpert, als sie, und Mira hatte diese Dunkelheit schon zu Beginn ihres zehnten Lebensjahres wahrgenommen.
Nicht, dass sie vorher immer ein himmelhochjauchzendes Kind gewesen wäre, aber damals wusste sie solche Dinge nicht einzuordnen, zu begreifen oder zu verstehen. Da war halt dieser Junge in ihrem Hof, der sie mit sieben Jahren an den Haaren hinter sich her zog oder ihr sein Schuh so in das Gesicht schleuderte, dass sie wochenlang einen riesigen, bunten, schimmernden Fleck am Auge hatte. Sie verstand auch nicht, warum ihr kein Mensch glaubte, wenn sie doch sagte, dass ihre Eltern sie lieb haben und dass sie ihr das nicht angetan hatten. Als Kind hinterfragt man nicht und denkt man auch nicht daran, dass auch solche Kleinigkeiten in vielen Jahren noch tief im Hirn festsitzen werden. Man nimmt zwar auf, dass da gerade etwas Blödes passiert war, aber dann spielt man weiter und denkt schon gar nicht mehr daran.
Angefangen hat es in den Sommerferien, kurz bevor Mira in die fünfte Klasse gekommen war. An jenem warmen Abend im Keller. Und weiter ging es direkt nach den Sommerferien auf der neuen Schule in ihrer neuen Klasse. Zu dieser Zeit wurde ihr klar, was das bedeutet, wenn Angst und Schmerzen sich tief im Inneren verankern und einfach nicht mehr zu verschwinden scheinen. Ungefähr zu genau diesem Zeitpunkt, als drei ältere Schülerinnen sie an die Wand drückten und ihr einen Zirkel durch die Hand jagten. Warum? Das war die Frage, die sie sich selbst auch gestellt hatte. Warum, warum, warum? Was hab ich denn getan? Hatte sie in Gedanken geschrien und geschluchzt, während ihr Gesicht aber steinhart blieb und keine Regung zeigte, als das Blut von ihrer Handfläche auf den Boden tropfte. Der Grund war die kleine Schwester, die in ihre Klasse ging und sich darüber beschwerte, dass dieses komische Mädchen, dauernd so komische Bilder malt mit schwarzen Pusteblumen und weinenden Sternen. Kinder können so grausam sein. So unglaublich grausam. Natürlich war Mira in der Versuchung gewesen, einfach nach Hilfe zu schreien, denn sie hatte die Gefahr gewittert, wie ein Reh, aber dieser Instinkt zu schreien war in der Sekunde verschwunden, in der die Spitze des Zirkels mit so einer Leichtigkeit durch ihre Handfläche gebohrt wurde, wie einem zarten Kaninchenfleisch die Klinge durch die Kehle gezogen wird, und Mira vor Schmerzen aufgeschrien hätte, wenn ihr die andere Schülerin nicht den Mund zugehalten hätte. Deshalb traten ihr in dem Moment nur bittere Tränen in die Augen.

Und da fing es an. Die Angst vor jedem, gottverdammten Tag. Die Angst vor dem Aufstehen und in den Bus zu steigen und wieder in diese Schule, in diese Klasse zu gehen, in der sie komisch war, in der sie beobachtet wurde und in der es nicht okay war, so zu sein, wie sie war. Und als sie nach einem Jahr den Bus verließ und am Gymnasium vorbei lief, das direkt neben ihrer Hauptschule stand, und ihr hinterher gerufen wurde: „Hey, du fette Kuh! Hey! Schau doch her! Hallo!“ und sie gleichzeitig Steine am Körper trafen, wurde ihr klar, dass sie nicht nur in ihrer Schule das komische, fette, hässliche, nervige Mädchen war, sondern scheinbar wohl überall, wo man sie sah und kannte. Also fing sie an, zwei Stunden früher in die Schule zu gehen, sich in den Pausen in den Toilettenkabinen zu verstecken und zwei Stunden nach der Schule den Heimweg zu Fuß anzutreten, durch den Wald, um so vielen Menschen wie nur möglich aus dem Weg zu gehen. Sie wollte ihnen das nicht antun. Sie wollte ihnen sich nicht antun.
"Hallo! Püppchen!" Kate schnippte leise mit dem Finger vor Miras Gesicht und sie blinzelte Kate wie betäubt an. Als Mira ihr Lächeln sah, fiel all die beklemmende Erinnerung und die mit ihnen verbundenen Gefühle von ihr ab und sie erwiderte das Lächeln.
"Was starrst du so verträumt in dein Handy?"
Mira blinzelte auf ihr Display, weil sie schon wieder vergessen hatte, weshalb sie überhaupt auf ihr Handy starrte. Als sie dann wieder das Bild von Mark sah, drehte sie Kate das Display zu und sie nahm es mit kritischem Blick entgegen. Auf ihren Lippen ein kaum bemerkbares Schmunzeln.
"Und?", fragte sie und gab Mira das Handy zurück, "Hast du ihn dir so vorgestellt?" Mira sah sich noch einmal das Bild an. Sie verband dieses Gesicht mit der Stimme, die ihr an jenem Abend im Nacken hing. Mit den großen Händen, die sie festhielten und mit der warmen Jacke, die er um ihre Schulter legte. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr die Haare aus dem Gesicht gestreichelt hatte und ihre Wange mit seinem Handrücken abgetastet hatte und musste sich ein Seufzen verbeißen. Auf einmal hatte diese Person und diese Stimme, die sie festgehalten und sich um sie gekümmert hatte, ein Gesicht und war nicht mehr nur noch ein Phantom, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einer Vergangenheit und einer eigenen, ganz besonderen Geschichte. Und Mira war nun Teil seiner Geschichte.
"Ich habe ihn mir noch gar nicht vorgestellt."
"Echt? Gar keine Vorstellungen? Nicht einmal ein Hauch von kleinen Merkmalen?"
Kate war sichtlich überrascht.
"Nö. Irgendwie habe ich mir keine Sekunde lang Gedanken darum gemacht, wie er aussehen könnte."
"Hmh", machte sie nachdenklich und nahm Mira das Handy noch einmal aus der Hand. Sie betrachtete das Bild von Mark.
"Seine Nase macht ihn irgendwie sympathisch."
"Ja, finde ich-was?!" Mira riss ihr das Handy aus der Hand und grinste über ihre Bemerkung.
"Seine Nase?", Mira zog die Brauen in die Höhe, "Naja. Ich finde eher, dass seine Augen sehr sympathisch sind… und insgesamt der Ausdruck in seinem Gesicht. Aber die Nase?!" Sie musste leise lachen. Er hatte eine hübsche, definierte Männernase. Kein Klumpen, der einfach im Gesicht hockte, sondern eine, die wirklich zu ihm passte.
"Du hast echt einen merkwürdigen Blick auf gewisse Dinge", stellte Mira fest und legte ihren Kopf schief, um sich vielleicht so einen anderen Blickwinkel zu verschaffen, aber seine Nase blieb gleich. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen steckte sie ihr Handy weg.
"Willst du ihm gar nicht zurückschreiben?", fragte Kate fassungslos, während ihr Handy in der Hosentasche verschwand.
"Doch. Aber ich bin gerade mit dir hier."
"Ach, komm. Tu nicht so, als wärst du der Anstand in Person." Sie lachte.
"Ich bin anständig", widersprach Mira und zog mein Handy wieder hervor, um ihm zurück zu schreiben.
"Woher hat er überhaupt deine Nummer?" Kates Frage ließ sie einen Moment inne halten und ihre Finger erstarrten auf dem Display, als sie den Blick hob und sie ansah. Das war eine äußerst gute Frage.
"Hast du sie ihm gegeben?"
Mira runzelte die Stirn und dachte nach. Die Erinnerungen an den Abend waren verdammt schwach. Was sie gesehen hatte, konnte sie gerade noch so mit den Fingerspitzen greifen – dieses kleine Stück vom Gesicht der Frau, zum Beispiel. Aber das, was sie gesagt hatte, war nahezu unmöglich, sich wieder daran zu erinnern. Trotzdem glaubte sie nicht, dass sie ihm ihre Nummer gegeben hatte.
Wo wohnst du?
In der Altstadt.
Wohnst du da alleine?
Ja…
Wir müssen sie nach Hause fahren. Sie kann nicht alleine bleiben!
Wie heißt du?
Mira.
Nein. Keine Telefonnummer. Oder doch…? "Keine Ahnung", antwortete sie also. Kate zog die Brauen in die Höhe und kam zu ihr herüber auf die Bank. Sie lehnte sich an Miras Schulter, während sie in ihr Handy tippte:

 

Hallo! Wow, ich bin gerade sehr überrascht! Ich habe die letzten Tage immer wieder an euch 2 gedacht und so ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich mich bedanken wollte. Mir geht es inzwischen wieder ganz gut. Ich war auch ganz schön verwirrt (auch noch einen Tag darauf). Im Krankenhaus wurde ich an 1000 Geräte geschlossen. Puuuuh. Ich würde euch beide fast gerne als Dankeschön auf einen Kaffee oder so einladen. Denkt ihr, das ist im nächsten Jahr möglich? Ihr habt auch ein Kind, oder? Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich hätte einen roten Kinderwagen gesehen. Kann das sein? Woher hast du eigentlich meine Nummer? Habe ich sie dir an dem Abend gegeben?

