Wir befinden uns in der Zeit kurz nach Elisabeths Tod, ihre gesamte Familie wurde ermordet einschließlich ihres Ehemannes Franz Joseph. Früher war ich Dienerin der Kaiserin, jetzt kommt eine neue Frau an die Macht: Kaiserin Katharina van Flemming. Meiner Meinung nach ist sie eine extrem schusselige Frau, es wird sogar gemunkelt, sie wäre verrückt. Und da ich immer der Kaiserin dienen muss, die gerade an der Macht ist, muss ich ihr wohl oder übel zur Seite stehen. Für die verstorbene Kaiserin Elisabeth habe ich gerademal drei Jahre gearbeitet. Sie war egoistisch und selbstverliebt. Fast immer musste ich ihr Milchbäder zubereiten und alle halbe Stunde ihre Haare kämmen.
Heute ist ein heißer Sommertag und ich kämme der neuen Kaiserin die Haare. Ich denke, dass ich das bei Elisabeth ja wohl mehr als genug gemacht habe und starre nachdenklich auf ihre verfilzten Haare. Die Kaiserin summt schon die ganze Zeit eine Melodie und wiegt ihren Kopf im Takt. Ich bemühe mich ihre Haare durchzukämmen ohne ihr wehzutun. Das ist gar nicht so leicht bei diesem Hin und her. Plötzlich zieht sie ihren Kopf ein Stück nach vorne und im selben Moment höre ich sie: „AUUUU! Kannst du denn nicht aufpassen?! Meine Haare!“ rufen. Ich bin erschrocken. Aber nicht weil ich ihr wehgetan habe, sondern eher weil sie mich bei diesem Fehler, den sie gemacht hat, so anschreit. „Es tut mir leid, Verehrteste… aber ich kann unmöglich ihre wunderschönen Haare kämmen, wenn Ihr euren edlen Kopf bewegt!“ Insgeheim bin ich total genervt von ihr, aber sowas darf man sich als Dienerin nicht anmerken lassen. Was kann ich denn bitte dafür, wenn sie so dumm ist und ihren Kopf bewegt?
„Dann lern es! Und wag es nicht, nochmal an meine Haare zu gehen, bevor du es gelernt hast!“
„Sehr wohl.“
Ich knickse tief und husche dann aus dem Zimmer. Ich bin angeekelt von dieser neuen Kaiserin nochmal aufs Neue. Darüber hinaus habe ich mein Dasein als Dienerin langsam satt. Mir wird mal wieder klar, dass ich das nur mache, weil es meines Vaters letzter Wunsch war, dass ich zu Hofe arbeite. Er ist vor einiger Zeit gestorben an einer schlimmen Krankheit. In seinen letzten Tagen konnte ich ihn kaum noch sehen, denn ich war zu beschäftigt mit der Kaiserin. Doch ein paar Stunden bevor er starb durfte ich noch mit ihm sprechen und er meinte, ich solle meine Stellung als Dienerin bloß nicht aufgeben. So stehe ich nun hier und lasse mich schon von der zweiten egoistischen und selbstsüchtigen Kaiserin herumkommandieren. Ich gehe zügig den Gang entlang. Ich weiß nicht, wohin. Wo lernt man Haare zu kämmen? Auf dem Weg kommt mir Juno entgegen. Sie ist eine meiner Kolleginnen und eigentlich ziemlich nett. Sie hält eine Schüssel mit warmem Wasser in der Hand und huscht schnell in das Zimmer, aus dem ich gerade gekommen bin. Ich murmele ihr noch schnell ein: „Viel Glück mit ihr!“ zu. Sie lächelt mich halb an und meint, dass es schon gut werden wird. Ich werfe ihr einen zweifelnden Blick zu. Plötzlich räuspert sich jemand hinter mir. Ich drehe mich genervt, aber auch leicht verängstigt um, ob es vielleicht die Kaiserin höchstpersönlich ist. Doch es ist nur ein äußerst reich aussehender Schnösel mit Monokel im Auge, der nun mit rauchiger Stimme sagt: „Kaiserin Katharina wünscht, dass Sie Unterricht nehmen!“
„Was? Was soll das denn bitte heißen?“
Ich soll tatsächlich Unterricht nehmen. In meinen Gedanken war das doch nur ein Scherz gewesen und ich dachte eigentlich, die Kaiserin hätte das bis morgen auch schon wieder vergessen. Aber dem scheint wohl nicht so. Dem Schnösel fällt sein Monokel aus dem Auge, überrascht von meinem vorlauten Tonfall, den ich eigentlich unterlassen sollte.
„Nicht in diesem Ton! Kämm-Unterricht, wenn Sie es genau wissen wollen.“
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Kämm-Unterricht. Was für ein Schrott. Ich kann Haare kämmen. Das habe ich drei Jahre lang mindestens 10 Mal am Tag gemacht. Ich hadere damit, ob ich es ihm sagen sollte, aber ich würde erstmal gern wissen, wer dieser Typ eigentlich ist, also bitte ich ihn um Entschuldigung und frage, wer er eigentlich ist.
„Ich bin weit wichtiger als Sie! Also haben Sie sich mir unterzustellen, Madame!“
Genau solch eine Antwort habe ich erwartet.
Ich zucke mit den Schultern, als er mich auffordert, mit ihm zu kommen und gehe hinter ihm her. Er wirft mir noch einen leicht drohenden Blick zu. Was soll´s. Ich gelte eh nicht zu den höflichsten Dienerinnen hier. Er führt mich in einen kleinen Raum, den ich gelangweilt betrete. Dort wurde eine Puppe auf einen Stuhl gesetzt. Sie hat auffällig echtes Haar, nicht so wie die meisten Puppen, die Pferdehaar besitzen, sondern echte Haare von Menschen. Daneben liegen viele Utensilien, um die Puppe, besser gesagt die Haare der Puppe, hübscher zu machen. Ich schaue ziemlich perplex auf die Puppe. Der Monokel-Mann, er ist circa 55 Jahre alt, meint:
„Das ist Ihr Versuchsobjekt“
„Aaaaajaaaa…“
„An irgendwas müssen Sie ja üben, also bitte!“
Ich gehe leicht pikiert auf die Puppe zu und schaue sie mir an. Sie hat kein Gesicht. Nur Haare. Lange, gewellte, verfilzte, fettige Haare.
„Ich brauche einen Lehrer! Allein lerne ich das nie.“
„Natürlich. Ich bin Ihr Lehrer. Ich betrachte genau und berichtige Sie, wenn Sie einen Fehler machen.“
Ich bin etwas gestresst, weil der Monokel-Mann mich stresst. Ich lasse mich auf den Stuhl nieder, der hinter dem Stuhl steht, auf dem die Puppe sitzt und fange an, die Puppe vorsichtig mit einer groben Bürste zu kämmen. Etwas Lächerlicheres kann ich mir nicht vorstellen. Der Mann beobachtet mich von der Seite und nickt mir zu, weil ich anscheinend alles richtig mache. Die Puppe hat dummerweise total Haarausfall und die Haare fallen zu Boden. Ich bin sehr vorsichtig.
„Ich an Ihrer Stelle würde erstmal die Haare waschen!“
„Echt? Dann machen Sie es doch!“
„Das war nur ein Tipp. Aber bitte fahren Sie fort, wie Sie wollen.“
Ich werde langsam wütend und reiße fast an den Haaren der Puppe. Bereits sehr viele Haare liegen auf dem Boden. Ich nehme einfach mal an, dass das nur so ist, weil die Puppe schon so alt ist, dass die Haare nicht mehr halten. Einige der Haare stecken auch in der Bürste, die ich führe. Der Mann drückt einen Knopf an der Puppe und sie fängt an, umher zu schaukeln.
„So geht´s echt noch viel besser!“, sage ich ironisch.
„Ich schaffe nur Lebensbedingungen.“, antwortet er ernst.
Ich schnaube genervt.
„Am besten reißen Sie der Kaiserin nicht so viele Haare aus.“
Ich lache und sage: „Der doch nicht! Obwohl… es hätte schon etwas an sich…rausgeschmissen zu werden.“
„Also ist die Vorstellung für Sie, arbeitslos zu werden, spaßig?“
„Unter gewissen Umständen“
„Bitte widmen Sie sich wieder der Puppe.“
„Sie hat die Hälfte ihrer Haare verloren. Das Problem würde sich ganz von selbst lösen, wenn die Kaiserin sich öfter die Haare waschen würde.“
Er guckt mich herablassend an und sagt wichtigtuerisch: „Dafür sind zufälligerweise Sie zuständig. Und wie ich Ihnen schon am Anfang sagte, wäre es auch besser gewesen so anzufangen.“ Ich gucke auf die halb zerrissenen Haare der Kaiserin und sage dann laut:
„Dann stellen Sie doch eine andere Dienerin dafür ein!“
Er spitzt die Lippen schnöselig und sagt dann nochmal: „Als Ihre Stellung als Dienerin ist es Ihnen untersagt, mir etwas zu befehlen. Ich habe eine höhere Stellung als Sie in der sozialen Welt!“
Ach… wirklich? Das hat er mir bereits gefühlt tausendmal gesagt, aber okay. Ihm gehen wohl die Argumente aus. Das sage ich ihm. Natürlich nicht das mit den Argumenten.
„Kann man ja nicht oft genug erwähnen!“, antwortet er erhaben. Plötzlich regt sich etwas an der Tür. Ich wundere mich und schaue genau hin. Es ist ein blonder Mann mit blau-grünen Augen, jedenfalls sieht es von hier so aus. Er lehnt im Türrahmen und guckt mich nicht direkt an. Er hat einen schwarzen Anzug an mit einer schwarzen Krawatte und einem makellos weißen Hemd. Ein leicht diabolisches Grinsen umspielt seinen Mund. Ich gucke den Monokel-Mann an, um ihn zu fragen, ob er den Mann nicht auch sieht. Denn der Schnösel zeigt noch keinerlei Anzeichen dafür. Dieser guckt nun zur Tür und dann zurück zu mir und fragt verwirrt: „Ist etwas?“
Ich schüttele resolut den Kopf und murmele ein Nein. Der Monokel-Mann guckt weiterhin angestrengt zur Tür, um dort irgendetwas auszumachen. Doch für mich ist es ganz offensichtlich, dass dort der Mann im Anzug steht, der nebenbei bemerkt sehr gut aussieht. Ich sage: “Entschuldigen Sie mich kurz…“ Ich stehe auf und renne fast zur Tür, doch als ich da bin, verpufft der Mann in ziemlich viel Rauch. Ich sehe ihn nicht mehr. Nur noch den Rauch. Er sieht ziemlich reell aus. Ist er aber nicht. Ich fasse vorsichtig in den Nebel, aber es passiert nichts.
„Was tun Sie da??“, schreit der Monokel-Mann mir zu. Mir, der anscheinend verrückt gewordenen, aufmüpfigen Dienerin.
Ich stehe unschlüssig, was ich jetzt machen soll, vor der Tür und starre darauf. Was passiert nur mit mir? Ich bin ziemlich verstreut und blicke aufgeregt um mich. Ist er wirklich weg oder sehe ich ihn bloß nicht mehr? Der Blick des Monokel-Mannes gibt mir den Rest und so murmele ich noch schnell ein: „Ich… muss weg.“, bevor ich endgültig aus dem Zimmer fliehe. Mit meinen Gedanken bin ich noch immer beim mysteriösen Mann, den ich heute zum ersten Mal gesehen habe. Ich mache mich auf den Weg in mein Zimmer. Es ist ein kleines Kellerzimmer. Ich sage immer, wenn mich jemand fragt, dass es so ausgestattet ist wie eine Gefängniszelle. Aber mich fragt so gut wie nie jemand, ich bin ja auch nur die Dienerin, die jetzt auch noch verrückt wird. Ich reiße die Tür zum Zimmer auf und lasse mich auf mein Bett nieder. Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen. Ich halte es bald nicht mehr aus Dienerin zu sein. Warum hat der Schnösel den wunderschönen Mann in der Tür bloß nicht gesehen? Und wer ist er überhaupt? Bekomme ich jetzt wirklich Halluzinationen? Ich komme zu keinem Schluss. Ich hebe mein Gesicht wieder und blicke auf das zweite Bett in diesem Zimmer, das schon länger leer steht. Meine Zimmergenossin ist vor kurzer Zeit entlassen worden. Ich weiß nicht warum, aber die Kaiserin (meine Gedanken werden bitter) hatte wohl ihre Gründe.
Plötzlich geht die schwere Eisentür auf und ein starker Soldat schubst einen jungen, schmutzigen Mann hinein. Er ist von normaler, ein wenig muskulöser Statur und hat kurze blonde Haare, dunkelblaue Augen und einen kühlen Ausdruck in diesen. „Wer ist das?“, frage ich misstrauisch. Schließlich ist es ziemlich ungewohnt für mich, dass ich einfach einen Jungen in meine Zelle gesteckt bekomme. „Das ist Ihr neuer Zimmergenosse.“, antwortet der Soldat kurzbündig. Er geht wieder aus der Zelle und knallt die Tür zur Zelle wieder zu. Der Blauäugige meint, während er mich kühl mustert: „Mein Name ist Ben Soldir.“ „Venus Crowd.“, antworte ich schlicht. Ich mustere ihn meinerseits ebenfalls abschätzend.
