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Vorwort
Wie lange kann man ein menschliches Gehirn umgehen und ihm das unaufhaltsame Ende eines unerfüllbaren Traumes enthalten? Auch wenn man es ständig mit neuen Hoffnungen zum Durchhalten zwingt – irgendwann realisieren wir, dass es keinen Sinn mehr hat weiterzukämpfen, seine gesamte Energie in etwas zu stecken, was nie wahr werden würde.
Manche Menschen fragen immer: Ist Liebeskummer wirklich so schlimm wie man immer sagt? Es ist noch schlimmer. Man trägt in sich einen unvorstellbaren Schmerz, der einem nicht genommen werden kann. Nichts scheint mehr lebenswert. Jeden Tag denselben Kummer, man ertrinkt in seinen eigenen Tränen und verschließt sich den anderen Menschen gegenüber. Die schlaflosen Nächte zählen zu den schlimmsten. Man liegt Ewigkeiten wach, lauscht der Stille und hört sein eigens Schluchzen. Und irgendwann blickt man aus dem Fenster in den Sternenhimmel und wünscht sich das Unerreichbare wieder herbei. Immer und immer wieder.

Der Mensch ist wie ein Uhrwerk. Im gleichmäßigen Rhythmus arbeiten wir die verschiedenen Punkte unseres Tages ab. Unser Herz schlägt zuverlässig wie ein Zeiger. Wir stehen auf, ziehen uns an, gehen ins Bad, essen etwas und verlassen dann in aller Hast das Haus um unseren Verpflichtungen nachzugehen. Sei es die Arbeit oder die Schule.
Wir sind einfach und leicht berechenbar. Unser Tagesmuster wiederholt sich jeden Tag, das Leben wird eintönig. Doch wenn irgendetwas Ungewöhnliches passiert, wirft es uns völlig aus der Bahn, wir kommen aus dem Takt und unser Ablauf bricht zusammen. Wir tun Dinge, die unerklärlich sind, haben uns und unsere Gefühle und Gedanken nicht mehr im Griff, werden leicht zum Opfer von Verletzungen und Enttäuschungen. Wir können nicht voraussehen, wie unser Körper reagieren wird…und doch ist es ein aufregendes Gefühl in die Welt voller Ungewissheit, Überraschungen und Abenteuer einzutauchen, uns einfach treiben zu lassen, wie ein Floß von den Bewegungen des Meeres. Auf diesem Weg werden wir begleitet von Gefühlen – schlechten wie guten. Wir werden um Erfahrungen reicher und sehen, was Abwechslung ist und kommen aus unserem Alltagstrott heraus. Doch wenn man einmal beschlossen hat in diese Welt einzusteigen, kommt man so schnell nicht mehr heraus. Wir können nicht wieder flüchten, sobald etwas nicht so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir können vor unseren Ängsten und Gefühlen nicht wegrennen, denn sie holen uns irgendwann wieder ein. Wir müssen lernen, mit der jetzigen Situation umzugehen, ob wir daran scheitern liegt an uns selbst. Es dauert lange, bis man aus diesem Gefühlschaos wieder herauskommt – manche schaffen es, andere nicht. Unsere Gefühle fahren Achterbahn, es geht hinauf und auch wieder hinunter, unsere Gedanken fahren Karussell. Diesen Zustand nennt man Liebeskummer. Einige haben es schon durchgemacht, andere stecken mitten drin und dem Rest ist er noch vorenthalten worden. Doch es trifft uns alle einmal…jeden holt er ein und zieht ihn in seinen Bann…irgendwann.

Ich fühle, wie etwas Salziges meine Wangen hinunterläuft und im selben Moment vernehme ich ein klagendes Geräusch – mein eigenes Schluchzen. Die Tinte auf dem Blatt Papier verläuft und mein Herz hört immer noch nicht auf zu bluten. Die Tränen rollen immer schneller und unkontrollierter, das Schluchzen wird lauter, der Schmerz immer größer, die Gefühle immer stärker, die Gedanken immer wilder…




1. Kapitel

Ärgerlich klappte Isabella ihr Biologiebuch zu und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Schweißperlen von der Stirn. Sie stützte den Kopf in die Hände, starrte auf den noch schwarzen Bildschirm ihres Laptops und war einen flüchtigen Blick auf ihren Wecker, der auf ihrem Nachttisch aus hellem Buchenholz stand. Genervt rollte sie mit ihren blauen Augen.
„Jetzt habe ich den halben Nachmittag mit dieser blödsinnigen Lernerei verbracht!“
Wie sie diesen Stress und diese Hektik vor den Sommerferien doch hasste. Anscheinend waren Lehrer nicht sehr begabt in Sachen Organisation, sonst würden sie wohl schlecht alle Klassenarbeitstermine in die letzten drei Wochen quetschen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Lehrer wirklich so faul waren. Monate und Wochen davor keine einzige Arbeit und dann kam alles wie eine riesen große Ozeanwelle, es war wie die Ruhe vor dem großen Sturm. Welcher normale Mensch konnte sich schon bei über dreißig Grad im Schatten in einem Zimmer aufhalten und versuchen, den trockenen Schulstoff in sein Gehirn zu bekommen, ohne wahnsinnig zu werden? Es wurde Zeit, dass die Ferien endlich anbrachen. Sie war durch und durch Ferienreif – ruhige und erholsame Ferien waren genau das, was Isabella jetzt brauchte. Wo man den ganzen Tag einfach spontan planen konnte, ohne dass man sich überlegen musste, wann man noch Zeit hatte, die Hausaufgaben zu machen oder für eine Arbeit zu lernen. Schnell lenkte Isabella ihre Gedanken in eine andere Richtung. Da sie schon den halben Nachmittag für die Schule geopfert hatte, wollte sie die restliche kostbare Zeit, die ihr noch blieb, nicht auch noch dafür verschwenden darüber nachzudenken, warum das Leben ungerecht war.
…warum das Leben ungerecht war!

Bei diesen Worten musste Isabella schmunzeln. Ihrer Meinung nach hörte sich das so an, als müsste man sich über alles und jeden beschweren, doch eigentlich hatte sie gar keinen Grund dazu. Sie war eine Schülerin, die sich nicht viel Sorgen um ihre Noten im Zeugnis machen musste, hatte zwei eigene Pferde und verständnisvolle Eltern – was wollte sie mehr? Ihr Leben was so gut wie perfekt – abgesehen von ein paar Rissen. Aber die Aussicht auf sechs freie Schulwochen, in denen sie die ganze Zeit ihrem Lieblingshobby nachgehen konnte, machte das wieder wett.
So riss sie sich nun ein letztes Mal zusammen, stopfte das grüne Schulbuch in ihre Schultasche, um es nicht noch weiter in ihrer Optik zu haben und fuhr ihren Laptop hoch. Als das leise Startsignal erklang und das angenehme Surren einsetzte, entspannte sie sich sofort. Immer, wenn sie im Internet war, konnte sie so richtig abschalten und in eine virtuelle Welt eintauchen – eine Welt voller unbegrenzter Möglichkeiten, eine Welt voller bunter Farben und klangvoller Musik, gewürzt mit einer Portion herausfordernden und freundlichen Chatnachrichten und nicht zu vergessen, den ironischen Bemerkungen.
Ja, die liebe Ironie, unser ständiger Begleiter. Isabella seufzte. Es gab so viel Menschen, die Ironie nicht verstanden oder herauslesen konnten. Dabei war doch Ironie genau das, was die vielen langweiligen und eintönigen Chats zu etwas besonderem machten, die uns die Laune am Chatten erhielt und uns immer wieder ein kleines Lächeln entlockte, wenn man den eigentlichen Sinn entdeckt hatte.
Sie loggte sich schnell in ihren Account und wartete geduldig, bis ihr zuverlässiger, schon etwas älterer Laptop die Seite geladen hatte. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf der Holzplatte herum, als der Ladevorgang ständig stoppte.
Isabella schloss für einen kurzen Moment die Augen und musste lächeln, als sie an die Worte ihrer Mutter dachte: „Ich möchte nicht wissen, was du ohne die Erfindung des Computers machen würdest, du bist ja schon süchtig.“ Aber ihre Mutter verstand das nicht. Im Chat konnte sie Kontakt zur Außenwelt aufnehmen und so erfahren, was die neuesten Gerüchte waren, wer mit wem zusammen war oder andere bedeutende Dinge, die für Teenager unglaublich wichtig waren, für Erwachsene jedoch völlig unverständlich. . Wenn man den ganzen Tag bei den Pferden war, konnte man ja schlecht auf dem Laufenden in allen möglichen Bereichen sein und genau deshalb musste das Internet herhalten.
Konnte man das schon als Sucht bezeichnen? Nein – wenn, dann war das der Drang nach Informationen oder freundschaftlichen Gesprächen, die sie jeden Tag aufs Neue an den PC trieben.
„Herzlich willkommen Isa96. Sie haben zwanzig neue Nachrichten!“

Die hohe Frauenstimme der Community holte Isabella aus ihren Gedanken und ihr Blick richtete sich erneut auf den Bildschirm. Ein blinkender Briefumschlag rechts oben in der Ecke machte sie höflicher weise auf ihren vollen Briefkasten aufmerksam.
„Du bist so aufdringlich, dass es schon fast an Unverschämtheit grenzt“, bemerkte Isa leicht grinsend und öffnete schnell ihren Briefkasten, damit dieser aufhören konnte, unentwegt zu blinken.
Mit geübtem Blick überflog sie die Absender der Nachrichten und pickte sich die wichtigsten heraus.
Sie hatte ihr eigenes Spezialsystem, was die Reihenfolge anging. Als erstes wurden all die Nachrichten beantwortet, die von ihren engsten Freunden waren, erst dann kamen die übrigen, die sich im Nachhinein immer als völlig unnötig herausstellten – Messages aus Langeweile, die keinen bestimmten Hintergrund besaßen, die so leer waren, dass man locker hätte durchsehen können.
Ein plötzliches Vibrieren in ihrer Hosentasche hielt Isa davon ab, die erste Message zu beantworten. Geschickt zog sie ihr Handy heraus und schaute auf den Display: Sonja leuchtete in großen Druckbuchstaben auf und ein Kontaktbild, das sie beide im letzten Sommer zeigte, wurde eingeblendet.
„Hey Sonja, was gibt’s?“, meldete sich Isa und begann auf einem Blatt Papier herumzukritzeln.
Das war eine der Angewohnheiten, die ihre Mutter nicht gerne sah. Jedes Mal, wenn sie fertig mit Telefonieren war, hatte sie fast einen halben Notizblock oder unzählige kleine Zettel verbraucht. Frau Berger beklagte sich immer, dass nie ein Blatt Papier da war, wenn man es wirklich brauchte. Neuerdings hatte sie schon begonnen, einzelne Blöcke in der Nähe des Telefons zu verstecken, damit sie nach dem Telefonat nicht mit unerkennbaren Zeichnungen übersät waren.
„Hey Isa. Muss es denn einen bestimmten Hintergrund haben, damit ich meine beste Freundin anrufen kann?“
Isa verkniff sich grinsend eine Antwort. Natürlich gab es für Sonjas Anruf einen triftigen Grund. Wenn sie anrief, ohne dass sie es vorher verabredet hatten, steckte immer etwas dahinter – dachte sie jedenfalls.
„…aber du hast ja Recht – ich bräuchte ein Date mit deiner kreativen Ader“, gab Sonja nach einer kurzen Pause zu.
In ihrer Stimme schwang ein komischer Unterton aus Belustigung und Hilfe mit. Isa war für einen kurzen Moment ziemlich verwirrt. Von was für einer kreativen Ader war hier die Rede und für was brauchte Sonja ihre Hilfe? Ihr Blick wanderte hilfesuchend durch ihr Zimmer in der Hoffnung, hier die Antwort auf den Hilferuf ihrer Freundin zu finden. Ihr Blick blieb an ihrem Wandkalender hängen. Natürlich – Sonja hatte bald Geburtstag.
„Hoffentlich finde ich noch einen freien Termin für dich, denn meine kreative Ader ist sehr gefragt!“, zwitscherte Isa in den Hörer und wartete auf die Reaktion von Sonja.
„Also Isa, ich bitte dich. Da ich fast in der Blüte der Jugend stehe und mich rechtzeitig angemeldet habe, verlange ich einen Ehrentermin!“
Blüte der Jugend? Isa begann zu kichern. Sonja hatte vielleicht eine Ausdrucksweise! Doch gleichzeitig beneidete sie ihre Freundin darum. Bald würde sie ihren sechzehnten Geburtstag feiern. Isa mit ihren schlappen vierzehn konnte da nicht mehr mithalten.
„Ich werde versuchen es möglich zu machen“, stimmte Isa zu und versuchte möglichst ernst zu klingen, was gleichzeitig einen erneuten Kicheranfall bei Sonja hervorrief.
Kaum zu glauben, dass sie zwei Jahre älter war, als sie selbst.
„Aber mal im Ernst. Was schwebt dir denn vor?“, versuchte Isa das Thema wieder in geregelte Bahnen zu lenken.
Am anderen Ende der Leitung räusperte sich Sonja, dann hörte man leises Knacken.
„Ich habe mir gedacht, dass wir vielleicht originelle Geburtstagseinladungen verteilen, handgemacht versteht sich. Ich finde das verbindlicher als eine mündliche Einladung.“
Isa nickte. Das war eine nette Idee und bestimmt lustig, sie umzusetzen.

Obwohl sie noch keinen festen Termin ausgemacht hatten, an dem sie die Karten entwerfen und eine Gästeliste zusammenstellen wollten, begann Isa sich Gedanken über das Design zu machen. Der sechzehnte Geburtstag war etwas ganz Besonderes, deshalb konnten die Karten ruhig einmal aufwendiger sein. Schnell machte sie sich ein paar Notizen, um ihre Ideen festzuhalten. Dabei fiel ihr Blick auf eine Collage, die sauber eingerahmt an ihrer Wand hing, direkt über ihrem Schreibtisch, sodass Isa sie gut betrachten konnte. Auf jedem Foto waren wunderschöne Erinnerungen mit Sonja festgehalten. Unmerklich musste Isa lächeln. Sie konnte sich noch genau an die erste Zeit nach dem Umzug und im neuen Reitstall erinnern. Sie kannte niemanden – fühlte sich allein. Die Älteren schienen alle Mitglied in einer großen Gemeinschaft zu sein, zu der sie keinen Zugang hatte. Auch wenn im Stall noch unzählige andere Reitschüler und Reiter waren, so hatte sie sich doch immer ausgeschlossen gefühlt.
Doch dann hatte sie Sonja kennengelernt und seitdem hatte sie nicht nur einen festen Platz im Leben, sie wusste auch, was das Wort Freundschaft

wirklich bedeutete. Es war nicht nur einfach ein Wort – es war ein Gefühl, dass Vertrauen und Geborgenheit ausstrahlte. „Eine Tür hat sich in meinem Leben geschlossen, dafür öffnete sich ein Fenster“.

So nannte Isa dankbar im Nachhinein die Zeit nach ihrem Umzug.
Das erneute Aufleuchten ihres Briefkastens lenkte ihre Gedanken wieder aus der Vergangenheit in die Realität zurück. Neugierig öffnete sie die Nachricht
<<Alex>> 16.22: Hallo Isa-Bienchen
Isa lachte laut auf. Alexander schaffte es doch immer, ihren Namen ins Lächerliche zu ziehen. Bei dem Wort Bienchen flogen lauter Bilder der Erinnerung an ihr vorbei – Bilder der wundervollen Vergangenheit vor zwei Jahren.
Es war im September 2008. Ihr Reitverein feierte sein fünfzig jähriges Jubiläum. Zu dem Anlass war am Abend davor ein buntes Reiterprogramm auf die Beine gestellt worden und am Tag darauf das Jubiläumsturnier. Sie hatte sich, gemeinsam mit einer ehemaligen Freundin aus dem Reitstall, für das Kostümreiten gemeldet. Als Verkleidung wählten sie „Die Biene Maja“.