Alles Liebe Mira 

 

"Oh Gott, du bist so ein guter Mensch", seufzte Kate und lächelte Mira an.
Sie sah Kate in die Augen, erwiderte ihr Lächeln und fragte: "Wieso?"
"Andere Menschen hätten einfach nur Dankeschön geschrieben. Du lädst sie mit deinem billigen Gehalt auch noch auf ein Date ein."
Mira grinste und steckte ihr Handy weg, dann rückte Kate ein kleines Stückchen von ihr weg. Sie musterte Miras Gesicht. In ihren Augen lag ein Lächeln, das viele Menschen immer wieder verzauberte, weil es von Herzen kam. Kates Augen verweilten lange auf Miras Gesicht. Inspizierten den kleinsten Winkel. Die Mulde über ihren Lippen, den Muttermal an ihrem Kinn, die zarten Sommersprossen. Kate war ein empathischer Mensch und sie konnte nachempfinden, wie sehr sich ihre Freundin über diese Meldung von dem ominösen Mann freute. Dass ihr dieser Typ nicht ganz so geheuer war, ließ sie unausgesprochen. Sie wollte Miras Freude nicht zerstören. Außerdem würde sie da sein, wenn etwas passierte. Solange durfte sie nicht den Teufel an die Wand malen.
Mira hingegen war so begeistert über diesen neuen Menschen, der in ihr Leben getreten war, dass sie sich gar keine Gedanken mehr darum machte, woher er ihre Nummer hatte.. Nachdem Kate ihr lange in die Augen sah, entfuhr ihren Lippen ein fassungsloses Lachen und sie schüttelte den Kopf.
"Was ist?", fragte Mira.
"Du bist so bezaubernd", kicherte sie und kniff ihr sanft in die Wange, "Du kannst dich über die kleinsten Dinge auf dieser Welt freuen. Ist dir das schon einmal aufgefallen?"
Mira konnte sich tatsächlich für viele Kleinigkeiten begeistern. Das war ihr vor einiger Zeit das erste Mal so richtig aufgefallen. Sie war die Einzige unter ihren Freunden, die sich über einen Regenbogen freute oder die über zwei Schmetterlinge lächelte, die über eine Wiese tobten, was so aussah, als würden sie spielen.
"Na ja. Wäre ja traurig, wenn das Gegenteil der Fall wäre", sagte sie dazu nur.
"Eben darum. Du kannst einen ganzen Raum mit deinem Lächeln erstrahlen lassen."
"Ach, jetzt bleib ruhig." Mira war nicht klar, dass dieses Kompliment Kates vollkommener Ernst war. Es reichte ein Lächeln von Mira, um die schlechte Laune eines anderen schnell besser zu machen. Kate wusste nicht, wie sie das schaffte, aber das war vermutlich diese Eigenschaft an Mira, die Kate so sehr liebte. Diese Ausstrahlung! Dieses strahlende Lächeln, das Lachen in ihren Augen. Die Tatsache, dass sie den ganzen Tag über fröhlich durch die Welt spazierte. Kate hatte nicht ein einziges Mal miterlebt, dass Mira einen anderen Menschen angepampt hätte. Sie wusste, dass absolut jeder von Mira begeistert war. Ihre Chefs lobten sie für ihre fleißigen, schnellen Hände, ihre Kollegen für die Höflichkeit, die sie ausschließlich jeden Tag übrig hatte und für die zuvorkommende Art, wenn Arbeit anfiel und sie sich bereiterklärte, die Arbeit zu übernehmen. Selbst wenn Mira einen Supermarkt voller fremder Menschen betrat, zog sie die Aufmerksamkeit auf sich. Wenn sie einen Raum betrat, dann war sie einfach da. Man spürte sie, wie das wärmende Licht der Sonne. Weil Mira so etwas wie die Sonne wahr. Sie strahlte Freude aus, Glück und eine Unbeschwertheit, die fast jeder mit den Jahren verloren hatte. Und das war der Grund, weshalb sie die Menschen in ihren Bann zog. Das war der Grund, weshalb sie Kate in den Bann zog. Kate fragte sich, ob Mira bewusst war, wie sie auf andere Menschen wirkte und außerdem war sie zutiefst beeindruckt von dieser Stärke. Von diesem Trotz, den Mira in sich trug. Von dieser Entschlossenheit, ihrer Vergangenheit den Rücken zu stellen und der Tatsache, dass sie anderen Menschen zeigen konnte, wie schön das Leben war, obwohl sie selbst so viel Ungerechtigkeit erlebt hatte.
"Das ist mein Ernst, Mira", in Kates Gesicht lag ein Lächeln, das jegliche Zuneigung ausdrückte, die sie für Mira empfand. Sie legte Mira eine Hand auf den Arm. Instinktiv suchten Miras Augen in Blitzgeschwindigkeit die Umgebung ab, als täten sie etwas Unerlaubtes und könnten dabei ertappt werden, dabei hatte Kate ihr einfach nur, mit einer ganz harmlosen Geste, die Hand auf den Arm gelegt. Trotzdem fühlte sich das sehr innig an, viel inniger als Freundschaft, weshalb Mira sich räusperte und den Blick senkte. Sie war dankbar, als sie das Blinken an ihrem Handy sah, das ihr signalisierte, dass sie eine Nachricht hatte. Mit einem Räuspern griff sie mit der Hand, auf der Kates Hand lag, nach ihrem Handy, so dass sie der Berührung entfliehen konnte.

 

Das glaube ich dir, dass du überrascht bist. ;-) Ich habe mir auch Gedanken darüber gemacht, wie es dir gehen könnte, weil wir von den Sanitätern irgendwie wortlos stehen gelassen worden sind. Ich habe dann auf gut Glück im Krankenhaus mal nachgefragt, aber die sagen ja nichts. Du musst übrigens kein schlechtes Gewissen haben. Das war doch selbstverständlich. Das mit dem Kind hast du auch gut beobachtet. Der war überraschend brav, als wir uns um dich gekümmert haben. Ich hoffe, wir haben mit dem Notarzt nicht übertrieben, aber mir war's lieber, dass du mal durchgecheckt wirst, weil du ja meinstest, dass du sonst allein daheim wärst. Die Einladung nehme ich natürlich gerne an. Irgendwann kriegen wir das bestimmt hin. Deine Nummer habe ich bei mir in der Arbeit gefunden. Ich arbeite bei der Kripo und wollte auch sicher gehen, dass es wirklich nur ein Kreislauf Problem bei dir war und nicht etwas anderes. Also z.B. dass dir jemand was getan hat. Und wie kommst du nach Schongau? Du hast ja gesagt, du bist ganz allein hier und deine Eltern wohnen in München..

