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Inhaltverzeichnis




Vorwort................................................................................S.7


Vorwort



Wenn man, den Blick nach Nordosten gerichtet, das Jammertal entlang der nördlichen Haupthandelsstraße durchquert und schließlich am Horizont die Schwefelberge auftauchen, man weiter auf sie zugeht und sich nicht vom Geruch abschrecken lässt, wird man nach einiger Zeit auf ein kleines Dorf am Fuß des Berges Hesiod stoßen. Das Dorf wirkt wie ein kniender Diener vor seinem Herrn. Hinter dem Dorf erstreckt sich ein See, gesäumt von dichten Wäldern, hinter dem See erheben sich Hesiod und seine Nachbarn Asios und Erinna.
(Falls Sie glauben, dass sich hinter diesen Namen die irgendwelcher Dämonen verbergen – Sie irren sich. Alle sieben Schwefelberge sind nach griechischen Dichtern oder Epikern benannt, warum weiß keiner so genau. Wie Sie sehen, ist nicht alles hier unten so böse und gruselig behaftet, wie es bei Ihnen da oben dargestellt wird. Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht enttäuscht.
Falls Sie interessiert sind: Die anderen vier Schwefelberge heißen Solon, Moiro, Isyllos, Aratos und Theognis.)
Wer kühn genug ist, dieses Dorf zu betreten und sich in wenig umsieht, wird sich vielleicht in die Mephistophelesgasse (ich muss zugeben, wir stehen schon irgendwie darauf, zumindest unsere Straßen nach den Gestalten zu benennen, die ihr oben mit so viel Eifer fürchtet, und die zum Teil echt nette Nachbarn sind) verirren und dort ein baufälliges Gebäude vorfinden, eingeklemmt zwischen Verwaltungsbürowolkenkratzern, windschief und vom Zahn der Zeit mehr als angenagt und mit dem Schriftzug Pit & Pendulum

über der Eingangspforte versehen. Und das ist mein Arbeitsplatz.
Sie sind bestimmt schon mal in einer Bar gewesen. Vielleicht haben Sie sogar ein Stammlokal. Vielleicht waren Sie auch in vielen verschiedenen Bars und denken, dass Sie schon alles einmal gesehen haben, aber eins können Sie mir glauben: In so einer Bar wie der meinen waren Sie noch nicht.

Ich werde Ihnen ein paar grundlegende Dinge vorab erklären. Missachten Sie ruhig erstmal die Tatsache, dass wir uns in der Unterwelt befinden, ein paar Dinge sind hier nämlich genauso wie bei Ihnen. Zu den Unterschieden komme ich später.
Eine Bar ist immer nur so gut wie ihr Barkeeper, das werden Sie bestätigen. Stellt man sich diesen Beruf vor, geht es hauptsächlich um das Befüllen von Gläsern mit verschiedenen Flüssigkeiten und das möglichst schnell und natürlich sollte man das Getränkeabfüllen blind beherrschen, aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Wer allein in eine Kneipe geht, bestellt zwar in der Regel ein Getränk oder mehrere, aber die eigentliche Intention, überhaupt allein an einen solchen Ort zu gehen, ist eine andere. Man sucht jemanden, der einem zuhört.
Viele Gäste kommen allein und gehen allein und während der wenigen Stunden, die sie in der Bar verbringen, wird der Barkeeper unweigerlich für sie zur Vertrauensperson. Ob man das will oder nicht, es gehört zum Job dazu. Sobald sich jemand an den Tresen setzt und etwas bestellt, muss man damit rechnen, dass dieser Jemand einem seine Lebensgeschichte erzählen wird. Manche fangen von sich aus an zu reden, bei anderen muss man etwas nachhelfen. Wenn die Zeit es zulässt und der Jemand traurig oder bedrückt aussieht, wenn er verschroben grinst oder grundlos loslacht und man wissen will warum, oder wenn jemand einfach nur dasitzt und nichts tut, das reicht auch schon um meine Neugier zu wecken, fragt man, wie es denn gerade läuft und man muss davon ausgehen, dass man eine Antwort bekommt – und diese Antworten sind oft ziemlich lang. Natürlich reden nicht alle, aber denen, die schweigen, ist auch nicht mehr zu helfen.
Das Schöne ist, dass der Barkeeper für die Kunden in der Regel ein Fremder ist, weshalb sie keine Angst haben, etwas Falsches zu sagen und ungeniert ihr Herz ausschütten. Der Aufenthalt in einer Bar kann wie eine Therapiestunde sein, man kann einem völlig Fremden seine Probleme und Geheimnisse anvertrauen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass dieser etwas weiter erzählt und man erhält eine unvoreingenommene Meinung zu dem, was man zu sagen hat. Und ich finde es immer wieder erstaunlich, wie viel die Leute zu sagen haben. Besonders die, die nicht danach aussehen, die sich wortkarg ein Bier oder zwei bestellen und dann stundenlang den Tresen anstarren. Sobald sie einmal angefangen haben, hören sie mit dem Reden gar nicht mehr auf.
Ich hoffe, Sie können mir folgen. Ich habe nämlich die Erfahrung gemacht, dass es oben, da wo Sie herkommen, oft viel unpersönlicher zugeht. Massenabfertigung. Aber vielleicht auch nicht überall. Ich hörte von einem Leprechaun, dass die Iren sehr gesellig sein sollen, aber leider bin ich nie in Irland gewesen.
Aber zurück zum Thema Zuhören. Darauf kommt es an, alles andere ist egal. Man wird es Ihnen nicht übel nehmen, wenn in einem Caipirinha zu viel brauner Zucker oder in einem Tequila Sunrise zu wenig Grenadine ist. Aber wenn Sie den Gästen nicht zuhören, dann könnten Sie potenzielle Stammkunden verlieren und davon ausgehen, dass negative Mundpropaganda Ihre Bar bald in den Ruin treibt.
Als ich das Pit & Pendulum eröffnete, was noch nicht besonders lange her ist, knapp zwei Jahrhunderte, war mir nicht klar, worauf ich mich einließ. Ich wurde nicht nur Barkeeper, sondern Psychologe, Streitschlichter, Seelsorger, Entertainer, Tränentrockner, Ehetherapeut, Verkuppler und ich weiß nicht, was noch alles. Das Ausschenken von Getränken ist jedenfalls nicht der Grundpfeiler meines Jobs.

