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Eine sonderbare Begegnung

Lorena saß an dem Schreibtisch in ihrem Zimmer. Sie hatte mal wieder Probleme, ihre Französischvokabeln in den Kopf zu kriegen, um sie nach den nervigen Test achtlos wieder hinauswerfen zu können. Mal ehrlich, wer kam denn bitte auf die äußerst dumme Idee, mit solchen Tests Schüler zu quälen? Lorena raufte sich die dunkelbraunen Haare und schüttelte den Kopf, sodass ihr einzelne Strähnen wieder ins Gesicht fielen. Genervt strich sie sie hinter das Ohr und stand schließlich auf. Es brachte ja doch nichts. Sie würde morgen bei dem Test versagen, aber wem, außer ihrer Mutter, würde sich groß darum kümmern? Das Mädchen stellte sich ans Fenster und blickte auf die kahlen Baumwipfel, die dicht darunter die Sicht zum Boden versperrten. In weiter Ferne konnte man die Ziegel der Häuserdächer erkennen, die in den untergehenden Sonnenstrahlen rötlich schimmerten. Das Fenster spiegelte Lorenas Gesicht. Sie hatte ein Ovales, ihre Haut war glatt, doch hatte einen leichten, dunklen Teint. Ihre Haare waren dagegen so braun wie dunkle Schokolade und fielen ihr knapp über die Schulter. Im Großen und Ganzen war ihr Gesicht ganz normal, wie es eben bei sechzehnjährigen Mädchen war. Doch das Ungewöhnliche war dann doch ihre Augen. Sie strahlten in einem schönen leuchtenden Grün, weder zu hell, aber auch nicht zu dunkel und kleine schwarze Tupfer zierten diese ungewöhnliche Farbe. Lorena fragte sich immer wieder, woher sie wohl diese Augen hatte, denn sie war schon ein wenig stolz auf sie. Doch ihre Mutter hatte ein mattes Blau und laut ihr hatte ihr Vater einen dunklen Braunton gehabt. Doch sie verwarf ihre Gedanken und wandte sich ab, um nach unten zu gehen. Das Haus war spärlich beleuchtet, es hatte enge Flure, knarzende Dielen und war ohnehin recht alt. Doch Lorena mochte es, auch, wenn es ihr manchmal zu dunkel vorkam. Sie ging die hölzerne Wendeltreppe hinab und seufzte leise, als sie ihre Mutter in der Küche sah. Ihre Mutter war eine kleine Frau, recht schlank und zierlich, das hatte sie vermutlich auch an ihre einzige Tochter abgegeben. Sie hatte jedoch ein spitzes Gesicht und ihre Augen hatten etwas Strenges. Außerdem hatte sie ihre hellblonden Haare immer zu einen flachen Dutt hochgesteckt. Lorena war sich sicher, dass sie ihre Charakterzüge nicht von ihrer Mutter hatte. Denn diese war meistens in Eile, schnell genervt und gestresst und wenn ihr etwas nicht gelingen wollte, war sie furchtbar ungeduldig. Wie auch jetzt. Sie versuchte verzweifelt den Mixer anzustellen, aber drückte so extrem auf den Startknopf, dass er wohl seine Funktion verlor und ihr nicht mehr gehorchte. Und so begann Lorenas Mutter laut über das Gerät zu schimpfen("Diese Technik von heute ist ein Desaster!"). 