 

"Der will aber ganz schon viel von dir wissen", murmelte Kate an Miras Schultern, als sie mitgelesen hatte und Mira verzog das Gesicht. Sie musste nachdenken, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, dass sie ihm etwas von ihren Eltern erzählt hatte, aber dann kam ihr erneut der Dialog in Erinnerungen.
Wohnst du alleine?
Ja…
Wir müssen sie nach Hause fahren. Sie kann nicht alleine bleiben!
Wie heißt du?
Mira.
Sind deine Eltern hier in der Nähe? Oder irgendwelche Verwandtschaft Nein.. ich... also... meine Eltern wohnen in München.
"Oh man. Ich war schon echt völlig neben der Spur", sagte Mira, "Ich kann mich kaum erinnern, was ich ihm alles gesagt habe."
"Eigentlich dürfte er dich gar nicht anschreiben. Ich kenne mich zwar nicht besonders gut aus, aber ich glaube, er hätte nicht nach deiner Nummer suchen dürfen", sagte Kate völlig unabhängig von dem, was Mira gesagt hatte und wurde damit nur in ihrem Verdacht bestätigt, dass mit diesem Kerl etwas nicht stimmte.
"Wirklich?", fragte Mira, obwohl ihr das relativ egal war. Sie war froh darum, dass er sie angeschrieben hatte.
"Wirklich", bestätigte Kate, dann rieb sie Mira den Rücken, "Aber das war jetzt nur ein lauter Gedanke. Woher weiß er das mit deinen Eltern?"
Mira legte ihr Handy auf den Tisch und lehnte sich nach hinten. Kate sah ihr prüfend in das Gesicht.
"Ich glaube, das habe ich ihm erzählt. Bin mir aber nicht sicher…“
Kate runzelte nachdenklich die Stirn und lehnte sich ebenfalls neben Mira in die großen Sitzkissen auf der Bank. Das Dressolé wurde immer befüllter. Sie hatten inzwischen auch das Licht etwas herunter gedreht, damit es gemütlicher wurde. Gerade kam die Bedienung an ihren Tisch und zündete ihnen eine kleine, rote Kerze an.
"Nun ja", setzte Kate an, nachdem die Bedienung weg war, und die beiden sich bei ihr bedankt hatten, "In drei Wochen ist Neujahr, da werdet ihr bestimmt auf das Thema zu Sprechen kommen." Sie machte eine kurze Pause und winkte eine Bedienung an den Tisch. Kurz bevor diese bei ihnen ankam, sagte sie noch zu Mira: "Sei aber trotzdem vorsichtig. Und treffe dich nicht alleine mit ihm. Eine heiße Schokolade bitte."

 