„Ich frage mich, seit wann schlafen die Geschlechter gemischt in den Zimmern? Ich meine, das ist doch absurd!“
Er setzt sich auf das Bett auf der anderen Seite des Zimmers, stützt die Ellenbogen auf die Knie und verschränkt die Finger. Dafür beugt er sich ein wenig vor. Er sieht eigentlich ganz gut aus, ist aber ein Nichts im Vergleich zu dem blonden Mann von eben. Er antwortet mir ehrlich: „Die Soldaten mischen jetzt die Geschlechter. Auf Anordnung der Kaiserin.“
Er guckt sich im Zimmer um, während ich versuche, einen Ausdruck zu finden, um die Dummheit der Kaiserin zu definieren. Nach ein paar Flüchen, die mir durch den Kopf gehen, fehlen mir trotzdem die Worte. Ben steht plötzlich auf. Ich ergreife die Chance und stelle klar: „Okay. Es muss aber Regeln geben: Also, kein Anrühren von mir deinerseits, keine müffelnden Klamotten überall verstreuen!“
Er zieht die Augenbrauen hoch. Also ob das, was ich eben sagte für ihn selbstverständlich wäre.
„Ich hatte ehrlich gesagt nicht vor, dich anzufassen oder meine Kleidung hier überall liegen zu lassen. Meine Regeln: Ich möchte nicht eines Tages hier rein kommen und in eine Duft-Parfum-Wolke laufen! Außerdem wird ein Mal pro Tag mindestens (er betont es besonders) gelüftet!“ Wie um seinen Worten Ausdruck zu verleihen, geht er zum kleinen Kellerfenster und kippt es an. Ich finde ihn gut. Lüften beugt Gestank vor. Der denkt mit. Außerdem scheint er reinlich zu sein und darüber hinaus nicht an einer Beziehung oder ähnlichem interessiert. Ich mag ihn. Ich strahle und sage erfreut: „Na du bist wenigstens kein Durchschnittsmann.“
„Liegt vermutlich daran, dass der Durchschnitt mir zu schlecht ist.“, grinst er, „Wie auch immer… müssen wir die Regeln aufschreiben oder schaffst du es, dir die paar Punkte zu merken?“
Er soll sich jetzt mal nicht so aufspielen, sonst überleg ich mir das nochmal, ob ich ihn mögen sollte oder nicht. Aber sein Gehabe ist auch ein wenig anziehend. „Ich denke, letzteres trifft zu.“ Er scheint wirklich erleichtert: „Gut. Eine Verbesserung gegenüber den anderen, mit denen ich schon in einem Zimmer hausen musste, bist du schon mal.“ „Danke gleichfalls.“, sage ich trocken. Er legt sich wieder auf das steinharte Bett und verschränkt die Hände hinter dem Kopf und starrt an die Decke. Nach einigen Sekunden sagt er noch schnell: „Ach, und wenn du schnarchst, fliegst du raus.“ Ich lache über diese Anmerkung, die absolut unnötig war, weil er mich eh nicht von hier vertreiben kann. Er grinst, weil er das genau weiß. Ich gucke an die Uhr an der Wand. 17:00 Uhr. „Hast du eine Idee, warum die Kaiserin die Geschlechter in den Zimmern mischt?“
„Kein Plan. Aber die hat eh nicht mehr alle Latten am Zaun!“ In seinem Tonfall schwingt eine Nachfrage, ob ich das nicht genauso sehe. Und, ja! Ich sehe das genauso. Zum Glück, ein Gleichgesinnter! Ich erzähle ihm die Geschichte mit der Puppe, der ich die Haare kämmen sollte. Er schnaubt und erzählt mir seinerseits eine Geschichte von sich, als er ihr ein Kleid aussuchen sollte. (Wer lässt schon einen Jungen das Kleid aussuchen?) Allerdings fand sie seine Wahl so schlecht, dass sie ihn zu dem Schnösel, der, wie ich nun erfahre, Dormian heißt, schickte. Er beschreibt ihn als arroganten Mistkerl, also denke ich mal, das ist der mit dem Monokel. Dormian heißt der Trottel also… Er beendet seine Geschichte mit einer Verfluchung für die Kaiserin. Mir fällt plötzlich etwas ziemlich Wichtiges ein: „Hast du hier eigentlich schon mal einen Mann mit halblangen, blonden Haaren und einem schwarzen Anzug gesehen?“ Er verneint und fragt mich, wieso und vor allem wo. Ich sage ihm nachdenklich: „Ich hab ihn gesehen. In dem Raum, wo die Puppe saß.“ Ben überlegt und starrt dann weiter zur Decke, schüttelt den Kopf und antwortet: „Nie gesehen.“
„Ich hoffe doch sehr, dass ich ihn bald wiedertreffe. Ich will wissen, wie man sich in Luft auflösen kann.“ Ich denke an den Rauch zurück, der mich immer noch ziemlich irritiert. Er grinst mich an und fragt: „Wenn du es herausgefunden hast, verrätst du es mir dann auch? Wenn ich dann noch da bin…“ Was meint er damit? Glaubt er, er wird bald sterben? Oder befördert bzw. degradiert? Am liebsten würde ich fragen, aber irgendwie ist mir der Gedanke am nächsten, dass er abhauen will. Er scheint ein kleiner Rebell zu sein. Ich murmele: „Möglicherweise.“
In diesem Moment stößt ein weiterer Soldat die Eisentür auf, aber ich erschrecke mich diesmal nicht bei dem Geräusch, das die Tür verursacht. Ben schwingt die Beine von seinem Bett und setzt sich grade auf das Bett. Der Soldat brüllt: „Crowd! Sie wurden zum Küchendienst degradiert! Soldir! Auf sie wartet die Baustelle!“
„Das ist doch jetzt nicht Ihr Ernst! Ich lasse mich doch nicht von einer Kammerzofe zur Kartoffelschälerin zurückstufen!“ Ich bin aufgebracht. Nur weil ich angeblich nicht Haare kämmen kann, oder was?! Nicht zu fassen! Ich war die letzten 5 Jahre nicht einmal in der Küche gewesen! Ich wechsele normalerweise zwischen Bedienung und Zofe. Aber den Abwasch musste ich noch nie machen! Ben scheint es gewohnt, dass er auf die Baustelle muss. Er sagt nichts dazu. Der Soldat wirft mir die weiße Küchenbekleidung hin und antwortet immer noch brüllend: „Das müssen Sie aber scheinbar! In zwei Minuten sind Sie an der Küche anzutreffen!“ Der Soldat verlässt das Zimmer ohne die Tür nochmal zu schließen.
„Das lasse ich nicht mehr lange mit mir machen.“, diese Antwort kommt nicht etwa von mir. Obwohl ich mich genauso fühle. Ben steht auf und geht hitzig zur Tür. Also lässt es ihn doch nicht so ganz kalt. Mein Gleichgesinnter ist mir ähnlicher als ich dachte. Er setzt an, sich zu verabschieden, doch ich rede ihm einfach dazwischen: „Wir hauen ab.“ Er dreht sich nochmal zu mir um und guckt mich abschätzend an. Er fragt sich vermutlich, ob er mir vertrauen kann und ob ich es wirklich ernst meine. Und das kann ich bestätigen. „Von mir aus immer.“, sagt er offen. Ich grinse überlegen und mache keine Anstalten, die Kleidung anzuziehen. „Jetzt?“, fragt er überstürzend. Ich bin erst einmal geplättet. Er meint es ernst. Er will einfach so mit mir, einer im Prinzip völlig Fremden abhauen. Der hat vielleicht Nerven. Aber ich bin dabei, warum auch nicht? Was hab ich schon zu verlieren? „Hast du einen Plan?“, frage ich ihn interessiert.
Er beginnt euphorisch: „Ich habe… nein, ich hatte einen, bis mein hirnamputierter Zimmerpartner ihn entdeckt hat.“ Sein Tonfall wird immer bitterer. Dieser Zimmergenosse, von dem Ben immer spricht, scheint sowas von inkompetent zu sein, das ich gar nicht verstehen kann, warum er überhaupt im Schloss arbeiten darf.
„In dem Fall müssen wir uns einen Neuen überlegen.“
„Heute Abend hat jeder von uns einen.“ Er öffnet die Tür und läuft zur Arbeit auf der Baustelle im Vorhof. Ich bin noch mächtig am Überlegen, als ich in Küchenkleidung stehend in der Küche ankomme. Allerdings nicht wegen des Plans. Als ich gerade auf dem Bett saß und Ben vielleicht seit ein paar Sekunden weg war, da stand wieder der blonde Mann im Türrahmen und betrachtete mich aufmerksam, so wie auch ich ihn diesmal näher ansah. Doch seine Gestalt kann nicht beschrieben werden. Er ist von solch einer übernatürlichen Schönheit. Ich hatte mich erschreckt und bin zusammengezuckt. Aber in diesem Moment riss jemand die Tür auf und der Mann löste sich wieder in Rauch auf. Egal wer jetzt reinkommt, er ist ein blöder Mistkerl! dachte ich. Es war der Soldat von eben, er packte mich am Genick und zog mich in die Küche, wo ich jetzt stehe und darüber nachdenke, ob ich irgendwann mal die Chance bekomme, ihn länger als drei Sekunden zu sehen.
In der Küche an der Spüle steht ein junger Mann mit schwarzen, verstrubbelten Haaren und rehbraunen Augen. Er dreht sich zu mir um und sagt: „Ich bin dein Arbeitspartner für die nächsten Tage: Mark Kusikowa.“ Der Soldat lässt mich mit ihm allein. Ich mustere Mark eingehend. Er fährt fort: „Ich arbeite hier schon seit zwei Jahren und warte darauf, dass ich eine Beförderung bekomme! Bisher vergeblich. Du kannst damit anfangen, die Trauben zu waschen.“ Als ob es mich interessiert, dass er noch nicht befördert wurde. Wird schon einen Grund haben. Vielleicht denkt die Kaiserin ja, dass er eine zu schlaksige Gestalt hat, um sich in der Öffentlichkeit zeigen lassen zu können. Mein Lächeln schwindet augenblicklich, aber Mark hat wohl irgendeinen guten Grund, um zu lächeln, obwohl er noch nicht befördert wurde. Hoffentlich ist er nicht ein immer gut gelaunter Kerl, den nichts irgendwie aus der Bahn wirft. Ich mache mich an die Arbeit, während er die Kartoffeln schält. Wenigstens wasche ich bloß das Obst, Kartoffeln schneiden kann ich garantiert nicht mehr. Aber jetzt muss ich mir erst einmal einen Plan überlegen, sonst stehe ich vor Ben ziemlich bescheuert da. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, zu fliehen?“, frage ich ihn abwägend. „Daran denkt doch jeder irgendwann mal, oder?“ Keine klare Antwort, aber er würde es sicherlich nicht ablehnen von hier weg zu kommen. Mitnehmen würde ich ihn aber nicht gern, er scheint tollpatschig und nervig zu sein. Ich frage geschickt: „Ben… und ich wollen es in die Tat umsetzen.“ Ob er wohl Ben kennt? Mark lässt das Messer in die Schüssel voll Kartoffeln fallen und dreht sich überdreht zu mir um. Dann sagt er aufgebracht, aber irgendwie mit einem albernen Unterton: „Das schafft ihr doch eh nicht! Ich kenne den! Große Klappe, nichts dahinter! Ich war mal sein Zimmergenosse!“ Ach so. Deshalb also die ganzen spitzzüngigen Bemerkungen über Ben. Ich dachte für einen klitzekleinen Moment wirklich daran, dass Ben wirklich so ein Aufreißer sein könnte. Das wäre schade gewesen, ich hätte es toll gefunden einen Seelenverwandten oder zumindest sowas ähnliches zu haben. Und als Mark mir sagt, dass er Bens Zimmergenosse war, da glaube ich doch lieber Ben, dass Mark ein Blödmann ist, was ich ja auch schon zu spüren bekomme. Armer Ben, Mark schnarcht bestimmt. „Möglicherweise warst du ja derjenige, von dem Ben so abwertend gesprochen hat.“
„Was hat er denn so erzählt?“
„Er sprach von einem Hirnamputierten, der seinen Plan vereitelt hat.“, antworte ich bereitwillig. „Also hör mal! Hirnamputiert bin ich nicht. Aber ich habe mal seinen Plan vereitelt, weil er böse zu mir war, weil ich ihm… einen Streich gespielt hab. Ich hab seine Regeln missachtet.“ Ich sage gespielt schockiert: „Oh oh, das hat er gar nicht gerne!“ Ich verschweige Mark besser, dass ich Ben erst ein paar Minuten kenne und mir deshalb eigentlich noch kein Bild von ihm machen kann. „Das weiß ich jetzt auch.“, meint Mark während er die Kartoffeln auf einen Beistelltisch stellt. Ich wasche weiterhin das Obst. Nach einigen Minuten bin ich endlich fertig und Mark „schenkt“ mir eine Pause. Höchste Zeit wie ich finde, meine Haut wird schon faltig! Ich frage mich, was man in der Pause hier so macht oder ob man hier irgendwas machen muss. Doch da ich nicht bereit bin, in meiner Pause irgendwas zu machen, setze ich mich auf den nächstbesten Karton und überlege mir einen Fluchtplan für Ben und mich. Ich frage mich… ob man aus einigen Sachen hier nicht eine hochexplosive Mischung zaubern könnte. Die könnte ich dann zünden und schon wären wir weg. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt, dass das meine Wunschvorstellung war, trotzdem hielt ich daran fest, dass es klappen könnte. So könnten zumindest die Wachen abgelenkt werden. Ich war gerade am Überlegen, ob Chili zünden könnte, wenn ich es lang genug rieb, als Mark zu mir herüberrief: „Kommst du mal kurz?“ Er stand immer noch am Herd und bereitet aus vielen Zutaten haufenweise Essen zu, ich fragte mich, wieso so ein Trottel das kann. Aber vermutlich muss jeder irgendwas können. Ich gehe langsam zu ihm rüber. Ist meine Pause etwa schon vorbei? „Morgen werden wir ein Festmahl zubereiten. Dort brauche ich deine Hilfe!“, meint er bestimmt. „Och nee, kannst du das nicht allein?“, fragte ich. Aber eigentlich brauchte es mich nicht zu interessieren, immerhin bin ich morgen vielleicht schon nicht mehr da! Trotzdem wäre ich nicht erpicht darauf, so viel zu kochen, das war noch nie meine Stärke. „45 Mahlzeiten, davon allein 30 warm. Das kann ich nicht allein!“, klärt er mich auf. Ich bin in Gedanken immer noch in meinen Plan hier wegzukommen versunken und frage: „Ist da auch eine hochexplosive Mischung dabei?“ Im nächsten Moment hätte ich es am liebsten zurückgenommen. Wie kann ich bloß so doof sein und meinen Plan verraten! Nicht zu fassen. „Damit ich den Männern und Frauen den Mund zersprenge?“ Ich sage gereizt von meiner Dämlichkeit und gewillt, alles nur noch schlimmer zu machen: „Oh Mann! Aus welchen Zutaten stellt man denn eine her?“ Er guckt mich verständnislos an, in seinem Hirn ratterte es. Als er keine Antwort darauf findet, dass ich sowas Hirnrissiges frage, meint er nachdenklich: „Wenn ich eine bräuchte, würde ich es mit Chili probieren.“ Toll, soweit war ich auch schon gekommen. „Und noch?“, fragte ich gespannt, er gab mir immerhin Antworten. Mark meint: „Chili… und scharfe Gewürze, bloß kein Wasser.“ Was für ein Schlaukopf, wenn es funktionieren würde, wäre es ein Wunder. Ich sage erfreut: „Danke“ und gehe zur Vorratskammer. Das war so abwegig, dass es schon wieder möglich war. Glaube ich zumindest. Ich nehme Chili, Pfeffer, Curry und allerhand Scharfes aus dem Regal und mische alles zusammen, keine Ahnung zu was das führen sollte. Es wird jedoch langsam dunkel und Mark verkündet mir, dass ich Arbeitsschluss hatte. Also nehme ich die Schüssel mit der hoffentlich explosiven Mischung unauffällig mit, verabschiede mich und begebe mich in mein Zimmer.
