Das jämmerliche Quieken des kleinen Kindes widerte sie an. Es war das kleinste ihrer fünf Zöglinge, aber schon sechs Sommer alt. In diesem Alter erwartete sie mehr. Sicher war es nicht einfach, sich gegen die älteren Geschwister durchzusetzen. Der älteste, vier Sommer hatte er schon mehr gesehen, zog seine kleine Schwester an den Haaren und hielt sie so fest. Mit dem lang gestreckten Arm konnte er die Distanz wahren, damit ihre Arme ihn nicht erreichen und ihre scharfen Fingernägel nicht kratzen konnten. Aber die Kleine wehrte sich nicht ernsthaft. Sie jammerte nur, und bat ihren großen Bruder, sie in Ruhe zu lassen. Der lachte nur und genoss den Spaß. Und die anderen Brüder ebenfalls.
Hoffentlich sehen die anderen Großen das nicht, dachte die Mutter. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn andere ihre Tochter so hätte flennen hören. Das durfte nicht sein. Wütend ging sie auf ihre Kinder zu. Der älteste Sohn sah seine Mutter kommen und lachte ihr entgegen.
"Hör mal, wie sie quietscht", höhnte er verächtlich. Die Mutter trat heran.
"Lass sie los", grunzte sie böse.
Augenblicklich gehorchte der Sohn. Die kräftige Hand der Mutter fuhr hoch und schlug als schallende Ohrfeige in das Gesicht des kleinen Mädchens. Das Kind fiel lang zu Boden und landete im Schlamm der Wiese. Aber schnell sprang sie wieder auf. Schuldbewusst senkte sie den Kopf, als sie sich ihrer Mutter zuwandte.
"Tut mir Leid", flüsterte sie.
Eine weitere Ohrfeige warf das Kind erneut zu Boden. Benommen blieb es einige Herzschläge liegen. Dann stand es wieder auf. Nun hatte sie die Augen erhoben und schaute ihre Mutter verständnislos an. Sie wischte sich das schwarze Blut von der Lippe, das aus ihrem Mundwinkel floss. Es hatte einen herben Geschmack. Eine flüchtige Erinnerung stieg in ihr auf. Aber sie konnte sie nicht ganz fassen. Langsam begriff sie, weshalb die Mutter sie geschlagen hatte. Ihre Tochter war ungehorsam. Sie sollte nicht flennen. Sie sollte sich ihres Stammes würdig erweisen. Und sie sollte vor einem Feind nicht die Augen senken. Sicher, ihre Mutter war kein echter Feind. Aber jetzt hatte die Mutter sie geschlagen. Jetzt war sie Feind. Das Mädchen verstand die drastische Lektion. Trotzig hob sie den Blick und schaute in die schwarzen Augen ihrer Mutter, die wie erleuchtete Höhlen hinter den buschigen Augenbrauen blitzten. Erwartete den nächsten Hieb. Aber der blieb aus. Die Mutter verzog die schmalen Lippen zu einem höhnischen Grinsen.
"Wer bist du?" zischte die Mutter.
Das Mädchen musste nicht lange überlegen. Das Blut auf ihren Lippen kannte die Antwort.
"Deine Tochter", fauchte das Kind zurück.
"Dann benehme dich auch so. Mach mir keine Schande. Sonst wirst du es nicht mehr lange sein," drohte die Mutter.
Das Mädchen nickte. In diesem Augenblick verstand sie. All die Dinge, die die Mutter ihr in den letzten Tagen gesagt hatte. Ernst und eindringlich hatte sie von Dingen gesprochen, die sie nie vorher gesagt hatte.
Vom Leben hatte sie erzählt. Von den Tieren. Den anderen Rassen, Menschen, Elfen und Zwergen. Und dass nur die Stärksten würdig seien, zu überleben. Das war das Gebot des dunklen Gottes. Des Gottes, der die Regeln der Natur geschaffen hatte. An die sich alle hielten. Selbst die Tiere. Auch dort überlebten nur die Stärksten. Und dass dieses Gesetz nun auch für ihre Tochter galt. Alt genug war sie, hatte Mutter gesagt. Und nun begriff das Mädchen, was Mutter mit all dem gemeint hatte.