Zwölf

Die Unvernunft und die Naivität führten dazu, dass Mira Kate auf zwei Cocktails einlud, am Ende noch auf einen Rotwein und sie darum bat, bei ihr zu schlafen. Sie hätte nun sowieso kein Auto mehr fahren können und Mira wollte ihre Gesellschaft. Und ihr von Rotwein beschwipstes Herz wollte noch viel mehr. Als Mira sie auf den ersten Cocktail einlud, hatte Kate gelacht und sie daran erinnert, dass Mira eigentlich alleine die Nacht verbringen wollte, aber Mira bestand darauf, dass Kate sie nach Hause begleitete und bei ihr blieb.
So saßen sie also nun bei Mira Zuhause auf der Couch, der Fernseher war an, weil sie sich einen Film anschauen wollten. Als sie sich für einen entschieden hatten, legte Mira die Disc ein und wollte sich wieder zu Kate auf die Couch werfen aber sie hielt sie kurzerhand davon ab.
"Wollen wir uns nicht vielleicht erst fertig machen? Ich meine, Zähne putzen, waschen, umziehen. Dann müssen wir uns später nicht mehr von der Couch quälen, wenn wir zu müde sind."
"Du hast doch gar nichts zum Umziehen da", stellte Mira in ihrem immer noch angetrunkenen Zustand fest und rieb sich die Stirn, während sie Kate betrachtete. Sie hatte eventuell in ihrem Schrank noch ein Hemd hängen, ihr passen dürfte.
"Warte mal", sagte Mira und verschwand für einige Sekunden im Schlafzimmer. Dort wühlte sie so im Kleiderschrank herum, dass im Nachhinein nur noch pures Chaos herrschte. Mit einem hübschen Hemd in der Hand lief sie zurück zu ihr ins Wohnzimmer und reichte es ihr. Auch an die frische Unterwäsche hatte Mira gedacht. Kate lächelte sie herzlich an und stand von der Couch auf, um ihr die Sachen abzunehmen.
"Zahnbürsten sind im hinteren Schrank links oben."
"Sag mal... du bist aber vorgesorgt, kann das sein?" Kate grinste und Mira musste kichern. Scheiß Alkohol. Immer wieder wenn sich Mira versprach, keinen mehr zu trinken, tat sie es doch wieder und ärgerte sich jedes Mal auf's Neue über sich selbst.
"Ich habe fast alles auf Vorrat", erklärte Mira so monoton wie möglich. Kate tätschelte ihr sanft die Schulter und ging an ihr vorbei, um sich fertig zu machen. Mira sah ihr noch kurz hinterher, bis sie im Bad verschwunden war, und ließ sich dann auf die Couch fallen. Sie hörte, wie Kate den Wasserhahn aufdrehte und sich die Zähne putzte. Dann, wie sie den Gürtel ihrer Jeans öffnete und sie stellte sich vor, wie sie gerade in Unterwäsche... nein - nackt - in ihrem Bad stand. Dieser Gedanke verstörte Mira zutiefst. Nicht, weil sie es unangenehm fand - im Gegenteil. Es war einfach seltsam. Vermutlich war es aber genauso seltsam für sie, nackt in Miras Badezimmer zu stehen. Neben einer unausgeräumten Waschmaschine, ihren ganz persönlichen Deos, Bodylotions und Parfüms, die sie fast nie benutzte. Mira fragte sich, ob für Kate eine Wohnung genauso eine persönliche Bedeutung hatte, wie für sie.
Kurzzeitig war es dann totenstill, dann wurde wieder der Wasserhahn aufgedreht. Wieder abgedreht. Kurze Stille. Die Tür ging auf und Kate kam aus dem Bad. Mira sah sie an. Sie trug das Oberteil, das Mira ihr gegeben hatte und es reichte ihr beinahe bis zu den Knien. Sie sah selbst in so einem langweiligen Hemd atemberaubend schön aus. Ihr Gesicht war frisch gewaschen. An ihren Wangen klebte noch ein wenig Wasser. Sie war komplett ungeschminkt, dennoch waren ihre Wimpern dicht und lang. Wie sagte man dazu? Natürlich schön. Dadurch, dass jetzt keine Mascara an ihren Wimpern hing, stachen ihre gold-grünen Augen noch mehr hervor und sie schienen förmlich zu glühen.
"Na ja. So ungefähr passt mir dein Zeug." Sie sah auf sich herab, bevor sie sich neben Mira auf die Couch setzte.
"Immerhin", entgegnete Mira nur und versuchte sich ein Grinsen zu verkneifen. Sie sah toll aus. Und sie war Mira Zuhause! Und sie hatte Alkohol getrunken.
"Ich gehe mich auch mal fertig machen."
Mit einem warmen Gefühl im Bauch sprang Mira von der Couch auf und eilte in das Badezimmer. Kate hatte ihre Klamotten sauber auf der Waschmaschine zusammen gefaltet. Die Zahnbürste, die sie benutzt hatte, hatte sie neben Miras in das schwarze Glas gestellt. Für Mira war es etwas völlig Neues, Besuch in ihrer eigenen kleinen Wohnung zu haben. Es fühlte sich an, als würde jemand ihr Tagebuch aufschlagen und in die Seiten hineinhüpfen - mittendrinn' statt nur dabei. Irgendwie wurde Mira in derselben Sekunde schmerzlich bewusst, wie einsam sie eigentlich in diesen vier Wänden war. Es war schön, jemanden hier zu haben. Es war schön zu wissen, dass jemand im Wohnzimmer auf sie wartete, eine Person, die sie unbeschreiblich gerne mochte. Es war etwas völlig Anderes, sich im Bad fertig zu machen, mit der Gewissheit, sich danach neben Kate auf die Couch zu kuscheln und gemeinsam einen Film anzusehen. Wäre Mira jetzt alleine gewesen, hätte sie sich Zeit gelassen. Sie hätte sich im Spiegel betrachtet, sehr lange, sehr ausgiebig. Sie hätte vermutlich nach den kleinsten Makeln gesucht, hätte beim Zähne putzen die Zeit gezählt. 30 Sekunden rechts, 30 Sekunden links, 20 Sekunden vorne. Schrubben, Schrubben, Schrubben. Kreisen, Kreisen, Kreisen. Sie wäre mit der Haarbürste 10x durch ihre Haare gefahren, bis sie so durchgekämmt waren, dass sie nicht einmal mehr einen Zopf binden hätte können, weil sie durch ihre Finger rutschen würden. Dann hätte sie ihre Hand betrachtet und auf dem blauen Fleck herum gedrückt, sich schließlich zum Umziehen auf den Toilettendeckel gesetzt und wäre vermutlich komplett mit den Gedanken abgedriftet. Aber da sie wusste, dass Kate bei ihr Zuhause war und im Wohnzimmer auf sie wartete, war Mira in wenigen fünf Minuten im Bad fertig und eilte wieder zurück ins Wohnzimmer.
Normalerweise hätte sie nur ein T-Shirt angehabt, aber wegen ihres äußerst verführerischen Besuches trug sie eine Schlafhose. Bevor Mira sich zu Kate auf die Couch setzte, machte sie die DVD an und schaltete das Licht aus. Ein richtiges Kino-Feeling. Neben Kate lag eine Tagesdecke, in die sie sich meistens hinein kuschelte, wenn ihr kalt wurde. Gerade machte sie den Gemütlichkeitsfaktor perfekt, deshalb zog Mira sie Kate und sich selbst über die Knie.
"Habe ich noch irgendwas vergessen?", fragte sie Kate und suchte das Wohnzimmer im Schnelldurchlauf mit den Augen ab. Mit einem zarten Lächeln um die Lippen schüttelte Kate den Kopf und hob einen Arm an. Sie bedeutete Mira, dass sie sich zu ihr kuscheln sollte, Mira war sich aber nicht sicher, ob das eine gute Idee war.
Alleine die Tatsache, dass sie hier bei ihr Zuhause war, machte Mira total nervös. Die Vorstellung, sich den ganzen Film über in ihre Arme zu kuscheln ließ Miras Herz geradezu auf ein Fünffaches wachsen und nahm den ganzen Platz in ihrem Brustkorb ein. Dennoch rückte sie mit einer kleinen Bewegung näher an Kate heran und machte es sich gemütlich. Sie legte den Arm um Mira und streichelte kurz ihren Oberarm. Ohne irgendwas zu sagen, zog sie dabei die Decke über Miras Schultern.
Mira konnte den Alkohol noch deutlich spüren. Er war allerdings nicht mehr so penetrant wie vor einigen Minuten und so langsam schaltete Miras Verstand wieder ein. Die Situation wurde ihr immer mehr bewusst. Sie konnte Kates Herz an ihrem Ohr hören. Sie spürte die gleichmäßigen Bewegungen ihres Atems. Dort, wo sie den Arm um Mira gelegt hatte, wurde ihr warm und trotzdem hatte sie gleichzeitig eine Gänsehaut.
Es war so schön. Es tat so gut, in ihren Armen zu liegen. Es tat so gut, überhaupt in irgendjemandes Armen zu liegen! Auf einmal beschlich Mira eine Frage und sie musste Kate ansehen. Eine Frage, die sie einfach nicht für sich behalten konnte. Eine Frage, die sie drückte und quetschte und nervte, wie ein Kieselstein im Schuh. Kates Augen verfolgten den Bildschirm, aber irgendwie ließ Miras das Gefühl nicht los, dass Kates Aufmerksamkeit ganz wo anders war, als bei der Geschichte dort im Kasten.
"Kate?", flüsterte Mira. Kate schielte zu ihr herab. In ihren Augen ein leises Fragezeichen.
"Fühlst du dich wohl?" Mira konnte für den Bruchteil einer Sekunde erkennen, dass Kate die Frage überraschte und tatsächlich sogar ein wenig verwirrte. Dann setzte sie sich ein wenig aufrecht, wobei sei aber Mira nicht von ihrem Oberkörper schob und sah ihr in das Gesicht.
"Natürlich fühle ich mich wohl." Kates frischer Atem schlich sich in ihre Nase und Miras Augen klebten an ihren Lippen. Sie wollte sie küssen. Sie wollte sie so sehr küssen! Mira wollte so sehnlichst ihre Lippen berühren. Nur noch einmal wissen, wie sie schmeckt, wie es sich anfühlt, wenn Kate sie küsst.
"Mira..."
Miras heranwachsendes Begehren zerplatzte wie eine Seifenblase, als Kate sie mit einem entschuldigenden Blick sanft von sich drückte. Gerade so, dass sie Mira noch im Arm hielt, aber in die Augen sehen konnte. Kates Hand streichelte einmal kurz über Miras Wange, dann hielt sie Miras Blick fest. In ihren Augen lag so viel Sanftheit, dass es Mira im Herzen wehtat. Und dieses Herz war nun doppelt so groß wie das Fünffache. Es steckte ihr beinahe im Hals fest. Mira wurde schlecht.
"Was?", keuchte Mira. Die Hitze in ihrem Brustkorb brach durch ihre Lippen. Sie wollte nicht, dass Kate etwas sagte. Sie wollte, dass sie jetzt auf der Stelle ihre Lippen auf Miras legte und ihr die Angst aus der Seele küsste.
Sie tat es nicht. Miras Name, den sie vorhin ausgesprochen hatte, lag schwer in der Luft und Kate sah sie einfach nur an. Es tat weh. Es tat so weh. Dieser Blick. Es tat weh, weil Mira wusste, was sie dachte. Weil sie wusste, was sie sagen würde. Mira konnte es nicht nur in ihrem Gesicht sehen, sie konnte es fühlen. Und obwohl das, was sie nun sagen würde, das Selbstloseste war, was sie tun konnte - weil sie es nur für Mira tat - hatte sie das Gefühl, in einen Abgrund gestoßen zu werden. Das Absurde an der ganzen Erkenntnis gerade war nur, dass sie zwar Diejenige war, die Mira in diesen Abgrund stieß, aber gleichzeitig auch Diejenige war, die sie wieder auffing.
"Wenn ich dich ansehe, dann weiß ich, mit was für einer Person ich meine Zukunft verbringen wollen würde. Aber du bist noch jung", sie strich Mira eine Strähne aus dem Gesicht und sah dabei gequält aus, "Ich täte dir nichts Gutes damit, wenn ich dich zu einer Beziehung verführen würde, weil diese sowieso nicht lange halten würde."
Mira setzte an, um zu widersprechen, aber sie legte ihr einen Finger auf die Lippen und schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf.
"Ich will es nicht hören, Mira. Bitte. Mach es mir nicht schwerer, als es ist. Ich hasse es, vernünftig zu sein, aber in gewissen Dingen ist es die einzige Möglichkeit. Zum Beispiel auch hier, für dich. Damit meine ich nicht, dass ich denke, du wärst Beziehungsunfähig oder sowas. Ich versuche realistisch zu sein und uns beiden die Fakten vor Augen zu halten. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Du bist ein Freigeist und solltest das entfalten können. Ich glaube, mit einer Beziehung würde dir genau das genommen werden. Ich möchte dir lediglich die Chance geben, deinen Weg und das, was du wirklich willst, zu finden, verstehst du?"
Sie nahm Miras Hand und sah ihr in die Augen, die sie jetzt senkte und ihre Hände betrachtete, die Miras hielten. Sie war da völlig anderer Meinung. Warum sollte man sich nicht auch gemeinsam entfalten können? Warum konnte man nicht auch gemeinsam ein Freigeist sein? Wenn es der richtige Mensch war, dann durfte das auch funktionieren.
Dennoch konnte Mira ihr nicht antworten, weil sie ihre Worte schwer im Herzen trafen. Es waren ganz viele Gefühle und Erkenntnisse, die gerade auf sie einschlugen. Zum einen wäre da die Erkenntnis, dass sie große Gefühle für Kate hatte, die ausreichten, um über eine ernsthafte Beziehung nachzudenken. Herrje, wie klischeehaft, ich könnte kotzen. Und zum Anderen, dass Mira sie nie wieder als die Freundin ansehen würde können, wie bisher. Mit diesem Abend hier – nein, mit dem Abend, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten –, hatte sich absolut alles geändert.
Mira wollte ihr so gerne widersprechen, ihr die Gedanken äußern, aber in ihrem Hals war ein Kloß, sie hatte Angst und kämpfte gegen den Groll an, den sie auf sich selbst hatte. Wäre sie doch bloß die Erste gewesen, die vernünftig war! Schon an dem Abend, an dem der Rotwein ihr die Türen zur Unvernunft öffnete, hätte sie diese Scheißtür einfach wieder zuschlagen sollen. Hätte Mira nur einen einzigen Ton gewagt, hätte sie den Kampf gegen ihre ansteigenden Tränen verloren. In ihrem Kopf ratterte in Dauerschleife nur noch die Kakophonie der Worte: „Ich bin so blöd, ich bin so blöd, ich bin so blöd!"
"Und ich möchte für dich da sein."
Kate hob Miras Kinn an und fing ihren Blick auf. Sie las in diesem Moment pure Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit aus Kates Augen.
"Nicht, wie eine Partnerin, sondern so, wie du es momentan brauchst. Nicht als beste Freundin. Ich weiß, wie du darüber denkst und ich bin genauso wenig blöd wie du. Natürlich können wir nicht mehr so weiter machen wie früher. Alles, was passiert, geschieht aus einem Grund und alle Erlebnisse prägen uns. Also warum versuchen wir nicht einfach, das Beste daraus zu machen? Vielleicht sogar das Richtige? Ich weiß es nicht. Ich bin genauso wenig blöd, aber auch genauso wenig schlau. Ich kann klug daherreden, aber im Endeffekt bin ich mir auch nicht sicher, was jetzt der richtige Weg wäre. Ich weiß nur, was ich will und was mir mein Gefühl rät und das ist nun einmal die Tatsache, dass ich sehe, dass du jemanden brauchst, der dich auffängt, wenn du fällst. Die Person möchte ich sein."
Sie machte eine kurze Gedankenpause, in der sie mit einer von Miras Haarsträhnen spielte, dann ließ sie das Haar los und sah ihr wieder in die Augen.
"Vielleicht nicht für immer", murmelte sie gedankenverloren, "Aber wenigstens eine Zeit lang. Für immer ist eine Unendlichkeit, die ich nicht unterschreiben möchte. Man kann ja nicht wissen, was heute oder morgen passiert. Aber ich bin für dich da."
Sie tauchte aus ihren Gedanken wieder auf. Eine feste Entschlossenheit in ihren Augen. "Okay?"
"Na gut", sagte Mira und merkte, wie ihr der Instinkt kam, diese schwere Situation nun ins Lächerliche zu ziehen. Es war nicht fair, Kate gegenüber. Sie hatte ihr gerade eine halbe Rede vorgetragen, in der sie ihr gestanden hatte, wie viel sie ihr bedeute – dass sie ihre Herzentscheidung, sie als Partnerin haben zu wollen einfach in den Hintergrund drängte und das nur für Mira.
Vielleicht hat sie Recht. Mira wusste es nicht. Aber diese Selbstlosigkeit, mit der sie gerade weniger für sich, sondern viel mehr für Mira gedacht hatte, war der Beweis pur, dass sie ihr wichtig war. Und gerade deshalb empfand Mira es nicht als fair, es ins Lächerliche zu ziehen, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte sich ihr Leben lang aus solchen Situationen gerettet, in denen sie sie mit einem Witz auf eigene Kosten auflockerte.
"Dann ist es jetzt also weder ein vertragliches Fürimmer, noch eine absolut monogame Liebesbeziehung und noch weniger eine... Freundschaft. Ich glaube, die Sache ist jetzt völlig geklärt." Wie immer erkannte sie Miras Sarkasmus schneller, als sie ihn überhaupt ausgesprochen hatte und grinste schon, bevor sie zu Ende gesprochen hatte, über das ganze Gesicht.
"Ich weiß, vielleicht habe ich jetzt alles noch viel komplizierter gemacht als zuvor", sie schüttelte den Kopf und verbarg das Gesicht theatralisch hinter der Hand, "Schande über mich!"
Die Situation war gerettet. Sie lachten. Sie umarmten sich. Und dann verfielen sie der Magie der Anziehungskraft...

