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Prolog


„Wenn Samira stirbt, weiß ich wirklich nicht mehr, was ich tun soll.“ Die Stimme seines Vaters klang verzweifelt und erschöpft. „Ich habe getan, was ich tun konnte, das weißt du. Jetzt hängt alles von Nashray ab.“ Nashray, die Göttin der Sonne, der Heilung und des heiligen Flugs. „Ich weiß. Und wir können wirklich nicht mehr tun?“ Verzweiflung. Angst. Schrecken. All das hatte die letzten Monate seiner Mutter entscheidend geprägt. Das Schlimmste allerdings war, das auch sein Vater sterben würde, wenn seine Mutter es tat. Vollweise. Ein schönes Wort, wie er fand. Er wusste, es war falsch, zu lauschen, doch hierbei ging es um einen Extremnotfall. Zwar würde er nicht auch sterben, wenn seine Eltern es taten, weil er sein Gegenstück noch nicht gefunden hatte, doch das machte es auch nicht gerade besser. Im Gegenteil. Bis jetzt hatte er alle Menschen, die ihm etwas bedeuteten, verloren.
„Du weißt, das die Leben deines Gegenstücks mit deinem so eng verknüpft ist, wie Feuer und Flamme, nicht wahr?“ „Ja, schon.“, antwortete sein Vater zögerlich. „Aber ich habe trotzdem Angst. Der Kleine kann doch nicht so ein Pech haben, und alle seine Lieben, die immer um ihn waren, verlieren. Ich sag’s dir, mein Freund, wir hätten das Amulett nicht verlieren dürfen.“ Sein Sohn lugte etwas um die Säule. Er erkannte den tiefen Schmerz im Gesicht seines Vaters. „Du solltest ihn jetzt holen gehen, meinst du nicht? Ich glaube, dass es ihn schon interessieren würde.“ Und wie.
„Papa! Wo geht man hin, wenn man stirbt?“ „In ein Paralleluniversum. Dort werden wir uns wieder sehen.“ „Bist du die sicher?“ „Und wie, mein Kleiner.“
Eine unbedeutende Erinnerung, doch für ihn ist es alles, an was er sich festklammern kann. Auch wenn er weiß, dass es eine Lüge war. Angesichts der Tatsache, dass seine Eltern jeden Moment dahin gehen könnten, kann man schon eine seiner ach so kostbaren Tränen verlieren.
„Weine nicht! Alles, was geschieht, geschieht aus einem Grund.“ „Aus welchem Grund?“ „Das kann ich nicht wissen, mein Kleiner. Das weiß niemand. Doch es ist, wie es ist.“ Wie sehr er diesen leichten Akzent in der Stimme seiner Mutter liebte – Und wie sehr er ihn vermissen würde!

Ein Schritt hinter einer Säule hervor kann dein ganzes Leben besiegeln.
Er sah nur noch den schwermütigen, schwarzen Staub seiner Eltern, der durch das Zimmer fegte und jede verbliebene Erinnerung mit sich riss. Es kann jeden Moment vorbei sein. Glaub mir.


1. Kapitel

Es war eine ganz normale Sportstunde an einem ganz normalen, langweiligen Montagmorgen. Niemand der neunten Klasse hatte sonderlich Lust auf das, was ihnen bevorstand: Kugelstoßen.
„Okay, Kinder! Die Kugel an den Hals legen! Nein Alicia, nicht an die Stirn!“ Frau Erling, die von Allen, natürlich nur hinter ihrem Rücken, „die Kugel“ genannt wurde, entlockte den Schülern das allgemeine Stöhnen mit ihrer Ansage.
„Morgens in der zweiten Stunde Sport mit der Kugel zu haben, ist wirklich das Letzte!“, kommentierte Dyan leise. Er war der Schwarm aller Mädchen seines Jahrgangs, und deshalb stets darauf bedacht, seine Mitschüler zum Lachen zu bringen. Übertrieben gelangweilt legte er eine der Kugeln an seinen Hals, was drei Mädchen fast in Ohnmacht fallen ließ. Dann rief er dem Sportlehrer, dem zweiten in der Runde, zu: „Ist das richtig so, Herr Moritz?“ Alle Mädchen standen auf den Kerl, bis auf Zoé. Zoé war vergleichsweise hübsch: Im Gegensatz zu Alicia, die blaue Augen und blondes Haar hatte, waren ihre Augen rehbraun, ihre Haare hatten eine etwas seltsame Mischung aus rot und blond.