Ihre Tochter stand unterdessen starr im Türrahmen und beobachtete sie mit einem äußerst  skeptischen Blick, bis sie kehrt machte und nebenan ins Wohnzimmer verschwand. Manchmal konnte Lorena verstehen, warum ihr Vater vor ihrer Geburt so schnell abgehauen war. Vermutlich hat er bereits befürchtet, dass ihre Mutter sich in eine Furie verwandeln konnte, oder er hatte es selbst bereits oft genug erfahren dürfen. Völlig in Gedanken versunken setzte sie sich auf die Couch vor den Kamin. Das Feuer darin prasselte und strahlte eine gemütliche Wärme aus, die in diesem tiefen Winter unglaublich gut tat. Da Lorena mit ihrer Mutter in einem Dorf lebte, das fast das ganze Jahr über in weiße Schneeflocken getaucht war, war es eben auch immer kalt. Auch wenn das junge Mädchen Ihr Zuhause mochte, so war sie dem ewigen Winter etwas abgeneigt. Wegen finanziellen Problemen konnte sie mit ihrer Mutter nie in den Süden reisen, wo es Laubbäume gab und es so warm war, das man in Seen oder sogar im Meer baden konnte. Verträumt blickte Lorena ins Feuer. Immer wieder glaubte sie, kleine Tiere wie Vögel und Pferde in den Flammen gesehen zu haben. Schon als kleines Mädchen hatte sie das, doch ihre Mutter hatte sie für verrückt gehalten, als sie es ihr voller Stolz erzählt hatte. Seitdem verschwieg Lorena ihrer Mutter sehr viel. Nicht nur die schlechten Noten, die sie aus der Schule mitbrachte, sondern auch die sonderbaren Dinge. Manchmal sah sie nämlich etwas, was sie sich einfach nicht erklären konnte. Gestern war sie beispielsweise im Wald spazieren gegangen und sie hätte schwören können, dass sie die sanften Klänge einer Harfe und eine Panflöte gehört hatte. Dann war urplötzlich ein Luchs vor ihr aufgetaucht. Ein richtige Luchs! Luchse waren hier in der Gegend nicht weit verbreitet und auch ziemlich scheu. Und dieser hatte ganz weißes Fell mit kleinen schwarzen Tupfen gehabt. Sehr ungewöhnlich. Doch dieses Tier war schneller verschwunden, als es aufgetaucht war. Manchmal bot das verschneite Dorf also doch ein paar Überraschungen. Und auch, wenn sie scheinbar nur für Lorena bestimmt waren. 

"Lorena!" Die Stimme ihrer Mutter riss sie total aus den tagträumlichen Gedanken. 

"Was denn?", brummelte sie zurück. Ihr Blick und ihre Stimme deuteten darauf hin, dass sie ein wenig von ihrer Mutter genervt war. 

"Möchtest du nicht rausgehen? Es ist so schönes Wetter und ich muss hier noch putzen..."

"...Und ich störe dich nur dabei. Ich verstehe schon." Widerwillig stand sie auf und stellte sich in den Flur, um ihre dicke Jacke aus altem Bärenfell, die flauschigen Handschuhe und die dicke Wohlmütze anzuziehen. Als sie in ihre Winterstiefel glitt (die sie übrigens 365 Tage im Jahr trug) und die Haustüre hinter ihr ins Schloss fiel, erstreckte sich mindestens eine fünf Zentimeter dicke Schneedecke vor ihr in der Einfahrt. Lorena umschlang ihren schmalen Körper mit ihren Armen und atmete aus, sodass eine dicke Atemwolke in die kalte Luft stieg. Sie warf einen Blick zum Himmel hinauf. Ihre Mutter sollte sich bloß mit ihrem unnötigen Putzen beeilen, die Sonne verabschiedete sich nach und nach und der Polarstern leuchtete schon in einem strahlenden Weiß. Wie der Schnee, der sich wie eine dichte Decke über die Landschaft gelegt hatte. Lorena ging los, in die Richtung des großen Waldes, der sich fast genau neben ihrem Haus über eine weite Fläche erstreckte. Der Schnee knarzte bei jedem Schritt unter ihren Stiefeln und sie hörte dem Geräusch, das die eisige Stille zerriss, aufmerksam zu. 