Dort steht Ben. Oberkörperfrei vor dem kleinen Waschbecken und wäscht sich gerade den Staub der Baustelle vom Gesicht. Kein Gramm Fett an seinem Körper. Er sieht schon irgendwie ziemlich gut aus. Ich reiße meinen Blick los und sage grinsend: „Na, hat´s Spaß gemacht?“ Als er mich sieht, nimmt er sein graues Handtuch vom Bett und trocknet sein Gesicht ab, bevor er antwortet: „Ich bin froh, wenn ich hier weg bin.“ Ich auch, glaub mir. Er hat sich immer noch kein Hemd angezogen. Um keine unangenehmen Spannungen entstehen zu lassen, zeige ich ihm stolz die Schüssel mit dem Gemisch. Er beäugt es misstrauisch und nimmt die Schüssel in die Hand. Als er wieder aufguckt, fragt er plump: „Was ist das?“ „Unser Weg in die Freiheit.“, antworte ich ihm. „Eine Mischung aus ein paar Zutaten, die in der Nase wehtun, verrätst du mir deinen Plan?“ Ich erzähle ihm davon, wie ich die Wachen außer Gefecht setzen will. Nachdem ich geendet hatte, sah er mich abschätzend an und murmelte: Kannst du reiten?“ Ich hatte eher mit einer Art Lob oder vielleicht Verspottung gerechnet, also antworte ich verdutzt: „Ja, etwas.“ Er zieht sich die Schuhe an und wirft mir dabei einen nichtssagenden Blick zu: Mir wäre es lieber, schnell hier weg zu kommen. Außerdem erschöpfen Pferde nicht so schnell.“, meint er nur. Mir schwant, dass sein Teil des Plans ist, dass wir mit Pferden durch das Stadttor reiten wie zwei stolze Krieger. Sofern es klappt. „Das ist gut. Wie willst du an die Pferde herankommen?“, frage ich ihn interessiert. Er antwortet mit einem leichten Anflug von Ironie: „Ich habe einen guten Draht zum Stallburschen.“ Ich nicke abwesend und er grinst, als er seine Schuhe gebunden hat. „Endlich komme ich hier weg.“, murmelt er schon halb triumphierend. Er glaubt wirklich daran, dass es funktioniert, obwohl der Plan zum Scheitern verurteilt ist. Aus meinen Gedanken, meinen Vater betreffend, aufwachend sage ich: „Warum bin ich nur jemals dem Wunsch meines Vaters gefolgt?“
„Dein Vater hat von dir verlangt, eine Dienerin zu werden?“ Ich erzähle ihm die Geschichte von meinem toten Vater. Daraufhin sagt er nichts, vermutlich weiß er nicht, was er sagen sollte. Er geht zum Schrank, nimmt sich ein Hemd heraus und knöpft es zu. Dann fragt er: „Bereit?“ Ich nicke und er sagt: „Dann komm! Und nimm diese Bombe mit!“
Ben brüllt: „Timothy?!“
Vor circa zwei Minuten waren wir beim Stall angekommen. Wir waren den Weg dahin fast gerannt, so eilig hatten wir es. Aber rennen war auf den Korridoren streng verboten, weshalb dies ziemlich auffällig gewesen wäre. Wohingegen Eilen nicht gerade was Neues für die Dienerinnen war. Es ist 19:55 Uhr. Nach der Uhr, die im Stall steht. Das Echo von Bens Ruf hallt durch den Stall und ein kleiner Junge kommt angerannt. Er sieht ziemlich eingeschüchtert aus. So viel zum Thema „guter Draht“. „Hol mir sofort deine zwei besten Pferde! Los!“ Timothy rast los, obwohl er eigentlich keine Pferde der Kaiserin einfach so an Bedienstete abgeben durfte, machte er bei Ben anscheinend eine Ausnahme. Ich grinse Ben an und sage: „Ein Junge, wie praktisch.“ Ein Erwachsener hätte das nie gemacht. Bevor Ben auch nur mit dem Mundwinkel zucken kann, ist Timothy wieder da und treibt zwei wunderschöne, schwarze Araber auf uns zu. Ich frage mich, ob es nicht zu offensichtlich ist, dass dies Tiere der Kaiserin sind, aber momentan bewundere ich hauptsächlich ihre Schönheit. „Niemand wird hiervon erfahren oder ich schwöre dir, ich komme zurück, nur um dich zu töten!“, zischt Ben ihm noch kaltherzig ins Ohr. Aber so läuft das nun mal, wenn man Diener der Kaiserin ist und der Kleine ist es sicherlich gewohnt, angezischt zu werden. Ich bekräftige Bens Worte durch einen giftigen Blick und Timothy nickt schnell. Sofort besteigt Ben das Größere der beiden Pferde und sagt nebenbei: „Auf Nimmerwiedersehen, du Feigling!“ Ich besteige derweil das andere, indem ich mich elegant hochziehe. „Wie willst du das Ding zünden?“, fragt Ben plötzlich. Darüber hatte ich leider noch nicht wirklich viel nachgedacht. „Mit Streichhölzern?“, gab ich ihm fragend die Antwort. Er guckt mich hochnäsig an und meint ein wenig spitz: „Ich sehe hier leider keine Streichhölzer.“ Ich seufze und sage verdrießlich: „Dann eben Holz oder so.“ Ben guckt vom Pferd hinab auf den Kleinen und scheucht ihn los, um uns eine Fackel zu holen. Timothy verschwindet. Ich frage Ben, weil es mich gerade unwahrscheinlich interessiert: „Warum bist du eigentlich Diener geworden?“ Er guckt mich durchdringend an und sagt dann ausweichend: „Dumme Eltern.“ Ich nicke. Ungefähr so ähnlich wie bei mir, obwohl mein Vater nicht dumm gewesen war und da er schon tot ist, werde ich ihn nicht blöder darstellen als er es ist, obwohl ich seine Entscheidung mich zur Dienerin zu machen verachte. Eigentlich war es ja meine Entscheidung… In diesem Moment kommt Timothy zurück und hält Ben die Fackel hoch. Dieser reißt ihm die Fackel ungeduldig aus der Hand und ruft: „Auf geht´s!“
Ich stoße dem Pferd fast schon schmerzhaft - also für das Pferd - die Hacken in die Seiten und es rennt sofort los. Ben jagt mir mit dem anderen Araber hinterher. Wir brechen die Tür zum Stall auf und reiten in Richtung Eingangstor. Sofort stellen sich uns Wachen in den Weg. Sie sind nicht zu Pferd unterwegs, sondern absolvieren ihre Patrouille in kleinen Gruppen direkt vor dem Tor. Ben hält die Fackel zu mir und ich zünde das Pulver irgendwie an und schmeiße es auf die Soldaten, sodass sie hoffentlich getroffen werden. Aber noch mehr hoffte ich, dass das Pulver überhaupt explodierte und wenn nicht, dann hatten die Soldaten immerhin was zu gucken. Doch zu meinem Glück gibt es eine kleine Explosion, die eigentlich nur aus roten Rauch, der vermutlich in den Atemwegen brennt, besteht, doch diese hält einen Großteil der Soldaten geschickt auf und wir reiten wie zwei Helden durch das geschwungene Eingangstor mit den kunstvoll verzierten Eisentüren. Wir haben absolut freie Bahn. Als manche Soldaten es doch noch einmal wagen, sich uns in den Weg zu stellen, treten unsere Pferde sie nieder und sie liegen blutend am Boden. Ben treibt sein Pferd so gut es geht durch die Menschenmasse, doch sie haben keine Chance gegen uns zumal sie die Pferde der Kaiserin nicht töten oder verletzen dürfen. Anordnung der Kaiserin. Ben brüllt über den Lärm und die Soldatenmasse hinweg: „Was noch interessant wäre, wo wollen wir eigentlich hin?“ „Erstmal egal! Hauptsache weg!“, schreie ich zurück. „Dieser Meinung bin ich auch.“, ruft er grinsend und wir galoppieren weiter. Immer geradeaus. Ich riskiere keinen Blick zurück, wieso auch?
