Es gibt Menschen, die wissen, dass sie nur glauben.
Es gibt Menschen, die glauben, dass sie wissen.
Welcher Glaube ist anmaßender?
Lieber Freund,
es ist nun drei Monate her, dass ich euer Land verlassen habe und in meine Heimat zurückgekehrt bin. Ich musste über vieles nachdenken bevor ich dir schreiben konnte.
Ich bin in euer Land gekommen um zu lernen, und ich habe gelernt. Aber ich habe mehr gelernt als das Wissen eurer Schulen. Ich habe eine andere Welt kennen gelernt.
Als eure Missionare vor langer Zeit zu uns kamen, redeten sie von einem Gott der Liebe, der euer Land beseelt und groß werden lässt. Sie nannten unsere Götter Götzen und unsere Lehren und Sitten barbarisch und grausam.
Habe ich dir je von unseren alten Lehren erzählt? Ich glaube nicht. Darum will ich es jetzt nachholen. Es ist nur, damit du mich besser verstehst.
Unsere alte Religion hatte zwei Grundwerte, auf denen alles stand und an die sich jeder halten wollte. Das war die Ehrfurcht vor dem Leben und die Achtung vor dem Anderen. Die Achtung vor seiner Entscheidung und seiner Lebensart, seinen Gebräuchen und Göttern, mochten sie auch noch so anders sein.
Dieses Denken nannten eure Missionare heidnisch und falsch, weil es nur einen Gott gäbe.
Das mag euch so erscheinen, doch in Wahrheit sind wir alle Kinder des gleichen Schöpfers. Wir geben ihm nur andere Namen. Wir sind Teil seiner Schöpfung, der Natur, und niemand steht außerhalb deren Gesetze.
Wenn zwei Menschen sich gegenüber stehen, die verschiedener Meinung und dadurch Gegner sind, so soll jeder den Anderen und sein Denken achten. Man kann versuchen, sich einig zu werden. Doch wenn das nicht möglich ist, so musst du die Meinung des Anderen respektieren, selbst wenn er ein Todfeind ist und glaubt, dich eines höheren Ziels wegen töten zu müssen.
Ebenso wird der Andere es respektieren, wenn du dein Leben und das deiner Familie verteidigst.
Dieses Denken nennt ihr grausam und barbarisch und redet davon, dass man seine Feinde lieben soll. Dabei solltet ihr erst einmal lernen, eure Feinde zu achten. Denn wie kann man einen Menschen lieben, den man nicht achtet.
Wenn ihr von einem Gegner redet, so verleumdet ihr ihn wo ihr nur könnt. Jede gute Absicht sprecht ihr ihm ab und stempelt ihn zum Bösen. Überall wohin man sieht, in eure Zeitungen oder in den bewegten Bildern, wird Verachtung für Gegner und Andersdenkende gezeigt. Wo ist da die Liebe, von der eure Missionare sprachen, wenn ihr nicht einmal Achtung voreinander habt?
Wir alle müssen töten um leben zu können, das ist Gesetz der Natur. Aber alles Leben ist uns heilig, darum empfinden wir Ehrfurcht vor dem Leben, besonders wenn wir es auslöschen müssen. Diese Ehrfurcht ist sehr wichtig, denn durch sie sehen wir Dinge, die wir sonst nicht sehen würden. Wir sehen den Grashalm, den wir zertreten müssen um weiter zu kommen. Wir sehen die Biene, die wir dabei verscheuchen. Wir sehen das Vogelnest, das wir sonst zertreten hätten. Und wir sehen unsere Mitmenschen, die wir sonst durch unsere Unachtsamkeit übersehen hätten. Ich glaube, wir sehen darum die Welt ganz anders als ihr.
Ihr aber kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben und zerstört alles, was euch im Weg ist. Ihr vernichtet die Dinge, die euer Schöpfer euch gegeben hat oder verändert sie so, dass ihr glaubt, selbst etwas geschaffen zu haben.
Wenn ein Tier getötet wird, soll es in Ehrfurcht getan werden und im Bewusstsein, Leben zu nehmen.
Ihr aber verschwendet keinen Gedanken daran, es ist euch gleichgültig. Und was noch schlimmer ist, ihr habt fast vergessen, dass ihr vom Tod anderer lebt.
Ihr tötet auch da, wo es nicht nötig ist, nur der Bequemlichkeit wegen. Und viele von euch töten sogar ihre Kinder weil sie ihnen im Weg sind. Sie tun es solange sie ungeboren sind, damit sie ihnen nicht in die Augen schauen müssen.
Auch eure Alten sind euch im Weg und ihr steckt sie in Heime, wenn sie euch zur Last werden. Bei uns ist der Rat der Alten die höchste Versammlung, der man Achtung und Ehrfurcht entgegen bringt. Ihr aber entmündigt eure Eltern.
Wo sind sie, die weisen Alten, die aus jedem Volk hervor gehen?
Von Liebe redet ihr in euer Religion, doch ihr kennt weder Achtung noch Ehrfurcht. Gibt es denn Liebe ohne Achtung vor dem Anderen und Ehrfurcht vor dem Leben und Tod? Ihr lebt in einem ständigen Krieg mit euch und der Welt, weil ihr weder Ehrfurcht noch Achtung kennt.
Wer aber diese beiden Grundwerte anerkennt, kann in Harmonie mit der Welt leben. Es ist keine Harmonie ohne Kampf und Tod, denn Kampf und Tod sind ein Teil der Harmonie der Welt.
In Harmonie, das heißt in Übereinstimmung mit der Welt zu leben, ist die Voraussetzung um den inneren Frieden zu finden. Ich habe bei euch niemanden gefunden, der diesen Frieden in sich trug. Ihr tut im Gegenteil alles, um keinen Frieden zu finden. Frieden braucht Ruhe und Stille, doch ihr umgebt euch mit Lärm und Hektik wo ihr nur könnt. Ihr gebt der Stille keine Chance, euch Frieden zu bringen.
Auch du hattest für die Stille keine Zeit. Dein Tag war angefüllt mit so vielen Dingen, als müsstest du die Zeit vertreiben, die dir gegeben ist. Dabei ist sie das wichtigste, was du erhalten hast. Deine Lebenszeit ist das Geschenk, das dein Schöpfer dir gegeben hat. Nutze sie also und vertreibe sie nicht.
Wer den Frieden finden will, muss das Leben und den Tod als Teil der Welt akzeptieren. Ich habe bei euch niemanden gefunden, der den Tod akzeptiert hat.
Der innere Friede ist unser höchstes Ziel, denn wer ihn findet, wird im Tod in die heilige Einheit eingehen. So wie Achtung und Ehrfurcht nötig sind um in Harmonie zu leben und die Harmonie nötig ist um den Frieden zu finden, so ist der Friede nötig um eins zu werden mit der heiligen Einheit. Gibt es denn Einheit ohne Frieden?
Das Buch, das ihr heilig nennt, erzählt von einem Gott, der gekommen ist um den Menschen Frieden zu bringen, damit sie eins werden mit ihm, wie er eins ist mit seinem Vater. Vielleicht ist das die Einheit, die auch wir suchen.
Euer Gott hat euch einen Weg dorthin gezeigt, einen Weg des Friedens. Doch was habt ihr daraus gemacht?
Dein Freund.
Texte: H. Bavendiek
Bildmaterialien: H. Bavendiek
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2012
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