 

Nach einer Weile erreichte sie den Walrand und schlug einen breiten Pfad ein. Natürlich wuchsen hier nur überwiegend Nadelbäume, bis auf die paar Ausnahmen. Im Großen und Ganzen war der Wald ziemlich düster, aber Lorena liebte es, hier spazieren zu gehen. Wenn es so viel geschneit hatte, war er besonders schön. Und auf jeden Fall besser, als Vokabeln in sich reinzuschaufeln. Sie zog ihren Mantel etwas enger. Da die letzten Sonnenstrahlen von den Bäumen wie eine Wand abgefangen wurden, war der Wald noch kälter und es war schon ein wenig unheimlich, da sich die Baumstämme drohend über Lorenas Kopf empor hoben und finstere Schatten auf die glitzernde weiße Decke warfen. Ein Südländer wäre vermutlich jetzt schon umgekehrt, wenn er den Frost bisher ausgehalten hatte. Das einzige was Lorena nämlich über den Süden wusste, war, dass es dort ziemlich warm war, so warm wie Zuhause vor dem Kamin und das es dort etliche verschiedene Pflanzen gab. Sie hatte nämlich noch nie eine Blume gesehen. Nur in Büchern oder in der Schule. Eigentlich war der Süden ziemlich stark vom Norden abgegrenzt. Die Südländer hassten das Kalte und viele Menschen aus dem Norden zogen ins Warme. Deshalb war der Norden auch sehr spärlich bewohnt. Aber Lorenas Mutter konnte sich eben kein Haus im Süden leisten, in dem sie und ihre Tochter dann wohnen könnten. Lorenas Familie kam nämlich ursprünglich aus dem Süden. Warum sie in das kalte, finstere Land des ewigen Winters gezogen waren, konnte Lorenas Mutter auch nicht so genau sagen. Es war einfach geschehen und jetzt waren sie hier, was sich wohl niemals ändern würde. So glaubte Lorena dies zumindest. Sie wusste schließlich nicht, was sie in den nächsten Tagen erleben würde... 

 

Die Luft wurde noch kühler, als sie es ohnehin schon war und zog leicht den Kopf ein, damit ihr am Hals wärmer wurde. Immer wieder flogen Amseln quer über den Weg und verschwanden im schützenden Dickicht. Amseln und Krähen waren wohl die einzigen Vögel, die im Norden geblieben waren. Dafür waren sie umso mehr. Manchmal gab es sogar richtige Vogelplagen in den einzelnen Dörfern. Für ein paar Minuten war der Wald vollkommen still. Fast glaubte Lorena, sie wäre hier das einzige Lebewesen. Doch plötzlich blickten zwei helle Augen aus einem Gebüsch. Der Blick war starr auf das Mädchen gerichtet, das abrupt stehen blieb und misstrauisch die Augen zusammen kniff. Sie bewegte sich kaum mehr, wartete einfach ab. Das Augenpaar, das sie aufmerksam beobachtete, bewegte sich, der Schnee rutschte von den kahlen Ästen, als das Tier aus dem Gebüsch trat und sich fast lautlos über den Boden auf sie zu bewegte. Lorena wagte kaum, zu atmen, geschweige denn sich nur einen Millimeter zu bewegen. Es war der Luchs. Der Luchs von gestern! Er hatte das gleiche schneeweiße Fell mit den schwarzen, kleinen Tupfern und dicke, weiche Pfoten. Vermutlich sogar weicher als ihre Handschuhe, in denen ihre zitternden Hände steckten. Lorena war zu erstaunt, um richtig nachzudenken. Sie blieb einfach stehen und sah dem Luchs entgegen. Er war recht groß. Immerhin ging er ihr bestimmt bis zum Bauchnabel. Aber warum kam er überhaupt zu ihr? Solche Tiere waren doch scheu, jedenfalls hatte das Lorenas Biologielehrerin so überzeugend erklärt, das es Lorena sogar gelaubt hatte. Aber was sich da gerade vor ihren Augen abspielte, ließ sie stutzen. Und seit wann hatten Luchse so ein schönes, weiches Fell? Sie blinzelte ein paar Mal. Das Tier blieb ungefähr zehn Meter vor ihr stehen. Die Zunge fuhr über die schwarze Schnauze und er blinzelte ebenfalls.

Lorena blinzelte.

Der Luchs blinzelte zurück.