Als die Strecke sich verändert und etwas holpriger wird, zügele ich mein Pferd und Ben scheint dies auch zu tun. Gerade in diesem Moment fliegt ein unbekanntes Flugobjekt, das ich schnell als Flughörnchen klassifiziere, nah an den Nüstern von Bens Araber vorbei und es bäumt sich auf. Ben kann sich anscheinend gerade noch so halten! „Pass auf!!!“, schreie ich panisch. Ich kann jetzt keinen Verwundeten gebrauchen und vor allem ist Ben eine gute Gesellschaft, nicht opferungswürdig genug, um von einem Pferd zertreten zu werden. Als sich das Pferd wieder beruhigt hat und mit allen Vieren auf dem Boden steht, sagt er galant: „Was denkst du, mache ich hier gerade?“ Ihm ist also nichts passiert. Glück für ihn. Ich murmele beleidigt: „Was soll ich denn sonst sagen? Fall runter oder was?“ Er lacht und merkt, dass dies vermutlich nicht hilfreicher gewesen wäre. Wir reiten also einfach weiter, Trab reicht fürs Erste. Bis mir auffällt, dass Ben angestrengt auf eine Stelle guckt. Hoffentlich nicht der blonde Mann, den möchte ich jetzt am allerwenigsten sehen. Warum auch immer. Ich versuche die Stelle auszumachen, sehe aber nichts. Ben blinzelt zweimal und fragt: „Siehst… siehst du das auch?“ „Hä? Was denn?“, frage ich, als wäre er der einzige, der manchmal komische Gestalten sehen kann. Aber der Mann war dort nicht, sonst hätte ich ihn sicherlich erkannt. Er schnaubt und guckt mit Absicht weg, ich bewundere heimlich, dass er es schafft einfach wegzugucken. „Ich und Halluzinationen… so tief muss man erstmal sinken.“, sagt er verächtlich. Ich bin nicht froh, dass er das für so schlimm ansieht. „Ich… habe auch Halluzinationen.“, stelle ich ihn klar. Er wendet sich mir zu und zieht die Augenbrauen hoch. „Wie sehen deine aus?“ Ich antworte: „Ein Mann. Im schwarzen Anzug. Er hat blonde Haare, aber das habe ich dir glaube ich schon einmal erzählt.“ „Das ist deine Halluzination? Bei mir ist es anders.“, flüstert er. Sofort frage ich nach, wie. Er antwortet: „Eine Frau. Sie ist zwar irgendwie total hässlich, aber trotzdem anziehend und faszinierend. Ich hab sie noch nie zuvor gesehen.“ Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, mir ans Kinn zu tippen und murmele ein: „Interessant“. Ich habe den Mann auch nie zuvor gesehen. Was ist bloß los mit uns? Können alle Menschen plötzlich Halluzinationen haben und Menschen sehen, die nicht da sind? „Wenn ihr wüsstet.“, ertönt es plötzlich dunkel hinter mir. Ich erwarte eigentlich, dass es Ben ist, obwohl er neben mir reitet, sehe aber, dass sein Blick starr geradeaus geht und gucke deshalb blitzartig nach der Stimme hinter mir um. Auf einem Baum sitzt meine Halluzination und grinst hämisch. Er schlenkert nicht mit den Beinen, sondern sitzt nur mit blitzenden Augen auf dem Ast und beobachtet uns. Ich rufe: „Halt, nicht wieder verschwinden!“ „Hatte ich nicht vor.“, antwortet er. Aus irgendeinem Grunde habe ich das Gefühl, dass er nicht ganz die Wahrheit sagt, aber ich konnte mir das nicht erklären, also glaubte ich ihm. Aus dem Augenwinkel sehe ich Ben, wie er uns interessiert zusieht. Allerdings auch ein wenig zweifelnd. Immerhin sieht er ja nur mich und nicht den Mann im Anzug. Ich gebe ihm überflüssigerweise zu verstehen, dass ich die Halluzination sehe und er nickt. Der Mann lacht wieder. „Hör auf, so dumm zu lachen, Hirngespinst!“, brülle ich zum Baum hin. Sein Lachen ist unwiderstehlich schön, aber ausgelacht zu werden war noch nie etwas, was mir gut gefiel. Der Mann schnaubt verächtlich und springt behände vom Baum. Ob ich ihn jetzt sauer gemacht hatte? Er meint, während er auf mich zugeht: „Ach Venus, du bist so unwissend.“ Dann verpufft er, wieder einmal. „Hey!“ Ich halte völlig hilflos mein Pferd an und Ben tut es mir nach. Er fragt, was die Halluzination gesagt hat, aber ich antworte nur wütend: „Er hat versprochen, er würde nicht verpuffen und dann ist er verpufft!“ „Wir werden trotzdem noch beobachtet. Ich spüre einen Blick.“, raunt Ben geheimnisvoll. Ich flüstere zurück: „Was? Wo?“ Ich glaube, ich werde langsam paranoid. Das ganze macht mir ganz schön zu schaffen, besonders, weil der Mann nie lang genug bleibt, um ihm eine Frage stellen zu können. Ben schüttelt nur den Kopf, zum Zeichen, dass er nicht antworten wird und schaut sich um. Ich schaue frustriert in dieselbe Richtung. Plötzlich stolpert jemand aus dem Unterholz und bevor ich auch nur ein Fitzelchen sehen kann, stöhnt Ben genervt auf und sagt zornig: „Nicht der!“ und sofort weiß ich, um wen es sich handeln muss. Mark. Dieser lächelt nun schwach und sagt jugendlich: „Ich konnte nicht widerstehen.“ Ich schlage mir entnervt die Hand vor die Stirn. Der hat uns gerade noch gefehlt. Nichts als Mist in der Birne, aber sich rausnehmen, uns zu folgen. Er meint beleidigt: „Was?! Ich wollte auch entkommen!“ „Warum bist du nicht geblieben? Du hättest eine gute Chance auf eine Beförderung – unsere Stellen sind ja jetzt frei.“ Ben lacht leise im Hintergrund. Mark jedoch zuckt nur mit den Schultern und murmelt: „Weiß nicht.“ Nach kurzem Schweigen sage ich: „Jedenfalls… musst du wenn dann bei Ben aufs Pferd steigen.“ Ben macht große Augen und ist empört: „Kommt nicht in Frage! Ich lasse doch nicht diesen Trottel zu mir aufs Pferd.“ „Denkst du ich?“, frage ich noch empörter. Ben grinst über mein temperamentvolles Verhalten. Mark merkt an: „Also… ich würde auch nicht zu diesem Lügner aufs Pferd steigen!“ „Dann hast du Pech gehabt.“, stelle ich für ihn fest und reite weiter, damit er ja nicht auf die Idee kommt, aufs Pferd zu springen oder sowas. „Komm schon, Venus, ich begrabsche dich auch nicht!“ Ich seufzte genervt. Das war ja wohl kein Argument, aber ich wollte endlich weg von hier und da Ben es niemals zulassen wird, dass Mark zu ihm kommt, nehme ich ihm das ab und sage: „Aber an der nächsten geeigneten Stelle setze ich dich ab!“ Er rennt doch tatsächlich auf das gute Pferd zu und springt hinter mir drauf. Hab ich´s doch gewusst, dass er das machen würde. Er quetscht ein „Danke“ zwischen seinen gelben Zähnen hervor und im nächsten Moment stellt sich mir und sicherlich auch ihm die Frage, wo er anfassen soll. Ich sage schnell: „Irgendwo am Sattel!“, und hoffe seine Gedanken somit erraten zu haben. Er antwortet: „Dann falle ich aber!“ Ben kriegt auf seinem Araber beinahe die Krise und massiert sich die Schläfen. Ich verliere auch langsam die Nerven, so dumm kann kein normaler Mensch sein, und sage laut: „Dann halt dich einfach irgendwo fest!“ Nun drückt er mir doch tatsächlich die Hände auf die Schultern, sag mal, geht´s noch?! Ich gebe frustriert auf und sage: „Okay. Um die Hüften.“ Er ist scheinbar erfreut, diese … Diskussion gewonnen zu haben und schlingt die Arme um mich. Ahhh, ist das unangenehm. Ich beneide Ben um sein alleiniges Sitzen auf dem Pferd. Ich verziehe den Mund und presche los, wild entschlossen so schnell wie möglich einen geeigneten Ort zu finden, wo ich ihn absetzen kann. Ben, ein paar Zentimeter hinter mir murmelt etwas von: „Dummes Schwein.“ Und ich muss ihm nickend zustimmen. „Vielleicht wird er ja noch dein Freund.“, grinst er, während er glatt an mir vorbei reitet und sich an die Spitze setzt. Ich brülle fassungslos zurück: „Hallo? Hast du ein Problem?!“ „Bisher dachte ich eigentlich, ich hätte keines.“ „Da hast du dich aber mächtig geirrt!“ Er lacht nur. Ich möchte gerade zu einem weiteren Satz ansetzen, als Mark sich dumm wie er ist zu Wort meldet: „Hallo?“ Ich atme tief durch und sage zwischen zusammengebissenen Zähnen: „WAS?“ Kann er nicht einfach ruhig sein? „Ich wollte nur meine Stimme testen.“, sagt er verlegen. „Halt die Klappe! Das kannst du auch später noch machen, wenn du allein bist!“, fauche ich. Ben guckt zu uns und sagt ein wenig verachtend: „Du hast dich kein Stück verändert, immer noch das kleine Arschloch von früher.“ Ich schaue verbissen auf den Weg vor mir. Wie kann ein Mensch… Ach ich gebe es auf, zu verstehen, wie ein Mensch so dumm sein kann. Mark ist halt einer von der ganz hartnäckig beschränkten Sorte. Da kann man nun mal nichts machen.
Hauptsächlich nervige Minuten vergehen. Mark hat es gewagt, mir ins Ohr zu pfeifen. Als ob ich noch mehr Gründe bräuchte, um ihn nervig und dumm zu finden. Ich schrie ihn an, er solle endlich seine verfluchte Klappe halten und dass er ansonsten runterfliegen würde. Doch er scherte sich nicht wirklich darum und nervte mich weiterhin. Fast hätte ich ihn wirklich runtergeschmissen, aber dazu bin ich irgendwie nicht gekommen. Mark hat es dann immerhin doch noch geschafft, zu schweigen und ich war befriedigt. Nun merke ich nach und nach, dass mein Pferd am Bauch ganz nass wird. Was das wohl ist? Ich interpretiere es mal als Schweiß. „Der Gaul kann nicht mehr. Sind wir bald in der nächsten Stadt?“ Ben stellt sich kurzerhand auf sein Pferd, als hätte er nie was anderes gemacht, als auf trabenden Pferden zu balancieren und nicht runterzufallen. Er meint abwägend: „Noch ein paar Meilen.“ Mark seufzt hinter mir, aber ich versuche es nicht weiter zu beachten. Stattdessen merke ich, wie mein Pferd immer nasser wird. Was ist das denn?! „Okay, das schafft er noch.“, vermute ich. „Natürlich schafft er das noch!“, mischt sich der nervige Typ hinter mir ein. Das Pferd scheint wirklich nicht viel erschöpfter als jenes von Ben. Aber meins ist feucht und Bens nicht… Bei mir sitzt eine Nervensäge hinten drauf und bei Ben nicht. Das ist-.
Plötzlich vernehme ich diesen durchdringenden Geruch. Ich rieche vorsichtig an meinem Pferd und sofort durchzuckt es mich wie ein Blitz, was passiert sein musste. Ich drehe mich wutschnaubend um, befinde, dass er es jetzt wirklich übertrieben hat und schmeiße Mark heftig vom Pferd, ohne selbst herunterzufallen. Er knallt zu meiner Befriedigung hart auf den Boden und zunächst bleibt ihm die Luft weg. Als er wieder die Möglichkeit hat, zu sprechen, sagt er laut: „Hey! Wofür war das denn?“ Ich antworte ihm nicht, wieso sollte ich auch. Er weiß ganz genau, was hier falschgelaufen ist und presche weiter. Ben versteht noch nicht. Er fragt: „Wofür war das?“ Er scheint mäßig belustigt. Nach kurzem Überwinden schildere ich ihm kurz, dass Mark mir aufs Pferd gepinkelt hat. Argh, das ist so ekelhaft. Am liebsten würde ich zu Ben aufs Pferd springen, aber ich sehe ein, dass das blöd wäre. Außerdem ist die nächste Stadt nicht mehr weit entfernt. Ben legt die Stirn in Falten und verzieht angeekelt das Gesicht. „So ein… Wie kann man bloß so sein?“ Ich schüttele bloß denn Kopf. Ich weiß auch keine Erklärung. Möglicherweise hätte ich angehalten, wenn er mich drum gebeten hätte, aber es wäre mir an seiner Stelle nie eingefallen, einfach drauflos zu pinkeln. Widerlich! Da hätte ich mich ja noch lieber vom Pferd gestürzt, als danach als der Trottel überhaupt dazustehen. Aber dieses Peinlichkeitsempfinden hat Mark wohl nicht. Die Stadt kommt langsam in Sicht, endlich!
Ein Mann in höchst edlen Klamotten, der am Straßenrand steht, verkündet uns, dass wir in zwei Minuten das Stadttor von Pra Desch passieren werden. Endlich, hoffentlich fällt ihm nicht auf, dass mein Pferd streng riecht und feuchtes Fell hat. Und das musste diesem armen Tier, diesem Araber angetan werden. „Pra Desch ist das Paradies für Händler und Kaufmänner. Allerdings auch ein willkommener Ort für Diebe, also nehmt euch in Acht. Wenn ihr irgendwelche Fragen habt oder euch nach dem Weg erkundigen wollt, das Stadtcenter ist neben dem Glockenturm. Willkommen in Pra Desch!“ Aha. Anscheinend ein Standardtext, den er jeden Tag sagt. Muss ja auch irgendwann langweilig werden, oder? Ich sage bemüht freundlich: „Danke.“ Wir reiten die rund zwei Minuten in Richtung Stadt und als wir das Tor passieren, bietet sich uns ein atemberaubender Anblick. Noch nie zuvor war ich woanders gewesen, als im Schloss und in meinem Heimatdorf, Taip-Manoo. Eben genanntes Dorf war wirklich winzig gewesen und nicht erwähnenswert und überhaupt total unbekannt. Aber Pra Desch ist unsere Hauptstadt und deshalb ist das Schloss auch sehr nah an Pra Desch gebaut worden. Das Stadtzentrum ist sehr überfüllt und überall sind Stände der Händler. Vermutlich ist heute Markt oder es ist einfach immer so. Sie verkaufen Schmuckstücke und Kleidung, aber auch Lebensmittel, schwer zugängliche Stoffe, die wirklich sehr teuer sind. Auch Musikstücke auf Platten oder ähnlichem werden hier verkauft. Natürlich auch dazu passende Abspielgeräte. Einfach alles, was man zum Leben mehr oder weniger braucht. Geschäftiges Tummeln und keine Pferde. Na gut, schon. Aber nur zum Verkauf. Anscheinend kommen alle Leute hier mit Kutschen, die wieder wegfahren oder verkaufen ihre Pferde einfach hier. „Freiheit, hoffentlich ohne weitere Halluzinationen.“, flüstere ich Ben zu. Dieser geht nicht weiter darauf ein und sagt stattdessen beschäftigt: „Sie werden sicher nicht nach uns suchen, aber falls doch sollten wir uns erstmal tarnen. Andere Kleidung und so weiter!“ „Wir haben aber kein Geld. Es sei denn, du hast welches aus dem Schloss mitgehen lassen.“ Auch wenn ich ehrlich gesagt nicht wüsste, wie. Immerhin ist die Kaiserin nicht so dumm, dass sie überall ihr Geld rumliegen lässt. Obwohl das toll wäre. Und Lohn kriegt man nicht viel. Und mein Lohn liegt momentan unter meinem Kopfkissen in einem kleinen Säckchen. „Ich hatte vor, die Sachen zu klauen. Aber wenn du lieber am Straßenrand betteln willst oder für immer in diesen Klamotten versauern willst, dann bitte.“ „Das nicht… Klauen wir!“ Wir taten also genau das, wovor uns der freundliche Mann gewarnt hatte: Klauen.