Also verdrehte Zoé bei Dyans Spielchen meist nur die Augen. Während sie noch da stand und gedanklich nicht ganz bei der Sache zu sein schien, warf ihr die dritte Lehrerin, Frau Hueningh, die etwas hager, schlank und groß war, einen vorwurfsvollen Blick zu, der sie dazu aufforderte, endlich, wie die Anderen mit dem Kugelstoßen zu beginnen.
Genervt hob Zoé eine Kugel aus dem Eimer, der letztlich wieder bei ihr gelandet war. Allerdings schien es auf gar keinen Fall eine normale Kugel zum Stoßen zu sein, denn plötzlich begann sie, in ihrer Hand, zu brennen. Sie schrie auf und ließ die Kugel zurück in den Eimer fallen, der immer noch vor ihren Füßen stand. Sie hob ihre Hände vor die Augen, weil sie schwere Brandwunden vermutete.
Doch da war nichts. Rein nichts – doch die Kugel im Eimer brannte noch immer. Plötzlich wurde sie von starken Krämpfen geschüttelt. Sie krümmte sich und sank dann leblos in sich zusammen.
Ihre Mitschüler sahen nur das Licht, das aus Zoés Brust zu kommen schien. Sie stieg plötzlich in die Luft auf, wo sie von totalem Licht eingehüllt wurde. Ihre Mitschüler waren geblendet, so sehr, dass sie als aller erstes die weiten Schwingen, die in tiefes grau gehüllt waren, erblickten, als sie die Augen wieder öffnen konnten. Ihre Haut wurde immer heller und heller, bis sie fast leichenblass war. Ihre zartgliedrigen Füße berührten den Boden, und man konnte ihre ganze Erscheinung wahrnehmen: Das lange, schwarz gewordene Haar strich ihr sanft um die zierlichen Schultern. Sie trug ein schwarzes Kleid, das mit Nieten und Pailletten bestickt war.
Sie öffnete langsam die Augen. Sie blinzelte einige Male, wobei ihre langen, schwarzen Wimpern zu klimpern schienen. Ihre weiten Schwingen wurden immer dunkler und dunkler, bis sie völlig schwarz waren. Aber sie blieb trotzdem noch liegen.
Bei den Lehrern machte sich Panik breit – und im nächsten Moment
Standen an Stelle von Frau Erling, Herrn Moritz und Frau Hueningh drei kleine, hässliche Wesen. Eins violett, eins rot und eins grün-blau. Von ihren Oberschenkeln bis zu den Fingern führten milchige Flügel, in der jeweiligen Farbe des Gnoms. „Looos! Wir müssen es töööteeen!“, schrie der grün-blaue Gnom mit der Stimme von Frau Hueningh. „Heeer mit den Kugeeeln! Naa looos!“ Das war der rote Gnom, der die Stimme von Herrn Moritz besaß.
Aha. Also war rot Herr Moritz, grün-blau Frau Hueningh und violett logischer Weise Frau Erling. Schön zu wissen.
Inzwischen hatten die „Lehrer“ alle auffindbaren Kugeln an sich gebracht. Teilweise hatten sie den verängstigten Schülern die Kugeln sogar förmlich aus den Händen gerissen! Jetzt warfen sie die Wurfgeschosse auf Zoé, den völlig verängstigten und allem Anschein nach auch wütenden Engel. Seltsamer Weise wurde sie nicht auf das Geringste getroffen. Es hatte sich ein Schutzschild um sie gebildet. Im Umkreis von fünf Metern. Ein entsetzter Schrei von Frau Hueningh durchbrach die Entsetztheit Aller. „Warum treffen wir dieses verfluchte Biest denn nur niiicht?“, kreischte sie auf.
Plötzlich erschien ein noch helleres Licht am Himmel als das, das vorhin von Zoé ausgegangen war. Dieses Licht war reiner, weißer. Feingliedrige, leichenblasse Füße berührten die Erde und das Licht erlosch. Ein Engel, der vollends schwarzes Haar hatte, schwarze Flügel und Kleider trug, ging majestätisch auf Zoé zu. Seine Eleganz war unübertrefflich. Aber vor Allem konnte er mit Leichtigkeit den Schutzschild überwinden.