Vor ihrem Auftritt standen sie, bereits umgezogen, in der Menge der Zuschauer und beobachteten die Ritte der Konkurrenz. Isa erinnerte sich noch an den Abend, als wäre es gestern gewesen. Sie hatte auf einmal ihren Namen im Publikum vernommen und sich verwundert umgedreht, um die Person ausfindig zu machen. Doch bei der Anzahl von Leuten war das schlicht unmöglich gewesen, bis ihre Freundin sie auf einen etwas älter aussehenden Jungen hinwies, der sie grinsend anstarrte -Alex.
Isa96 16.24: *summ summ* Hallo Alex wie geht’s?
<<Alex>> 16.24: Schon wieder am Summen, du Biene? Gut und selbst?
Isa96 16.25: Klar, ich mach den ganzen Tag nichts anderes. Schulstress eben und was machst du?<Alex>> 16.26: René ist da. Erinnerst du dich noch an ihn?</font>
Isa stutzte. Sie ließ ihre Bilder erneut Revue passieren, doch wer war René? Ihre Stirn in Falten gelegt schrieb sie weiter.
Isa96 16.30: Nein, sollte ich denn?
<<Alex>> 16.30: Vom Jubiläum, er saß hinter mir, Isa-Bienchen
Dunkel konnte sich Isa an einen Jungen erinnern, der unscheinbar hinter Alex auf der Bank saß und ihnen nicht einen einzigen Blick während des ganzen Gesprächs geschenkt hatte, geschweige denn ein Wort. Warum also sollte sie sich dann noch an ihn erinnern können?
Isa96 16.31: Wenn du den meinst, der hinter die auf der Bank saß, dann ja. Aber kaum noch
<<Alex>> 16.31: Ja, genau der. Einen Gruß soll ich dir von ihm ausrichten
Isa96 16.31: Danke, Gruß zurück. Ich muss dann mal wieder, viel Spaß euch beiden noch
Ohne auf eine weitere Antwort Alex‘ zu warten, loggte sie sich aus und klappte ihren Laptop herunter. Alex hatte vielleicht Probleme. Warum sollte sie sich an seinen vermutlich besten Freund erinnern, wenn sie noch nie etwas mit ihm zu tun hatte? Sie kannte Alex ja selbst noch nicht so lange. Nach dem Jubiläum war der Kontakt genau so plötzlich abgebrochen, wie er seit einiger Zeit wieder bestand. Das schien aber Alex‘ Art zu sein – kommen und gehen, von einem Punkt zum anderen springen.
„Sehr sprunghafter Charakter“, analysierte Isa.
Gleich darauf schüttelte sie den Kopf und brach in schallendes Gelächter aus. Es kam häufig vor, dass sie sich als Hobbypsychologin versuchte und dazu gehörte, ihrer Meinung nach, auch das Charakterisieren von Personen dazu. Doch sie kannte Alex viel zu wenig, um so etwas überhaupt durchführen zu können. Das Einzige was sie von ihm wusste war, dass er eine Freundin hatte, was allerdings sein Familienstand im Chat verriet, und dass er selbst Pferde hatte und ritt. Mit diesen Angaben konnte sie ja nicht einmal einen Steckbrief vervollständigen.

„Schön geritten. Das reicht für heute. Reite noch ein bisschen Schritt.“
Zufrieden und erschöpft klopfte Isa den schokobraunen, verschwitzen Pferdehals und gab ihrer Stute genügend Zügel, damit sie sich strecken konnte. Liebevoll betrachtete sie das wunderschöne Tier unter ihr, das gerade schnaubte und gierig nach einem kleinen Grashalm schnappte – Lady

, Isabellas ganzer Stolz.
Schnell strich sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf beim Springtraining gelöst haben muss. Ihr blaues T-Shirt klebte am Körper, genauso die Reithose. Ihre Füße schienen in den Lederreitstiefeln zu kochen.
„Du bekommst nachher eine Dusche, mein Schatz. Die hast du dir wirklich verdient!“, bemerkte Isa.
Bei diesen sommerlichen Temperaturen kam jeder ins Schwitzen, obwohl es bereits auf sechs Uhr zuging. Lady

atmete immer noch heftig, ihr Fell glänzte vor Schweiß und ihr muskulöser Hals war mit weißem Schweiß bedeckt.
Während ihre Trainerin sich daran machte die Hindernisse wieder tiefer zu stellen, beschloss Isa noch eine gemütliche Schrittrunde im Gelände zu drehen. Sie lenkte Lady

mit leichtem Schenkeldruck vom Hof auf einen asphaltierten Feldweg, der in den Wald führte. Im Schatten der Bäume empfing sie angenehme Kühle. Hin und wieder schlug Lady

mit dem Schweif, um lästige Fliegen und Insekten zu vertreiben. Als die Stute plötzlich ihren schönen Kopf hob und die Ohren spitze, hielt Isa an und drehte sich im Sattel um.
„Darf man euch Gesellschaft leisten?
Ein großes schwarzes Pferd tauchte mit einer ebenso langbeinigen Reiterin trabte auf dem Grasstreifen zu ihnen nach vorne und parierte erst an ihrer Seite durch. Der Wallach schnaubte Lady

freundlich an, doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit lieber den saftig aussehenden Grashalmen am Wegrand zu.
„Ich denke das ist genehmigt. Anstrengendes Training gehabt?“, fragte Isa neugierig, als sie das verschwitze Pferd musterte.
Die Reiterin schüttelte den Kopf und trieb ihr Pferd vermehrt vorwärts, da es am Überlegen war, einen kurzen Stop an dem frischen Grün einzulegen.
„Nein, wozu auch… wir haben uns im Gelände vergnügt“, sagte sie und lächelte Isa freundlich zu, doch diese meinte hinter dem Lächeln einen Schmerz entdeckt zu haben.
Tiziana zählte mit Isabella zu den besten jungen Reitern im Stall, doch anders als Isa hatte sie nicht die Möglichkeit mit einem eigenen Pferd im Sommer ihr Können unter Beweis zu stellen und unzählige Turniererfahrungen zu sammeln und Preise einzuheimsen. Der Besitzer, dem der Oldenburger Wallach gehörte, hatte zwar nichts dagegen, aber leider weigerte sich Cabarello beharrlich den Pferdeanhänger mit nur einem Huf zu betreten. Isa wusste, dass er bei seinem früheren Bereiter nicht gerade sanft behandelt wurde und schon allein deshalb sehr schreckhaft war, doch Tiziana hatte so viel Geduld und Liebe in das Pferd investiert, dass seine ängstlichen Anfälle nur noch Seltenheit waren. Das einzige was sie bisher nicht in den Griff bekommen hatte, war das Betreten des Pferdeanhängers. So startete sie nur für das Heimturnier, das jedes Jahr im September abgehalten wurde. Tiziana betonte zwar immer, dass es ihr nichts ausmachen würde, doch so ganz glaubte Isa ihr das nicht. Wer so viel Ehrgeiz und Feingefühl besaß musste doch auch die Möglichkeit haben es zu beweisen. Aber anscheinend beschränkte sich Tiziana auf den Erfolg in den Trainingsstunden.
„Aber wie ich sehe hast du wieder hart trainiert. Ich habe dich ein bisschen beobachtet, bevor ich losgeritten bin. Respekt, du bist wirklich gut indem was du tust. Du und Lady

harmoniert wirklich hervorragend. Diese Saison scheint dir ja richtig zu liegen. Erst heute Morgen habe ich den Turnierbericht von letzem Sonntag gelesen. Du machst ja richtig Schlagzeilen!“
Isa wurde rot. Es erfüllte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie ein so großes Lob erhielt. Und das auch noch von einer vier Jahre älteren. Sie trainierte hart dafür und besaß auch den nötigen Ehrgeiz, um das durchzuziehen. Doch auch an Talent und Feingefühl mangelte es ihr nicht. Jeden Tag aufs Neue war sie ihren Eltern dafür dankbar, dass sie ihr einen so weiten Horizont geöffnet hatten.
„Ja, das letzte Wochenende war schon ein Erfolgserlebnis. Vier Starts – vier Siege.“
„Und wir haben erst Juli, die Saison ist noch lange nicht beendet. Wenn du weiter so absahnst kannst du am Ende des Jahres einen ganzen Raum mit den gewonnen Rosetten und Pokalen diesen Sommers füllen. Wie läuft es mit deiner Kleinen? Den Zeitungsberichten zufolge scheint sie ja deine zweite Geheimwaffe zu sein“, scherzte Tiziana und klopfte ihrem Cabarello freundlich den Hals.
Isa musste bei dem Gedanken an ihr Nachwuchspferd lächeln. Lady war zwar erst sechs und somit im besten Alter, doch ihre Eltern hatten ihr letzten Herbst die vierjährige Hannoveranerstute La rouge

gekauft, die seit ein paar Wochen ihre ersten Turniererfahrungen sammelte und bereits ein paar Mal ganz vorne bei der Siegerehrung lief. Ihre hervorragende Abstammung und der Exterieur versprachen eine erfolgreiche Karriere, was die ersten Turnierstarts bereits bestätigten.
„Sie beweist ungeheuer viel Talent für ihr Alter. Natürlich ist sie noch etwas unsicher, aber das wird sich mit der Zeit schon legen“, erzählte Isa und Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
„Dann ist sie die perfekte Nachfolgerin für Conquest

. Sind seine Turnierstarts eigentlich schon gezählt?“
Neben Lady

und La rouge

besaß Isabella noch ein drittes Pferd - den fünfzehnjährigen Holsteinerwallach Conquest of paradise

. Er war Isas erstes Pferd gewesen und mit ihm stieg sie auch in die oberen Turnierklasse auf. Heute war er ein „alter Hase“ im Turniergeschehen. Mit ihm startete Isa ausschließlich in Springprüfungen. Wegen seines Alters und seinen errungenen Erfolgen hatte Isa entschlossen, in Zukunft ein bisschen kürzer zu treten mit dem Wallach und ihn langsam auf sein Leben als Rentner und Freizeitpferd vorzubereiten.
„Diese Saison ist er schon noch voll dabei, sozusagen als Abschluss seiner großartigen Karriere. Aber nächstes Jahr starte ich nur noch vereinzelt mit ihm und werde ihn nur noch leicht trainieren. Bis in zwei bis drei Jahren wird er dann gar nicht mehr starten, denke ich.“
„Super, dann können wir gemeinsam ausreiten gehen“, schlug Tiziana vor und grinste.
Isa nickte.
„Klar doch, dann machen wir die Wiesen unsicher!“
Inzwischen tauchten vor ihnen bereits wieder die weitläufigen Koppeln des Stalles auf. Die Hitze nahm etwas ab und es dämmerte langsam. Das Surren der Mücken begleitete die zwei Reiter den Rest des Weges.



2.Kapitel

Es war bereits dunkel, als Isa ihren Laptop hochfuhr und sich in den Chat einloggte. Die sonst so erschreckende Eingangsnachricht hörte sie diesmal gar nicht. Müde lehnte sie sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es war ein anstrengender aber dennoch erfolgreicher Tag gewesen. Nur noch wenige Wochen, dann würde sie von der Schule den ganzen Sommer über befreit sein. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen weiten, makellosen Sandstrand – frei von jeglichen Touristen. Die Sonne strahlte von einem azurblauen Himmel, kein Wölkchen trübte die Sicht. Sie hörte das Rauschen des Meeres und sah weiße Schaumkronen auf den Wellen tanzen, die nach und nach an den Strand schlugen und sich im Sand verliefen. Die Hufe des Pferdes donnerten durch den Sand, ein Geschmack von Salz lag ihr auf der Zunge. Sie stützte sich auf den Pferdehals, vergrub die Hände in der Mähne und genoss das Gefühl zu fliegen. Der Wind wehte ihre Haare nach vorne, ein Möwenkreischen durchbrach das Donnern der Brandung. Doch plötzlich war der Strand eingezäunt, der Sand ging ins gräuliche über und um den Zaun herum versammelten sich immer mehr Menschen. Ihre freie Haltung verwandelte sich in eine konzentrierte. Vor ihr tauchten bunt gestrichene Hindernisse auf, sie trug Turnierkleidung und das typische Urlaubsbild von Meer und Strand verschwamm nach und nach. Sie gab die Hilfen zum Absprung und schon stieß sich der kräftige, aber dennoch sportliche Pferdekörper vom Boden ab, zog die Vorderbeine an die Brust und flog über die Tribbelbarre. Noch im Genuss des Augenblicks und des Gefühls von Freiheit hielt sie nach dem nächsten Sprung Ausschau – einem einladenden Wassergrabens. Seine Wasseroberfläche schimmerte im Licht der Sonne. Sie saß tief ein, gab eine kurze Parade. Sie spürte wie das Pferd unter ihr seine Galoppsprünge verkürzte, nochmal Kraft sammelte und dann in die Höhe schnellte. Sie war süchtig nach dem Gefühl fliegen zu können, mit dem Pferd den Horizont zu erobern, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Das hohe Piepen einer neueingetroffenen Nachricht riss Isa endgültig aus ihren Tagträumen und holte sie schlagartig in die Realität zurück. Müde rieb sie sich die Augen und griff mit einer Hand nach einem Käsebrot, dass sie sich in der Küche kurz zurechtgemacht hatte. Herzhaft biss sie hinein und öffnete die Chatnachricht.
<<Alex>> 21:29: Du hattest heute nicht zufällig Springstunde?
Isa rollte mit den Augen. Hatte alle Welt keine Zeit mehr, um Hallo

zu sagen?
Isa96 21:29: Hallo erst mal, so viel Zeit muss sein Ja, um 16.00 Uhr, wieso?
<<Alex>> 21.32: Dann haben wir dich gesehen. Respekt, sieht richtig gut aus
Verwundert blickte Isa auf und schob sich den Rest des Käsebrötchens in den Mund. Soweit sie sich erinnern konnte hatte sie heute keine direkten Zuschauer gehabt, wenn man von den anderen Reitern absah, die hin und wieder einen Blick auf den Platz hinunterwarfen, wenn sie auf den Weg zu ihren Pferden waren.
Isa96 21:33: Wer ist denn bitteschön wir

? Wo hast du dich denn versteckt? Hinter einem Baum!?
Über ihren eigenen Witz lachend öffnete sie ihre Playlist und klickte wahllos auf irgendeinen Titel. Schon erklangen die ersten Töne von Only girl

von Rihanna. Als richtigen Fan konnte sie sich nicht bezeichnen, denn einen bestimmten Lieblingssänger oder eine Band hatte Isa eigentlich nicht. Müsste sie aber eine top ten aufstellen mit ihren meistgehörten Künstlern, würde Rihanna sicherlich unter den ersten fünf stehen.
<<Alex>> 21:34: Erfolg scheint dir ja mächtig zu Kopf zu steigen René und ich bezeichne ich als Wir

. Nein, wir sind nur kurz vorbeigefahren und haben jemand Springen sehen, da bist du mir gleich eingefallen
Isa96 21:40: Das sei mal so dahingestellt. Ihr hättet ruhig Hallo sagen können und nicht heimlich vorbeifahren… ich beiß schon nicht
Isa lachte befreiend. Sie wusste selbst nicht warum, aber gerade durchströmte sie ein so intensives Glücksgefühl, dass sie meinte, sie könne danach greifen. Die Aussicht auf einen großartigen Sommer lag vor ihr, es lief alles perfekt. Sie wusste zwar nicht woher das plötzliche Interesse von Alex kam, aber das war ihr egal. Sie mochte ihn auf Anhieb, obwohl sie sich gerade fragte, ob er etwas Bestimmtes wollte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er etwas im Hinterkopf hatte und sie später vor vollendete Tatsachen stellen würde – so viel verriet ihr ihre ausgeprägte Menschenkenntnis.
„Want you to make me feel like i’m the only girl in the world“, sang sie laut mit, als der mitreißende Refrain ertönte.
In ihren Gedanken übersetzte sie sich den Songtext und musste lachen.
Ich will, dass du mir das Gefühl gibst, als wäre ich das einigste Mädchen auf der Welt.