Lorenas Mundwinkel zuckten leicht. Erlaubte sich der Luchs etwa einen kleinen Scherz? Konnten Tiere das überhaupt? Jetzt war sie neugierig. War der Luchs vielleicht ein besonders zutrauliches Tier und eine Ausnahme, da er nicht handelte, wie seine Artgenossen? Sie legte den Kopf schief und musterte nochmals den Luchs. Er sah sie immer noch an. Für gefühlte fünf Minuten blickten sie sich nur an, ohne das groß etwas passierte. Dann gähnte der Luchs urplötzlich, setzte sich hin und leckte mit seiner rauen Zunge über eine seiner Pfoten, sodass er den Blockkontakt unterbrach. Aufmerksam sah Lorena ihm bei seiner Tätigkeit zu, ohne sich zu regen. Wieder fragte sie sich, warum dieses schöne Tier nicht einfach weglief. Wie war das doch gleich? Tiere, die sich putzten, fühlten sich sicher und waren zufrieden? War das möglich? Lorena schluckte und atmete tief durch, sodass die kalte Luft in ihre Lungen strömte. Sue wusste nicht genau, ob ihr Handeln richtig war. Doch sie wagte es, nahm all ihren Mut zusammen und machte einen Schritt auf den Luchs zu. Sie verharrte in ihrer Position, als dieser ruckartig den Kopf hoch und sie mit seinem unergründlichen Blick ansah, ja, er sah durch sie hindurch, durchbohrte sie. Jedenfalls kam es ihr so vor. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Sicher hatte sie ihn jetzt verschreckt. Doch stattdessen überraschte er Lorena abermals. Er stand seelenruhig auf, schüttelte sich den pudrigen Schnee aus dem Fell und trat einen kleinen Schritt vor. Lorena holte erstaunt Luft, als der Luchs leicht den Kopf neigte. Verbeugte er sich etwa? Vor ihr!? Die Augen des Mädchens wurden immer größer, das Grün strahlte heller als sonst. Für einen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte, dann senkte sie auch ihren Kopf, als würde sie sich auch verbeugen. Der Luchs gab ein leisen Laut anhörte, dass sich wie das Miauen einer Katze anhörte. Als Lorena vorsichtig zu ihm hinüber linste, sah sie, dass er sich wieder erhoben hatte und diesmal etwas entschlossener auf sie zu lief. Beinahe wäre sie vor Schreck rückwärts zurück gestolpert, doch sie biss die Zähne aufeinander, widersprach ihrem Instinkt und blieb wie angewurzelt stehen. Der Luchs kam ein paar Zentimeter vor ihr zum Stehen und blickte mit neugierigem Funkeln in den Augen zu ihr hinauf. Lorena blinzelte wieder, dann begann sie zu lächeln. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Der Luchs schien sie zu mögen - Sonst wäre er niemals gekommen! Und das er sich so schräg verhielt, war ihr jetzt piepegal. Sie streckte nach kurzem Zögern ihre Hand nach seinem schneeweißen Fell aus und wartete auf die Reaktion ihres Gegenüber. Vorsichtig kam die schwarze Nase des Luchses ihrer Handfläche (oder eher dem Handschuh!) immer näher. Lorena spürte ein leichtes Kitzeln durch ihren Handschuh hindurch, als die Schnauze ihn berührte und kurz mit der rauen Zunge darüber leckte. Sie musste leise lachen. Wie ihr Handschuh wohl schmeckte? Der Luchs schnurrte leise und lehnte mit einem Ruck seinen Kopf an ihrer Hand. Lorena konnte es kaum fassen. Sie streichelte einen Luchs! Einen richtigen Luchs! Naja - Vielleicht war dieser Luchs ein wenig besonders. 

So verstrichen die nächsten Minuten, bis Lorena bemerkte, dass fast stockfinstere Dunkelheit im Wald eingekehrt war. Sie musste schweres Herzens feststellen, dass es Zeit wurde, lieber nach Hause zu gehen. Sie wollte schließlich nichts Nachts im Wald rumgeistern. Und nachher würde ihr ihre Mutter auch noch eine Strafpredigt abhalten ("Dir hätte sonst was passieren können!"). Sie zog die Hand aus dem Fell des Luchses. "Ich komme wieder!", flüsterte sie, während kleine weiße Atemwölckchen aus ihrem Mund strömten. Das Tier blickte mit seinen hellen Augen zu ihr hoch und Lorena hätte schwören können, dass er leicht genickt hatte. Er konnte sie doch unmöglich verstehen...Oder? Sie lächelte leicht und kraulte ihm noch einmal kurz zwischen den Ohren. "Bis morgen, Luchs!" Sie trat einen Schritt zurück und winkte kurz mit der Hand. Als sie sich umdrehte und den Weg zu ihrem Heim zurücklief, sah sie immer wieder über ihre Schulter. Hinter ihr blieb ein helles Augenpaar, das ihr aus der Dunkelheit aufmerksam hinterher starrte. 