"Eher sterbe ich", sagte das Mädchen.
Zufrieden nickte die Mutter. Wie selbstverständlich lag ihre Hand auf dem Griff des Schwertes an ihrer Seite. Mutter war immer bereit für den Kampf, wusste das Kind. Nun verstand sie, warum. Und auch sie wollte werden wie ihre Mutter. Das Kind in dem Mädchen starb in diesem Augenblick. Das Mädchen nahm die Gebote ihrer Mutter und ihres Gottes an.
Als huschender Schatten flog die Hand ihres Bruders heran, fegte ihren Kopf mit der Wucht eines Pferdehiebes zur Seite. In einem weiten Bogen landete das Mädchen wieder im Dreck. Eine kräftige Pranke griff in ihr Haar und zog sie mit Leichtigkeit hoch.
"Pah", höhnte der große Bruder. "Vorher flennst du doch wieder".
Ihre Lippen schwollen an. Blut sammelte sich in ihrem Mund. Und mit dem Blut flutete das Wissen zurück, das so lange in den dunklen Tiefen ihrer Erinnerung verloren war. Das Wissen ihrer Rasse. Das der eine Gott dort eingepflanzt hatte. Wie in alle anderen Lebewesen. Das Wissen um die Kunst des Überlebens. Etwas zerbrach in dem Mädchen. Aus den dunkelsten Tiefen ihrer Seele stieg etwas hervor, das leben wollte. Und bereit war, alles dafür zu tun. Alles zu geben, oder anderen alles zu nehmen, sollte es notwendig sein.
Und mit dem unbändigen Willen kam die Kraft.
Sie wendete den Kopf und sah zu ihrem Bruder. Blickte ihn kalt an. Ohne den Schmerz zu zeigen, der in ihrem Schädel brannte. Und die Drohung, die darin lag, zeigte Wirkung. Sie erkannte in den verblüfften Augen ihres Bruders eine leise Furcht.
Das Mädchen ignorierte den Schmerz. Soll es doch weh tun, dachte sie. Aber wenn er nicht loslässt, werde ich ihm auch weh tun. Dann wird er es nicht noch einmal wagen.
Entschlossen hob sie ihre Arme und ergriff die Faust ihres Bruders, die ihre Haare hielt. Ihre Finger krallten sich tief darin fest und zog sie auf ihren Kopf herunter. Der Schmerz ließ nach. Ein gutes Gefühl. Und es war ihr Verdienst, nicht die Gnade des Feindes.
Das wütende Gebrüll ihres Bruder, der seinen Schmerz laut heraus schrie, erheiterte sie. Das ist die Gelegenheit, dachte sie. Der Schmerz lenkt ihn ab.
Sie hob ihr Bein und ließ ihren Fuß kraftvoll zwischen seine Beine fahren. Mit einem dumpfen Röcheln ging der Bruder in die Knie, einen stumpfsinnigen Blick in den Augen. Und das Mädchen genoss die Macht, die es errungen hatte.
Die Faust in ihren Haaren löste sich. Sie war frei. Aber ihr Rachedurst war erwacht. Sie wollte ihn schlagen, ihn zu Boden bringen. So wie er es getan hatte. Ihre Faust war schwach, wie sie wusste. Doch bei anderen hatte sie gesehen, was noch möglich war. Sie drehte sich um und fasste ihre rechte Faust mit der linken Hand. Dann stieß sie kraftvoll den Ellenbogen zurück, mitten in das Gesicht ihres Bruders. Wie Musik in ihren Ohren klang das Krachen der Nasenknochen. Wie ein geschlachtetes Schwein fiel er zurück in den Schlamm. Welch ein Gefühl! Stolz blickte sie auf den Besiegten.
Eine Hand legte sich auf die Schulter des Mädchens. Die Hand ihrer Mutter. Regungslos sahen die strengen Augen sie an. Achtung erkannte das Mädchen darin. Und Stolz durchflutete das Kind, als die Mutter sie mit einem Wort annahm als das, was sie nun war.
"Ork!"
Texte: H. Bavendiek
Bildmaterialien: H. Bavendiek
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2012
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