Die Liebe – sie war das, worum sich fast jedes Lied drehte. Sie war die Verkörperung der Musik, sie beherrschte die Melodie und die Menschen selbst. Sie brachte Glück, Schmerz und Trauer zugleich. Sie konnte einem das Gefühl geben frei zu sein, das Unmögliche zu schaffen, aber sie konnte einen auch in ein tiefes Loch stürzen, in wilde Verzweiflung. Die Liebe war das beste Beispiel dafür, dass etwas zwei Gesichter haben konnte.
Isa96 21:45: Für was brauche ich die Liebe, wenn ich das perfekte Glück bereits dreifach besitze? Das Gefühl frei zu sein und fliegen zu können habe ich auch, wenn das Pferd vor dem Sprung anzieht und darüber segelt. Und das Gefühl alles zu schaffen, in den Horizont aufzusteigen, kein Limit zu kennen … das verspüre ich jeden Tag und es fühlt sich gut an
<<Alex>> 21:45: Bist du unter die Dichter gegangen, Isa? Vergiss niemals die menschliche Liebe von der eines Tieres zu unterscheiden. Ein Mensch kann dir eine ganz andere Liebe zeigen… nicht wahr?!
Isa biss sich auf ihre Unterlippe. Fing sie jetzt auch schon an ihre Gedanken ins Internet zu stellen, damit sich jeder ein Bild darüber machen konnte? Solche impulsive Handlungen aus Gedankengängen heraus kannte sie eigentlich nicht von sich. Sie war stets bemüht darauf zu achten, den Menschen nicht zu viel von sich zu erzählen, zumindest wenn es sich nicht um enge Freunde handelte. Was war in sie gefahren? Normalerweise gab sie ihre momentane Gefühlslage nicht einfach so preis und schon gar nicht an jemanden wie Alex, der den Zusammenhang überhaupt nicht verstand und wieder Witze auf ihre Kosten machte. War ja klar, dass er wieder darauf anspielte…
Isa96 21:47: Jedem das Seine
<<Alex>> 21:48: ..und mir das Meine
Damit war für Isa das Gespräch beendet. Sie wollte sich nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. So etwas besprach man mit seiner besten Freundin und nicht mit einem Vertreter des anderen Geschlechts. Sie zwang sich noch zu einem kurzen Grinsen und einem Abschiedsgruß.
Isa96 21:48: Schlaf schön
Nachdem sie sich ausgeloggt und den Laptop heruntergefahren hatte blieb sie noch eine Weile auf dem Schreibtischstuhl sitzen. Sie blickte sich in ihrem Zimmer um. Ihre Müdigkeit hatte sich wohl für eine kleine Weile verabschiedet, denn sie fühlte sich putz munter. Das Käsebrötchen war aufgegessen, der PC ausgeschaltet – was sollte sie jetzt noch tun? Schlafen konnte sie noch nicht, dafür ging ihr das Gespräch mit Alex nicht aus dem Kopf. Sie stand langsam auf und ging zum Fenster, das immer noch offen war. Die angenehm kühle Luft half ihr sich ein bisschen zu entspannen, die Gedanken eine Weile aus ihrem Kopf zu verbannen.
Der Himmel wurde langsam dunkler, die bunten Farben der untergehenden Sonne verschwanden immer mehr. Das Rosa hatte sich längst in ein tiefes orange verwandelt, das langsam aber sicher hinter den Bäumen verschwand und darauf wartete, am nächsten Morgen wieder aufzustehen. Die ersten Sterne konnte man bereits schwach erkennen. Der Mond stand sichelförmig am Nachthimmel und hatte die Sonne abgelöst. Nun war er an der Reihe auf die Erde herabzuschauen und den Menschen das Gefühl von Geborgenheit zu geben. Die letzten Grillen zirpten in den vereinzelten hohen Gräsern der Nachbargärten. Gärten, wo die Menschen noch keine Zeit gefunden hatten den Rasen zu mähen. Die Stille legte sich mehr und mehr über das Dorf. Im Schein der angehenden Straßenlaternen konnte Isa die Umrisse einer mit Kreide gemalten Straße auf dem Bürgersteig erkennen, die von Kindern gemalt worden war.
Sie wusste nicht wie lange sie vor dem offenen Fenster gestanden hatte, aber langsam begann sie in ihren Boxershorts und dem T-Shirt zu frösteln. Schnell schloss sie es und warf einen sanften Blick auf ihre zwei Meerschweinchendamen Emsi

und Flora

, die bereits in ihrem völlig zerknabbertem Holzhaus saßen.
„Gute Nacht“, flüsterte sie.
Eines der Meerschweinchen antwortete mit einem entsetzen Quicken, dann war alles still.


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„Noch fünf Minuten!“
Entspannt legte Isa den Stift auf das Pult und lehnte sich zurück. So schwer wie sie befürchtet hatte war die Biologiearbeit gar nicht gewesen. Vorsichtig warf sie einen Blick auf die zweite Tischhälfte, die durch eine hölzerne Trennwand abgetrennt war. Ihr Tischnachbar machte einen recht verzweifelten Eindruck und kaute nervös auf seinem Bleistift herum. Schnell löste Isa ihren Blick von ihm und ging ihre Arbeit noch einmal durch. Hatte sie auch alle Aufgaben bearbeitet? Bei einem so breitgefächerten Thema wie Genetik konnte einem schon einmal ein kleiner Fehler unterlaufen. Schnell überflog sie das Kreuzungsschema und die dazugehörige Erklärung, die sie ordentlich daneben geschrieben hatte. Gerade als sie überprüfen wollte, ob sie keine der mendlischen Regeln verwechselt hatte, erklärte die Lehrerin das Ende der Stunde und forderte alle Schüler auf, die Arbeiten vorne auf das Lehrerpult zu legen. Mit einem guten Gefühl im Bauch stand Isa auf und verließ kurz darauf den Raum.
„Na, wie war das Training gestern?“, rief Sonja und kam auf Isa zu, die auf einer in der Sonne stehende Bank saß.
Isa lächelte unmerklich, als sie das fröhliche Gesicht ihrer besten Freundin entdeckte. Sie wusste zwar nicht wie Sonja es anstellte, aber sie war immer gut gelaunt und betrachtete alles von der lustigen Seite. Sie war die Garantie für Spaß und konnte jeden mit ihrer guten Laune anstecken. Sogar die Schule oder das frühe Aufstehen schafften es nicht ihr das Lächeln aus dem Gesicht zu reißen. Da Sonja aber zwei Klassen höher ging als sie selbst sahen sie sich nur in der großen Pause.
„Super, wenn wir am Samstag im Parcours genauso sicher sind ist mir eine Platzierung sicher. Kommst du heute auch in den Stall?“, fragte Isa und knabberte an ihrem Schinkenbrot.
„Klar, du brauchst doch meinen geistigen Beistand“, scherzte sie und fing an zu kichern.
„Stimmt, wie konnte ich es ohne dich gestern nur aushalten!“, feixte Isa und lachte.
Für fast sechzehn konnte man Sonja wirklich noch nicht halten wenn man bedachte, was sie manchmal für Aktionen und Sprüche ablieferte. Da war Isa die Vernünftigere von den Beiden, ohne Frage. Aber ein bisschen Verrücktheit verlieh dem Leben eben doch etwas mehr Spaß.
Doch auf der anderen Seite verstand sie ihre Freundin auch nicht. Sie hatte so viel reiterliches Talent und warf es einfach leichtfertig weg. Anders wie Isa besaß Sonja kein eigenes Pferd und bekam keine teuren Privatstunden. Wie auch den Rest ihres Lebens betrachtete Sonja die Reiterei als Vergnügung. Den Ehrgeiz wie Isa ihn hatte besaß sie nicht. Hauptsache das Reiten machte Spaß, mehr wollte sie nicht. An Turnieren war sie überhaupt nicht interessiert. Sie fühlte sich im Gelände wohler als in der Reitstunde beim Training. Sooft Isa versuchte sie zu überreden sich für ein Turnier zu nennen stieß sie auf ein klares nein

.
„Du sag mal“, fing Isa zögernd an“, erinnerst du dich noch an Alex?“
„Also wenn du den meinst, der dich am Jubiläum so frech angequatscht hat, dann ja. Ich dachte ihr hättet keinen Kontakt mehr miteinander?“
Ja, das dachte Isa auch.
„Naja… wir schreiben seit ein paar Tagen wieder miteinander, er hat sich bei mir gemeldet“, gab Isa zu und wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger.
Sonja setzte sich aufrecht hin und beobachtete ihre Freundin. Worauf wollte Isa hinaus? Sie beschäftigte sich doch sonst nicht mit den Leuten, die sie plötzlich anschrieben, sonst hätte sie nichts anderes mehr zu tun. Besorgt sah sie sie an.
Isa biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte eben kein Talent ihre Besorgnis und Gedanken vor anderen geheim zu halten. Wenn sie es ihnen nicht selbst erzählte konnte man es an ihrer Körperhaltung ablesen, zumindest gelang es Sonja jedes Mal. Sie wusste ja selbst nicht warum sie so ein komisches Gefühl dabei hatte wenn sie bedachte, dass Alex und sie fast ein halbes Jahr keinen Kontakt mehr hatten und aus heiterem Himmel bestand er wieder. Ihre ausgeprägte Menschenkenntnis wollte ihr unterbewusst irgendetwas sagen. Es war wie eine Stimme die ihr leise etwas zuflüsterte und sie konnte nicht verstehen was es war. Aber auf der anderen Seite genoss sie auch die Albernheiten mit ihm und freute sich wenn er ihr schrieb, auch wenn es noch so komisch war.
„…und worüber schreibt ihr?“, unterbrach Sonja die peinliche Stille und sah ihre Freundin fragend an.
Isa zwang sich zu einem unbefangenen Lächeln.
„Nichts Interessantes. Er ist gestern mit René am Springplatz vorbei gefahren und die beiden haben mich gesehen. Außerdem hat er gestern gesagt, ich solle die Liebe eines Tieres nicht mit der eines Menschen verwechseln!“
„Moment, noch mal auf Anfang. Redest du von René Hofer?“, fragte Sonja ungläubig und lachte.
Isa war verwirrt? Woher kannte Sonja René und wieso hatte jeder schon einmal von ihm gehört nur sie nicht? Daran, dass sie ihn am Jubiläum gesehen hatte, konnte sie sich dunkel bis gar nicht mehr erinnern.
„Also ich wusste zwar, dass du schon immer in deiner Welt gelebt hast, aber dass das Leben so an dir vorbeizieht hätte ich nicht gedacht“, bemerkte Sonja trocken und lachte, doch Isa konnte einen ernsten Blick in ihren froschgrünen Augen erkennen.
„Was soll denn das wieder heißen? Du weißt, ich hasse Rätsel.“
Unterbewusst musste sich Isa eingestehen, dass Sonja Recht hatte, zumindest ein bisschen. Die Hauptrolle in ihrem Leben hatten schon immer die Pferde und die Reiterei gespielt und das würde auch immer so bleiben. Alles was sich außerhalb dieses Geschehens abspielte nahm sie zwar zur Kenntnis, doch es geriet sehr schnell in Vergessenheit. Das Reiten war eben der Hauptinhalt ihres Lebens und füllte sie fast komplett aus, bis auf ein paar Kleinigkeiten. Ihr Platz war nun mal in der Reiterszene und nicht in einer Mädchenclique, wo sich Gerüchte schneller als eine Grippe verbreiteten.
„René Hofer ist der Sohn von Thomas. Du weißt schon, er gibt im Reitstall dienstags Erwachsenenreitstunde. Ich hatte doch eine Zeit lang bei ihm Unterricht… und René war damals des Öfteren im Stall. Du müsstest ihn eigentlich von Turnieren kennen“, informierte Sonja sie und biss in ihren rotbackigen Apfel.
Isa durchforstete ihr Gedächtnis, konnte jedoch nichts finden.
„Naja, musst du vielleicht nicht. René startet nur bis E, nicht mehr ganz deine Klasse.“
Nicht mehr ganz! Isa rollte mit den Augen. Zwischen einem Stil L und einem einfachen E-Springen war schon ein größerer Unterschied als nur ein bisschen. Genauer gesagt lagen Welten dazwischen. Nicht nur allein die Höhe sondern auch der Parcours war Grund verschieden. Die Anreitwege waren nicht mehr so lang, es gab engere Wendungen und kniffligere Kombinationen und Sprungfolgen. Ein Reiter ohne größere Erfahrung war in einem L völlig überfordert und verloren. Außerdem war die Konkurrenz bedeutend größer und die Namen der Starter nicht mehr so nichtssagend wie in der Einsteigerklasse.
„Ich weiß zwar immer noch nicht was so besonders an ihm sein soll, aber naja…“
Somit war für Isa das Thema René abgeschlossen – äußerlich. Sie konnte nicht verstehen, warum Sonja so begeistert von ihm war. Er war nur der Sohn eines Reitlehrers der sich im Sommer auf Turnieren sehen ließ, wie sie. Doch innerlich verspürte sie den Drang zu erfahren, wieso Alex seinen besten Freund in ihr Leben gebracht hatte. Die kleine, leise Stimme in ihr sagte, dass es kein Zufall war, dass Alex ihn beiläufig erwähnt hatte. Ihr Gehirn durchforstete noch einmal ihre innerliche Bildergalerie, in der alle Bilder von Personen gespeichert waren, denen sie in ihrem ganzen Leben schon einmal begegnet war. Isa war mehr der Typ der Leute erkannte, wenn sie ihr Gesicht sah. Den Gesichtsausdruck, die Gesichtszüge – das alles konnte sie sich wunderbar einprägen. Das Gesicht spiegelte die Seele eines Menschen wieder. Man konnte anhand seiner Züge und seiner Augen erkennen was er schon alles durchgemacht hatte, man konnte seinen Charakter teilweise erahnen.
„Eine Frage Isa. Beredest du deine Liebesprobleme jetzt schon mit Jungs? Sehr clever, vielleicht bekommst du ja endlich einen Einblick in die männliche Seele und deren Denken!“
Die Bildersuche stoppte und Isa konzentrierte sich wieder auf Sonja.
„So ein Quatsch. Liebe, wer braucht schon die Liebe? Ich ganz sicher nicht. Ich habe alles was ich brauche, um glücklich zu sein, denn ich bin es bereits. Ein Junge macht alles nur kompliziert und schmeißt ein ganzes Leben aus der Bahn. Für was brauch ich einen Jungen, wenn ich meinen Pferden ein Ich liebe dich ins Ohr Flüstern kann, wenn ich die schönsten Momente meines Lebens mit ihnen verbringen kann, wenn sie mir alles geben was ich brauche?!“
„Isa, werde erwachsen. Jeder Mensch braucht Liebe in seinem Leben, jedes Mädchen wünscht sich einen Jungen der immer für sie da ist, der sie still in den Arm nimmt, ihr über den Rücken streicht, der merkt wenn etwas nicht stimmt, der ihr die Tränen wegwischt und ein Lächeln ins Gesicht zaubert, für den sie das Beste ist was ihm je passiert ist, für die er immer Zeit hat, dem sie mehr bedeutet als seine Kumpels, dessen Hauptgewinn sie ist… einfach einen Jungen, der sie überalles liebt.“
Isa verdrehte die Augen. Sie hasste es, wenn Sonja sie darauf aufmerksam machte, dass sie die Jüngere von ihnen war, die Unerfahrene. Doch das bedeutete nicht, dass sie von nichts eine Ahnung hatte und nicht wusste was sie glücklich machte. Sie war eben nicht jedes Mädchen. Sie war Isabella Berger – die Glücklichkeit in Person mit einem perfekten Leben. Das ließ sie sich nicht von einem Jungen kaputt machen. Ein Mädchen sehnte sich doch nur nach einem Jungen, wenn sie mit ihrem normalen Leben nicht mehr zufrieden war. Doch ihr Leben war vollkommen!
„Ich bin bereits sehr reif für mein Alter und kann selbst entscheiden was ich brauche, um glücklich zu sein und diese Stufe habe ich bereits erreicht. Ich bin eben nicht wie jedes Mädchen die sich nichts sehnlicher wünschen, als einen Freund. Meine kleine Welt ist perfekt. Meine Pferde sind immer für mich da, auch mit ihnen kann ich reden, ihnen vertrauen, mich auf sie verlassen – sie sind die Liebe meines Lebens“, rechtfertigte sich Isa und hatte ganz rote Wangen bekommen.
Doch im selben Moment hatte sie gemerkt, dass sie nicht den richtigen Ton angeschlagen hatte. Aber das war eben ihre Art. Sie hatte manchmal das Gefühl, dass sie niemand verstand, weil keiner so fühlte wie sie. Sonja kannte vielleicht ihre Lebensgeschichte, aber sie selbst zu durchlaufen war etwas ganz anders. Niemand würde je verstehen können, dass ihre Pferde das waren, was sie zum Überleben brauchte – für die männliche Seite war da kein Platz mehr.
„Ich glaube wenn jeder so denken würde wie du, wäre Dr. Sommer arbeitslos“, bemerkte Sonja und warf das Kerngehäuse ihres Apfels in den Mülleimer, der neben der Bank stand.
Isa lächelte. Ein Glück, dass Sonja nie sauer sein konnte und immer versuchte, die lustige Seite draus zu ziehen. Sie war die flammenden Verteidigungsreden ihrer Freundin schon lange gewöhnt, aber ihre Sichtweise konnte sie in manchen Beziehungen immer noch nicht richtig nachvollziehen.
„Schätzchen, man merkt, dass dein Herz noch nie verletzt wurde. Ein bisschen Realitiy zum Mitnehmen, bitte!“, konterte Isa und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Als ob dein Herz schon einmal etwas abbekommen hätte. Du lässt ja niemanden ran, nicht einmal auf fünf Meter, du Eisprinzessin.“
Sonja versuchte zu lächeln. Das war genau das Thema, wo sie beide verschiedener Meinung waren und jeder auf seine beharrte.
Isa war einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Es würde gleich klingeln. Langsam stand sie auf und zog Sonja von der Bank. Noch drei Stunden Schule, dann hatte sie ihre Stunden für heute abgesessen.
„Los geht’s, die Bildung ruft!“, rief Isa und lachte.
Als sie in einer Menge von Schülern langsam zur Eingangstür geschubst wurden, kniff Sonja sie in die Seite.
„Schau mal rechts von dir, kennst du den?“
Isa linste in die angegebene Richtung. Ein kräftiger Junge mit kurzen, braunen Haaren, vermutlich in der fünften Klasse, schaute ständig zu ihnen herüber. Als er Isas fragenden Blick auffing schaute er schnell weg und drängte sich ins Schulhaus.
„Natürlich kenne ich nicht alle meine Fans“, scherzte Isa und schüttelte den Kopf.
Aber das Leben war wie ein Adventskalender. Jeden Tag öffnete es eine neue Tür und brachte neue Überraschungen mit sich.