Er sah ziemlich gut aus, dafür, dass er fast schulterlanges Haar hatte. Natürlich schwarz. Pechschwarz. Alle Mädchen waren zumindest gebannt vom Spiel seiner Muskeln, als er Zoé aufhob. Sein makelloses Gesicht verdunkelte sich, als er die Gnome erblickte, die sich gerade wieder in die Lehrer zurück verwandelten. Sein Blick wirkte fast wie ein Fluch, denn schon versuchten die Lehrer, sich hinter den Schülern zu verstecken. Als er sie nicht mehr sehen konnte, wandte er sich wieder Zoé zu und strich ihr vorsichtig über die nun mehr leichenblasse Wange. Das Licht von vorhin kam wieder auf, und in der nächsten Sekunde waren sie verschwunden. Fast wie im Traum. Oder besser gesagt: Wie im Albtraum. Denn die Schüler waren nach und nach zu Stein geworden, genau wie die Lehrer. Nicht mehr lange, und man würde sie suchen und finden…
Leider hatten die zwei Engel den Hausmeister nicht bemerkt, der alles beobachtet hatte. Und er würde sich rächen. Das hatte er sich geschworen.


Wenn Stein wie Gold wäre, würde jeder reich sein. Doch Stein ist kein Gold. Er wird nie einen noch so geringen Wert haben.


2.Kapitel


Zoė öffnete ihre Augen einen Spalt weit. Sie entdeckte die Umrisse zweier Personen, eine mit einem Hut und einer Tasche, die Andere mit Schulterlangem Haar und schwarzen Flügeln. Moment mal! Mit Flügeln? Das war unmöglich! Sie öffnete die Augen ganz und setzte sich auf.
"Ich sagte doch, dass sie durch kommen würde.", sagte der Mann mit dem Hut lächelnd. Er drehte sich zum Gehen und Zoė entdeckte zwei lange Narben auf seinem Rücken. Groß und rot. Warum er wohl keine Flügel auf dem Rücken, sondern Narben hatte?
Inzwischen hatte sich der andere Junge zu ihr umgedreht und betrachtete sie mit einem wohlwollenden Lächeln. Etwas genervt guckte Zoė zurück. "Was ist?", fragte sie. "Du lebst.", antwortete der Junge. Er hatte eine dunkle Stimme mit einem wundervollen Klang. "Ja natürlich lebe ich. Was hast du denn anderes erwartet?" Er schaute sie ein bisschen verdutzt an. "Findest du es denn nicht gut, dass du lebst?" Was für eine blöde Frage! " Natürlich finde ich es gut. Wer findet das denn bitte nicht gut? Ich will jetzt erst mal wissen, wer du bist und wo ich bin." Leise fügte sie hinzu: "Und was überhaupt mit mir passiert ist." "Ich heiße Avalon.", sagte er fast ein wenig entschuldigend. "Avalon? Das... das ist ein Buch. Warum heißt du so?" "Meine Mutter hat das Buch... Na ja, es war ihr Lieblingsbuch." "Achso." "Du bist im Himmel." " Oh mein Gott. Heißt das jetzt, dass ich tot bin?" Er grinste und schüttelte den Kopf. "Nein, auf gar keinen Fall. Aber du bist mein Gegenstück." "Und das führt uns ja gleich auch zu Punkt drei. Was ist mit mir passiert?" Sie hielt ihm eine Strähne ihres schwarz gewordenen Haares entgegen. "Du bist einfach transformiert." " Okay, und jetzt noch mal übersetzen, bitte." Er lachte. "Hast du etwa noch nie 'Transformers' gesehen?" "Doch, klar. Soll das jetzt heißen, dass ich ein Monster bin?", witzelte sie. "Nein. Das bedeutet, dass deine Molekularstruktur sich grundlegend verändert hat." "Ist ja echt wundervoll." Avalon setzte sich neben Zoė auf die Liege. "Was war mit dem Mann vorhin?", fragte Zoė. " Das war unser Arzt." "Nein, ich meine, warum hatte der keine Flügel, sondern nur Narben?" Avalon's Gesicht verdüsterte sich. "Er hat sein Gegenstück betrogen. Normaler Weise sterben wir, wenn unser Gegenstück es tut." "Wie in der goldene Kompass, nicht wahr?" "Ja. Aber er hat einen Weg gefunden, nicht wegzusterben. Er hat sich lieber die Flügel abschlagen lassen, als mit seiner Frau zusammen zu gehen." "Traurige Geschichte.", bemerkte Zoė. "Ja,
allerdings. Aber er ist ein guter Arzt und für mich ist er, wie ein Vater." "Oh! Das ist lustig. Mein richtiger Vater hat sich von meiner Mutter getrennt und jetzt hat sie auch einen neuen Freund." "Aber sie leben noch, oder? Ich meine deine Eltern." "Ja." "Meine Eltern sind tot." "Das der-goldene-Kompass-Prinzip?" "Ja." "Tut mir Leid für dich."