Zuhause angekommen streifte sie die Stiefel und den Mantel ab, um ganz schnell auf ihr Zimmer zu verschwinden. So entkam sie immerhin ihrer Mutter, die wohl schon ganz böse auf sie geworden war, da sie so lange weg gewesen war. Als Lorena im Bett lag, starrte sie noch etliche Minuten lang an die Decke. Der Gedanke, das sie heute Abend noch einen kleinen Freund gefunden hatte, beglückte sie und das Lächeln auf ihren Lippen blieb, selbst, als sie in die ewige Traumwelt abtauchte.

Tiermagie

 Fahle Sonnenstrahlen fielen durch die Ritzen der halb geöffneten Fensterläden in das Zimmer. Die Strahlen erfassten ein einsames Spinnennetz in der Ecke, dessen feine, seidige Fäden im Licht hell schimmerten und fast schon unheimliche Schatten an die Wand warf. Von draußen her hörte man, wie Wasser von den Fensterläden tropfte, was darauf hindeutete, dass die Sonne wohl ein wenig des Schneefalls geschmolzen hatte und es vielleicht auch ein wenig wärmer geworden war. Aber was hieß schon 'wärmer' im ewigen Winter des Nordens?

Lorena grummelte, als weitere Sonnenstrahlen ihre Augenlider erfassten und sie an der Nasenspitze kitzelten. Ihr Hand wischte einmal über ihr Gesicht, ganz schnell, bevor sie sich entschieden auf den Bauch drehte und die warme, dicke Decke über ihren dunklen Haarschopf zog. Am liebsten hätte sie noch ein paar Stündchen weiter gechlafen. Doch ihre Mutter machte ihr einen Strich durch die Rechnung. 

"Lorena!" Die Stimme ihrer Mutter war kaum zu überhören - also überhörte ihre Tochter sie einfach.

Die Tiere, die immer einen Winterschlaf hielten, ging es gut. Sie konnten schließlich die ganze Zeit schlafen, da der Schnee nicht mehr in Lorenas Lebzeiten vollständig auftauen würde - Davon war Lorena fest überzeugt. 

"Lorena ! Würdest du auch mal zum Frühstück erscheinen?!" 