Wo das Pit & Pendulum sich befindet, habe ich bereits geschildert. Es ist in der Mephistophelesgasse, die völlig zu Unrecht Gasse heißt, das kleinste von 5 Gebäuden, die man unmöglich verfehlen kann, da sie nicht nur die anderen Häuser im Dorf überragen, sondern schon von außen so wichtig und ernst dreinblicken, dass man die Bürokratie förmlich spürt und sich für einen kurzen Moment fragt, ob auch wirklich alle Rechnungen bezahlt sind. Diese vier Verwaltungsgebäude und wurden erst vor sieben- oder achthundert Jahren gebaut, weswegen das kleine Haus, in dessen Erdgeschoss sich meine Bar befindet, noch älter und baufälliger wirkt, als es sowieso schon ist. Aber eigentlich ist es ein guter Standort, beinahe zentral, wenn man so will. Das Jammertal kennt jeder und die Haupthandelsstraße heißt nicht umsonst Haupthandelsstraße . Auf jeden Fall ein Ort, an dem jeder entweder schon einmal war oder irgendwann einmal sein wird. Und Auswahl hatte ich damals sowieso nicht, als ich die Bar eröffnete, die einzige andere Immobilie, die für meine Zwecke geeignet gewesen wäre, befand sich drüben im Tartaros, wo ich mir jeden Tag die ewigen Klagekaskaden von Sisyphos hätte anhören müssen. Ein bemitleidenswerter Geselle, aber für sinnvolle Gespräche leider völlig ungeeignet.
Von außen wirkt das Pit & Pendulum auf den ersten Blick nicht sehr einladend. Als ältestes Gebäude der Straße sticht es hervor wie ein fauler Zahn. Ein altes Holzhaus mit windschiefem Dach, von Wind und Wetter maltretiert, das aussieht wie eine riesige Hundehütte. Die Eingangstür, eine große, schwere Eichenholztür mit zwei Flügeln, knarrt beim Öffnen, die Schrift über dem Eingang ist abgenutzt und kaum lesbar. Drinnen riecht es muffig, nach Tod und Verwesung, ein leichter Hauch von Schwefel hängt in der Gegend um die Schwefelberge sowieso immer in der Luft, manchmal riecht es nach nassem Hund, dazu der Geruch der Kerzen, des Alkohols und der unverkennbare Geruch alten Holzes. Die Tische und der Tresen sind übersät von den Wachsresten der Kerzen aus ca. 200 Jahren, an manchen Stellen so dick, dass es unmöglich ist, ein Glas abzustellen.