"Komm. Ich zeig dir den Himmel.", sagte Avalon geschlagen. "Du bist echt okay.", sagte sie. "Ja. Du bist auch echt okay." Sie lachten und verließen den Raum. Als sie nach draußen traten, wurde Zoė von der Sonne geblendet, die hier viel näher war als auf der Erde. Sie musste die Augen schließen und Avalon bekam einen Lachanfall. "Was ist denn so komisch?" Immer noch lachend antwortete er: "Du bist grade fast gegen eine Säule gelaufen." Japsend lief er weiter. "Und dann ist mir eingefallen, dass Neulinge durch alles durch laufen können. Das ist echt so komisch!" " Das ist gar nicht komisch. Ich kann nichts sehen, weil die Sonne mich blendet, und du lachst dich darüber halb tot!" Sofort wurde Avalon wieder ernst und sagte: " Über den Tod macht man keine Witze." Er führte sie in ein riesiges Gebäude, dass aus sandfarbenem Marmor bestand und mit den verschiedensten Figuren- und Säulen verziert war. "Mann", sagte Zoė. "Das war bestimmt teuer." Dieses Mal grinste Avalon nur und hielt ihr die Tür auf. Drinnen grüßte er einige Leute, die erstaunt auf Zoė zeigten und anfingen, zu tuscheln. Sie kamen in einen großen Raum, in dem mehrere Engel an den Tischen saßen und sich unterhielten, lasen oder eine andere Tätigkeit ausübten. "Was ist das hier, Avalon?" "Das ist die Biliathek. Das ist ein Ort, an dem wir uns zusammen-
finden und treffen können. Sie ist immer für alles und jeden geöffnet. Zoė schaute sich um. Die Wände waren bis oben hin mit Bücherregalen voll gestellt, doch der Platzt schien nicht zu reichen, denn auch auf Fußboden und Tischen stapelten sich die dicken Wälzer. Zielstrebig lief Avalon auf einen Tisch an dem einzigen Fenster zu, das es in diesem Raum gab. Es war hoch und mit einem schweren Vorhang verhangen. "Hallo Sayoniera. Darf ich vorstellen? Das ist Zoė, meine Juona." Er hatte sich an einen Engel mit Kaffeebrauner Haut gewendet. Sie hatte ein zartes Gesicht, in dem sich aber auch markante Züge befanden, so wie die geschwungenen Augenbrauen und die hohen Wangenknochen. Sie trug ein T-Shirt, das auf den Schultern frei war und nach unten hin wie ein Poncho wegging. Sie stand auf und ging um Zoė herum; sie betrachtete sie von allen Seiten. Zum Schluss sah sie ihr direkt in die Augen. "Seit wann ist sie hier?", fragte Sayoniera mit schneidender Stimme. Avalon runzelte die Stirn. "Seit einer Woche." Seit einer Woche? Das sollte ja wohl ein Witz sein! Was sollte Zoė denn in dieser Zeit gemacht haben? "Du hast geschlafen.", sagte Avalon, fast so, als ob er Gedanken lesen könnte. " So lange? Nicht wirklich, oder?" Avalon lächelte sie an. " Doch." Er wendete sich wieder Sayoniera zu. "Hast du ein Problem damit?" Sie schaute ihn überrascht an. "Nein.", antwortete sie mit ihrer kalten Stimme. "Ach ja, und..." Sie zog die Augenbraue hoch und sah Zoė an. "...hier gibt es kein Geld. Also... Wo hast du diesen Fimmel her? Den hat dir ja wohl noch niemand angefertigt, oder? Hast du das Zeug geklaut? Weißt du eigentlich, was das Wert ist?" Sie begutachtete die funkelnden Pailletten. "Woher