Ben sah sich aufmerksam um. Ob er das wohl schon öfter mal gemacht hatte? „Siehst du den Stand? Wenn wir die Inhaberin ablenken, können wir etwas von ihr klauen. Sie ist alt, keine Reflexe mehr, würde ich meinen.“, flüstert er mir zu, während er mit dem Kopf auf den Stand deutet. Eine alte Frau steht dahinter. Sie trägt eine Brille, die angekettet ist und hat wie jede alte Frau ziemlich viele Falten im Gesicht. Ihr Mund ist zu einem schmalen Strich verzogen und sie lächelt nicht, macht auch keine Anstalten Kunden zu sich zu locken. „Alles klar, ich übernehme die Ablenkung.“, murmele ich. „Darauf habe ich gesetzt.“, antwortet Ben. Also binden wir unsere Pferde an und als ich zu dem Stand gehen will, ist Ben schon spurlos verschwunden. Vermutlich kurzzeitig im Getümmel untergetaucht, um dann geschickt hinter dem Stand zu verschwinden. Hoffentlich klappt es auch! Als ich beim Stand ankomme, ringt die alte Dame sich dazu durch, mich anzulächeln und sagt mit heiserer Stimme: „Na, junge Dame?“ Ich antworte ihr nicht, sondern setze meinen soeben gefassten Plan in die Tat um, gehe am Stand vorbei und reiße dabei ein Kleidungsstück mit runter. Ich sage übertrieben: „Ups!“ Sofort kommt die nichtsahnende Frau um ihren Stand herum und ruft: „Ach nicht schlimm!“, während sie sich umständlich bückt, um das Kleidungsstück aufzuheben. Normalerweise hätte ich das getan, aber hier geht es ja um Ablenkung, also muss die alte Frau es auch mal allein schaffen, ihre Sachen aufzuheben. Leichte Schuldgefühle sind zu spüren, allerdings nicht groß genug, um die Mission abzubrechen. Wie aufs Stichwort taucht plötzlich Ben hinter dem Stand auf und guckt fragend, was er mitgehen lassen soll. Das ist doch mal etwas, was Spaß macht. Und man kann sich sogar noch aussuchen, was man anziehen möchte. Viel besser, als das langweilige Alltagsleben im Schloss. Ich deute auf ein (zumindest von hier) gutaussehendes, dunkelblaues Kleid und sofort zieht Ben es vom Stand. Die Frau wendet sich mir zu und ich widme ihr schnell meine Aufmerksamkeit, um Ben nicht auffliegen zu lassen. „Möchtest du etwas kaufen?“ Hoffentlich bemerkt sie nicht, dass sowohl mein Lächeln als auch meine nette Art gespielt sind, als ich sage: „Vielleicht! Ich möchte erst anprobieren.“ Sie lächelt ebenfalls freundlich, wobei ich nicht weiß, ob gespielt oder nicht und sagt: „Und was?“. Sie deutet auf ihren Stand, auf dem sich ausschließlich Frauenkleidung befindet. Das ganze Szenario ist so absurd gestellt, dass ich fast lachen muss. Sie spielt mir was vor, ich spiele ihr was vor. Ich zeige auf einen potthässlichen Rock und die Dame greift quer über den Tisch und nimmt sich den Rock. Ich sage gepresst: „Der ist da hübsch.“, und gebe Ben ein Zeichen, dass er mir auch die zum Kleid passenden Schuhe mitnehmen soll. „Der steht Ihnen bestimmt sehr!“, lässt die Alte vernehmen. Ob sie sich wohl über mich lustig macht, dass ich ihren hässlichsten Rock „wunderschön“ finde? Als ich mir sicher bin, dass Ben fertig ist, stottere ich hastig: „Ja, aber… ich habe mich entschlossen, ihn doch nicht zu nehmen! Einen schönen Tag noch!“ Ich gehe hastig davon. Oh Gott, war das eben unprofessionell, aber ich wusste nun auch nicht mehr, wie ich reagieren sollte. Und auf GAR KEINEN FALL wollte ich das schäbige Teil anprobieren. Trotzdem scheint die alte Dame ein wenig betrübt zu sein. Wieder nichts verkauft, denkt sie sich vermutlich gerade. Ich wende mich Ben zu und dieser steht bereits wieder neben den Pferden und hat meine Sachen in der Hand. Natürlich hat er sie mit etwas abgedeckt. Eine Einkaufstasche oder so etwas in der Art. Er steckt das Zeug in die Tragetasche des Pferdes und wir verständigen uns mit einem Blick, dass nun er am Zug ist. Er vertraut auf mein Stilbewusstsein. Er geht zu einem Stand und ich laufe ihm zweifelnd hinterher, der Mann dahinter scheint mir nicht so alt und senil wie die Dame eben. Wir sollten unser Glück echt nicht übermäßig strapazieren! „Ich bräuchte einmal hier drüben Ihre Meinung, Herr!“, ruft Ben dem Mann zu. Dieser nickt und kommt sofort auf den Blonden zu. Ich haste hinter den Stand und lausche dem Gespräch:
„Denken Sie, ich habe eher blaue oder eher grüne Augen?“ Der Mann guckt freundlicherweise nach.
„Ich glaube, blau.“
„Gucken Sie nochmal genauer!“
Nochmals schaut der Mann ihm tief in die Augen und in dieser Zeit befinde ich, ist es an der Zeit, Ben etwas mitzunehmen. Ich entscheide mich, nach einem kurzen Überblick für ein blaues Hemd und eine schwarze Hose, dazu braune Lederschuhe. Optisch passen wir nun perfekt zusammen.
„Ich bin überzeugt: Das ist blau-grün!“
„Danke, Sie haben mir wirklich geholfen.“ Der Mann ist geschmeichelt, obwohl es offensichtlich ironisch gemeint war.
„Immer doch! Gern geschehen!“
„Auf Wiedersehen.“ Hoffentlich nicht.
Derweil habe ich bereits alles weggepackt und schlüpfe nun aus dem Schatten des Marktstandes wieder auf die Straße und zu den Pferden, wo wir uns wieder treffen. Ich bin ganz klar dafür, dass wir jetzt sofort abhauen und keinerlei Zeit mehr hier verbringen, da ich Angst habe, aufzufliegen. Doch Ben möchte erst die Frage klären, wo wir uns umziehen und erzählt mir in aller Seelenruhe, wie wir das anstellen, ohne verdächtig zu wirken. Er guckt sich, während er davon spricht, nicht in die Nähe der alten Dame und des Mannes zu kommen, um und ich tue es ebenfalls. Nur, dass ich den Mann im Anzug erspähe und er nicht und ich mich hingezogen fühle und er nicht. Als eben Genannter in einem Gebäude verschwindet, renne ich wie von der Tarantel gestochen los, um ihn aufzuhalten und zu Gesicht zu bekommen. Das kann doch alles nicht mit rechten Dingen zugehen! Ben scheint ziemlich überrascht, kein Wunder. Er denkt vermutlich gerade, dass ich nicht mehr Aufmerksamkeit erregen hätte können, als ich es jetzt tue und in einigen Metern Abstand folgt er mir. Ich komme bei dem undefinierbaren, großen Gebäude an und als ich eintrete, sehe ich rechts von der Tür den Mann im Anzug. Er lehnt an der Wand. Er ist mir erschreckend nah. Nicht wie sonst immer. Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu und nun stehe ich direkt vor ihm. Ein Wunder, dass er noch nicht verpufft ist. Der Mann hält Blickkontakt zu mir und ich berühre ihn vorsichtig am Arm, eigentlich schon sicher, dass da nichts ist. Doch als ich ihn berühre, spüre ich ihn. Kälter als normal, aber er ist da, materiell und fassbar. Ich schrecke ein wenig zurück und er starrt mich nur an. Ich schaffe es vor Überraschung nicht, etwas zu sagen. Er legt den Kopf kaum einen Zentimeter schief und streckt seine Hand aus. Ich halte den Atem an, so nah waren wir uns noch nie. Er streicht kühl über meine Wange. Er mustert mich noch immer, doch unangenehm ist es kaum. Ich stolpere ein wenig rückwärts und direkt in Ben hinein, der gerade hinter mir angekommen ist. Der Mann geht ein paar Schritte von mir weg und ich rufe heiser: „Halt!“ Er bleibt tatsächlich stehen und wartet. Ich flüstere Ben zu, dass ER hier ist. Meine Halluzination zum Anfassen. Meine Beine bewegen sich wie von selbst auf ihn zu und ich werde angezogen wie von einem Magnet, ich kann gar nicht anders, als zu ihm zu gehen. „Wer bist du? Ein Hirngespinst jedenfalls nicht.“, murmele ich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden habe. Doch seine Stimme zerschneidet die Stille. War meine eben noch gehaucht und zierlich, so dröhnt seine Stimme nahezu in meinen Ohren, seine Worte wohl gewählt und sein Mund bewegt sich vornehm, geradezu anmutig. „Ich bin dein Schicksal.“ Seine Worte klangen in meinen Ohren nicht abwegig oder kitschig, noch nicht mal irrational. Einfach eine Feststellung. Eine wahre Aussage. Ich stottere vor mich hin, doch verliere ich meine Gedanken, als er plötzlich vor mir steht und mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. Seine Finger kitzeln auf meiner Haut. Sie sind genauso kühl wie sein Arm. Er bricht den Blickkontakt und schüttelt entschieden den Kopf. Was bedeutet das? Mein Bewusstsein schwindet und meine Gedanken lösen sich auf, als er mir Etwas ins Gesicht haucht und ich merke gerade noch wie ich aufgefangen werde, bevor ich hart auf dem Boden landen kann. Rauch breitet sich vor meinen Augen aus. Mann, muss der immer verschwinden. Und, zack, wird mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder aufwache, ist es dunkel. Grillen zirpen und die Pferde, unsere Pferde, grasen. Sie sind an einen Baum angebunden worden. Eine rauchende Feuerstelle verrät mir, dass jemand hier ein Feuer gemacht haben muss, aber dieser jemand es bereits wieder gelöscht hat. Und genau dieser jemand liegt in seinem blauen Hemd, der schwarzen Hose und den braunen Schuhen neben mir im Gras. Seine Augen sind geschlossen, aber sein Brustkorb hebt und senkt sich. Er scheint zu schlafen. Ich richte mich auf, wobei mir auffällt, dass es mir einfacher von der Hand geht als ich dachte. Warum war ich ohnmächtig geworden? In einem solch wichtigen Augenblick! Endlich einmal hatte meine Halluzination auf mich gewartet, sie hat sich mir sogar schon fast offenbart. Ich stehe auf und drücke mit meinen Schuhen das trockene Gras ein. Wieder fällt mir auf, dass ich ohne weiteres bequem stehen kann. Da fällt mir ein, dass mich jemand vor meinem Aufprall aufgefangen hat. Ich gucke zu Ben, vermutlich war er es. Warum war der Mann scheinbar doch echt? Ich konnte ihn berühren. Doch er scheint eine ungeheure Macht auszustrahlen und mich fasst zu fesseln. Ich scheine ihm zu gehören. Er meinte, er wäre mein Schicksal. Was meinte er damit? Ich werde aus meinen Gedanken nicht schlau… Da ich mich ein wenig einsam fühle und auch vielleicht ein klein wenig Angst im Dunkeln habe, wecke ich Ben. Er schlägt sofort die Augen auf. Scheinbar hat er doch nicht geschlafen, sondern nur so getan. Er fragt mit klarer Stimme: „Was ist los?“ Er stützt sich auf seinen Ellenbogen. „Nichts weiter, aber ich denke, du könntest mal aufstehen.“ Er lässt sich wieder auf den Boden sinken und dreht sich ein Stück weiter weg. Er murmelt: „Das denke ich nicht. Wenn es nichts gibt, ziehe ich es vor, Kräfte zu sammeln.