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„Du sollst den Eistee trinken und nicht meinen Teppich gießen!“, schimpfte Isa und begann mit einem Taschentuch auf dem Fleck herumzureiben.
„Dann hör auf dein Top mit Schokoladeneis zu füttern. Ich wette, es mag lieber Erdbeere.“
Grinsend schaute Isa auf ihr Top, das vorher noch zart rosa war und jetzt mit einem braunen Schokofleck gekennzeichnet war. Fluchend und lachend zugleich ließ sie von dem Teppich ab und rubbelte auf ihrem Top weiter – doch der Fleck blieb.
„Mist. Aber solang die Partyplanungsliste nichts abbekommen hat ist ja alles halb so schlimm.“
Sonja nickte und stellte ihr Glas beiseite.
Je näher ihr wichtiger Geburtstag rückte, desto mehr drängte sie mit den Vorbereitungen voranzukommen. Schließlich hatte Isa vorgeschlagen heute Mittag eine Liste mit den Sachen zusammenzustellen, die noch besorgt und getan werden mussten damit man einen Überblick hatte, wo man überhaupt anfangen sollte. Würde es nach Sonjas Partyplänen gehen, bräuchten sie fast ein Jahr für die Vorbereitungen, Unmengen von Dekorationskram, Essen und Getränke. Isa hatte den ganzen Nachmittag nichts anders zu tun, als ihre Freundin wieder sicher auf dem Boden der Realität abzusetzen, wenn diese zu hoch geflogen war. Nicht einmal die Hälfte von dem, was Sonja vorschwebte, war auf die Liste gesetzt worden.
„Ist das mein oder dein Geburtstag?“, beschwerte sich Sonja, als Isa einen weiteren Vorschlag von ihr ablehnte und sich weigerte, ihn auf die Liste zu setzen.
„Wenn deine Eltern unter die Millionäre gegangen sind, es jeden Abend Kaviar gibt, du auf Golf umsteigst und ein Jahr früher mit den Vorbereitungen anfängst hast du vielleicht eine Chance, deine Fantasieparty Wirklichkeit werden zu lassen“, bemerkte Isa trocken und stopfte sich den Rest ihrer Eiswaffel in den Mund.
Sonja streckte ihrer Freundin die Zunge raus und warf ein Kissen in ihre Richtung, das Isa jedoch mühelos auffing und in Sicherheit brachte.
„Golf spielt die Mitteschlicht – die Elite reitet!“, belehrte Sonja und grinste.
„Ach ja, ich verlange natürlich, dass dein Chauffeur mich jeden Morgen in die Schule fährt. Sozusagen als Freundschaftsprämie!“
„Bis das der Fall ist, bist du auf dem Höhepunkt deiner Reiterkarriere, hast genau so viel Geld wie Fans und reist von einem Turnier zum anderen. Du wirst ein ganzes Atelier mit Zeitungsberichten und Reportagen aus Reiterzeitschriften und Journalen füllen können und ich bin deine Managerin.“
Sonjas übertriebene Ernsthaftigkeit war der Auslöser des Lachanfalls, der auf diese Bemerkung folgte. Nie konnten ihre Vorstellungen realistisch sein, aber wer träumte schon nicht gerne davon reich und berühmt zu sein?!
Träume – der Stoff, aus dem das Leben geschneidert ist. Wir leben für unsere Träume, damit sie irgendwann einmal Teil unserer Realität sind. Wenn das Verlangen nach etwas so überaus stark ist lassen wir nicht davon ab, wir kämpfen mit allen Mitteln die uns gegeben worden sind, wir halten daran fest und verlieren unser Ziel nie aus den Augen, weil wir uns nichts sehnlicher wünschen, als dass unser Traum einmal wahr wird. Jede Träne die wir um sie vergießen macht uns stärker, lässt uns noch härter kämpfen. Wir verdrängen die kleine Stimme die uns sagt, dass es niemals so sein wird wie man sich es erträumt. Und stirbt die Hoffnung, zerstört es kurzzeitig unser Leben, ein Teil unserer Seele stirbt und innerlich zerbricht etwas in uns. Wir werden niemals aufhören zu Träumen – da der Lebensgeist des Menschens in seinen Träumen liegt, wie ein gut versteckter Schlüssel. Selbst wenn die Realität schöner ist als der Traum, beginnt in uns ein neuer Wunsch zu wachsen.
Während sich Sonja noch immer nicht beruhigt hatte, riss Isa ein plötzliches Vibrieren in ihrer Hosentasche aus ihren wirren Gedankengängen. Umständlich zog sie das rosafarbene Touchhandy heraus und drückte auf die Abnehmtaste.
„Hallo Tati“, begann Isa und wollte schon wieder mit dem Kugelschreiber auf der Planungsliste herum kritzeln, doch Sonja nahm ihr zuvorkommend den Stift aus der Hand.
Isa lächelte dankbar und konzentrierte sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin am anderen Ende der Leitung.
„Isa, dich sieht man auch kaum noch im Stall!“, drang eine lachende, etwas tiefere Stimme an ihr Ohr, die leicht vorwurfsvoll klang.
Isa zog die Augenbrauen hoch. Das war ein sehr schlechter Scherz gewesen. Sie war jeden Tag im Stall – Kunststück, ihre drei Pferde mussten bewegt werden und die vielen Trainingsstunden jeden Tag hatte sie sich nicht nur eingebildet.
„Es liegt wohl eher daran, dass du nie im Stall bist, wenn ich da bin“, antwortete sie trocken und suchte erneut mit der Hand nach dem Kugelschreiber.
Isa war schon wieder leicht genervt. Tatjana schaffte es immer sie schon beim ersten Satz, den sie sagte, zu reizen. Sie hatte so eine Art an sich, die einen schnell auf die Palme brachte. Die beiden kannten sich schon seit Isa in den Reitverein gekommen war. Sie war auch die Freundin, mit der sie am Jubiläumsturnier die „Biene Maja

“ geritten war. Doch in letzter Zeit hatten sie sich ein wenig auseinander gelebt, da Tatjana ihr mit ihren ständigen Sticheleien und der versteckten Eifersucht auf ihre Turniererfolge mächtig zu schaffen machte. Sie war schon immer ein Mensch gewesen, der immer und überall der Beste sein musste und sich auch für etwas Besseres hielt. Doch die vielen und hohen Platzierungen von Isa kränkten sie in ihrer Ehre und so schwang immer ein Ton von Neid in ihrer Stimme mit, der Isa gar nicht gefiel. Sie hasste Leute, die sofort neidisch waren und es nicht einmal zu verbergen versuchten. Anstatt an sich zu arbeiten verschwendeten sie ihre Energie darauf, anderen einen Dämpfer zu versetzen. Doch auf der anderen Seite verband die beiden immer noch etwas, was Isa selbst nicht beschreiben konnte. Vielleicht lag es daran, dass Tatjana mit Sonja die erste war die versucht hatte, sie in die Reitergemeinschaft zu integrieren. Sonja mahnte sie zwar immer davor, dass Tatjana nur mit ihr befreundet war, weil Isa die ganzen Kontakte zu den Turnierleuten hatte und sie nur kommen würde, wenn sie etwas bräuchte, aber Isa war schlau genug, um sich nicht ausnutzen zu lassen – das hatte sie nicht nötig.
„Stimmt. Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du dieses Wochenende nach Essingen aufs Turnier fährst.“
„Ja, Samstag und Sonntag mit Lady

, Rouge

und Conquest

“, sagte sie und musste unmerklich lächeln, als sie an ihre junge Stute dachte, die so viel Ehrgeiz und Temperament im Parcours zeigte.
„Was hast du gemeldet? Da Quando

aufgrund ihrer Fußverletzung ausfällt und ich meine Nennung streichen musste wollte ich fragen, ob ihr noch Platz im Auto habt für mich“, brachte Tati endlich hervor und klang dabei ganz locker, als wäre es das normalste auf der Welt.
Quandoquina

war eine etwas zu klein geratene Hannoveranerstute mit mittelmäßigem Exterieur und nicht viel besserem Springvermögen. Das einzige, was sie im Parcours kannte, war Tempo. Sie explodierte förmlich unter ihrer Reiterin, galoppierte schlampig und schoss mit einer viel zu hohen Grundgeschwindigkeit durch die Prüfung. Jedoch versuchte es Tatjana immer wieder mit einem leichten Stil A, obwohl ihre Stute nicht einmal einem einfachen E gewachsen war. Isa wurde immer schlecht wenn sie sah, was die beiden für ein unharmonisches Bild boten. Die Stute wehrte sich gegen den Zügel, wenn ihre Reiterin versuchte das Tempo etwas zu drosseln. Sie landete ständig auf der falschen Hand und das Umspringen war ein einziger Kampf zwischen Pferd und Reiter. Sie kam schnell aus dem Takt und trug den Kopf zwischen den Sprüngen so hoch, dass Isa Angst haben musste, Tatjana könnte nicht mehr darüber sehen. Von einem Zeitspringen gar nicht zu reden, da Tatjana ihr Pferd auf Zeit rasen ließ und deren Galoppsprünge viel zu flach wurden. So fiel bei fast jedem Sprung eine Stange, denn Quandoquina war dafür bekannt ihre Hinterhand lustlos herunterhängen zu lassen anstatt anzuziehen. Die Stute hatte weder die Klasse, das Vermögen noch den Ehrgeiz von Isas Pferden. Ein bisschen mehr Dressur konnte den beiden nicht schaden um ihre Haltung und das Tempo zu verbessern, aber für Tatjana gab es nun mal nichts anders als das Springreiten.
„Mit Lady

habe ich ein Stil L gemeldet und eine A Dressur. Conquest

geht am Samstag das A Springen und am Sonntag ebenfalls das Stil L. Ich denke, das mit dem Autoplatz geht klar. Dann rutschen wir auf der Rückbank eben alle in bisschen zusammen“, meinte Isa nach einigem Überlegen und Sonja nickte leicht säuerlich, da sie ihre Freundin auf jedem Turnier begleitete und unterstützte und nicht viel für Tatjana übrig hatte.
Aber was tat man nicht alles für seine beste Freundin.
„Gut, wann fahrt ihr? Und was ist mit Rouge

?“
Rouge

habe ich für eine leichte E Dressur und ein E Springen gemeldet. Ich möchte sie langsam aufbauen, damit sie mit den Aufgaben und der Höhe wächst. Ich schätze, wir fahren um sechs weg, da die Dressur schon um halb acht beginnt, aber ich ruf dich nochmal an sobald ich etwas Genaueres weiß!“
„Hört sich gut an. Okay, bis dann, Süße.“
Und schon hatte sie aufgelegt.


3. Kapitel

…, deshalb ist Liebe ersetzbar durch das, was einen Menschen im Alltag glücklich macht, was für ihn gleichzeitig Routine und doch Luxus verkörpert. In der Tiefe unserer Seele sehnen wir uns nur nach etwas, was uns das Leben verschönert und Abwechslung bietet. Die Liebe hat tiefe Wurzeln und gibt uns das Gefühl etwas Besonderes zu sein. Die dunkle Mähne, in die man sich vergraben kann, die gütigen Augen, in denen man versinken kann, der muskulöse Hals, der einem immer Halt bietet – die Liebe meines Lebens!


Zufrieden legte Isa ihren Füller beiseite und überflog die letzten Zeilen noch einmal flüchtig, die ihren Aufsatz gelungen abrunden sollten.
Sie schüttelte den Kopf. Es war wie verflucht. Überall verfolgte einen das Thema Liebe

. Auf der Straße, im Internet und jetzt auch noch in der Schule. Man konnte nicht zum Einkaufen gehen oder den Fernseher anmachen, ohne mit Liebe überhäuft zu werden. Sei es ein Werbeplakat mit einem glücklichen Paar, Liebesrezepte, der Titel und die Handlung eines Kinofilms, Werbung für Babynahrung oder kitschige rote Herzen, die dem Ganzen einen richtigen Eindruck verleihen sollten. Die Medien vermittelten den Menschen jeden Tag, dass man ohne Liebe nicht leben könnte und sie das einzige Ziel sei, was man im Leben erreichen musste – die Liebe seines Lebens zu finden