Eins ist noch wichtig. Falls es Sie später irritieren sollte, dass unter anderem sowohl Anubis als auch der Erzengel Gabriel oder die verdammten Satyrn zu meiner Kundschaft zählen: Es gibt hier zwei Dinge, die keine Bedeutung haben. Das Erste ist die Zeit. Die Existenz hier unten endet im Gegensatz zu oben nicht, weshalb Stunden, Tage, Wochen und Monate ziemlich gleichgültig sind. Die kleinste Zeitspanne, in der es sich zu rechnen lohnt, ist eine Dekade. Aber denken Sie jetzt nicht, dass unsere Uhren hier schneller Ticken.
Die zweite Sache ohne Bedeutung sind Ethnologien. Es gibt weder Länder noch Grenzen. Zerberus und Hades könnten mit Anubis oder einem der apokalyptischen Reiter zum Brunch gehen, wenn es hier so was wie Brunch gäbe. Hier unten spielt es keine Rolle, ob man oben nach Griechenland, Irland oder Ägypten gehörte. Was es allerdings gibt, sind bestimmte Regionen, wie den Tartaros, den ich bereits erwähnte, und der wiederum ein Teil des Totenreichs ist, also desjenigen Reiches, wo die Seelen aller Verstorbenen landen. Falls Sie durch einen Vampirbiss sterben, kommen Sie aber logischerweise nicht dorthin, dann kommen Sie in die Unterwelt.
Totenreich und Unterwelt sollte man nicht durcheinander bringen – das Totenreich ist für alle Menschen die sterben, egal wie, egal wann, und die nach ihrem Sterben auch tot sind. Ob man Sünder war oder ein Freund von Abstinenz spielt auch keine Rolle mehr, dieser ganze Quatsch von wegen Himmel und Hölle ist Mumpitz. Die Welt den Lebenden, das Totenreich den Toten. Die Unterwelt dem Rest.
Für die, die es wirklich nicht anders verdient haben, gibt es den Tartaros. Das sind aber, prozentual betrachtet, nur sehr wenige. Es würde Sie überraschen zu sehen, wer sich dort herumtreibt. Verraten darf ich das leider nicht. Berufsgeheimnis.
Das Totenreich grenzt direkt an die Unterwelt und nicht selten kommen sogar ein paar Gelangweilte von dort zu mir. Ich würde sagen, dass Totenreich und Unterwelt in etwa gleichgroß sind, allerdings ist das sehr schwer festzustellen, denn beide Reiche wachsen mit ihrer Bevölkerung. Und wo wir gerade dabei sind: Ich spreche zwar immer von oben

und unten

, aber das liegt nicht daran, dass wir unter der Oberwelt sind, das sind Termini, die von den Menschen erfunden wurden und die wir irgendwann aus purer Bequemlichkeit übernommen haben. Sie können also graben wie Sie wollen, Sie werden uns nicht unter der Erdoberfläche finden. Genau erklären wo sich die Unterwelt befindet, kann ich nicht – einem Menschen dies begreiflich zu machen ist mit dem menschlichen Wortschatz leider nicht möglich und da dieses Buch in eine Menschensprache übersetzt wurde, habe ich es gar nicht erst versucht.
Das also zu unserer Geographie, damit Sie eine ungefähre Vorstellung bekommen. Die Unterwelt, die wie gesagt ans Totenreich angrenzt, ist die Heimat der Verwalter des Totenreichs, Menschen würden wohl Dämonen sagen, und für die Gestalten, die für die Oberwelt nicht lebendig genug und fürs Totenreich nicht tot genug sind, Vampire, Werwölfe, Untote, um nur mal die bekannteren Vertreter zu nennen. Außerdem werden Sie die Wesen aus alten Mythen treffen, Leprechauns, Satyrn und so weiter. Die Bewohner der Unterwelt können das Totenreich nicht betreten, andersrum ist es aber möglich: Die Seelen aus dem Totenreich können in die Unterwelt kommen, und das tun auch viele. Meistens die, denen die Ewigkeit zu langweilig wurde, und die sich daraufhin einen Job in der Verwaltung suchten.