“ Ich zucke mit den Schultern. Bleibt mir nur noch die allseits bewährte Technik des ‚schlechten Gewissens‘. „Wie du meinst. Aber mach dich darauf gefasst, dass ich nach deinem Aufwachen verschwunden sein könnte. Von meiner lebenden Halluzination entführt.“ Er schweigt kurz. Dann bewährt sich meine Technik (natürlich) und er steht seufzend auf. Er grummelt überführt: „Jetzt kann ich eh nicht mehr schlafen.“ Ich grinse ihn an. Er geht ein Stück weiter. Auf einen Wald zu, der mir zunächst gar nicht aufgefallen war. Überhaupt habe ich mich noch gar nicht umgesehen. Wir lagen auf einem Felsvorsprung. Wäre ich, während ich ohnmächtig war, merkwürdigerweise weit nach links gerollt, wäre ich ganz schnell ganz tief eine Klippe runtergefallen. Und in der anderen Richtung sah man nur Wald. Wie also hat Ben uns hier hingeschafft, wenn es nur die Option Wald und Klippe gab. Der Wald sah nämlich ziemlich, ich sage mal, undurchdringlich und düster aus. Ben ruft mir zu: „Ich geh mal Feuerholz sammeln.“ Dann verschwindet er doch tatsächlich allein in dem beängstigenden Ding. Ich schüttele den Kopf, doch noch im selben Moment erhascht etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Kaum zwei Meter von der Stelle entfernt, an der Ben eben hineingegangen ist, funkelt etwas. Hell und unregelmäßig. Ich begebe ich darauf zu, wohl wissend, dass es eine Gefahr für mich darstellen könnte. Aber meine Neugier siegt schließlich. Als ich fast angekommen bin, verlischt das Licht und taucht im selben Moment ein paar Schritte weiter links, mehr im Wald, wieder auf. Ich wende den Kopf und betrete willenlos den Wald. Was ist das? Wieder verglüht es und taucht an einer anderen Stelle wieder auf. Diesmal jedoch schließt sich eine Hand darum, als ich ihm folgen möchte. Ich bin höchst verwundert und lege die paar Meter in völliger Dunkelheit zurück, um es näher zu betrachten. War das er? Meine Halluzination? Die Hand öffnet sich wieder und ein schwach glühendes Tierchen segelt zu Boden. Ein lebloses Glühwürmchen, zerquetscht durch die undankbare Hand. Ich schaue mit offenem Mund auf das tote Wesen. Plötzlich wird eine Lampe angezündet und neben mir auf dem Boden abgestellt. Im Schein der Lampe erhasche ich einen Blick auf die Gestalt des Menschen. Ein Mann mit einer klaffenden Wunde im Gesicht tritt aus dem Schatten des Baumes. Er hat eine Glatze und in seinen Augen spiegelt sich das Licht der kleinen, verrosteten Petroleumlampe. Sie glitzern wahnsinnig. Ein breites Grinsen legt sich auf sein Gesicht, sodass seine Wunde sich verzieht. Er ist ziemlich muskelbepackt und trägt nicht mehr als ein durchlöchertes, an manchen Stellen sogar zerrissenes Strickhemd und eine genauso zerfurchte Hose. „Na, Kleine, was treibt dich in diesen Wald, hm?“ Seine Stimme verrät absoluten Gefallen an der Sache. Ich weiche erschrocken so weit zurück, bis ich gegen einen Baum pralle und antworte mit riesigen Augen, die ihn gegen meinen Willen hilflos ansehen: „Ähm… Zelten?“ Er ist einfach monströs und angsteinflößend. Jede Zelle meines Körpers schreit: Lauf, doch meine Beine wollen sich nicht bewegen. Eher würden sie sich in Grütze verwandeln. „Kleine Mädchen wie du sollten nicht im Wald des Verderbens zelten. Das ist höchst gefährlich für jemanden wie dich.“ Er schnippt mit den Fingern und das Geräusch kommt mir laut vor in der ansonsten geräuschlosen Stille. Verwirrt starre ich seine wulstigen Finger an und dann höre ich jemanden kreischen. Schrille, wehklagende Laute. Und ich erkenne die Stimme. Es ist Ben! Ich zucke heftig zusammen. „Was haben sie mit ihm gemacht! Wo… wo ist er?!“ „Das wüsstest du wohl gern?“ Ein weiteres Mal schnippt er mit den Fingern und ich hoffe darauf, dass das schrille Schreien, diese unzumutbaren Schmerzenslaute verstummen, doch stattdessen vernehme ich die glockenhelle Stimme Junos. Auch kreischend und um ihr Leben schreiend. Das kann doch nicht sein? Woher haben sie Juno? Ist das ein mieser Traum?! Ich presse mich weiter an den Baumstamm von ihren Lauten verfolgt und brülle panisch: „BEN? JUNO?“ Der Mann lacht kalt und dabei kommt nochmals seine Wunde zur Geltung. „Das hier ist kein Ort für dich.“ Wie kann so nah an Pra Desch ein so unheimlicher Wald sein von dem noch nie jemand etwas gehört hat? Wo sind die beiden? Ich muss sie finden, sonst sterben sie! „Das sagten Sie schon!“, brülle ich wütend und halte mühsam meine Tränen zurück, „Würden Sie mir lieber helfen, meine Freunde zu retten?!“ Er knurrt: „Das würde ich noch nicht mal tun, wenn du nicht so ein…!“ Er bricht ab und auch das Schreien endet abrupt. Alles nur Einbildung und Illusion? Ich antworte giftig: „Ein was?“ Er guckt mich todesbringend an und zischt als ob ich das ganz genau wüsste: „Wenn du nicht so eine Todesflüsterin wärst!“ Ich spanne mich an und sage leiser: „Was soll das denn bitte heißen?“ Er keift: „Als ob du das nicht wüsstest! Dein Vater war auch so einer! Niederträchtiges Pack, das sich erlaubt, mit dem Tod zu sprechen!“ Mit dem Tod? „Hallo? Wie kommen Sie überhaupt dazu, so von meinem Vater zu reden? Wer sind Sie?“ „Ich bin ein Verbannter! Von der Stadt in den Wald geschleust, um für immer hier zu bleiben.“ Ich sage mit mehr Gefühl: „Oh das war mir nicht klar.“ Trotzdem brauchte er mich nicht so zu beängstigen und was war jetzt eigentlich mit Ben und Juno?! Waren sie in Gefahr oder nicht? Ob er nun ein Verbannter ist oder nicht, das wird schon seinen Grund haben und ich möchte mich nicht länger als nötig mit einem potenziellen Mörder unterhalten, wenn meine Freunde in Gefahr sind! Trotzdem reizt es mich zu wissen, was eine Todesflüsterin ist. Wenn ich schon eine bin, angeblich. Habe ich wirklich mit dem Tod geredet. War der Mann im Anzug die ganze Zeit ein Abbild des Todes. Das wäre unsinnig und doch scheint es mir keine andere Erklärung zu geben. „Das ist niemandem klar und es interessiert auch niemanden! Und besonders dich hat es nicht zu interessieren!“, brüllt er mir ins Gesicht, sodass er mich fast anspuckt. „Entschuldigung!“, gebe ich ebenso giftig zurück, „ich versuche nur zu verstehen, warum ich eben noch die Schreie meiner Freunde in Todesqualen vernommen habe! Und ganz nebenbei kannten Sie auch noch meinen Vater!“ „Dein Vater! Ein hinterhältiges Stück von einem Mann!“ Diese Seite von meinem Vater, falls sie wirklich existiert, kannte ich noch nicht und ich bin eigentlich auch nicht wild darauf, sie kennenzulernen. Ich versuche so ruhig wie möglich zu bleiben. „Woher wissen Sie von meinem Vater.“ Gleichzeitig nagt mich das schlechte Gewissen, weil Ben und Juno vielleicht gerade in an der Schwelle zum Tod stehen. Er richtet seinen Blick auf einen Punkt über mir und sagt: „Man glaubt es gar nicht, nicht wahr? Ich hatte auch ein Leben vor meiner Verbannung!“ „Erzählen Sie mir davon.“ „Wohl kaum!“ Ich seufze gespielt, was mir ganz schön viel Selbstbeherrschung abverlangt und sage beleidigt: „Dann werde ich wohl nie erfahren, warum ich eine ‚Todesflüsterin‘ bin.“ „Das liegt ja wohl auf der Hand, du sprichst mit dem Tod.“ Als er das sagt, bemerke ich, dass er Angst vor dem Tod hat. Nachdem er meinen forschenden Blick bemerkt hat, rennt er weg. Meine Miene klärt sich und ich flüsterte: Sie meinen, das war der Tod…“ Vor meinem inneren Auge schwebt das Abbild des Mannes im Anzug. Warum fühle ich mich vom Tod angezogen? Warum empfinde ich den Tod als so hübsch. Warum redet der Tod mit mir? Warum kann ich den Tod berühren. Bin ich dem Tod bereits so nah? In der Nähe rascheln Blätter, aber niemand kommt. Ich schaue dem gruseligen Mann hinterher. Langsam wird es wieder hell und man hört entfernt die tüchtigen Stimmen der Kaufleute und wie sie ihre Stände aufbauen. Schnell renne ich aus dem Wald, bevor mir schlimmeres passieren kann. Halb rechne ich damit, dass Ben nun wieder am Lagerfeuer liegt und mich genervt anschaut und fragt, wo ich war. Er würde sich sicherlich beschweren, er habe das ganze Feuerholz allein tragen müssen, aber im tiefsten Inneren würde er sich Sorgen um mich machen. So zumindest in meiner Vorstellung, doch als ich wieder auf dem Vorsprung stehe, sind dort zwar die Pferde, aber die mit Steinen eingefasste Feuerstelle ist leer und auch sonst gibt es keine Spur von Ben. Ich setze mich überrumpelt vor die Feuerstelle und warte bis die Sonne ganz aufgegangen ist. Ob der Tod wohl bald wieder auftaucht? Sollte ich vor ihm fliehen? Wäre das das Beste? Ich komme zu keinem Schluss. Ich spüre plötzlich einen Lufthauch neben mir und eine besorgte Stimme sagt: „Wo warst du?“
Ich drehe mich nicht um, ich kannte die Stimme und doch wusste ich noch nicht ganz woher. Um genau zu sein, traute ich mich noch nicht, mich umzudrehen. Ich sage: „Ich? Ich war die ganze Zeit hier.“ Meine Stimme zittert ein wenig. Aber ich kann es meiner Meinung nach ganz gut unterdrücken. „Ich war auch hier!“, antwortet…
Ich drehe mich mit einem Ruck um und erblicke Mark! Ach Gott, nein! Wie hat der mich gefunden? „Ich hab dich endlich gefunden!!!“, ruft er erfreut. Ich stöhne alles andere als erfreut auf, vergrabe meinen Kopf in den Händen und murmele: „Oh nein…“ „Doch!“, antwortet er. Ein Wunder, dass er es gehört hat. Ich gucke ihn wehleidig an. Er hat Blut am Hinterkopf. Ist das noch von mir? Es interessiert mich nicht, ich will nur, dass er geht. So schnell wie nur irgend möglich. „Was willst du von mir?“, frage ich ihn genervt. „Nichts, ich will nur nicht allein sein.“, sagt er und setzt sich neben mich auf den Boden. Ich habe weitaus genug Probleme und kann mich nicht auch noch mit dem rumschlagen. „Es gibt Milliarden andere Menschen auf der Welt!“
„Ich weiß.“
„Na ja, wenn du schon mal hier bist, kannst du mir auch gleich helfen, Ben zu suchen.“
„Den doch nicht!“