 

Dreizehn

 

Natürlich hätten sie fast wieder miteinander geschlafen. Fast. Denn Kate hatte sich rechtzeitig zurückgezogen. Nun ja, sie ist regelrecht von Mira weg gesprungen und Mira saß dann schwer atmend in die Couch gedrückt. Das T-Shirt halb bis zu den Brüsten hoch gezogen, die Hose war ihr bis zu den Hüftknochen heruntergerutscht. Ihr Puls ging so schnell, als wäre sie gerade drei Mal um die Altstadt gesprintet und zwischen ihren Beinen war es so heiß, dass sie dachte zu explodieren.

"Das ist doch scheiße", sagte Mira dann schließlich, halb keuchend, halb murmelnd und Kate seufzte tief, während sie sich ihre kinnlangen Haare richtete. Die hellblonden Strähnen hingen wirr in ihrem Gesicht herum. Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie wieder annehmbar aussah.

"Du meinst die Vernunft?"

"Ja, deine Vernunft." Auch Mira strich sich die Haare aus dem Gesicht und zog sich wieder an. Das Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals.

"Einer von uns muss ja vernünftig sein."

"Bullshit", murmelte Mira, wusste aber, dass sie Recht hatte. Und gleichzeitig war Mira ihr auch dankbar. So, wie Mira sie begehrt hatte, so sehr hatte sie auch die Angst davor, dass es wieder passiert – und alles noch schlimmer wird.

"Insgeheim weißt du’s", sagte Kate und setzte sich wieder näher an Mira heran. Sie half ihr, die Haare zu richten. Dann sah sie Mira lange einfach nur an. Ohne ein Wort. Bis auf einmal die Melodie des Filmsoundtracks von dem Film, den sie ursprünglich anschauen wollten, sehr laut wurde und sie beide den Kopf zum Fernseher drehten.

"Wie fandst du ihn?", fragte Mira ironisch, aber völlig monoton.

"Sehr interessant. Und tiefgründig", antwortete sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck.

"Und melodramatisch", erwiderte Mira genauso ernst. Dann sahen sie sich an und grinsten. "Vielleicht sollten wir jetzt aber auch einfach schlafen", dachte Mira laut, um der unangenehmen Situation zu entkommen.

"Vielleicht sollten wir das", sagte Kate, "Morgen haben wir sowieso unseren letzten Arbeitstag, für dieses Jahr."

"Wahnsinn, oder?", staunte Mira, als sie sich erinnerte, dass heute schon der 22. Dezember war. In zwei Tagen war Weihnachten. In einer Woche Neujahr. Sie konnte es kaum glauben.

"Ja. Dieses Jahr ging viel zu schnell vorbei. Manchmal hat man das Gefühl, man kommt mit dem Leben gar nicht hinterher." Kate sah nachdenklich aus dem Fenster in den schwarzen Himmel. Es waren keine Sterne zu erkennen. Nicht einmal der Mond war von diesem Winkel aus zu sehen.

"Hmh", machte Mira, "Aber dennoch hat jedes Jahr 365 Tage und jeder Tag hat 24 Stunden. Das heißt, dass jedes Jahr ungefähr gleich lang ist. Verpassen können wir also gar nichts." Kate riss den Blick vom Fenster und lächelte Mira warmherzig an.

"Ganz genau. Und der neue Tag ist vor genau 13 Minuten angebrochen. Deshalb sollten wir uns ins Bett legen."

"Und schlafen", fügte Mira hinzu.

"Genau. Und schlafen."

 

Als Kate und sie nebeneinander im Bett lagen, legte Kate ihren Arm um Mira und streichelte noch eine kurze Zeit ihren Arm, bis sie einschlief. Als Mira dann ihrem gleichmäßigen, ruhigen Atem lauschte, fing sie an, an Lejla zu denken. Sie hatte sich ein ganzes Jahr nicht gemeldet. Ein ganzes, volles Jahr hatte sie ihre Stimme nicht gehört. Diese wenigen Antworten, die sie ihr hie und da geschrieben hatte, hatten sie nur kurzweilig aufmuntern können. Zumal es wirklich meistens nur ein Satz – wenn überhaupt! – war, den sie für Mira übrig hatte. Es machte sietraurig. Schrecklich traurig. Denn sie verstand einfach nicht, was sie falsch gemacht hatte. Sie verstand nicht, warum sich Lejla von heute auf morgen einfach nicht mehr gemeldet hatte. Lejla hatte ihr zwar von Anfang an, seit sie uns kennen, versichert, dass sie niemals einfach verschwindet – und dieses Versprechen hat sie ja offensichtlich gehalten, denn sie hat sich ja wieder gemeldet -, aber dass sie zuvor ganze 8 Monate nichts von sich hören ließ, war absolut unüblich. Es hatte Mira die letzten Nerven geraubt, weil sie irgendwann sogar mit dem Gedanken spielte, was denn nun wäre, wenn ihr tatsächlich etwas zugestoßen ist und schon längst auf einem Friedhof in einem Grab liegt. Mira hätte es nicht mitbekommen. Und sie hätte noch nicht einmal etwas tun können, denn weder hatte sie ihre Telefonnummer, noch ihre Adresse, geschweige denn ihren vollen Namen. Alles, was sie über Lejla wusste war, dass sie 200 km von ihr entfernt wohnte und es theoretisch ein Katzensprung gewesen wäre, sie zu besuchen. Und dann, irgendwann, nach sage und schreibe, 8 Monaten, hatte sie eine E-Mail in ihrem Postfach. Von Leyla. Und was stand da drinnen? Nichts. Es war lediglich ein Foto von ihr, in dem sie in die Kamera zwinkerte und halb lächelnd einen Kussmund machte. Ein Foto, bei dem sich Mira mal wieder dachte, wie unfassbar schön sie war. Und das, obwohl sie dieses Jahr schon die 47 erreicht hatte. Sie sah definitiv nicht älter aus als 35. Dieses Foto hatte sie Mira als Antwort auf einen ellenlangen Text geschickt, in dem sie ihr schrieb, wie sehr sie Mira fehlt, wie ihr Leben momentan aussieht und dass sie hoffe, dass es ihr gut geht. So fing dann also der Kontakt wieder an – aber wie gesagt, nur sporadisch. Ihre Nachrichten waren mittlerweile ganz anders, als damals. Weniger liebevoll, viel mehr belehrend oder tadelnd. Allerdings erinnerte Mira sich bis heute an einen Satz, den sie zu ihr gesagt hatte, der ihr Herz wie Butter schmelzen ließ. Und dieser Satz war: "Mira, ich mag dich sehr! Und ich will nicht dabei sein, wenn du dir dein Leben zerstörst." Das war vor fünf Jahren. Im Dezember 2010. Zu der Zeit kannten sie sich schon seit eineinhalb Jahren, aber noch kein einziges Mal hatte sie zu ihr gesagt, wie sie zu Mira steht. Geschweige denn, dass sie sie mag.