Man konnte nur ein leises Stöhnen zu hören und der Hügel unter der Bettdecke begann sich zu bewegen. Dann umschlossen schmale Finger das dicke Laken und nach und nach schälte sich Lorena - wenn auch etwas widerwillig - aus dem Bett. Benommen blieb sie einige Sekunden stehen, blinzelte ein paar Mal, um ihre müden Augen zu befeuchten und torkelte schlaftrunken zu ihrem Kleiderschrank, nachdem sie in ihre Pantoffeln geschlüpft war. Der Fußboden war besonders morgens immer besonders kühl, da die Nacht den eisigen Wind bis zwischen die Ritzen ins Haus trug. Möglichst schnell zog Lorena ihre dunkelblaue Lieblingsjeans und einen roten Pulli an, der sie warm halten sollte. Sie stellte sich etwa zwei Minuten vor den Spiegel, bewunderte wie jeden Morgen die Strahlkraft ihrer merkwürdig grünen Augen und ordnete ihre welligen Haare, die nach der Nachtruhe immer furchtbar durcheinander waren. Dann öfffnete sie ihre knarzende Zimmertüre und lugte hinaus. Der Flur war nicht beleuchtet, aber man konnte Lorenas Mutter hören, die im unteren Stockwerk in der Küche mit dem Messer klapperte. Leise schlich Lorena über die Dielen und versuchte immer wieder so zu gehen, dass es kein Geräusch verursachte. Doch das war fast unmöglich, das Holz war einfach schon zu oft belaufen worden. Obwohl anscheinend die Morgensonne schon fröhlich ihre Strahlen in die Welt ausstreckte, fiel fast kein Licht in den Flur, da die Fenster hier sehr klein waren. Das war sehr nützlich, denn meistens traf der Nordwind frontal auf diese Fenster und wenn sie so klein waren, konnten sie von dem starken Sog nicht aufgedrückt werden. Auf der Treppe war es das gleiche Spiel: Fast jede Stufe gab ein krachendes Geräusch von sich, als das Mädchen ihre Pantoffeln darauf setzte. Sie fragte sich immerzu, wie alt ihr Haus wohl schlussendlich war. Bestimmt überwältigte es dieses Jahr den hundersten Geburtstag. Schließlich betrat Lorena die spärlich beleuchtete Küche und fummelte einen Toast aus der Tüte. Das "Guten Morgen" von ihrer Mutter erwiderte sie nur mit einem leisen Brummeln und ließ sich auf den Stuhl plumsen, um sich gleich darauf das frisch, mit käsebelegten Brötchen in den Mund zu schieben. Am liebsten hätte Lorena einmal zu gerne Erdbeermarmelade probiert, doch das gab es im Norden nicht. Keiner bot freiwillig einen Transport in den Norden an - Wer fuhr schon gerne in den eisigsten Winter der Welt, wenn es dort unten im Süden immer so schön mollig warm war? Wie fühlte sich wohl diese Wärme an? Lorena kannte Wärme nur innerhalb der Häuser, doch draußen waren permanent diese frostigen Temperaturen. Sie hatte sogar einmal irgendwo gelesen, dass es im Süden manchmal heißen Regen gab. Das war doch verrückt! Sie wusste meistens nicht so recht, ob sie diesen ganzen Geschichten Glauben schenken sollte. Fünf Minuten blieb Lorena am Tisch sitzen, um zu frühstücken, dann stand sie wieder auf und holte ihr gepackte Tasche. Prüfend warf sie einen Blick nach draußen. Die Sonne war bereits vollständig am Horizont erschienen und erleuchtete die glitzernde Schneedecke. Nur der Wald war noch genauso dunkel wie am gestrigen Abend. Ihr Blick heftete sich an die fahlen, großen Baumstämme. Plötzlich hatte sie wieder das Bild des schneeweißen Luchses im Kopf und verdrängte den Gedanken, dass sie in die Schule müsste. 

"Was guckst du denn so? Du verpasst noch den Bus, hopp, hopp!", kam die energische Stimme ihrer Mutter aus der Küche, die sie ermahnend anblickte. Lorena blinzelte und konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. "Das stimmt. Ich sollte mich beeilen." In Rekordgeschwindigkeit zog sie sich die dicke Jacke, die Handschuhe und die gefütterten Stiefel an, um gleich darauf nach draußen zu stürmen. Gleich darauf schlug ihr die kalte Morgenluft entgegen. Nicht, dass es mittags hier sonderlich warm war, aber morgens war es dann doch am Kühlsten. Hätte Lorena nicht ihre gefütterte Jacke an gehabt, hätten vermutlich ihre Zähne geklappert. Sie zitterte jetzt schon. Mit zügigen Schritten stapfte sie aus der zugeschneiten Einfahrt und kämpfte sich ihren Weg zum Wald. Heute Nacht hatte es wohl wieder einen leichten Schneefall gegeben, was hier ja eigentlich üblich war. Lorena fragte sich, wie die Welt wohl ohne dieses ewige Weiß aussehen könnte. Eine Welt ohne Schnee? Das ging nicht in ihren Kopf rein. Im Süden war das anscheinend so, sogar das Gras dort war grün. Hier war es weiß, vielleicht, weil der Schnee dem Gras sehr selten an Licht ließ. Als die Baumwipfel über ihrem Kopf ragten, sah sie sich aufmerksam um und achtete auf jedes einzelne Geräusch. Ob ihre Mutter wohl sehr böse auf sie sein würde? Nach ihrem Charakter zu urteilen - Bestimmt. Aber darüber machte sich Lorena gerade gar keine Sorgen. Die Schule war eben langweilig und konnte auch mal warten. Das hier war um einiges interessanter!