Wenn man seine Bar in der Unterwelt eröffnet, fallen einige Absonderlichkeiten an, mit denen ich Sie ebenfalls noch kurz vertraut machen möchte. Das Meiste hier ist zwar nicht anders als oben, aber ein paar Dinge sollte man wissen:

1. Die Bar öffnet bei Sonnenaufgang und schließt bei Sonnenuntergang. Damit ist der Sonnenauf- und Untergang der Oberwelt gemeint, denn hier unten gibt es so etwas nicht. Viele Unterwelter begeben sich jedoch ausschließlich dann nach oben, wenn dort Nacht ist, und brauchen tagsüber einen Ort, wo sie sich zurückziehen und den Stress der Nacht vergessen können. Obwohl der Unterschied hier unten nicht weiter auffällt, da wir keine Sonne haben. Schlafen ist übrigens auch völlig überbewertet, sobald man die Ewigkeit vor sich hat. Lassen Sie sich eins gesagt sein: Der Spruch Schlafen können Sie, wenn Sie tot sind

stimmt wirklich. Glauben Sie’s mir. Sie werden viel schlafen und viel in Bars herumhängen.
2. Man muss auf alles vorbereitet sein – und damit ist alles gemeint: Vampire zum Beispiel trinken außer Blut höchstens mal Absinth und vertragen keinen Knoblauch, die Untoten mögen ihre Getränke gerne leicht abgestanden und falls sich mal ein Lykanthrop unversehens verwandelt, sollten Knochen mit ausreichend Fleisch dran im Haus sein. Und so weiter.
3. Niemand ist so böse, wie er aussieht.
4. Man sollte niemanden auf seinen Tod ansprechen. Sie fragen oben ja auch nicht, wie jemand geboren wurde.

Behält man das im Kopf, gibt es für gewöhnlich auch keine Probleme.

Zu meiner Person ist nicht viel zu sagen. Ich habe mein ganzes Leben, beziehungsweise mein Dasein, unten verbracht. Meine Eltern waren normale Menschen, die irgendwann auf der Erde starben, ins Totenreich kamen und sich dort begegneten. Und bevor Sie fragen: Ja, das geht wirklich. Die Menschen im Totenreich können Kinder bekommen. Allerdings passiert das relativ selten, denn die meisten verlieren mit dem Leben auch irgendwie ihre Libido. Wenn es allerdings passiert, entstehen Kinder von menschlicher Gestalt, die jedoch nicht wirklich lebendig sind, aber auch nicht untot. Man kann sich oben aufhalten, ohne in der Sonne zu verbrennen, kann allerdings von Sterblichen nicht gesehen werden, und man altert ab einem gewissen Punkt unglaublich langsam. Das Erwachsenenalter erreicht man relativ schnell, aber dann... Finito. Das liegt daran, dass hier ständig neue Mitarbeiter in der Verwaltung gebraucht werden. In unglaublichen Mengen. Man stelle sich das vor – ständig kommen neue Verstorbene, aber es geht niemals jemand. Stellen Sie sich mal die Menge an Papierkram vor. Jedenfalls ist das der Grund, weshalb man ab einem gewissen Alter aufhört zu altern: Man erreicht das arbeitsfähige Alter, in dem man ausgelernt hat, und dann arbeitet man. Nicht bis man fünfundsechzig wird, sondern vielleicht fünfhundertundsechzig. Und dann zählen Sie noch als Frührentner.
Ich denke, dass ich oben auf dreißig geschätzt werden würde, aber ich muss ehrlich sagen, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie lange ich schon wie dreißig aussehe. Da Zeit hier keine Rolle spielt, verliert man manchmal den Überblick. Bei langweiligen Verwaltungsjobs sowieso. Zu denen gibt es leider auch nur sehr wenige Alternativen: Eine davon ist der Job des Letzten Begleiters.
Ein ebenso langweiliger Job, man holt gerade gestorbene Menschen oben ab, begleitet sie nach unten und kümmert sich darum, dass sie in den Teil der Unterwelt gebracht werden, in den sie gehören. Normalerweise ist dies das Totenreich. Leider kann eine Seele die Pforte ins Totenreich nicht einfach so durchqueren, das geht nur gemeinsam mit einem Bewohner der Unterwelt. Deshalb gibt es die Begleiter, die von sich selbst meistens als Abholer sprechen.
Aber zurück zum Thema. Nachdem ich also viele, viele Dekaden als einer der Letzten Wegbegleiter tätig gewesen war, gab ich den Job auf und eröffnete meine Bar. Meine Intention dabei war, dass ich selbst gern einen solchen Ort gehabt hätte, in manch stressiger Stunde.
Und es läuft gut. Das Pit & Pendulum ist immer gut besucht. Mein Geheimrezept kennen Sie bereits. Wenn man Glück hat, bekommt man für seine Mühe auch etwas zurück und damit meine ich kein Trinkgeld. Man trifft auf die interessantesten Gestalten, wenn man eine Bar betreibt, und die haben oft die interessantesten Geschichten zu erzählen.

Impressum

Texte: Text und Cover gehören allein der Autorin Lee Phoenix.
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle die gestorben sind - und sich langweilen.

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