. Isa war davon überzeugt, dass die steigende Selbstmordrate nur darauf zurückzuführen war, dass die Menschen, durch die Medien und die Umwelt beeinflusst glaubten, ohne Liebe sei ihr Leben verloren.
Sie sah keinen Sinn darin, das Thema in Religion durchzunehmen und endlose Diskussionen zu führen, wie man sie interpretierte. Dazu kamen noch die überaus unpassenden Kommentare der männlichen Seite, aber Jungs waren sowieso noch nicht so weit entwickelt, um anständige Gespräche führen zu können, ganz besonders in diesem Themenbereich.
Und da jeder eine andere Sichtweise der Liebe hatte meinte ihre Religionslehrerin, jeder müsse einen Aufsatz darüber schreiben, was Liebe für einen bedeutete und ob sie ein fester Bestandteil ihres Lebens war.
„Typisch Lehrer, wenn ihnen nichts mehr einfällt, überhäufen sie uns mit unnötiger Arbeit. Als ob ich nicht wüsste, was ich in meiner Freizeit anfangen sollte und Beschäftigung bräuchte. Deshalb bekommen sie auch keinen besseren Einblick in unseren Kopf wenn sie wissen, was wir über die Liebe denken.“
Kaum zu glauben – der Aufsatz hatte eine ganze Stunde ihres wertvollen Nachmittages verschwendet. Eine Stunde, in der sie schon längst hätte im Stall sein können – aber was tat man nicht alles für die Schule.
Um den Hausaufgaben und ihrer Laune etwas Schwung zu geben machte sie das Radio an. Leise summte sie eine ihr unbekannte Melodie mit und öffnete ihren Kleiderschrank. Welche Farben sollte sie heute tragen? Ihr Blick flog kritisch über die große Auswahl. Schließlich entschied sie sich für eine braun karierte Reithose mit dunklem Vollbesatz und dazu passend ihr braunes Top und ein rotes Halstuch mit weißen Tupfen.
Isa war ein Mensch, bei dem die Kleidung immer perfekt farblich aufeinander abgestimmt sein musste. Niemals durften sich die Farben beißen, sie sollten ein harmonisches Bild abgeben und ineinander verschmelzen – optisch gesehen. Ihre mehr als große Auswahl an Reithosen, Westen und Oberteilen ermöglichten ihr diese Freiheit.
Ihre Mutter nannte es immer „perfekt gestylt“, wenn sie ihre Tochter stolz betrachtete. Aber sie war schon immer darauf bedacht einen guten Eindruck zu hinterlassen und achtete streng darauf, dass Isa richtig angezogen war. Sie fand Gefallen daran den Kleiderschrank ihrer Tochter immer wieder mit neuen Sachen zu bestücken. Isa hatte manchmal das Gefühl, dass sie für ihre Mutter eine lebende Modepuppe war, die die neuesten Reitermoden präsentierte. Doch wenn sie sich selbst im Spiegel betrachtete stellte sie fest, dass es ihr selbst gefiel und fand, dass sie eigentlich ganz hübsch aussah – eine schlanke, aber dennoch sportliche Reiterfigur, lange Beine, hellblonde Haare, die sie im Stall immer zu einem Zopf oder Knoten trug, blaue Augen und rosige Wangen. Ihr Lachen ließ ihre Gesichtszüge noch weicher erscheinen, als sie sowieso schon waren. Doch ihr wurde nachgesagt, dass sie beim Reiten äußerst arrogant und zickig war. Sie musste selbst darüber lachen und wischte die Bedenken schnell wieder fort. Wahrscheinlich lag es nur an ihrer überaus konzentrierten Haltung, die kein Geräusch oder kein anderer Reiter stören durfte und an ihrer Genauigkeit. Doch genau diese Charaktereigenschaften hatten sie, zusammen mit ihrem enormen Talent und Ehrgeiz, soweit nach oben gebracht.
“Oh this has gotta be the good life, this has gotta be the good life, this could really be a good life, good life!”
Übermütig drehte Isa das Radio lauter und tanzte befreiend durch den Raum. Ihr Zopf wippte im Takt und lachend stimmte sie im Refrain mit ein. Der Rhythmus beherrschte vollkommen ihren Körper und ließ sie durch das Zimmer tanzen, über den Teppich schweben. Eine Welle des Glücks durchströmte ihren Körper und verlieh ihren blauen Augen einen kleinen Glanz, ihren Lippen ein bezauberndes Lächeln.
Als sie sich im Kreis drehte sprangen ihr einzelne Glücksmomente ihres Lebens, die sie sorgfältig auf Bildern festgehalten und eingerahmt hatte, entgegen.
Momente – das ganze Leben bestand doch nur aus kleinen Momenten. An die schönen erinnerte man sich natürlich noch bis ins kleinste Detail, der Rest wurde irgendwo im Hinterkopf behalten und rückte im passenden Moment wieder unmerklich in den Vordergrund. Aber nichts lieb unvergessen. Unser Gedächtnis war wie ein selbstständiges Fotoalbum, das sich jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde von selbst aktualisierte. Es war wie ein kleiner Fotoapparat der ständig Fotos schoss, um jeden Moment ins Herz zu schließen und danach mit genauem Datum und Unterüberschrift einklebte. Wollte man sich an die alte Zeit erinnern, kramte man das Album einfach wieder heraus und ließ die einzelnen Geschehnisse Revue passieren. Jedes Erlebnis bereicherte das Leben, machte einen klüger, ließ einen daraus lernen oder einfach für den Augenblick unbeschreiblich glücklich sein. Das Dasein des Menschen läuft in schwarz-weiß ab, weil wir in der Gegenwart viel zu beschäftigt sind, um den Augenblick zu genießen. Nur die Bilder der Erinnerung verleihen ihm die nötige Farbe.
Mit dem letzten Takt des Liedes wurde Isa auch wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Sie schaltete das Radio aus und schloss langsam die Tür zu ihrem Zimmer. Der Holzparkett quietsche unter ihren Füßen, als sie sich auf den Weg zur Treppe begab. Ihre eine Hand glitt langsam an dem kühlen Geländer hinunter, während sie mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, streng darauf bedacht nicht auszurutschen. Eigentlich sah es ihre Mutter gar nicht gerne, wenn sie ohne Hausschuhe und nur in Socken durch das Haus lief. Es machte erstens die Socken kaputt und zweitens war die Gefahr auszurutschen wesentlich größer. Schmerzlich erinnerte sich Isa an die Erfahrung, wie sie die Treppen rasant auf ihrem Hinterteil hinunter geschlittert war, da das Parkett frisch gebohnert war und sie mit Socken keinen Halt mehr auf dem glatt glänzenden Untergrund gefunden hatte.
Beruhigt den Weg in das Erdgeschoss ohne weitere Zwischenfälle überstanden zu haben, hastete sie schnell in Richtung Küche, da sie schon wieder etwas später dran war als geplant. An den weiß gestrichenen Flurwänden hingen lauter Turnierbilder von ihr in schönen Rahmen. Sie wusste, dass ihre Eltern mächtig stolz auf ihren Erfolg und ihr Talent waren. Sie unterstützten sie bei allem was sie tat und waren an den Turnierwochenenden nicht mehr wegzudenken. Was sollte sie ohne die Fürsorge ihrer Mutter machen, die sich ständig nach der aktuellen Platzierung erkundigte, ihr sagte, wie viele Starter noch vor ihr lagen, sich darum kümmerte, dass sie ausreichend trank und im Publikum ihren Pokal entgegen nahm, den sie bei der Siegerehrung überreicht bekam, um danach würdevoll die Ehrenrunde anzuführen? Nicht zu vergessen ihr Vater, der tapfer auf dem Abreiteplatz stand und die Sprunghöhe verstellte oder heruntergefallene Stangen wieder auflegte, obwohl er vor Pferden immer noch ein bisschen Respekt hatte, den er allerdings nie wirklich zugeben wollte. Isa lächelte. Jeder Besucher der ihr Haus betrat musste das Schwärmen ihrer Mutter von ihren Erfolgen über sich ergehen lassen und unzählige Bilder und Pokale bewundern. Zugegeben – was die Auswahl der Bilder betraf hatte ihre Mutter einen guten Geschmack. Die Besten, die der Turnierfotograf geschossen hatte, hatte sie sorgfältig ausdrucken lassen und ihnen einen Platz gegeben, wo sie wunderbar zur Geltung kamen. Es erfüllte Isa jeden Tag aufs Neue mit Stolz, wenn sie die Bilder betrachtete, wenn auch nur flüchtig, da sie sie schon in- und auswendig kannte. Doch es erinnerte sie immer daran, wie viel Glück ihr das Leben gönnte.
Sie ließ das Bild, auf dem sie professionell über einen überaus breiten und lagen Wassergraben hinwegsetzte, der im Schein der Sonne glitzerte und mit grünem Buchs eingerahmt war, hinter sich und betrat die Küche – das Reich ihrer Mutter. Gerade als sie auf den Kühlschrank zusteuern wollte, um frische Karotten für ihre Lieblinge mitzunehmen, sah sie auf der steinernen Arbeitsplatte eine ganze Packung mit dem orangenen Gemüse stehen und daneben eine Wasserflasche. Lächelnd verstaute Isa alles in der Stofftasche, die danebengelegen hatte. Ihre Mutter dachte eben an alles.
Viel Spaß beim Training, meine Große. Papa und ich kommen dann um sechs Uhr in den Stall.
Gib den Pferden einen Gruß von mir.
Mama


Stimmt, heute Abend wollten sich ihre Eltern mit ihrem Springtrainer und ihrer Dressurtrainerin zusammensetzen, um das weitere Aufbau- und Trainingsprogramm von La Rouge

zu besprechen. Ihr Vater hatte beim Kauf des jungen Pferdes betont, dass er bereit war alles zu tun, um aus der wunderschönen Fuchsstute ein Profipferd zu machen, egal was es koste. Für seine Tochter würde er alles bezahlen. Bei dem übermäßigen Talent des Pferdes konnte man viel daraus machen.
Isa seufzte glücklich. Das Leben liebte sie einfach über alles und hatte ihr wundervolle Eltern geschenkt. Schnell war sie einen erneuten Blick auf ihre Armbanduhr. Wenn sie bis sechs Uhr mit dem trainieren von drei Pferden fertig sein wollte musste sie sich ranhalten und durfte keine weitere Zeit verschwenden. Das würde wieder ein anstrengender Nachmittag werden. Doch sie war bereit für den Erfolg an ihr Limit zu gehen, alle Grenzen zu sprengen, um das Unmögliche möglich zu machen.

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„Komm!“
Auffordernd schnalzte Isa mit der Zunge, um Conquest

nicht hinter sich herziehen zu müssen. Der Wallach trottete gehorsam am langen Strick hinter ihr her, seine Hufe klapperten auf der Stallgasse. Sie entließ ihr Pferd in seine Box und beobachtete amüsiert, wie es sich sofort niederlegte und genüsslich wälzte. Das Fell, das noch nass von der kühlen Dusche nach dem harten Training war, trug jetzt eine dicke Sägespäne Schicht.
„Hallo, Isabella.“
Erstaunt drehte Isa sich auf dem Absatz herum. Sie war so in den Anblick ihres Pferdes versunken gewesen, dass sie gar keinen um sich herum wahrgenommen hatte.
Vor ihr stand ein Mann mittleren Alters. Er steckte in einer braunen Reithose und Reitstiefeln, die bereits deutliche Gebrauchsspuren aufzeigten. Die Hände hatte er in den weiten Karotaschen seiner Weste vergraben. Er trug einen ebenfalls schon etwas ausgebeulten Westernhut, der überhaupt nicht zu dem typischen englisch reitenden Reiterbild mit Lederstiefeln passte.
„Hallo“, erwiderte sie freundlich.
Eigentlich wollte Isa noch einen Namen hinter dem Hallo setzen, doch sie konnte den Mann, der so plötzlich vor ihr stand, nicht zuordnen. Sie fing den Blick aus seinen braunen Augen auf, der neugierig an ihr hängen blieb. Isa fühlte sich etwas unwohl. Sie hatte das Gefühl, dass sie diesen Mann kennen müsste. Er musterte sie wie ein alter Bekannter, der seinen Freund schon lange nicht mehr gesehen hatte.
„Der gute alte Conquest

sieht ja noch richtig gut aus. Und was ich von dir an den Wochenenden sehe gefällt mir. Wie alt bist du jetzt?“
Seine Stimme war angenehm tief und so vertraut. Isa hatte das Gefühl, als wären ihr tausende Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Hoffentlich fiel das nicht zu sehr auf. Anscheinend kannte er sie nicht nur von Turnieren, so meinte Isa zumindest ihr Gefühl deuten zu können.
„Ja, aber das wird seine letzte richtige Saison. Ich bin jetzt vierzehn.“
Der Unbekannte ließ Conquest

an seiner Hand schnuppern und lächelte freundlich.
„Vierzehn, wie schnell doch die Zeit vergeht. Ich hätte dich jedoch älter geschätzt. Deinen Vater habe ich auch schon länger nicht mehr gesehen, richte ihm einen Gruß von mir aus!“, sagte er und holte ein Taschentuch heraus.
Wenn ich doch nur wüsste, von wem ich einen Gruß ausrichten soll

, dachte Isa verzweifelt und kämpfte mit sich, um ihn nicht nach seinem Namen zu fragen. Das jedoch wäre unangebracht.
„Vierzehn, dann du doch ein ganzes Stück jünger als mein René“, murmelte er in sein Taschentuch hinein.
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen vor den Augen, als wäre der Vorhang mit einem Ruck zurückgezogen worden, als wären die grellen Scheinwerfer auf einmal angegangen. Verwirrt und immer noch völlig Erstaunt über die Erkenntnis trat Isa einen Schritt rückwärts und übersah dabei eine Wurzelbürste mit Holzrücken, die achtlos auf der Stallgasse liegen geblieben war. Die Bürste rutschte zur Seite und Isa klammerte sich mit den Händen an die Eisenstäbe der Nachbarbox, um nicht zu Boden zu stürzen. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so sehr hielt sie daran fest. Langsam lehnte sie sich mit dem Rücken nach hinten gegen die Boxenwand, um ihren neugewonnen Halt zu sichern.
„Genau wie im Parcours oder im Dressurviereck – immer flott und doch elegant unterwegs, aber Vorsicht, junge Dame!“
Er lächelte Isa ein letztes Mal kurz zu, dann drehte er sich auf dem Absatz um und rauschte die Stallgasse entlang. Isa hielt den Atmen an und schloss vor Erleichterung kurz die Augen als sie hörte, wie die Stalltüre geräuschvoll geschlossen wurde, ein Motor ertönte und Kies unter den Reifen quietschte, bis es letztendlich wieder ganz still war. Ärgerlich biss sie sich auf die Lippe. Was für eine Blamage. Konnte sie nicht besser aufpassen wohin sie trat? Beinahe wäre sie gestürzt. Schlimm genug, dass sie am Anfang total die Orientierung verloren hatte und das ihr so unbekannte Gesicht nicht zuordnen konnte.
Eigentlich war sie nicht der Mensch, der viel an die Vergangenheit dachte oder sich wünschte Vorgänge rückgängig machen zu können. Peinlichkeit war für sie meistens auch ein Fremdwort. Wieso sollte man sich für seinen Charakter schämen? Die Besonderheit zeichnete einen Menschen doch erst aus, ließ ihn aus der Menge hervorstechen, wie eine Rose inmitten einem Feld voller Gänseblumen – unvergesslich. Die Vergangenheit war ein abgeschlossener Vorgang, den man nicht mehr besuchen und ändern konnte. Nur die Erinnerung im Kopf oder im Herzen ließ einen die Momente wieder zurückholen. Momente, die vor Schönheit strahlten und noch einmal wiederholt werden wollen oder Momente, die blass in einer Ecke der Erinnerung eingesperrt waren, da man sie unterbewusst verdrängte und sich wünschte, sie niemals erlebt zu haben. Doch die Erfahrungen der verschiedensten Art machten einen Menschen reicher, ließen ihn reifen und ermutigten ihn aus seinen Fehlern zu lernen, es in Zukunft besser zu machen oder sie schenkten ihm einfach einen Moment vollkommener Zufriedenheit.
Schau nach vorne – nie zurück. Die Vergangenheit lässt dich lernen, doch nur die Zukunft schenkt dir Chancen!


Das Leben war im Grunde genommen wie ein Ritt durch den Parcours: man durfte nie nach einem Sprung zurückschauen, ob die Stange liegen geblieben war, sondern musste den Blick immer nach vorne richten, um das nächste Hindernis gut zu erreichen und vor dem Sprung sein Herz vorauswerfen. Man musste auf Zeit reiten, doch immer darauf achten, dass richtige Maß zu finden, seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Perfektion.
Spielte man nach den Regeln des Lebens und blieb fair, grüßte man die Gegenwart und pflegte Kontakte mit dem Schicksal und plauderte nebenbei noch mit dem Zufall, konnte nichts mehr schiefgehen.

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„Ich verstehe definitiv nicht, warum du so ein Drama daraus machst“, kicherte Sonja und grinste in die Kamera.
Isa rollte mit den Augen. Sie wusste schon, warum sie lieber mit Sonja telefoniert hätte, anstatt im Chatroom mit ihr zu camen. Normalerweise musste sie spätestens dann über ihre Missgeschicke selbst lachen, wenn ihre Freundin bereits dabei war, doch heute hatte sie eindeutig genug davon. Es wurmte sie immer noch, so eine tollpatschige Vorstellung vor Thomas gegeben zu haben. Was sie aber noch mehr nervte war, dass sie nicht wusste, warum sie sich so darüber ärgerte. Sonst war es ihr doch auch vollkommen gleichgültig.
„Das ist alles andere als witzig, ich weiß nicht wieso du so darüber lachen kannst, wenn ich schlecht dastehe. Was wird er jetzt wohl von mir denken!“, fuhr sie Sonja ungewohnt heftig an und öffnete ihre Playlist.
Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen und begann auf ihrer Unterlippe herum zu nagen. Immer wenn sie sich über etwas aufregte war sie eben nicht sie selbst. Doch die Wut siegte über ihr Gewissen und so entschuldigte sie sich nicht. Zum Glück schien Sonja es ihr nicht übel zu nehmen und zwang sich zu einem freundlichen Grinsen.
„Reg dich ab und hör mit den Wahnvorstellungen auf, Prinzessin. Du musst lockerer werden, das Leben ist viel zu kostbar, um sich in so etwas hineinzusteigern und …!“
Weiter kam sie nicht, denn sofort wurde sie von Isa unterbrochen.
„Ich steigere mich in gar nichts rein und ich bewerte es auch nicht über. Und glaub mir, ich bin

locker. Das ist aber noch lang keine Entschuldigung für mein dummes Benehmen, wieso passiert das immer mir?“
„Das kann immer passieren, du kannst nicht alles Schritt für Schritt planen, da wäre das Leben total langweilig. Und wegen so einer belanglosen Kleinigkeit rückt dein Bild auch nicht in ein falsches Licht. Glaub mir, Thomas ist nicht so einer, der seine Meinung über einen Menschen schnell ändert, vor allem da dein Auftritt keines Wegs Anlass dazu gegeben hätte. In seinen Augen bist du immer noch das Mädchen, das auf den Turnierplätzen abräumt und eine Menge Talent besitzt, hat er doch selbst gesagt.“
„Vielleicht hast du Recht. Entschuldige, aber dieser Ausrutscher verfolgt mich schon den ganzen Tag“, brachte Isa langsam hervor und verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln und ärgerte sich schon wieder als sie auf dem Kamerabildschirm sah, wie lächerlich und gequält sie aussehen musste.
Fast schon, wie aufgesetzt. Sie seufzte.
„Hey, dreh deine Boxen ein bisschen runter, mein Trommelfell möchte den heutigen Abend noch überleben!“, brachte Sonja einigermaßen mühsam hervor, bevor sie einen ihrer Lachanfälle bekam als sie sah, wie Isa vor der Webcam ihren Kopf im Takt der fetzigen Musik schwang und ihre Haare wild umherflogen. Nebenbei gestikulierte sie mit ihren Händen und verzog ihren Mund zu den komischsten Grimassen.
„Das Leben ist viel zu kurz, um sich aufzuregen“