"Luchs!", rief das Mädchen mit leiser, zittriger Stimme (ihr wurde langsam doch ein wenig kalt) in den Wald hinein. Sie rief, obwohl sie sich sicher war, dass dadurch das wunderschöne Tier nicht kommen würde. Erst wartete sie ein paar Minuten ab, dann wollte sie schon weiter durch den knarzenden Schnee stapfen. Doch durch ein Rascheln im Gebüsch ein paar Meter vor ihr wurde sie hellhörig und tatsächlich erschien kurze Zeit später der Körper des Luchs, dessen weißes Fell sich perfekt dem Schnee anpasste und mit geschmeidigen Sprüngen auf sie zu kam. Vor ihr blieb er stehen und sah sie mit seinen wunschön dunklen Augen aufmerksam an. "Da bist du ja", flüsterte Lorena, vollkommen überrascht darüber, dass das Tier tatsächlich auf ihren Ruf hin aufgetaucht war. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und strich ihm über den Kopf. Der Luchs gab zufriedene Laute von sich, die wie ein wohlwollendes Schnurren klangen, schmiegte sich leicht gegen ihre Hand und hüpfte schlussendlich fröhlich um das kleinwüchsige Mädchen herum. Sie musste lachen, das Tier erschien ihr so niedlich! "Und, mein Kleiner? Was machen wir heute?" Die Schule war schon längst vergessen.

 

 

 Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, kam allmählich die Zeit, in der sich Lorena von ihrem neuen Freund verabschieden musste. Um diese Zeit war nämlich immer die Schule aus und ihre Mutter wprde sicher misstrauisch, wenn nicht sogar besorgt werden, wenn sie später kam als sonst. Also kniete sich das Mädchen das allerletzte Mal in den Schnee, um den Luchs über das weiche Fell zu streichen. Er schnurrte zufrieden und schloss kurz die Augen. Vielleicht sollte ich ihm einen Namen geben, ging es dem Mädchen durch de Kopf. War das richtig? Einem wilden Tier einen Namen geben? Bestimmt. "Wie willst du heißen?", fragte sie den Luchs, der jetzt schlagartig wieder seine Augen öffnete. Sie erstrahlten diesmal in einem hellen Blau. "Wow", flüsterte sie erfürchtig. Was war passiert? Warum waren die Augen des Tieres plötzlich so wunderschön blau? Lorena blinzelte, vielleicht hatte sie sich nur geirrt. Aber ein, der klare blaue Farbton blieb. Das war doch nicht möglich! Ihr Kopf spielte ihr einen Streich!

Nury.

Wie? Wo kam das jetzt her? In dem Moment war das Mädchen vollständig verwirrt. Nury. Dieses Wort, dieser Name kam ihr einfach so in den Sinn und ließ sich auch nicht mehr verscheuchen, so, als wäre er an irgendetwas fest gemacht worden. "Nury", murmelte sie leise. "Nury! So heißt du jetzt!" Ein plötzlicher Windstoß riss sie von den Füßen und bauchte ihre schokobraunen Haare. Verblüfft blieb das Mädchen liegen, beobachtete, wie Blätter durch die Luft flogen und tanzten und die Bäume sich in dem auf einmal aufkommenden Wind wiegten. Dann wurde es kurz hell, so hell, dass sich Lorena die Augen zukneifen musste. Und schließlich - nach ein paar Sekunden etwa - legte sich alles wieder. So, als wäre nichts gewesen. Das Mädchen rappelte sich auf und schaute sich aufmerksam um. Der Luchs war verschwunden. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Sie brauchte eine Weile, um einen klaren gedanken fassen zu können und ordnete ihre jetzt zerstrubbelten Haare. Was war nur geschehen? Das war doch nicht mehr normal. Sponn sie jetzt wirklich total? 

 

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Tag der Veröffentlichung: 21.05.2015

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