soll ich das denn wissen? Und außerdem hatte ich das Kleid schon an, als ich so geworden bin." Sie zeigte einmal an sich rauf und runter und verdrehte den Kopf nach ihren Flügeln. "Hey, Leute" Ein Engel mit nachtblauen Augen und Surferfrisur stand auf und drängelte sich zwischen Sayoniera und Zoė, zwischen denen die Luft vor Arroganz und Missverständlichkeit nur so knisterte. "Ihr müsst euch ja nicht unbedingt die Köpfe abreißen. Nur wegen einem Kleid. Wenn ich deinem Stil nach deuten kann..." Er berührte den Stoff und prüfte die Beschaffenheit von Nähten und Nieten. Er sah an Zoė empor und grinste. "... dann hast du ganz außergewöhnliche Fähigkeiten. Zum Beispiel kannst du, glaube ich, Energiestöße mit funktionaler Entwicklung erstellen." Fragend schaute Zoė den Jungen an. "Hä?" Was sollte das denn jetzt schon wieder bedeuten? "Das heißt, dass du dir nur einen Ort in Gedanken vorstellen musst, und da hin dann die gewünschten Energieansammlungen schicken." "Gut zu wissen. Wie heißt du eigentlich?" Zoė wollte nur noch aus der Biliathek hinaus, weil sie immer noch unter den eisigen Blicken Sayonieras stand. Sie fröstelte. "Ich bin Yaden. Du heißt Zoė, nicht?" Yaden lächelte schelmisch. "Wenn Avalon jetzt seine Juona gefunden hat, sollten wir uns ein neues Mitglied suchen, meint ihr nicht auch?" Ein Mädchen mit kurzem Haar stellte sich neben Yaden und lachte. "Das können wir auch noch später besprechen, Noelle." Noelles Augen glichen Yadens wie ein Ei dem anderen. Bestimmt waren sie Geschwister. An dem Tisch saß nur noch eine Person; ein Junge mit trüben Augen und schwarzem Haar. Seine Flügel waren zerfleddert und hatten einige Löcher und Kerben. Seine Haut war matt und fahl. Er wirkte gruselig. Zoė hätte gern gewusst, wie er hieß, aber sie wollte nicht unhöflich sein. Also hielt sie den Mund.
Noelle hatte inzwischen ein ernsthaftes Gespräch mit Avalon und Sayoniera angefangen.
Yaden wendete sich unterdessen dem Letzten zu, der sich die Hände rieb, damit ihm warm wurde. "Hey Jam." Der Andere blickte kurz auf. "Willst du Zoė vielleicht Yanica zeigen?" Jam grinste und schüttelte den Kopf. "Soll ich ihren Ruf zerstören, bevor sie einen hat?" Zoė mochte Jam und seine Stimme sofort. Sie war sehr, sehr dunkel und hart und weich zugleich. Zoė legte ihre Hand auf Jams Arm. "Kannst du mir dann wenigstens was über eure fremdsprachigen Bezeichnungen verraten?" Er zog seine Augenbrauen hoch und legte seine Hand auf Zoės. Sie war eiskalt. "Ich glaube, Yaden kann das besser. Er kann dir ja auch unsere Welt zeigen. Sie heißt Janica. So. Das war mein Teil der Abmachung." Er stand auf und ging zu der kleinen Quelle, die aus der gegenüberliegenden Wand kam. Um den Wasserspender herum war die Wand wie ein Höhleneingang gestaltet. Zoė war überrascht, wie groß Jam war. Er bewegte sich federnd und leicht, obwohl er unheimlich schwer sein musste, mit dieser Größe.
Sie schaute sich nach Yaden um. Er hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und schlürfte ein blaues Getränk, das vor Kälte dampfte.