Dieser Satz hämmerte mit dem Bass in Isas Kopf und Ohren. Sie ließ ihren Körper gehen, gab sich dem Rhythmus hin und ließ sich mit den improvisierten Bewegungen treiben. Ein Gefühl von endloser Leichtigkeit beherrschte ihren Körper, in ihrem Kopf gab es nur diesen einen Satz und sonst nichts. Sie wurde nicht mehr von ihrem Denken beherrscht, sondern von der Musik. Sie schloss die Augen – tauchte in eine andere Welt ein.
„Isa, komm mal wieder von deiner imaginären Tanzfläche zurück.“
„Gib mir deine Hand und wir tanzen die ganze Nacht, meine Liebe!“, flötete Isa und verzog ihren Mund zu einem breiten Grinsen, öffnete dennoch ihre Augen und stoppe ihre überaus rhythmischen Bewegungen.
Sie erblickte das fragende Gesicht von Sonja auf dem Bildschirm und zuckte lächelnd die Schultern. Jeder Mensch hatte eben eine unentdeckte künstlerische Phase, die irgendwann ans Tageslicht kommen musste.
„Ich habe gerade meine begabte, tänzerische Seite an mir entdeckt, gut nicht?“
„Meinst du das ernst? Sehr mysteriös!“, gab Sonja zurück und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
<<Alex>> 20.00: Servus, am Wochenende in Essingen am Start?
Isa stutzte. Sie hatte aufgrund des blinkenden Briefkastens schnell die neue Nachricht geöffnete und eigentlich mit einer Message von Tatjana gerechnet, die sie eigentlich noch anrufen müsste um ihr mitzuteilen, wann sie am Wochenende fahren würden. Stattdessen schrieb ihr Alex. Sofort breitete sich ein unruhiges Gefühl in ihrer Magengegend aus. Hoffentlich wusste er nichts von dem peinlichen Vorfall heute im Stall, solche Sachen erzählten sich ja beängstigend schnell herum.
Isa96 20.05: Servus Klar, jemand muss ja für Sensationen sorgen und der Zeitung etwas zu berichten geben
<<Alex>> 20.05: Du weißt schon, dass ich dir auf den Kopf spucken kann, wenn ich auf dem Siegertreppchen stehe, oder?!
Isa96 20.06: Wenn ich schon nicht gewinne, reite ich wenigstens den Platz kaputt
„Isa, bist du noch da?“
Isa blickte erschrocken in die Webcam und nickte grinsend. Sie konnte nicht anders, die schlechte Laune von vorher und das flaue Gefühl in der Magengegend war wie weggefegt. Sie wusste nicht ob es an der Anwesenheit von Alex lag, dessen scherzhafte Laune bei jedem Menschen ein Lächeln hervorrief oder ob es der allzu vertraute Turniersmalltalk war, der kurz vor dem Wochenende jedes Mal aufs Neue die Turnierstimmung einleitete.
„Alex hat mich gerade angeschrieben“, sagte sie nur und konzentrierte sich wieder auf das Chatfenster.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Sonja verräterisch lächelte und die Augen verdrehte.
„Eisprinzessin, wie war das: ich brauche keinen Jungen um glücklich zu sein?“
Isa erschrak.
„Nicht jeder ist in der Lage eine gute Freundschaft zu erkennen, nicht?“
Sonja streckte ihr die Zunge heraus und verkniff sich einen weiteren Kommentar. Natürlich wusste sie, dass ihre Freundin Recht hatte. Trotzdem war es immer lustig mit anzusehen, wie Isa sofort ihren Schildkrötenpanzer ausfuhr und vorsichtig ihren Kopf darunter durchsteckte, um ihre verteidigenden Kommentare abzufeuern.
<<Alex>> 20.10: René wird am Samstag alles geben müssen, um dich von der Spitze zu verdrängen. Endlich einmal ernsthafte Konkurrenz, da macht das Ganze doch erst richtig Spaß
Isa96 20.11: Er hat auch das A-Springen gemeldet?
<<Alex>> 20.11: Klar, er muss doch unseren Verein würdig vertreten
Isa grinste. So etwas nannte sie perfektes Timing. Wenn sie am Samstag ordentlich ritt, konnte sie das Missgeschick von heute wieder wettmachen.
„Den feg ich vom Platz!“, sagte sie laut und kicherte.
Doch gleichzeitig wurde sie etwas skeptisch. Seit wann musste sie sich und anderen etwas beweisen? Sie hatte es eigentlich nicht nötig ihren Bekanntheitsgrad auf dem Turnier zu steigern und anderen die Kampfparole anzusagen. Sie gab jedes Mal ihr bestes, ritt konzentriert, sauber und feinfühlig, ging nie ein zu hohes Risiko ein und legte mehr Wert darauf in guter Manier über die Sprünge zu kommen als darüber zu heizen und haufenweise Feuerholz zu sammeln. Trotz ihrem enormen Ehrgeiz behielt sie einen kühlen Kopf und versuchte nicht mit aller Gewalt die beste Zeit zu erreichen, wie Tatjana es immer tat. Die Konkurrenz war überall groß, doch kein Grund sich in die Enge treiben zu lassen.
In der Ruhe liegt die Kraft

, lautete das Erfolgsgeheimnis ihres Trainers, das sie sich immer wieder aufs Neue zu Herzen nahm.
„Huch, Isa ist auf Kriegspfad, alle Mann in Deckung.“
Isa wurde erneut aus ihren Gedanken gerissen und verbot sich abermals noch einmal so tief darin zu versinken. Man konnte nicht gleichzeitig chatten, camen und nachdenken – das ging nicht. Wenn man nachdachte, musste man für sich alleine sein, um alles klar erfassen zu können.
„Lächeln, Prinzessin. Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen müsste ich dir genau jetzt einen Rettungsring zuwerfen, damit du in deinem Meer aus Gedanken nicht ertrinkst!“, bemerkte Sonja trocken, kritzelte etwas auf ein weißes Blatt, was vermutlich den Rettungsring darstellen sollte und hielt es in die Kamera.
Isa lachte und griff scherzhaft nach dem imaginären Rettungsacker ihrer Freundin.
„Du kannst mich jetzt an Land ziehen!“, bemerkte sie und streifte mit einem kurzen Blick den oberen Rand ihres Bildschirms, in dessen Ecke ihr Briefkasten schon wieder drängelte.
„Immer gerne doch. Aber zurück zu deiner Bemerkung, wen willst du am Samstag in einer Staubwolke zurücklassen?“
Isa seufzte hörbar und verdrehte theatralisch die Augen. Wie schaffte es Sonja bloß immer sie so ernst zu nehmen?
Die Verbindung zu ihrem Kamerapartner ist unterbrochen worden und muss erst wieder aufgebaut werden. Bitte haben sie Geduld


„Soll das jetzt ein Witz sein?“, schnaubte sie ärgerlich und starrte auf ihr jetzt schwarzes Kamerafenster, wo noch vor wenigen Sekunden ihre Freundin in die Kamera gegrinst hatte.
Das war mal wieder typisch für ihren PC. Immer, wenn es darum ging, machte er Zicken. Nun mussten sie ihr überaus wichtiges Gespräch wohl oder übel in eine Message verlegen
Sonne__ 20.27: Schätzchen, es wäre dringend Zeit für einen neuen Computer, anstatt deine Reithosensammlung zu vergrößern
Isa96 20.27: Ich werde es melden
Sonne__ 20.28: Gut, wäre ja nicht das erste Mal, dass unsere Kamerakonferenz unterbrochen worden wäre. Also nun sag schon, wen lässt du am Samstag in einer Staubwolke zurück?
Isa96 20:30: Einen Vorteil hat das Ganze – jetzt kann ich wieder ungestört singen. Ich habe soeben erfahren, dass ich am Samstag gegen René reite, im A-Springen
Sonne__ 20.30: Von Alex, schon klar. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. An dein Niveau kommt er nicht heran
Isa ärgerte sich. Eigentlich sollte das nicht so rüberkommen, als hätte sie Angst vor dem Zusammentreffen in der Prüfung. Sie wollte daraus keinen Wettkampf machen. Außerdem war jede Konkurrenz ernst zu nehmen. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie schlechter ritten als man selbst, sonst würden sie nicht in derselben Klasse starten. Bei manchen war das nur der Verdienst des hervorragend ausgebildeten Pferdes, aber Isa blieb im Rahmen der normalen Verhältnisse.
Isa 96 20.32: Ich mach mir keine Sorgen, im Gegenteil. Endlich kann ich mir selbst ein Bild von seinem reiterlichen Talent machen
<<Alex>> 20.32: He, du sollst dich nicht jetzt schon vor Angst verkriechen. René ist ein ganz Lieber, am Samstag werdet ihr die Möglichkeit haben euch näher kennenzulernen.
Isa blieb der letzte Ton ihrer gesummten Melodie im Hals stecken. Was sollte denn das nun wieder heißen? Stand auf ihrer Stirn „suche Freund“ geschrieben, in leuchtenden Druckbuchstaben? Aus Angst, sie hätte sich verlesen, überflog sie erneut die Nachricht. Versuchte Alex ernsthaft sie mit seinem besten Freund zu verkuppeln, den sie nicht einmal kannte, und andersherum genauso?
Isa96 20.32: Klar, das nächste Traumpaar der Reiterszene
Was für Ideen aus Langeweile entstehen konnten, die dem Erfinder auch noch realistisch erschienen. Ein weiterer Beweis dafür, wie leicht sich Menschen blenden lassen konnten. Das war wie mit der Liebe – Liebe machte einfach blind. Man verdrängte das Schlechte und hob das Gute, Überraschende in den Vordergrund und merkte dabei selbst nicht, wie hart auf die Nase fliegen konnte. Danach hat man nichts außer der Enttäuschung.
Isa96 20.35: Sonja, wenn ich das gerade Recht verstehe, will mich Alex doch tatsächlich mit seinem besten Freund
Sonne__22.35: Mit René?
Die große Verwunderung von Sonja konnte man deutlich aus dem Satz herauslesen. Isa stellte sich vor ihrem Inneren Auge vor, wie die grünen Augen ihrer Freundin vor Überraschung immer größer wurden und einen fast kindlich aufgeregten Ausdruck annahmen.
Isa96 22.37: Nein, mit seinem Pferd! … natürlich mit René!
<<Alex>> 22.37: Ja, das könnte doch passen. Ihr würdet doch perfekt zueinander passen und René braucht mal wieder eine Freundin
Isas Hände gefroren vor Erstaunen auf der Tastatur. Wie unverschämt offen und gleichzeitig spottend konnte ein Mensch eigentlich sein? Sie wusste nicht genau, ob Alex sie auf den Arm nahm oder ob das Gerede sein voller Ernst war – obwohl, er war bekannt für seine spontan-verrückten Aktionen. Ohne es zu wollen musste Isa herzlich lachen. So etwas lächerliches, sie kannten sich überhaupt nicht. Ein Wort miteinander gewechselt hatten sie schon gar nicht. Sie erinnerte sich lediglich an das verschwommene Bild von ihm am Jubiläum – tolle Voraussetzungen für den Beginn einer wunderbaren Beziehung.
Isa96 22.40: Du willst mich veräppeln, oder?
Sonne__ 22.40: Ach was, das ist ja ein Ding! Ihr kennt euch doch überhaupt nicht… außerdem ist er doch ein paar Jährchen älter als du
Isa überlegte einen Moment. René war im Moment noch siebzehn, wurde jedoch im August achtzehn. Sie war vierzehn – das wären vier Jahre.
Isa96 22.41: Er ist vier Jahre älter. Aber das ist nicht schlimm, das Alter würde für mich keine Rolle spielen. Doch wieso reden wir überhaupt darüber, wenn es nur ein Hirngespinst von Alex ist?
<<Alex>> 22.43: …und Thommi würde sich sehr über eine nette Freundin freuen
Sonne__ 22.43: Vier Jahre spielen keine Rolle? Naja, scheint wohl Ansichtssache zu sein. Wieso wir darüber reden? Schon mal daran gedacht Schätzchen, dass René von der Idee vielleicht mehr halten könnte als du?!


4. Kapitel

„So, fertig!“
Schnell stieg Isa vom Stuhl herunter und betrachtete die eingeflochtene Mähne von La Rouge

, an der sie gerade noch die letzten Verschönerungen zu Ende gebracht hatte, da sich in der Nacht ein paar Zöpfe gelöst hatten. Obwohl es erst fünf Uhr morgens war, fielen bereits die ersten Sonnenstrahlen durch die Stallfenster und verliehen dem rötlichen Fell der jungen Stute einen schimmernden Teint.
„Hättest du stillgehalten wären wir schon längst fertig gewesen“, flüsterte Isa und klopfte La Rouge

beruhigend den Hals.
Die junge Stute war am frühen Morgen schon sichtlich aufgekratzt, scharrte mit dem Vorderhuf und schnaubte aufgeregt. Ihre Ohren waren aufmerksam gespitzt und ihren braunen Augen entging nichts. Isa lachte nur über das Lampenfieber ihres Pferdes.
„Wo hast du die Transportgamaschen von Conquest

hingelegt?“
Isa rollte entnervt mit den Augen, legte die Mähnengummidose in die Putzbox und verschloss diese geräuschvoll. La Rouge zucke daraufhin kurz zusammen und schnaubte.
„Die liegen in der Sattelkammer. Bring die von Lady

und Rouge

auch mit, bitte.“
Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief Luft, um sich zu beruhigen. Eigentlich war sie an den Turnierwochenenden die Ruhe in Person. Kein Wunder – nach einer gewissen Zeit der Erfahrung konnte einen nichts mehr erschüttern und man wusste, wie man sich organisieren musste ohne, dass die Zeit knapp wurde. Doch sie hatte sich bereiterklärt Tatjana mitzunehmen. Und diese hatte nichts Besseres zu tun, als sich aufzuspielen und in den Mittelpunkt zu drängen. Schon jetzt bereute Isa ihren Entschluss, wie sollte sie dann die einstündige Autofahrt überleben? Im Nachhinein fuchste sie es wieder, dass sie nie Nein sagen konnte. Das war dann wohl die Quittung dafür.
„Nicht aufregen, Prinzessin“, drang Sonjas Stimme an ihr Ohr und sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter.
Isa nickte kurz und machte La Rouge

sorgsam ihre roten Transportgamaschen fest. Die Stute beäugte ihre nun gut geschützten Beine, wandte ihren Blick dann jedoch wieder dem Geschehen auf der Stallgasse zu, wo Tatjana gerade versuchte Conquests

Schweif fertig einzuflechten und Sonja Lady

ruhig aus dem Stall in den Transporter führte. Die routinierte Stute schritt mit noch etwas steifen Beinen die Rampe hinauf und wieherte herausfordernd, weil ihr noch keiner ihrer beiden Turnierkollegen folgte. Isa verkniff sich ein Grinsen, als sie aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Conquest

ärgerlich mit dem Schweif schlug und so ein Einflechten unmöglich machte. Anscheinend war er genauso genervt von Tatjana wie seine Besitzerin.
„Wenn du fertig bist führ ihn nach draußen, damit wir langsam fahren können“, rief Isa über die Schulter ihrer Reitkollegin zu und verließ mit La Rouge die Stallgasse. Die Hufeisen klapperten auf dem Beton und unwillig schlug die Stute mit dem Kopf. Das Laufen mit dem ungewöhnlichen Beinschutz war ihr noch immer nicht ganz geheuer. Als sie Ladys schokoladenbraunen Kopf aus dem Transporter erblickte blieb sie noch einmal kurz stehen, entschied sich dann aber doch für den Weg zu ihrer Boxennachbarin über die Rampe.