„Tja, sonst schicke ich dich wieder weg!“ Schnell stehe ich auf, um meinen Worten Eindruck zu verleihen und klopfe mir das trockene Gras von der Kleidung. Ich gehe in Richtung Wald des Verderbens und kaum zwei Sekunden später rennt Mark mir nach und seufzt: „Okay, ich suche hier links.“ Ich gehe ganz weit nach rechts. Soweit wie es nur geht, um ihm zu entkommen. Wenn ich Ben vor ihm finde, haue ich mit Ben im Schlepptau ab und wenn er ihn findet, muss ich mir noch was ausdenken. Und was ist eigentlich mit Juno? Waren ihre Schreie nur eingebildet? Sicherlich ist sie noch auf dem Schloss, sie können nicht einfach eine Dienerin der Kaiserin entführen. Ich betrete den Wald, der nicht mehr so gruselig aussieht, da er nun hell ist. Es ist einfach nur ein Wald, nichts lässt ahnen, dass hier des Nachts verrückte Männer rumlaufen und Mädchen erschrecken. Auf Ästen sitzen schwarze Vögel, Raben, die mich – bilde ich mir das ein? – lüstern betrachten. Ich beobachte sie, während sie losfliegen und ihre Kreise über mir drehen. Hier geht nichts mit rechten Dingen zu. Nicht, wenn man mit dem Tod redet und lüsterne Raben über einem fliegen. Auf einer Lichtung, mitten im Wald, sehe ich IHN. Den Mann im Anzug. Meine persönliche Halluzination, nein! Den Tod. Ich frage mich panisch, ob ich versuchen soll, zu fliehen. Jedoch würde das nichts nützen, falls er der Tod ist, wovon ich schon fast überzeugt bin. Ist er hier, weil er Ben …mitgenommen hat? Bis hier kann ich sehen, dass er ein sanftes Lächeln auf dem Gesicht hat. Ich schaue ihn zaghaft an. Ich werde nicht sterben, wenn ich ihn ansehe, oder? Er macht eine fließende Bewegung auf mich zu, nur einen Schritt. Er lockt mich mit seinem Blick und ich komme ihm entgegen, ich kann gar nicht anders, er übt eine solche Macht auf mich aus. Ich blicke ihm in die Augen und merke, dass er nicht einmal blinzelt. Wie kann jemand so schicksalhaftes und böses, anziehend und bezaubernd sein? Unaufhaltsam breitet sich Nebel in meinem Gehirn aus und lässt mich vergessen, zu denken. Er hebt seine Hand und fährt mit dieser durch die Luft, ein kalter Lufthauch streicht über meine Wange und lässt mich erschaudern. Er hatte mich noch nicht mal angefasst… Ich seufze genießerisch, weil es sich trotzdem so anfühlt, als wäre er mir nah, als würde seine Hand wirklich über meine Wange streichen. Er greift mit der Hand in die Luft und zieht sie kurz darauf an sich heran und ich merke, wie meine Füße leicht vom Boden abheben und ich scheinbar auf ihn zu schwebe. Ich gebe der unsichtbaren Macht nach und finde mich im nächsten Moment dicht vor ihm wieder. Kurzerhand kommt er noch einen kleinen Schritt näher und nimmt mein Gesicht mit seinen zarten Händen. „Ich…muss…Ben suchen…“, flüstere ich mit schwerer Zunge und viel zu großen Augen. Er flüstert deutlich: „Dazu hast du auch später noch Zeit.“ Bevor ich ihm eine Antwort geben kann, legt er seine Lippen auf meinen Mund, um ihn zu verschließen. Ich wehre mich nicht dagegen, stattdessen erwidere ich den Kuss zaghaft. Ich fühle nichts mehr außer seinen weichen Lippen und schließe verträumt die Augen. Er löst sich wieder von mir. Er geht einen Schritt zurück und ich habe Angst, dass er nun sofort wieder verschwindet. Wieder wirkt er irgendeine Art von Magie, indem er durch die Luft wischt und ein kleiner, roter Stein in seiner Hand erscheint. Ein glänzender Edelstein. Der Tod reicht mir den Stein. Er ist leicht viereckig und glitzert in der Sonne. „Bewahre ihn gut. Er ist der Schlüssel zu mir.“ Seine Stimme ist nur noch ein Flüstern in meinem Kopf. Er ist fort. Ich stecke den Stein gedankenverloren in die Brusttasche meines Kleides und finde langsam mein Denkvermögen wieder. Plötzlich schießt mir die Frage durch den Kopf, wie ich jemanden küssen konnte, mit dem ich gerade mal drei Sätze gewechselt habe und der noch dazu der Tod höchstpersönlich ist! „Es sieht sehr komisch aus, wenn du die Luft küsst.“ Ich bekomme wieder ein Gefühl dafür, wo ich hier eigentlich bin und drehe mich schlagartig um und erblicke zum zweiten Mal an diesem Tag Mark, der gerade die Lichtung betritt. War der Schwachkopf mir etwa gefolgt und hatte meine Hingabe zum Tod beobachtet?! „Das war nicht die Luft, sondern der Tod, du Depp! Und wenn du weiterhin Leute in privaten Momenten beobachtest, kommt er und holt dich!“, kreische ich ihn schon fast an. Hatte er wirklich nur Luft gesehen? Ist der Tod für alle anderen unsichtbar? Für Ben war er immerhin auch nicht sichtbar gewesen und dabei kann er auch mit dem Tod reden, in einer anderen Gestalt. „Sowas wie den Tod gibt es nicht!“, sagt Mark trotzig. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass er davon überzeugt ist, dass er nie sterben wird. „Oh, doch! Hast du Ben gefunden?“, frage ich schuldbewusst. Statt mich auf die Suche nach Ben zu machen, habe ich einen Mann geküsst und ihn dabei ganz vergessen. Ich habe einfach alles plötzlich vergessen. Mark schüttelt den Kopf und ich weise ihn an, weiterzusuchen. Von Ben fehlt jede Spur und ich habe wirklich Angst um ihn. Er kann ja nicht weg sein, oder? Vielleicht hat der Tod ihn wirklich mitgenommen. Ein qualvolles Röcheln unterbricht meine Gedanken. Erleichtert und stark davon überzeugt, Ben sei wieder aufgetaucht, eile ich auf die Stelle des Geräusches zu und muss dann überrascht feststellen, dass die Person, die jetzt aus dem Gebüsch kriecht nicht etwa Ben, sondern Juno ist. Juno, die ich eigentlich in Sicherheit geglaubt hatte. Ihre Kleidung ist voller Blut und sie atmet schwer, außerdem läuft ihr Blut aus dem Mundwinkel. Ich kreische: „Juno, was ist passiert?“ Sie hustet und keucht anschließend: „Sie haben mich geholt.“ Sie spuckt Blut und ihr Blut wird glasig. Ihr Mund formt das Wort ‚Schwert‘. „Nein! Juno, nicht sterben! Wer hat dich geholt!“ Sie öffnet unter höchster Anstrengung ihren Mund, doch dann sackt ihr Kopf weg. „Juno!“ Meine Stimme hört sich weinerlich an. Ihr Herz hört auf zu schlagen und nach einem letzten Atemzug ist sie endgültig tot. In rasender Hektik hole ich den Stein hervor. Vielleicht kann der Tod das ja rückgängig machen? Natürlich kann er das! Er ist mächtig! „Was ist das?“, fragt Mark hinter mir. „Bitte, sei still!“, herrsche ich ihn an, aber ich komme nicht wirklich überzeugend rüber, weil meine Stimme unablässig zittert. Ich drehe den Stein in der Hand und will, dass endlich was passiert. Irgendwas!
„Sie ist tot. Ich habe von ihr gekostet. Blut, Schweiß und Tränen.“
„Was? Aber das ist…“, stottere ich sprachlos herum. Die Stimme hallt in meinem Kopf, ohne ihn zu fragen, wette ich darauf, dass Mark das eben nicht gehört hat.
„Scht, es war notwendig, du wirst das verstehen.“ Seine Stimme… nicht mehr als ein Flüstern.
„Wann sehe ich dich wieder?“ Meine Stimme… verzweifeltes Flehen. „Und wo?“
„Bald, das wirst du sehen, wenn es soweit ist.“ Hinter mir scharrt Mark mit dem Fuß die Erde auf, als wäre es nicht offensichtlich, dass gerade ein Mensch gestorben war und ich mit dem Tod verhandle! Okay, verhandeln kann man es nicht nennen. „Das ist doch lächerlich, du sprichst mit einem Stein!“, ruft er viel zu laut. „Noch ein Wort-“, setze ich hitzig an. Dann fällt mir ein, dass es Ben ja genauso ergangen sein könnte wie Juno. „Was denn?“, fragt Mark verwirrt und unwissend. Er hat kaum Zeit, sich die Ohren zuzuhalten, da kreische ich auch schon erschütternd: „BEN!!! BEN!“ Niemand antwortet. Nur jemand lacht, ich erkenne das eisige Lachen des Mannes von heute Nacht und Mark scheint die Stimme auch zu kennen, denn er seufzt und meint: „Vater, lach nicht so.“ Der Mann tritt enttäuscht, dass er dich nicht erschrecken konnte hinter einem Baum hervor. Was? Hatte ich das gerade richtig verstanden? Nur fürs Protokoll: Mark war der Sohn dieses Tyrannen?
„Sie sind Marks Vater?!“
„Du bist Venus?!“
„Ja?!“ Er rümpft die Nase. Hallo?! Als ob an mir etwas auszusetzen wäre und an seinem dämlichen Sohn nicht! „Hören Sie, wie wäre es, wenn sie jetzt schleunigst mitsamt ihrem nervenden Sohn verschwinden würden!“, schlage ich ihm unfreundlich vor. Er kichert männlich. „Wieso verschwindest du nicht? Mark und ich waren zuerst hier!“, kichert er. „Wie sie wollen.“ Ich stampfe in eine Richtung davon. Ben werde ich auf meinem Weg schon noch finden, hoffe ich. Mark rennt mir doch tatsächlich wieder hinterher und brüllt: „Warte!“ Ich verenge meine Augen und lasse genervt die Luft aus. Umdrehen kommt nicht in Frage. „Was?“ „Du kannst nicht gehen!“, ruft er sentimental. Boah, kann er jetzt mal verschwinden! Seine pure Nähe schädigt mein Gehirn und verursacht Kopfschmerzen! „Und ob ich das kann!“ „Nein, mein Vater meinte das doch nicht so! Bleib!“ AAAHHHHH. „Ihr nervt mich aber UNWAHRSCHEINLICH! Außerdem schwebt Ben in Lebensgefahr!“ Mark holt mich ein. „Lass den doch! Er ist doch uninteressant, wenn man Seite an Seite mit Familie Kusikowa gehen kann!“ Ich lasse ein hartes Lachen hören und sage: Für mich ist er tausendmal interessanter als die hochverehrte Familie Kusikowa.“ „Dann beleidigst du mich aber! Also?“ „Nur mit Ben.“ Ich eile voran, doch er hängt sich an meine Füße. Ich bleibe mutlos stehen, als auch noch Marks Vater auf mich zukommt. „Ich bin übrigens Triton. Ich liebe es, deine Freunde zum Schreien zu bringen.“ Ich starre ihn an, als hätte er acht Augen. Er hat dasselbe Gefühl dafür, wie man in falschen Momenten das Falsche sagen kann wie sein Sohn. Na ja, der Apfel fällt halt nicht weit vom Stamm und verrückt sind sie eh beide! „Sie waren das? Sie haben meine Freundin umgebracht?!“ „Gestorben ist sie nicht durch mich, aber ich habe geholfen“, sagt er stolz. Ich zische: „Wem haben sie geholfen. Er knurrt: „Den anderen!“ Dann spuckt er mir vor die Füße, dreht sich auf dem Absatz um und ruft über die Schulter: „Wenn du nicht aufpasst, ergeht es noch mehr Leuten so wie deiner hübschen Freundin.“ „SIE HABEN SIE NICHT MEHR ALLE!“, brülle ich ihm hinterher. Ich stapfe in die entgegengesetzte Richtung weiter. Mark bleibt unschlüssig stehen. Ich glühe fast vor Wut und könnte schwören, dass mein Gesicht hochrot ist. Zu meinem Glück rennt Mark seinem Vater hinterher. Muttersöhnchen. Ich atme tief ein und aus und kann immer noch nicht glauben, dass dieser Triton, Juno und wahrscheinlich auch Ben umgebracht hat! Solange ich nicht die Gewissheit habe, werde ich nach Ben suchen! Koste es, was es wolle! Plötzlich vernehme ich kurz vor mir Hufgetrappel. Oh nein, das hat gerade noch gefehlt. Ich bleibe erschrocken stehen und sehe mich rasend schnell nach einem Versteck um. Da ich auf keinen Fall entdeckt werden möchte, halte ich es für das Beste, auf einen Baum zu klettern und mich in der Krone zu verstecken. Ich schaue auf die Reiter hinunter. Und da brechen sie auch schon durchs Unterholz.