"Was ist das?", fragte Zoė. Spontan schob Yaden ihr den Becher zu. Sie nahm einen Schluck. Das Gebräu schmeckte nach einer undefinierbaren Frucht zwischen Heidelbeere und Minze. Aber es war echt lecker. "Was ist das für eine Frucht?" Ohne ein Wort drehte Yaden den Becher um, so dass Zoė lesen konnte, was darauf stand. Wunschbrause. "Und was hast du dir gewünscht?", fragte sie vorsichtig. "Bergminze und Fragolabeere. Ist beides blau." Deshalb also die Farbe. Sie seufzte leise. "Hey, was ist los?" "Na ja, ich kenne hier keinen, ich kenne mich hier nicht aus..." Yaden stand so plötzlich auf, dass sein Stuhl umkippte. Es knallte laut, aber keiner interessierte sich für sie. Er nahm ihre Hand und zog sie durch das Getümmel im Saal nach draußen. Hier atmete sie erst mal durch. Dann entdeckte sie eine riesige Glaskuppel. "He, Yaden. Was ist das?" Er schaute das Gebäude an und erklärte: "Das ist das Garde delle Garde. Das ist so was wie ein riesiger Garten, nur total anders!" Zoė folgte ihm durch eine zartblaue Tür in die Glocke. Tausende von den verschiedensten Pflanzenarten wuchsen hier, rankten sich um riesige Bäume und kletterten die Glaswand empor. "Das gibt's nicht!", rief Zoė aus, als sie eine kleine, goldene Figur inmitten der Pflanzen entdeckte. "Genau so eine hatte ich auch mal, nur in grün!" Yaden konnte nichts auf dem kleinen Baumstamm entdecken, auf den das Mädchen aufgeregt zeigte. "Hä? Was soll denn da sein?", fragte er unsicher. "Das ist eine Figur aus Weißrussland. Meine Großmutter hat sie mir mal mitgebracht. Sie hat immer diese billigen Busreisen mitgemacht."
"Das wird dein Xinvaar sein. Dein... ähh... Mist, wie heißt das denn?" Zoė lächelte. Am meisten von den ganzen verrückten Personen hier mochte sie Yaden. Yaden mit seinen Klamottenkentnissen und seiner Wunschbrause, mit seiner Schwester Noelle und den tollen blauen Augen.
Vielleicht war sie ja ein bisschen verliebt!? Was für ein beunruhigender Gedanke!!
Inzwischen war ihm das Wort anscheinend wieder eingefallen, als er fortfuhr. "Dein Schutzpatron. Genau, das war's. Dass nur du ihn sehen kannst dient allein deinem Schutz. So kann ihn keiner sehen. Erst wenn du deinen Juon gefunden hast, in dem Falle Avalon, kann auch der ihn sehen." Das Wort 'Juon'
erinnerte Zoė wieder an ihre Unwissenheit über diese Welt. "Okay... Kannst du mir jetzt erzählen, was diese ganzen Fremdwörter bedeuten?" Yaden nickte. Es sah ein bisschen feierlich aus, wie er so dastand. "Ja, klar. Also. Wo fang ich an? Ach ja. Ein Deorix. Das sind die Steinfiguren vor dem Palast. Bei herannahender Gefahr zerbröseln sie und aus den Steinchen werden dann wieder Tausende Deorixe. Die stürzen sich dann auf die Feinde und dann... na ja, dann war's das." Zoė schüttelte sich. "Ihh! Wie eklig!" "Hm. Dann sind da noch die Chutinons. Die sind ziemlich ungefährlich. Es sind nämlich die Dienstboten der Machestratin.", fachsimpelte er weiter. "Wow", bemerkte sie. "Das erklärt mir ja jetzt echt alles. Was soll jetzt wieder eine Makrestratin sein?" Yaden runzelte die Stirn. Zoė hatte das Wort ganz falsch ausgesprochen. "Die Machestratin ist unsere Herrscherin. Sozusagen." Zoė fand das alles ziemlich verwirrend, doch eine Frage hatte sie noch. "Was ist eine Juona? Das Wort wird echt ständig benutzt und ich habe keinen blassen Schimmer, was es bedeuten soll." Yaden senkte die Stimme, fast so, als ob das, was er ihr ein Geheimnis erzählen wollte. "Das Wort steht für geliebte Auserwählte. Ähh... Das Ritual wird vollendet, wenn sich die Weisen, Trecolpis und Juonne und noch ein paar andere um das verliebte Paar versammeln und es segnen und weiß der Geier was." Die letzten Worte hatte er fast ausgespuckt; so, als ob er nicht mehr weiter darüber reden wolle. Als ob ihn das etwas anginge.

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Tag der Veröffentlichung: 19.05.2011

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