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„Hast du heute ein Glück, dass du zwei Turniertrottel dabei hast! Ich kann Conquest

für dich abreiten, wenn du willst.“
Isa schluckte ihre hässliche Bemerkung tapfer herunter und versuchte sich zu entspannen. Seit fast einer geschlagenen halben Stunde saß sie auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater und wurde von Tatjana, die sich auf der Rückbank neben Sonja ausgebreitet hatte, unermüdlich zugetextet. Das Radio hatte sie schon vor einer kleinen Weile ausgestellt, da Tatjanas laute Stimme alles übertönte.
„Bitte den Kreisverkehr an der zweiten Ausfahrt verlassen“, informierte sie die weibliche Stimme des Navigationssystems.
Schnell warf Isa einen Blick aus dem Autofenster und lächelte. Sie hatten die Autobahn bereits verlassen und wurden nun über Bundes- und Landstraßen immer näher zum Ziel geleitet. In der Ferne liegende Ortschaften, Bäume und Sträucher hatten die ewigen Autobahnleitplanken und den strömenden Gegenverkehrt abgewechselt und boten ein etwas freundlicheres Bild. Nun konnte es nicht mehr lange dauern – was für ein Glück.
„Sonja ist nicht mein Turniertrottel, sondern mein geistiger Beistand und Glücksbringer!“, korrigierte Isa und schnippte einen Fussel von ihrer Jogginghose, die sie über ihre weiße Turnierhose gezogen hatte, damit diese vor ihrem Start nicht dreckig werden konnte.
„Du reitest gut, auch wenn sie nicht dabei ist. Dein Pferd kann auch eine Verweigerung oder einen Abwurf kassieren, obwohl sie auf der Zuschauertribüne sitzt oder am Eingang auf dich wartet und dir die Daumen drückt.“
Isa begann bereits wieder zu kochen. Sie wusste genau, dass Tatjana Recht hatte. Schließlich ritt sie und nicht Sonja. Doch jeder hatte eine andere Methode sich sicherer zu fühlen und an etwas zu glauben, was einem Glück brachte. Jüngere Teilnehmer sahen in einem Kuscheltier ihren Talisman, ältere in ihren Freunden - andere brauchten auch gar keinen.
„Hauptsache du reitest so, wie du es für richtig hältst“, murmelte sie so leise, dass Tatjana es nicht hören konnte.
„Ach übrigens, wir werden Alex heute sehen. Er hat mir geschrieben, dass er auch am Start ist und René ebenfalls. Soviel ich weiß, reitet ihr zusammen das A-Springen“, redete Tatjana weiter und ihre Miene nahm einen wichtigen Ausdruck an, als sie anfing von Alex und René zu sprechen.
„Kannst du uns nicht einmal etwas erzählen, was wir nicht schon wissen?“, maulte Sonja sichtlich genervt und warf Isa einen entschuldigenden Blick zu.
Sie wusste genau, dass Isa nichts mehr hasste, als sich vor ihren Starts über irgendetwas aufzuregen. Das konnte sich schnell auf das Pferd übertragen und dann war es bereits zu spät. Doch sie nahm an, dass ihre Freundin auch schon vor ihrer bissigen Bemerkung Tatjana am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre.
„Immer mit der Ruhe, Mädchen. Schaut mal, da ist bereits der Weg zum Turnierplatz ausgeschrieben, wir müssten gleich da sein“, wechselte Herr Berger gekonnt das Thema und lenkte die Blicke der Mädchen auf den hölzernen Pfeil am Straßenrand, der die Turnierteilnehmer in die richtige Richtung lotste.
Isa warf ihrem Vater einen dankbaren Seitenblick zu und sah im Außenspiegel den schwarzen BMW ihrer Mutter, der dicht hinter ihnen nach links abbog und ihnen mit Conquest

im Hänger folgte. Da sie seit neuestem immer mit drei Pferden aufs Turnier fuhren, reichte der Platz im normalen Anhänger nicht mehr aus. Natürlich wäre ein großer Pferdetransporter mit Fahrerkabine weit aus praktischer, aber da stellten sich ihre Eltern quer.

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„Wir bitten die Teilnehmer zu einer Ehrenrunde im Galopp, Anfang rechts!“, knarrte es aus dem Lautsprecher.
Die ersten Takte der Musik erklangen und Isa wendete rechts ab, galoppierte La Rouge

sauber aus dem Schritt an und setzte sich an die Spitze der Abteilung. Sie stellte sich in die Bügel, verkürzte die Zügel, nahm sie in eine Hand und winkte mit der Rechten den Zuschauern zu, die am Rand des Springplatzes standen und sie klatschend begleiteten. Die goldene Schleife am Zaumzeug flatterte leicht und die Stute galoppierte kraftvoll unter ihrer Reiterin. Mit erhobenem Kopf, geblähten Nüstern und gespitzten Ohren umrundeten sie die Bahn. Als das junge Tier etwas heftiger wurde und seine Galoppsprünge verlängern wollte hielt Isa es gekonnt zurück. Schließlich sollte die Ehrenrunde kontrolliert und geordnet geritten und nicht als Wettrennen unter den Siegerpferden gesehen werden.
Als die Musik langsam abklang holte Isa La Rouge

in den Schritt zurück und verließ den Springplatz. Überschwänglich klopfte sie ihrem Pferd den verschwitzten roten Hals.
„Euer drittes gewonnenes E-Springen!“, empfing sie ihre Mutter strahlend und bot dem Siegerpferd ein Leckerli auf der flachen Hand an.
„Sie entwickelt sich prächtig. Das Geld, das wir in sie investieren, scheint sich zu lohnen. In der Ehrenrunde wird sie auch immer ruhiger. Der Platz an der Spitze gefällt ihr wohl“, bemerkte ihr Vater und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
Isa grinste. Die Turnierleute und ihr Kaffee, das war eine Sache für sich. Sie selbst konnte es nicht nachvollziehen, wie man das dunkle Gebräu als schmackhaft bezeichnen konnte. Jedoch fand sie es jedes Mal wieder lustig zu beobachten, dass sich die Leuten, kaum dass sie sich auf dem Turniergelände befanden, erst einmal einen Kaffee holten. Dann lief jeder mit einer weißen, dampfenden Tasse durch die Gegend. Einige behaupteten, er würde die Nerven beruhigen, im Winter diente er allerdings mehr zum Wärmen.
„Dass sie in der Ehrenrunde ruhiger wird ist noch untertrieben. Schau dir doch mal die anderen verrückten Turnieresel an, die schon länger dabei sind als Rouge

. Die rennen los, als wäre jemand hinter ihnen her, buckeln was das Zeug hält oder gehen auf die Hinterbeine!“, kommentierte Isa den Satz ihres Vaters und nahm dankbar die Wasserflasche entgegen, die Sonja ihr reichte.
Gierig und in großen Zügen trank sie diese leer. Dafür, dass es erst zwölf Uhr war, war es unerträglich heiß. Die Sonne strahlte kraftvoll von einem wolkenlosen Himmel auf den Turnierplatz herab und brachte die Teilnehmer in ihren Turnierhosen und Lederstiefeln gehörig zum Schwitzen. Schnell zog Isa ihre weißen Handschuhe und ihren Helm aus. Eine Strähne, die sich aus ihrem Haarnetz gelöst hatte, klebte an ihrer Schläfe und auf ihrer Stirn glitzerten ein paar Schweißperlen. La Rouge

spielte unruhig mit den Ohren, warf ihren Kopf nach oben und stampfte empört mit dem Huf, als eine Pferdebreme sie belästigen wollte.
„Der Geruch deines Schweißes ist für die Breme eben unwiderstehlich, nimm es als Kompliment!“, scherzte Isa und stieg vom Pferd.
Am Hänger wartete bereits Tatjana auf sie und nahm La Rouge

in Empfang. Während sie sie am langen Zügel grasen ließ sattelte Isa sie ab, löste die Gamaschen und verstaute beides wieder in der Sattelkammer.
„Da du dich heute im Auto bereits selbst zum Turniertrottel ernannt hast, darfst du sie jetzt noch ein bisschen an der Hand grasen lassen und danach wieder verladen, für heute ist sie fertig. Wir gehen schon einmal zum Essen, du kannst dann nachkommen!“, meinte Isa trocken und zog Sonja mit sich.
Wenn Tatjana schon mit ihnen fuhr, konnte sie sich ruhig ein bisschen nützlich machen, anstatt wehrlose Springreiter anzuflirten oder ihre fraglichen Turnierkontakte zu pflegen. Als sie am Auto vorbeiliefen lag bereits eine blaue Schleife für den vierten Platz in der E-Dressur auf dem Armaturenbrett. Da das Essinger Turnier jedes Jahr gut besucht war und die Startfelder sehr groß waren, waren für heute Morgen nur drei Prüfungen angesetzt worden. Allein im E-Springen waren es vierzig Starter gewesen, gegen die sich Isa und La Rouge

durchgesetzt hatten.
„Eigentlich bräuchte mein Vater auf gar keine Autoaustellung mehr gehen, hier sind auch alle verschiedenen Typen und Modelle vertreten“, meinte Sonja mit einem Blick auf die vielen Autos, die sie auf dem Weg zum Zelt begleiteten.
Aus den dazugehörigen Hängern hingen Schweife in allen Farben heraus und hin und wieder ertönte ein schrilles Wiehern über das Gelände und ein Pferd wandte seinen Kopf kurz von seinem Heu zu ihnen ab. Schon von Weitem erklang lautes Stimmengewirr, Musik und Hundegebell vom Zelt zu ihnen herüber. Der Duft von Pommes und Hähnchen lag in der Luft. Isa atmete tief ein und lächelte. Sie hatte sich vom ersten Moment an in die Turnieratmosphäre verliebt. Schon als sie mit sieben Jahren ihre erste Führzügelklasse geritten war, war sie begeistert von der Stimmung, die überall herrschte. Der Geruch von Pferdeschweiß, Feierlichkeit und Nervosität schien so nah, dass man meinte sie greifen zu können.
Die Mädchen drückten sich an der langen Schlange vor der Frauentoilette, vorbei an den Verkaufsständen, die allerlei Pferde- und Reiterzubehör anboten, zum Zelt durch und schauten sich nach Isas Eltern um, die ihnen eigentlich einen Platz hatten freihalten wollten. Sie ließen ihre Blicke über die vielen Köpfe und Bierbänke schweifen.
„Schau mal rechts von dir!“, wisperte Sonja ihrer Freundin zu und grinste.
Isa wandte ihren Kopf in die besagte Richtung und runzelte die Stirn.
„Hast du sie gefunden? Ich hab Hunger und muss unbedingt vor der A-Dressur mit Lady etwas essen“, jammerte sie und schaute entnervt auf ihre Uhr.
Sie sollten so langsam zum Essen kommen, damit sie genügend Zeit hatte Lady warmzureiten. Obwohl diese auch schon routiniert war gehörte sie zu der Sorte von Pferd, die ihre Zeit benötigten um sich zu lösen und zu lockern.
„Deine Eltern nicht, aber dafür jemand anderen.“
Vorsichtig drehte Isa ihren Kopf nach rechts, wo Sonjas Blick verweilte. Sie sah ein blondes Mädchen, das mit dem Rücken zu ihnen saß und sich lebhaft mit zwei Jungen unterhielt. Ab und an mischte sich ein älterer Herr mit Cowboyhut in ihr Gespräch ein. Jetzt drehte sich einer der Jungen in ihre Richtung. Isa wandte schnell den Blick von ihnen ab, damit ihr Starren nicht zu auffällig wurde, doch in dem völlig überfüllten Zelt hätte das sicherlich niemand mitbekommen.
„Isabella.“
Sonja begann zu kichern, als Alex mit seinem typischen Grinsen auf der Bierbank saß und sie entdeckt hatte. Sofort drehte sich die Blondine zu ihnen herüber und musterte sie kurz. Das musste also Alex‘ Freundin Stefanie sein, schoss es Isa durch den Kopf. Bisher kannte sie nur ihr Bild in Facebook, das ihr bei gelegentlichen Profilbesuchen aufgefallen war. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengesteckt, nur ein paar Strähnen ihres Seitenscheitels, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, fielen ihr in das schmale Gesicht. Nun waren auch die Übrigen am Tisch auf sie aufmerksam geworden und schauten zu ihnen herüber. Der zweite Junge am Tisch blickte teils neugierig teils gelangweilt zu ihnen herüber. Sein Blick blieb an Isa hängen, deren Gesicht sofort die Farbe einer langsam reifenden Tomate annahm. Sie schaute zu Boden, um dem Augenpaar auszuweichen, das auf sie gerichtet war. Vorsichtig linste sie in seine Richtung, um ihn genauer zu betrachten. Wie sehr er sich verändert hatte, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Seine Haare waren dunkler geworden, fast dunkelbraun. Seine Gesichtszüge traten stärker heraus, er war kräftiger und größer geworden. Sie hatte zwar nur ein verschwommenes Bild vor Augen von damals, doch plötzlich kam es ihr so vor, als hätte er sich so sehr verändert, dass jetzt eine völlig andere Person am Tisch saß, als damals am Jubiläum. Für ein paar Sekunden hatte sie den Mut seinem Starren standzuhalten, doch als er es merkte, wandte er sich wieder ab und nahm das Gespräch mit der Blondine erneut auf. Erst jetzt bemerkte Isa das dauernde Grinsen von Alex und musste sich selbst ein Lachen verkneifen.
„Dahinten sind deine Eltern!“, bemerkte Sonja trocken aus dem Hintergrund und zog Isa an der Hand mit sich fort, dabei musste sie sich stark zurückhalten, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Der Anblick von Alex‘ Grinsen, Renés Starren und Isas Reaktion war zu köstlich gewesen.
Isa folgte ihrer Freundin und das komische Gefühl von vorhin wich einem großen Hunger. Sie sollten sich langsam beeilen, damit nachher noch genügend Zeit blieb.

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„Steilsprung frei!“, schrie Isa quer über den gesamten Abreiteplatz und ritt Conquest

energisch darauf zu.
Der schöne Apfelschimmel neigte beim Warmreiten zum Bummeln, da er sich immer wieder von den vielen altbekannten Eindrücken und Gerüchen ablenken ließ. Gehorsam verlängerte er seine Galoppsprünge und steigerte das Grundtempo, als seine Reiterin vermehrten Druck mit den Schenkeln ausübte. Er erblickte die blau-weißen Holzstangen, die vor ihnen auftauchten und zog etwas an. Isa gab ihm eine kurze Parade, damit er richtig an den Hilfen blieb. In Gedanken zählte sie die Galoppsprünge und saß tief im Sattel ein. Genau als Conquest

die Vorderbeine an die Brust zog gab Isa die Hand vor und ging in den leichten Sitz, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, ruhig und in perfekter Haltung, um ihr Pferd nicht aus der Balance zu bringen. Nach dem Sprung nahm sie ihn wieder etwas zurück, ritt noch einen Zirkel, dann parierte sie zufrieden zum Schritt durch. Sanft strich sie Conquest

über den Hals, der entspannt auf dem Gebiss kaute und mit den Ohren spielte. Herr Berger, der neben dem Steilsprung stand, um gefallene Stangen wieder aufzubauen oder den Sprung zu erhöhen, nickte leicht und kam langsam auf sie zu.
„Sehr schön. Pass auf, dass du die Sprünge mit genügend Schwung angehst, dass er dir davor nicht stehenbleibt.“
Isa nickte und strich die orangefarbene Schabracke glatt.
„Ich muss schon sagen, mit deinem Orange stichst du definitiv aus der Pferdemenge heraus, mein Junge!“, bemerkte ihre Mutter, die hinzugekommen war und tätschelte dem Wallach ebenfalls den Hals.
Isa hatte Conquest

dunkelorange bandagiert. Dazu trug er passend eine Ohrenkappe und Schabracke in derselben Farbe, die zudem mit seinem Namen bestickt war. Die kräftige Farbe stand gut im Kontrast mit seinem grau-weißen Fell. Mit dieser Kombination hoben sie sich von den übrigen Pferden auf dem Abreiteplatz ab, und davon gab es genügend. Ein Pferd nach dem anderen flog über die Probesprünge, wurde abgaloppiert oder warmgetrabt. Alle warteten darauf, dass ihre Startnummer von den Vorstartern in die Prüfung geschickt wurde.
„Vorsicht!“, schrie Isa plötzlich und riss Conquest

zur Seite.
Ein brauner Wallach galoppierte knapp an ihnen vorbei, die Steigbügel klirrten bereits, als sie sich trafen und Conquest

legte drohend die Ohren an und schlug mit dem Schweif. Das andere Pferd keilte ärgerlich aus und traf glücklicherweise nur einen Grasbüschel, der in hohem Bogen durch die Luft geschleudert wurde und irgendwo auf dem Boden landete.
„Sorry“, murmelte der Reiter und drehte sich schnell in ihre Richtung, um sich zu vergewissern, dass nichts passiert war.
„Dein Pferd hat ihn nicht getroffen!“, knurrte Isa ärgerlich und rollte mit den Augen.
War es zu viel verlangt, wenn man den anderen nicht in die Quere kommen sollte?
„Du solltest deinem Pferd ein rotes Band in den Schweif flechten, wenn es schlägt“, bemerkte sie noch, dann wandte sie sich wieder ihren Eltern zu, die nichts sagend dabei gestanden waren.
Der andere Reiter nickte ihnen noch kurz zu und ritt langsam und vorsichtig im Schritt wieder davon. Dabei rückte er seine Reitkappe etwas weiter nach oben, sodass man sein Gesicht erkennen konnte. René. Isa senkte den Blick auf Conquest’s

Mähne. Wenn das nicht ein schlechtes Zeichen für ihre neue Bekanntschaft war.
„Hübsches Pferd“, murmelte sie so leise, dass es niemand hören konnte.
Langsam ritt sie zum Ausgang, da ihre Nummer bald in die Prüfung geschickt werden würde, da sie als fünfte an der Reihe war und die ersten beiden Reiter bereits im Parcours gewesen waren.
„Startnummer 33 kann sich auf den Weg machen!“, rief einer der Vorstarter und Isa trabte langsam vom Abreiteplatz.
„Viel Glück Isa. Denk dran, vier Strafpunkte sind schon okay!“, schrie ihr jemand hinterher.
Als sie sich kurz umdrehte erkannte sie Alex, der neben René stand und grinste, wie immer, dann ritt sie durch das Tor auf den Platz, das ihr aufgehalten wurde und stellte sich vor den Richtern zum Grüßen auf.