 

November 2010

Ein Mensch beschließt nicht einfach so, zu sterben. Ein Mensch will sterben, wenn er keinerlei Hoffnungen mehr in sich trägt. Nicht einmal einen kleinen Funken. Nun ja, mir geht es so. Mir geht es furchtbar. Und heute geht es mir schlechter, als jemals zuvor. Diese Leere, dieser gottverdammte Schmerz, der einfach von nirgendwo kommt.

Ich hasse ihn. Er ist in mir drin. Ich hasse ihn und ich hasse mich und ich hasse, dass es nicht aufhört. Ich hasse dieses Gefühl, von innen heraus zu verbrennen und am liebsten würde ich mich ins Bett legen und schreien. Diesen ganzen Schmerz totschreien. Oder aus mir heraus kotzen. Egal was! Aber nichts. Nichts, bringt mich weiter. Nichts, verdammt, absolut nichts macht, dass es aufhört.

Die Leere, die gerade in mir war, war allerdings viel schlimmer, als der Schmerz, der sonst noch dazu kam. Denn dieser blieb einfach aus. Da war einfach nur Leere in mir. Ich fühlte NICHTS. Das erste Mal in meinem Leben wusste ich, was es bedeutet, aufzugeben. Das Leben aufzugeben, die Hoffnung aufzugeben, sich aufzugeben – scheißegal. Einfach alles aufzugeben.

Innerlich war ich sowieso schon längst tot. Ohne irgendein Gefühl, außer einem dumpfen Pochen, ganz tief in meiner Magengrube (war das mein Herz?), kroch ich zu dem Schränkchen meiner Oma. Drei Schubladen. Medikamente. Keine Ahnung, was das für Zeug war, aber ganz sicher waren viele Schlaftabletten dabei. Und anderes Zeug. Schmerzlindernde Medikamente, vielleicht. Irgendwas für’s Herz? Oder für die Muskeln oder Knochen? Weiß der Geier, das war mir in dem Moment herzlich egal.

Insgesamt nahm ich 5 Packungen aus den Schubladen. Eine Hand voll Tabletten. Ich dachte nicht einmal darüber nach, als ich es tat. Ich würgte sie einfach herunter. Einige spuckte ich wieder aus, weil der Würgreiz bei den größeren Tabletten einfach zu extrem war. Es tat weh, aber es kümmerte mich nicht. Ich stopfte sie wieder rein und schluckte. Es tat so weh, dass mir die Tränen in die Augen traten, aber ich hatte kein Wasser da, ich hatte also keine andere Wahl, als sie mit Zwang trocken herunter zu würgen.

Ich merkte nichts. Ich weiß nicht, worauf ich wartete oder was ich erwartet hatte. Ich dachte ich würde sehr bald einfach wegtreten – also einschlafen oder in Ohnmacht fallen. Aber wie ich so jämmerlich auf dem Parkettboden in meinem Zimmer saß, in tiefster Nacht, ganz alleine, und die offenen Medikamentenpackungen auf dem Boden anstarrte, wurde mir klar, dass ich wohl noch Zeit hatte. Wofür auch immer. Um weiter zu leiden, vermutlich. Nicht einmal der reizende Sensenmann erwies mir die Ehre, mich einfach in sein verdammtes Reich zu holen. Nein. Ich starrte auf die Uhr, immer noch auf dem Boden. Ich hatte das Gefühl, die Zeiger würden sich auf einmal viel langsamer bewegen und dann waren es nicht mehr nur noch zwei, sondern vier Zeiger. Doppelt so viel Zeit – und dann auch noch verzögert. Na toll.

Mit langsamen Bewegungen griff ich nach den Packungen und stopfte sie zurück in die Schublade und schob sie zu. Es fühlte sich seltsam schwer an. Auch das Material fühlte sich nicht nach Plastik an, was es ja eigentlich war, sondern seltsam gummi-artig. Ich hatte das Gefühl, es würde dem Druck meiner Finger nachgeben, aber vermutlich bildete ich mir das auch nur ein. Was wollte ich gerade tun? Die Tabletten hatte ich wieder weggelegt. So konnten meine Eltern wenigstens denken, ich wäre bloß eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.

Und jetzt? Ich durchforstete meinen Kopf. Das Denken fiel mir unsagbar schwer. Alles kam mir viel zu verzögert vor. Das Ticken der Uhr, meine Bewegungen, sogar das, wie ich mit meinen Augen die Umgebung absuchte, wirkte auf mich wie eine Computermaus, die total langsam reagierte, weil der Rechner so viele Dinge auf einmal arbeiten musste. Das Signal kam einfach nicht rechtzeitig an. Und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass auch das Atmen viel zu verzögert kam.

Irgendwas stimmte nicht. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht. So sollte das nicht sein. Ich sollte doch einfach einschlafen! Aber anstatt der Müdigkeit, die ich erwartet hatte, trat einfach nur eine schrecklich große Trübheit ein. Erst brauchte ich unfassbar lange, bis ich etwas mit meinen Augen fixieren konnte und als ich versuchte zu meinem Bett zu kriechen, hatte ich das Gefühl, es würde sich immer weiter von mir entfernen. Alles bewegte sich. Sogar ich. Obwohl ich nur dasaß. Oder? Nein, meine Hand griff nach vorne. Sehr ungeschickt erreichte ich mit wenigen Fingerspitzen die Bettkante und ich zog mich an das Gestell. Es kostete mich große Mühe, mich auf das Bett zu ziehen. Im Endeffekt weiß ich nicht einmal, wie es mir gelungen war. Und im selben Moment, wie ich mich in den weichen Stoff fallen ließ, wollte ich sofort wieder auf den Boden, denn ich hatte das Gefühl in einem Wackelpudding gefangen zu sein, der nicht aufhört, mich zu schütteln.

Mir wurde übel. Unglaublich übel. Ich wollte sofort wieder von dem Bett runter, aber ich verlor gerade die Kontrolle über meinen Körper. Mein Bein fing an zu zucken. Dann beide. Es war ein seltsames Gefühl, was ich aber nicht lange wahrnehmen konnte, weil zu allem Überfluss mein Magen zu brennen anfing. Oh Gott, was habe ich getan? Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Ich hätte wissen müssen, dass das Leben nicht einmal in der Sekunde so gnädig mit mir umgeht, wenn ich mich umbringen will. Nicht einmal dann. Ich hätte wissen müssen, dass selbst das schief geht, dass ich vermutlich der einzige Trottel bin, der sich umbringt und dabei auch noch die schlimmsten, körperlichen Schmerzen erfährt.

Nicht eine einzige Sekunde hätte ich mir vorstellen können, dass solche Schmerzen überhaupt möglich sind. Ein anderer Idiot hätte sich einfach von einem Hochhaus gestürzt, erhängt oder erschossen. Aber doch niemals eine Überdosis genommen! Großartig. So sterbe ich nun auch noch mit der Erkenntnis, dass ich ein erbärmlicher Vollidiot bin.

Ich keuchte. Aus diesem Keuchen wurde ein Gurgeln und ich spürte, wie mir irgendwas die Speiseröhre hochkam. Instinktiv drehte ich mich auf die Seite, stützte mich ab und hing nun mit dem Kopf von der Bettkante, sodass ich gerade noch rechtzeitig auf den Parkettboden erbrach und nicht auf die hellblaue Bettdecke. Kaum dass draußen war, was raus musste, kam der nächste Schwall. Und vor Schreck und Schmerzen stöhnte ich, noch bevor alles aus mir heraus war, denn ich starrte auf einmal in ein dunkelrotes Etwas. Es muss Blut gewesen sein. Etwas anderes ergab keinen ersichtlichen Sinn. Aber was ergab überhaupt schon Sinn?