„Eine gleichmäßige und harmonische Runde für Isabella Berger und ihrem Holsteiner Conquest of paradise

, die wir mit einer Grundnote von sieben Komma drei belohnen, abzüglich null Komma fünf für den Fehler an Sprung Nummer sieben. Es bleibt eine Endnote von sechs Komma acht.“
Isa klopfte ihrem Pferd den Hals und trabte vom Platz, begleitet von der Stimme des Ansagers, der bereits den nächsten Starter vorstellte. Sie hätte es eigentlich wissen müssen, dafür ritt sie Conquest schon lange genug. Ausgerechnet am vorletzten Sprung hatte ihr Schwung für den weiten Oxer nicht ganz gereicht und Conquest

hatte mit der Hinterhand die oberste Stange abgeräumt. Wenn sie Glück hatten bekamen sie noch eine grüne Schleife.
„Gut gemacht“, vernahm Isa eine weibliche Stimme am Rand des Abreiteplatzes.
Sie brachte ihr Pferd zum Stehen, das noch immer heftig atmete und entdeckte Sabine, Renés Mutter.
„Danke. Die Strafpunkte gehen aber auf mein Konto“, meinte Isa und streichelte erneut Conquests

schweißnasses Fell.
„Der war aber auch ziemlich gewaltig gebaut für ein A!“
Isa nickte und ritt im Schritt wieder weiter, weil sie den ganzen Verkehr aufhielt und ihr Pferd unmöglich verschwitzt bei der Hitze stehenlassen konnte, als Sabine sich zu René wandte, der darauf wartete, dass der vor ihm gestartete Teilnehmer seine Runde beendete und er einreiten konnte.
„Gib ihn mir, ich führe ihn trocken, dann kannst du dir die anderen noch ansehen. Ich glaube sowieso nicht, dass ihr noch platziert werdet, die Wertnoten wurden gut vergeben“, bot Herr Berger seiner Tochter an, reichte ihr eine Wasserflasche und nahm Conquests

Zügel.
Schnell bahnte sich Isa einen Weg zu den Zuschauertribünen und setzte sich zu Sonja und Tatjana, die Platz für sie auf der schmalen Bierbank gemacht hatten. Gerade galoppierte René auf dem Zirkel und wartete auf sein Startzeichen.
„Hättest du mehr Druck ausgeübt, wärst du ziemlich weit vorne dabei gewesen!“, fing Tatjana an ihre Kommentare auszupacken.
„Das kann dir ja nie passieren, bei deinem Mördertempo“, stichelte Sonja und grinste.
Beleidigt hielt Tatjana eine bissige Bemerkung zurück und starrte auf den Platz. Isa blendete Tatjanas „Ratschläge“ aus und konzentrierte sich auf René, der inzwischen auf den dritten Sprung, eine Mauer, aus einer engen Wendung zugaloppierte. Dark temptation

stieß sich kräftig mit der Hinterhand ab und flog mit einem riesen Satz über das Hindernis. René nahm nach der Landung sofort wieder die Zügel des großen dunkelbraunen ein gutes Stück kürzer und versuchte das Tempo etwas zu vermindern, um passend an den bevorstehenden gelb-grünen Steilsprung zu kommen. Sein leicht unruhiger Oberkörper war ihm dabei keine allzu große Hilfe, doch er zwang dem Wallach weiterhin den Kopf an die Brust. Dieser nahm es ihm nicht übel, da er den Reitstils seines Reiters gewöhnt war und versuchte bei der kleinsten Zügellockerung nach vorne zu stürmen. René verhielt ihn gekonnt und ließ ihm in der Flugphase ausreichend Kopffreiheit, um richtig taxieren zu können.
„Ein schneller, jedoch gleichmäßiger Ritt für das Paar. Stiltechnisch noch einiges zu verbessern. Es bleibt eine Grund und Endnote von …“
Beim Applaus der Zuschauer erschrak der junge Braune und setzte zur Flucht nach vorne an. René, der sein Pferd gerade in einen ruhigen Schritt gebracht hatte, hatte Mühe die Kontrolle über das Tier zu halten und versuchte es zu beruhigen. Erst, als der Lautsprecher und der Applaus verebbten ließ sich Dark temptation

in den Trab und schließlich in einen unruhigen Schritt zurückholen.
„Mist, jetzt habe ich nichts verstanden!“, ärgerte sich Isa, als das Ergebnis im Knacken des Lautsprechers und dem schrillen Wiehern eines Pferdes auf dem Abreiteplatz unterging.
Sonja stand auf und zog ihre Freundin hoch, während Tatjana sitzenblieb, um einen Springreiter vor ihr anzuschmachten, der lässig am Gelände lehnte.
„Komm, wir schauen zu Conquest

und fragen deinen Vater, vielleicht hat er das Ergebnis mitbekommen.“
„Aber die übrigen Starter…“, fing Isa an und wich einem kleinen Hund aus, der mit seiner hilflosen Besitzerin an der Leine vorbeidrängte und alles und jeden anbellte, was ihm vor die Linse kam.
Die junge Frau lächelte ihnen entschuldigend zu und versuchte mit einem „Schluss, Bella!“ das Tier zur Vernunft zu bringen. Doch dieses hatte bereits etwas Neues entdeckt und strebte einem heruntergefallenen Pommes zu, das jemandem in der Eile und dem Gedränge heruntergefallen sein musste.
„…kannst du dir sparen. Schwing du dich lieber auf dein Pferd, falls deine Nummer noch zur Platzierung hereingerufen wird!“, bestimmte Sonja und fächerte sich mit der Starterliste in ihrer Hand etwas Luft zu.
Isa seufzte und schritt mit steifen Beinen ihrer Freundin hinterher, die bereits zügig vorausgegangen war. Conquest

döste gerade mit Herrn Berger unter einem kleinen Baum und hatte das hintere Bein angewinkelt, als die Mädchen zu ihnen kamen.
„Soll ich dir gegenhalten?“, fragte eine spöttische Stimme, als Isa gerade dabei war ihren linken Fuß in den Bügel zu stellen.
Alex schlenderte gemütlich zu ihnen herüber, die Hände in den Hosentaschen.
„Bitte, wenn du dich nicht bremsen kannst!“, antwortete Isa und biss die Zähne zusammen.
Aus irgendeinem Grund reagierte sie gereizt auf den höhnischen Gesichtsausdruck von Alex. Ein Glück, dass sie René nach seinem Ritt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, aber der würde sich nach seinem Auftritt auf dem Abreiteplatz sicher keine dumme Bemerkung erlauben, denn Alex hatte ihm sicher von dem kleinen Schlagabtausch zwischen ihnen beiden erzählt, sonst teilte er mit seinem besten Freund auch alles.
Elegant schwang sie sich in den Sattel und Alex trat zurück. Isa spürte für einen kurzen Moment seinen Blick auf ihr ruhen und wurde wieder an die Situation beim Mittagessen im Zelt erinnert.
„In Kürze kommen wir zur Siegerehrung. Wir bitten alle Teilnehmer mit einer Wertnote von sechs Komma acht und besser sich bereitzuhalten!“, verkündete der Lautsprecher, als das letzte Paar kopfschüttelnd vom Platz ritt.
Isa entglitt ein Lächeln und klopfte Conquest

zufrieden den noch immer leicht verschwitzen Hals. Dieser quittierte dies mit einem leisen Grunzen, dann ließ er den Kopf wieder sinken.
„Eine grüne Schleife, Glückwunsch Biene.“
„Danke“, murmelte Isa und versuchte abzuschätzen, ob die Bemerkung ernst gemeint war, ließ davon aber wieder ab, als die ersten Takte der Eurovisionshymne den Beginn der Siegerehrung ankündigten.
Isa kitzelte Conquest

leicht mit den Sporen und überredete ihn zu einem langsamen Trab.
„Wir kommen zur Siegerehrung des Stilspringens der Klasse A, geritten um den großen Preis von Klinger GmbH unter der obersten Leitung von Richter Reinhardt Gruber . Die Ehrenpreise werden von der Turnierleiterin Andrea Bergmaier überreicht!“
Alle zur Platzierung hereingerufenen Reiter bewegten ihre Pferde in ruhigem Schritt zwischen den Hindernissen und warteten darauf aufgerufen zu werden. Zwischendurch unterbrach ein schrilles Wiehern die angespannte Stille, ein Auto mit Anhänger und Turnierhelfern fuhr durch den hinteren Eingang herein und einige Hindernisse wurden für die nächste Prüfung entweder erniedrigt oder erhöht. Aus den Augenwinkeln beobachtete Isa René, der links von ihr ritt und versuchte sein aufgeregtes Pferd unter Kontrolle zu halten, das beim Anblick des Geländewagens auf die Hinterbeine ging.
„Gut geritten“, sagte sie, als Dark temptation

wieder mit allen Vieren auf dem Boden stand und sich darauf beschränkte ängstlich zu dem Gefährt herüber zu blicken.
René sah überrascht in Isas Richtung, konzentrierte sich dann sofort wieder auf sein Pferd.
„Danke, ebenfalls.“
Nach dieser wortkargen Antwort zuckte Isa die Schultern und wandte sich von dem Paar ab. Normalerweise kam man mit Reitern derselben Prüfung besonders gut ins Gespräch, wenn es darum ging einzelne Ritte zu besprechen, für René schien das jedoch nicht zu gelten. Wie Alex auf die Idee kommen konnte sie beide zu verkuppeln, wenn sie nicht einmal in der Lage waren ein Gespräch von mindestens fünf Minuten zu führen, war Isa schleierhaft. Sie versuchte sein Verhalten damit zu entschuldigen, dass sein Pferd seine vollkommene Aufmerksamkeit forderte, doch so Recht wollte ihr das nicht gelingen. Die Fortsetzung der Siegerehrung unterbrach ihren Gedankengang schließlich endgültig.
„Mit einer Wertnote von acht Komma vier gewann Cat deluxe

unter Marianne Holzner diese Prüfung. Herzlichen Glückwunsch und einen kräftigen Applaus für das Paar!“
Unter höflichem Klatschen galoppierten Reiterin und Pferd nach vorne und parierten vor dem Richter und der Turnierleiterin durch. Ausschließlich die Reiter vom eigenen Verein bekamen den meisten und ehrlichsten Applaus, weil ihre Fangemeide auf dem hofeigenen Turnier am größten war - es sei denn, man brachte sich als Gastreiter seinen eigenen Fanclub mit.
Isa und Conquest

warteten geduldig, bis alle anderen vor ihnen platziert wurden. Immer wieder trabten oder galoppierten Pferde nach vorne, Hände wurden geschüttelt, Glückwunsche überreicht, Applaus gespendet und Rosetten angesteckt. Als René an vierter Stelle aufgerufen wurde hob Isa überrascht den Kopf. Trotz seinem unruhigen Oberkörper und der teils etwas heftigen Zügelführung wurde er mit einer Grund- und Endnote von sieben Komma sechs belohnt, was ihn auf den vierten Platz und ihm eine blaue Schleife brachte. Dark temptation

schlug nervös mit dem Kopf, weil ihm die angesteckte Rosette am Zaumzeug zu stören schien und ging ein Paar Tritte rückwärts.
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„Auf deinen vierten Platz, Prost!“
Alex hob sein Weizenglas hoch und prostete den anderen am Tisch übermütig zu.
„Prost, Spinner“, stimmte René ein und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.
Isa wollte ebenfalls nach ihrer Limonade greifen, zog ihre Hand aber schnell wieder zurück, als die anderen keine Anstalten dazu machten. Während Sonja still neben ihr stand, war Tatjana vollkommen in ihrem Element und flirtete René dermaßen von der Seite an, dass einem übel werden konnte – zeitweise hatte sie einen Arm um seine Taille gelegt, stellte sich auf Zehenspitzen, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern oder schenkte ihm ein Lächeln nach dem anderen. Isa kochte innerlich vor Wut. Überall musste sich diese Person wichtigmachen und in den Vordergrund drängen, als hätte sie Angst, man könnte sie übersehen oder nicht bemerkten, was bei der Lautstärke ihres Lachens jedoch kaum möglich war. Stefanie, die Freundin von Alex, schien das auch nicht entgangen zu sein. Gereizt schwieg sie vor sich hin und setze ein säuerliches Gesicht auf, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen. Selbst als Alex sein Gesicht zu ihr drehte, um ihr einen Kuss zu geben, schob sie ihn entnervt weg und steckte ihre Hände in die Hosentaschen. Alex zog die Stirn kraus und sah seine Freundin von der Seite an.
„Lass es einfach!“, gab diese patzig zurück, drehte sich um und stiefelte aus dem Zelt.
„Autsch! Geht’s in deiner Beziehung immer so zu?“, fragte Tatjana scherzhaft und lachte.
„Die hat dich viel zu fest im Griff!“, bemerkte René und setzte erneut sein Glas an.
Isa blickte zu Alex und wartete auf seine Antwort. Dass Tatjana überhaupt noch im Blick hatte, was sich außer René am Tisch noch so abspielte.
„Ach, du hast doch keine Ahnung. Wann hattest du bitte das letzte Mal eine Beziehung, die länger andauerte als zwei Wochen?“
„Gar nicht. Deshalb passiert mir nie so etwas wie dir!“, gab René zurück und lachte, Tatjana stimmte mit ein.
Alex ging nicht weiter darauf ein. Anscheinend war er die Bemerkungen seines besten Freundes bereits gewöhnt. Vielleicht wollte er ihm deshalb eine feste Freundin verschaffen, damit er endlich damit aufhörte. Aber man konnte beim besten Willen nicht den Amor spielen oder die Glücksfee. Die Liebe spielte ihr eigenes Spiel, schrieb ihre eigenen Bücher. Sie war weder bestechlich noch beeinflussbar, kam und ging, wann es ihr passte, ohne anzuklopfen oder Lebewohl zu sagen und war der überraschende Gast, der alles aus dem Konzept brachte und man nicht wusste, wie lang er bleiben würde. Egal wie sehr man sich gegen sie wehrte, gewinnen konnte man nicht. Und die, die verzweifelt nach ihr in Clubs, Bars oder auf der Straße suchten wurden erst fündig, wenn sie es aufgaben, denn Liebe konnte man nicht erzwingen. Mit der Liebe war es so, als baute man eine Sandburg – wenn jemand drauftrat viel alles in sich zusammen und war zerstört.
„.. nur gut, dass es genügend Sand gibt!“, murmelte Isa gedankenverloren und lächelte.
Als ihr bewusst wurde, dass sie ihre Gedanken zu laut ausgesprochen hatte und somit alle verwirrten Blicke auf sich gezogen hatte, versuchte sie schnell das Thema zu wechseln.
„Was hat Stefanie denn?“
Alex zuckte die Achseln und nahm wieder einen Schluck aus seinem immer leerer werdenden Weizenglas.
„Keine Ahnung, die ist heute den ganzen Tag schon leicht zickig.“
„Entweder sie hat keine Lust mehr auf dich oder sie hat ihre Tage!“, gab René seinen Kommentar dazu ab und erntete ein übertriebenes Lachen von Tatjana.
Isa schüttelte den Kopf. Was wollte Tatjana mit ihrem aufgesetzten Getue erreichen? Wollte sie sich einfach nur wichtigmachen oder René wirklich gefallen? Im Moment erinnerte sie eher an eine traurige Figur die verzweifelt versuchte, cool zu wirken, um Anerkennung zu bekommen – wie armselig. Man sollte sich für niemanden verändern, denn wenn sie einen so nicht akzeptierten wie man war, hatten sie einen nicht verdient!


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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich all meinen Freunden, die mir in der schweren Zeit sehr geholfen haben und einfach immer für mich da waren. Danke <3

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