Ich konnte es ja nicht erkennen. Es bewegte sich immer noch alles und alles, was ich erkannte, war lediglich diese dunkelrote Lache auf dem Boden. Vielleicht war es auch mein Herz? Schön wär’s. Ich habe schon oft in meinem Leben Herzen gekotzt. Das lag aber daran, dass mir immer schlecht wurde, wenn ich die ganzen frischverliebten Liebespaare auf den Straßen herumknutschen sah.

Oh Gott, ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr! Es tut so furchtbar weh! Dieses Brennen in meinem Magen hatte sich so ausgebreitet, dass ich es nun sogar im Mund spürte. Ungefähr so fühlte ich mich als Kind oft, wenn ich hohes Fieber hatte. In meinem Mund war es immer schrecklich heiß. Wie im Ofen. Auf einmal merkte ich, wie mir langsam aber sicher immer dunkler vor Augen wurde und eine Sekunde war ich glücklich. Glücklich, weil es jetzt endlich ein Ende nahm. Jetzt würde ich sterben. Ganz sicher. Mein Blickwinkel wurde immer enger, immer kleiner, immer dunkler. Bis ich nur noch durch ein klitzekleines Loch starrte, kleiner als ein Ameisenkopf und dann fiel ich in eine vollkommene Schwärze.

 

Vierzehn

  

Natürlich ist sie damals nicht gestorben. Selbst dazu war sie zu blöd gewesen. Ein Mensch, der zu blöd dazu ist, sich umzubringen, hat es gar nicht verdient zu sterben. Mira ist damals in der Früh aufgewacht, mit Kopfschmerzen und Bauchkrämpfen, aber sonst war alles wie immer. Sie hatte das Zeug, was sie in der Nacht ausgekotzt hatte – und ja, da war tatsächlich jede Menge Blut dabei – weggeputzt und hatte sich für die Schule fertiggemacht. Sie hat weitergelebt, als wäre nie etwas gewesen. Als hätte sie niemals vorgehabt, sich umzubringen. Müde von der Erinnerung rieb sich Mira die Augen und griff nach ihrem Handy. Sie wollte Mark zurückschreiben. Vielleicht lenkte sie das ein wenig ab, außerdem wartete er sicher schon auf eine Antwort. Also ging Mira auf seine Nachricht von heute Abend ein, erzählte ihm, dass sie hier ihre Ausbildung angefangen hatte und immer wieder mal ihre Eltern in München besuchte. Dann legte sie ihr Handy weg, kuschelte sich noch enger an Kate und schlief binnen weniger Sekunden ein. Als Mira aufwachte, war es noch dunkel, was allerdings nicht unüblich zu dieser Jahreszeit war. sie hörte draußen den Piepton der Müllabfuhr und hinter ihr den gleichmäßigen Atem von Kate. Sie war mit dem Rücken zu ihr gedreht und starrte auf die Löcher der Rollos, durch die sich orangenes Licht kämpfte. Sie war so müde, dass sie am liebsten wieder die Augen geschlossen und weiter geschlafen hätte, aber sie wusste, dass wenn sie jetzt der Müdigkeit nachgab und wieder einschlafen würde, mit Kopfschmerzen aufwachen würde. Also rieb sie sich die Augen und zwang sich aus dem Bett, ohne Kate dabei zu wecken. Mira war totenstill. Man hätte sie nicht einmal in hellwachem Zustand in einem Raum vermutet, so still wie sie war, trotzdem drehte sich Kate von der einen Seite auf die andere und rieb sich die Augen. Mira blieb wie versteinert vor dem Kleiderschrank stehen und drehte ihren Kopf langsam zu Kate, die sie aus ihren schönen Augen anblinzelte.

"Was machst du denn da?", murmelte sie müde und richtete sich im Bett auf.

"Ähm…", Mira sah auf die Klamotten in ihrer Hand und dann wieder in Kates Gesicht, "Ich wollte mich anziehen…"  

"Warum?", sie runzelte die Stirn und schaute auf die digitale Uhr auf dem Fensterbrett, "Fünf Uhr? Du bist doch kein normales menschliches Wesen." Sie ließ sich wieder zurück ins Bett fallen und legte die Hand auf ihre Stirn.

"Habe ich dich jetzt wirklich geweckt?"

"Nein", seufzte sie, "Ich bin von alleine wach geworden und habe dann gespürt dass du nicht mehr neben mir liegst." Sie rieb sich sanft über das Gesicht und setzte sich wieder auf, um die Nachttischlampe anzumachen. Beide kniffen geblendet die Augen zusammen. Mira hätte neidisch werden können, als sie Kate sah. Selbst in aller Herrgottsfrühe sah sie so schön aus wie in einem billigen Hollywood-Film, in denen die Schauspieler selbst zum Schlafen hergerichtet wurden.

"Ich steh auch gleich auf. Kann ich dann ins Bad oder möchtest du dich ungestört fertig machen?", fragte sie, nachdem sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten.

"Nein. Stört mich nicht", sagte Mira kurz angebunden, weil sie schon wieder nervös wurde. Sie liegt in meinem Bett. Bei mir Zuhause. Und sie sieht atemberaubend schön aus! Mit einem leisen Räuspern packte Mira ihr Zeug und eilte in das Bad, um sich fertig zu machen.

  Sie hatten sich beide relativ viel Zeit gelassen, um sich fertig zu machen. Es blieb sogar noch genug Zeit für ein richtiges Frühstück, das allerdings relativ seltsam verlief. Mira war nämlich noch im Bad, um sich die Haare zu machen. Als sie dann in die Küche trat, um sich  einen Kaffee zu machen, war der Tisch für Zwei gedeckt. Getoastetes Toastbrot, Geflügel-Schinken, Tomaten und Frischkäse standen in der Mitte des Tisches. Kate stand mit den Händen in die Hüfte gestemmt neben dem Tisch und sah Mira schulterzuckend an. "Viel hast du ja nicht zu bieten. Wann warst du das letzte Mal einkaufen?"  

"Gestern", sagte Mira wahrheitsgemäß.

"Ach ja? Und was hast du gekauft? Wasser?" Sie warf einen Blick auf den Sixpack mit den 1,5 Liter Flaschen.

"Nein", Mira schüttelte den Kopf, "Joghurt. Und Gemüse." Sie zeigte auf die Tomaten in der Mitte des Tisches.

"Oh wow. Dieser Magerjoghurt mit 0,1 % Fett?" Mira entging nicht, dass Kate ein wenig ärgerlich zu werden schien. Warum auch immer. Mira verstand sie nicht. Es war ihre Küche. Ihr Kühlschrank. Ihr Geld. Ihr Leben. Was war das Problem?

"Ja, der", antwortete Mira ein wenig gereizt. Jetzt verfinsterte sich Kates Mine für den Bruchteil einer Sekunde. Dann fiel der Zorn aber von ihr ab, sie ließ die Arme wieder hängen und seufzte.

"Setz dich", bat sie Mira leise und zog einen Stuhl vom Tisch weg, um Mira einen Platz zu bieten. Zögerlich trat sie an den Tisch und setzte sich. In ihrem Magen lag ein schwerer Stein, weil sie die Situation gerade verunsicherte. Was war das eben? Hatten sie gerade indirekten Alltags-Streit gehabt? Fast wie ein Ehepaar. Fast. Oder zumindest ein Pärchen, das schon länger zusammen lebt.

"Ich habe dir nur einen Toast gemacht…", sagte sie wie nebenbei, während sie ihre zwei Toasts mit Frischkäse beschmierte und Schinken drauf legte. Dann sah sie auf Miras Teller, auf dem das nackte Toastbrot lag.

"Was ist? Keinen Hunger?" Sie fragte es mit einem amüsierten Unterton, aber Mira konnte ihre leichte Gereiztheit nicht überhören. Sie war sarkastisch. Wenn Kate auf so einem Level mit Sarkasmus spielte, war sie kurz davor wütend zu werden. Das wollte Mira nicht herausfordern, nahm das Toastbrot und brach eine Ecke ab, um sie in den Mund zu stopfen. Kate knallte darauf das Messer mit so einer Wucht auf den Teller, dass Mira sich richtig erschrak und ihr Puls in die Höhe fuhr. Sie hielt im Kauen inne und blinzelte sie schwach an. Was sollte sie denn tun? Ihr Magen fühlte sich an wie ein Sack voll mit aufgegangenem Reis. Sie hatte einfach keinen Hunger und bekam keinen Bissen herunter.

"Du musst etwas essen, Mira!" Mira kaute vorsichtig weiter, schluckte den Brocken und legte das Toastbrot aus der Hand. Es war sinnlos. Es ging einfach nicht.

"Ich habe keinen Hunger. Denkst du, ich esse aus Protest nicht?"

"Ja, durchaus. Das denke ich!" Zwischen ihren Augenbrauen bildeten sich Zornesfalten und Mira erwiderte diesen bösen Blick, weil sie Kates kläglichen Versuch, sie mit Essen vollzustopfen, alles andere als fair fand.

"Was erhoffst du dir davon?", fragte Mira beleidigt, "Dass es mir wieder gut geht? Sorry, ich muss meine innere Leere nicht mit irgendwelchem sinnlosen Fraß füllen, damit ich wieder himmelhochjauchzend durch die Wohnung tanze." Wütend krallte Mira sich das Toastbrot, knüllte es in einer Faust zusammen wie ein Stück Papier, stand vom Tisch auf und warf es in die Mülltonne. Miras Schultern bebten, während sie auf den Mülltonnendeckel starrte und sie versuchte sich zu beruhigen. Es gab keinen Grund, so auszurasten. Eigentlich. Uneigentlich ging ihr Kates Aufstand aber tierisch auf die Nerven. Mira beabsichtigte ihr verdammtes Essverhalten nicht. Wenn sie Hunger hatte, aß sie. Punkt.

"Ich will nicht streiten." Mira zuckte zusammen, als sie Kates Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie hatte nicht gehört, dass sie aufgestanden und zu ihr gekommen war. Miras Unterkiefer war angespannt und sie knirschte mit den Zähnen, bevor sie die Augen schloss und einmal tief durchatmete. Dann drehte sie sich zu ihr um, sah ihr aber nicht in das Gesicht, sondern auf den trostlos gedeckten Tisch hinter ihr.

"Ich will auch nicht streiten", flüsterte Mira, immer noch mit einer Zornesfalte im Gesicht, aber sie war zu aufgebraust, um sie einfach verschwinden zu lassen. Das Essen war ein schweres Thema, mit dem man sie schnell reizen konnte. Dass sie Kate so angefahren hatte, war nicht ihre Absicht gewesen. Kates Stimme klang sanft und leise, als sie weitersprach. Fast sogar vorsichtig.

"Komm. Lass uns den Tisch abräumen und bevor wir zur Arbeit fahren kaufen wir uns einen Kaffee beim Bäcker."

"Cappuccino", korrigierte Mira monoton und hob den Blick, um ihr in die Augen zu sehen.

"Oh, ja. Verzeihung, Cherí." Sie lächelten sich an und der aufkeimende Ärger war verflogen.

Kate hatte Mira direkt vor dem Gebäude heraus gelassen, weil es unfassbar arg schneite und war selber weiter gefahren, um einen Parkplatz zu suchen. Sie waren kurz vor knapp angekommen und als Mira den Empfangsbereich betrat, war sie im ersten Moment sehr verwundert, dass sie Melly nicht sah. Nur eine Minute später kam sie um die Ecke aus dem Pub und hielt eine Tasse Blaubeermuffin-Tee in der Hand.

"Miraaa", rief sie grinsend, stellte die Tasse ab und kam zu Mira gehopst, um sie zu umarmen. "Gehts dir gut?", fragte Melly. Hinter ihnen ging die Zwischentür auf und Mira drehte sich um. Kate kam herein, die Kapuze ihres braunen Parkas über dem Kopf. Sie klopfte ihre Schuhe auf der Schmutzfangmatte ab und trat zu ihnen. Als sie neben Mira trat und ihr den Arm um die Hüfte legte, war sie so überrascht, dass sie einen Moment lang ihre Gesichtszüge nicht unter Kontrolle hatte und auch Melly sprang eine Augenbraue verwundert in die Höhe.

"Ääähm. Ja, mir gehts gut. Es ist nur... kalt... und müde... also, ich bin müde", stammelte Mira unbeholfen, wie der letzte Idiot. Kate hatte sie völlig aus der Fassung gebracht. Es war nicht diese eine Geste, dass sie ihr den Arm um die Hüfte legte. Das tat Mira bei Melly auch manchmal, wenn sie im Supermarkt an der Kasse anstanden. Es war diese Art, wie sie es tat. Als würde sie Mira näher an sich heranziehen wollen. Falsch, als würde sie Mira in sich hineinziehen wollen. Es war viel zu intim. Jedenfalls bildete sich Mira das ein. Vielleicht interpretierte sie das auch völlig falsch und Kate hatte keinerlei Hintergedanken dabei. Okay, ein Ruck. Nur ein einziger, kleiner Ruck. Mira lächelte Kate an und drehte sich aus ihren Armen, griff mit einer Hand in ihre Jackentasche und zog 50 Cent hervor.

"Cappuccino", rief sie, während sie um die Ecke bog. Obwohl sie Kate nicht mehr sah, wusste sie, dass sie grinsend die Augen in Mellys Richtung verdrehte, dann rief sie ihr hinterher: "Du hattest doch vor fünf Minuten erst einen!"

Mira lachte still in sich hinein, da öffnete sich die Tür direkt neben dem Pub und Ben kam ihr entgegen. 

"Huch", machte sie, weil sie beinahe über seine Beine stolperte und hielt sich am Türrahmen zum Pub fest. Er griff nach ihrem Arm, lächelte sie aus seinen blauen Augen an und ging weiter. Verstört sah sie ihm hinterher und fragte sich mal wieder, was diese ständigen Blicke von ihm zu bedeuten hatten.

"Du bist aber auch ein herrlicher Tollpatsch", kommentierte Kate, die Miras Stolper-Aktion gesehen hatte, da sie ihr in den Pub gefolgt war.  "Hast du das gesehen?", fragte Mira rhetorisch und stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine, "Ich finde ihn zutiefst verstörend." In ihren Worten lag ein Hauch von Ironie, den Kate aber schnell auffasste.

"Es gibt da eine Traumatherapie, die würde ich dir empfehlen, wenn du das Bedürfnis danach hast." Sie legte Mira kurz eine Hand auf die Schulter und drückte zu, während sie die 50 Cent in den Kaffeeautomaten schob.

"Das war der Witz des Jahrhunderts."

"Nein", wiedersprach sie, "Soll ich dir sagen, was der Witz des Jahrhunderts ist?"

Mira nahm ihre volle Tasse und ließ Kate an den Automaten.

"Ich nehme an, du wirst es mir gleich verraten."

"Der Witz des Jahrhunderts ist, dass ich das erste Mal in meinem Leben Weihnachten alleine verbringe."

Miras Blick verharrte auf ihren Wangenknochen und sie zog irritiert die Augenbrauen zusammen. 

"Warum verbringst du Weihnachten alleine?" Mit einem Schulterzucken löffelte Kate zwei Zuckerwürfel in ihren Kaffee und gab noch einen Schuss Milch dazu. Mira schlemmerte den warmen Milchschaum vom Cappuccino und betrachtete Kate aufmerksam. Sie wirkte kurz so, als würde sie nicht darüber reden wollen. Oder als würde sie sich überlegen, wie sie sich herausreden konnte. Dann sah sie Mira aber kurz in die Augen und meinte: "Meine Eltern sind zerstritten und ich habe keinen Bock auf diese erdrückende Scheinheiligkeit. Da verbringe ich lieber meine Zeit in Ruhe in meiner Wohnung, kuschele mich in eine Decke, mache meinen Pseudo-Kamin an und schaue schnulzige Weihnachtsfilme, von denen ich das Kotzen kriege."

Irgendwie tat sie ihr leid. Mira hätte sie ja gerne eingeladen, mit ihr Weihnachten zu feiern, aber bei ihrer Familie war die Scheinheiligkeit vermutlich nicht viel weniger schlimm. "Und dann sitzt du lieber kotzend vor irgendwelchen billigen Weihnachtsfilmen, die du schon hundertmal gesehen hast?"

"Ja. Viel lieber. Wenn ich Glück habe, läuft der Grinch. Mit diesem hässlichen  Ungetüm habe ich mehr gemeinsam, als du denkst."

"Der Grinch ist nicht hässlich", rief Mira entsetzt und boxte ihr sanft in die Schulter. Sie lachte emotionslos auf.

"Stimmt. Ich vergaß! Du würdest ja auch Golum adoptieren, weil du ihn so zuckerschnutig findest." Mit einem Zwinkern verließ sie den Pub. Mira sah ihr kurz hinterher, dann machte sie sich auch auf den Weg zur Arbeit. Bevor sie sich an ihren Tisch setzte, checkte sie noch ihr Handy, ob Mark geschrieben hatte.

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 03.01.2016

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