„Habt ihr das gesehen? Der Typ hat mich verärgert!“ Ein Blonder. Besteht meine Welt nur noch aus blonden, gutaussehenden Männern? Er scheint sehr angesehen zu sein, denn er trägt ein Leopardenfell. So wie es eigentlich nur sehr reiche Leute tun, vielleicht ist es ja eine Fälschung. Ich verhalte mich völlig still und schaue auf die anderen beiden schwarzhaarigen, nicht ganz so gutaussenden und den Blonden flankierenden Männer hinab. Aus irgendeinem Grund kommen mir die Pferde bekannt vor, aber letztendlich sind es nur schwarze Pferde. Dass diese Männer nicht einfach weiterreiten können! „Ich liebe die Freiheit.“, wieder der Blonde. Der Blonde… so nenne ich auch Ben und Ben ist momentan in Lebensgefahr, während dieser Typ mich hier von der Suche abhält. Er dreht sich auf dem Pferd einmal im Kreis. In diesem Moment donnert ein markerschütternder Schrei durch den Wald. Von einer sehr bekannten Stimme. „Was ist das?“ Ich halte mir die Hand vor den Mund. Oh Gott, Ben! Ich widerstehe dem Drang, Bens Namen zu kreischen. Am liebsten würde ich sofort vom Baum springen, aber das geht ja im Moment nicht. Der schwarzhaarige links neben dem Blonden sagt dümmlich: „Ich denke, wir sollten dem auf den Grund gehen, Caspian!“ Caspian. Hoffentlich schafft es dieser offensichtlich reiche Caspian Ben zu retten! Dieser galoppiert nun in die eine Richtung davon und ruft: „Mir nach!“ Die beiden anderen preschen hinterher. Ich warte noch so lange auf dem Baum, bis ich sichergehen konnte, dass sie wirklich weg waren, dann stieg ich herab. Das Geschrei ist unheilvoller Stille gewichen. Ich fürchte mich, ohne es Zugeben zu wollen. Wie aus Reflex schließt sich meine Hand um den Stein und die Furcht schwindet. Er scheint in meiner Hand regelrecht zu pulsieren. Ich betrachte ihn durch die Ritzen meiner Finger hindurch fasziniert. Sehnsucht. Der Stein scheint mit mir zu sprechen. Aber mittlerweile weiß ich es besser, es ist der Tod. „Ja“, antworte ich kleinlaut. Ich höre ein Lachen. Wieder nehme ich an, dass er sich in mir befindet, in meinem Kopf. Doch schon spüre ich seine weichen Lippen in meinem Nacken. Ich seufze wohlig und schließe die Augen. Er ist immer für mich da. Der Tod dreht mich um, gibt mir einen Kuss auf den Mund, ist weg. Ich spüre vernebelt die Illusion des Drucks seiner Lippen auf meinen. Plötzlich saust etwas blitzschnell an meinem Gesicht vorbei und bleibt im nächsten Baum stecken. Ein Pfeil. Sofort ist ausnahmsweise mal der Tod vergessen und ich starre entsetzt auf den Pfeil, der mich hätte töten können. „Da ist jemand!“ Caspian. Hat er Ben gefunden? Ben, den ich schon wieder vergessen hatte. Die drei Reiter sind wirklich zurückgekehrt und ich kann nichts tun, mich noch nicht einmal mehr verstecken. Schwarzhaarig Nummer 1 legt einen neuen Pfeil ein, doch ehe er mich abschießen kann, brüllt Caspian: „Halt! Nicht schießen!“ Seine durchdringend smaragdgrünen Augen schauen mich verwundert an. Wow. Diese Augen. Ich betrachte schmachtend seine Augen. Caspian. Seine Augen sind umwerfend. Er steigt behände von seinem Pferd und ich merke, dass er mindestens 10 cm größer ist als ich. Er kommt langsam auf mich zu. Was denkt er denn? Das ich gefährlich bin und im Wald lebe?! Ich nehme mir fest vor, nicht zurückzuweichen und umfasse schnell den Stein fester. Seine Stimme ist weich und er hat einen leichten Akzent, den ich nicht zuordnen konnte. „Hab keine Angst, ich bin Caspian van Flemming. Was machst du hier?“ Mein Mund öffnet sich wie von selbst. „Van… van Flemming?“, frage ich zittrig. „Van Flemming, ja.“ Vermutlich glaubt er jetzt von mir, dass ich seinen Nachnamen komisch finde. Wieso weiß ich nichts von ihm? Hält er sich für adlig? Es würde alles zusammen passen. Sogar die Pferde, die ich als die edlen Araber nun doch erkenne. Vom Alter her schien er der Sohn der Kaiserin sein zu können. Aber die Kaiserin hatte keinen Sohn. Sonst hätte ich ihn auf dem Schloss schon längst mal gesehen. „Ich war…“ Schnell biss ich mir auf die Zunge. Es ist vermutlich besser, wenn ich ihm verschwieg, dass ich eine entflohene Dienerin seines Palastes war. „Du warst?“, fragt er liebenswürdig. Anscheinend hatte er seine Erziehung nicht von der Kaiserin. Vermutlich würde er sonst im Kreis springen und Tarzania, die im Wald lebende Frau mit dem zerrissenen Kleid vertreiben wollen. „Nicht so wichtig“, winke ich schnell ab, „Aber sie ist die Kaiserin. Dann seid Ihr…“ Er vervollständigt: „Der Sohn der Kaiserin.“ Also doch. Ich habe es ja geahnt. Er fährt sich durch seine ohnehin bereits verstrubbelten, hellblonden Haare. Er hat dunkelblonde Strähnen darin. Färbt er sich die Haare oder war das natürlich so? Ich bestaune ihn insgeheim ehrfürchtig. Ich sollte den Sohn der Kaiserin nicht bewundern. Schließlich bin ich eigentlich gegen die Monarchie, so als geflohene Dienerin. Er fängt jedoch meinen Blick auf und in seine Augen legt sich ein irgendwie gequälter Ausdruck. Warum? „Guck nicht so, ich bin auch nur ein Mann.“ Mein Blick legt sich auf sein Pferd, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hingucken soll und ich antworte leicht launisch: „Ja! Das ist mir klar!“ Ich unterdrücke den Trotz in meiner Stimme. Das auch immer alle sehen müssen, wenn ich gerade etwas Peinliches mache. „Was machst du hier?“, fragt er erneut. „Ach, ich habe mit meinem Freund Ben einen Ausflug gemacht, er wollte Feuerholz suchen gehen. Ab da hörte man nur noch animalische Schreie von ihm. Aber es kommt noch schlimmer. Bald darauf stürzte meine beste Freundin tot aus dem Gebüsch. Ach, und ein Vollidiot hat meinen Vater beschimpft! Das ist aber auch schon alles!“, antworte ich ironisch. Fast schon hysterisch, weil ich bei meiner Suche nach Ben kein Stück weiterkomme und das alles nicht wirklich verarbeiten kann. Sicherheitshalber verschweige ich ihm, dass ich mit dem Tod rede. Dann würde er mich gleich als verrückt abstempeln, wenn er es nicht schon getan hat. Er fragt bestürzt: „Wie lange bist du schon hier?! Die Nächte sind kalt und du musst Hunger haben.“ „Ja, wir hatten ein Zelt.“, log ich schnell. „Komm mit uns. Ich gebe dir Unterkunft.“ Seine Worte sind aufrichtig. Er ist wirklich um mein Wohl besorgt, aber ich kann so ein Angebot nicht annehmen. Schon allein nicht, weil die Kaiserin mich sofort erkennen konnte. Außerdem habe ich Ben noch immer nicht gefunden. Etwas zu schnell sage ich: „Nein! Das kann ich nicht!“ Er guckt verdutzt und lächelt dann. „Nicht bescheiden sein! Ich würde es wirklich begrüßen, wenn du mitkommen würdest.“ Kein Zweifel, aber das ist wirklich nicht möglich. Ich winde mich innerlich und trete von einem Fuß auf den anderen. Ich kann unmöglich mit ihm ins Schloss zurückkehren, wenn seine Mutter dort auf mich lauert. Ich gucke ihn an, um freundlich abzulehnen. Grün trifft Grün. Hört sich nicht sehr spektakulär an. Ist es aber. Seine Augen verzaubern mich, ich merke, wie ich innerlich schwach werde. „Also?“ Ich schüttele im letzten Moment resolut den Kopf und murmele: „Es geht nicht. Aus einem Grund, den ich Euch nicht nennen kann. Außerdem muss ich meinen Freund suchen.“ „Ich kann dir helfen. Meine Mutter kann Suchtruppen losschicken.“ Warum legt er bloß so viel Wert darauf, dass ich mitkomme? Er will mich auf keinen Fall hierlassen. Andererseits, wer lässt schon ein hilfloses Mädchen hier stehen? „Nein, auf keinen Fall!“, rufe ich. „Wieso nicht?“ Er legt seine Stirn in Falten und ist offensichtlich verwirrt. Ich verzweifle und langsam gehen mir die Ausreden aus, ich kann mich nur wiederholen. „Weil…weil…“ Er wartet. Das ist mir jetzt zu blöd. „Weil wir beide ehemalige Diener Eurer Mutter sind. Wir sind abgehauen!“ Zu spät halte ich mir die Hände vor den Mund. Mist. Er zieht erschrocken die Luft ein. Dann: „Komm trotzdem mit mir. Ich kann mit meiner Mutter sprechen.“ WAS? Kann er nicht wirklich endlich akzeptieren, dass ich nicht mitwill. „Nein! Bitte erzählt ihr nichts von mir!“, ich versuche Flehen in meine Augen zu legen. Er schaut zu Boden. „Caspian, wird das heute noch was?!“, Schwarzhaarig Nummer 2. Sehr genervt. Anscheinend hält er sich sonst nicht mit kleinen Mädchen auf. „Macht euch bereit.“, endlich er geht, „wir nehmen noch jemanden mit.“ Nein! Ich schaue ihn immer noch bittend an. Er schaut mich ein letztes Mal an. Sein Ausdruck ist unmissverständlich. Erstmal geht es aufs Schloss. Auch wenn ihm nicht gefällt mich sozusagen mitschleifen zu müssen. Ich muss doch erstmal Ben retten! Warum versteht er das nicht?! Ich folge ihm zu seinem Pferd. Er legt seine Hände sacht an meine Taille und ich erschaudere kurz. Ich hab es noch nie gut vertragen, wenn mich jemand Fremdes berührt hat. Er hebt mich schnell, aber vorsichtig auf den Rücken des Pferdes. Und setzt sich dann hinter mich ebenfalls darauf. Seine Arme schließen mich ein, nachdem er die Zügel in die Hand genommen hat und flüstert mir von hinten zu: „Festhalten.“ Ich greife in die Mähne des Pferdes. Der Prinz sitzt hinter mir. Der Prinz! Die Hacken in die Seiten rammend bewegt er das Pferd dazu, sich in Gang zu setzen. Hinter uns sind die Begleiter des Prinzen. Nach kurzer Zeit sind wir durch den Wald durch und wieder auf der Straße zurück nach Pra Desch. „Mach dir keine Gedanken. Ich habe viel Mitspracherecht Zuhause.“ Wer´s glaubt. Wenn es so wäre, dann würde er sich durchsetzen und im Schloss rumlaufen. „Davon habe ich nicht viel mitbekommen, als ich dort noch lebte.“ Er seufzt und sinkt unmerklich in sich zusammen. „Aus irgendeinem Grund hält sie mich im Verborgenen. Das ist schrecklich. Deshalb suche ich oft die Gesellschaft meiner Freunde im Wald.“ Wieso erzählt er mir das alles? Ich habe keine Zweifel daran, dass es schrecklich sein muss, ohne Gesellschaft fast die ganze Zeit versteckt in einem riesigen Schloss zu wohnen. „Und trotzdem hast du Einfluss?“ Ich klinge zweifelnd. „Mehr als manche denken.“ Ich schweige und betrachte die Landschaft um mich herum, obwohl ich denselben Weg gekommen bin. Noch immer quälen mich Gewissensbisse, weil ich nicht nach Ben suche. Und dann ist da auch noch der rätselhafte Tod, der mich bereits zweimal geküsst hat und mir hat es – ich kann es nicht leugnen – gefallen. Trotzdem, selbst wenn ich es nicht wollte, dann würde ich es trotzdem tun, weil er mir den Kopf verdreht. Nicht so wie die Liebe einem den Kopf verdreht, sondern eher… vernebelt. Sodass ich nichts mehr weiß, an nichts mehr denken kann. Wir haben Pra Desch nun schon seit Minuten verlassen, Caspian hat seine warme Kleidung ausgezogen, also das Fell, und es in eine Tasche gestopft. Wir passieren das Schlosstor und etwas zieht sich unangenehm in mir zusammen. Wenn mich nun die Kaiserin bestrafen lässt? Wir reiten langsam auf die Stallungen zu. Allein. Die zwei Freunde von Caspian haben sich auf den Weg in die Stadt gemacht, weil sie dort leben. Die Stallungen. Timothy wird mich erkennen. Caspian steigt direkt vor dem Stall ab und streckt dann die Hände nach mir aus. „Komm, ich helfe dir.“ Ich schwinge halbwegs elegant ein Bein über den Pferderücken und lasse mich zögerlich in seine Arme fallen. So nah will ich ihm nicht sein. Ich kenne ihn nicht und will hier weg. Er fängt mich auf und lächelt mich freundlich an. Er ergreift plötzlich meine Hand. Es fühlt sich mehr als falsch an. Während ein anderer Mann, der auch in den Stallungen arbeitet, das Pferd in den Stall führt, zieht mich Caspian den Weg zum Eingangsportal entlang. „Es hat schon einen guten Zweck, dass deine Mutter dich versteckt hält. Du wirst von niemandem erkannt.“ Sie ermöglicht ihm einfach ein Leben ohne Trubel. Die einzige sinnvolle Tat im Leben der Kaiserin. Ich bin nahtlos dazu übergegangen, ihn zu duzen und merke es nicht einmal. Aber es scheint ihn nicht zu stören. „Das ist in der Tat etwas Positives. Aber so gut wie niemand weiß, dass es mich gibt. Alle denken, die Kaiserin hat keinen Sohn. Das ist deprimierend.“ Klar, logisch. Es ist natürlich bedrückend, nie in Gesellschaft zu sein. „Warum sie das wohl tut?“, frage ich leise. Wir kommen an der großen Tür an, der Prinz hat kein Wort mehr verloren. Als er die Tür öffnet und eintritt, werde ich nervös. Altvertraute Gerüche empfangen mich. Sie lösen allerdings vordergründig das Gefühl in mir aus, fliehen zu müssen. Ich werde panisch und blicke mich um. Mein Herz schlägt viel zu schnell. Caspian fasst mich an beiden Schultern und flüstert beruhigend: „Kein Grund zur Panik!“
„CASPIAN? Was zur Hölle tust du da?! Und… ist das… VENUS?!?!“
Ich fahre erschrocken herum, die Kaiserin! Es stört mich, dass ich mich noch in Caspian van Flemmings Griff befinde, aber ich bin zu erstarrt, um etwas dagegen zu unternehmen. Die Kaiserin starrt mich an und ihr Blick geht mir durch Mark und Knochen. „Was soll das?! Ich glaube, ich bin im falschen Film! Was bewegt dich eigentlich dazu, einfach zu fliehen?!“ Sie spuckt die Worte hervor. Caspian van Flemming versucht mich in Schutz zu nehmen, doch seine mickrigen Versuche, das Wort stotternd zu ergreifen, enden im Nichts. Ich schaue ihn zweifelnd an. Das soll der Prinz sein, der das Land irgendwann mal regiert? Sehr schwache Leistung, Caspian. Und er behauptet auch noch er hätte Einfluss! Die Kaiserin stöckelt auf uns zu und ihre Absätze klackern nur so auf dem polierten Boden. „Caspian! Kannst du mir das erklären, wo du mein Sprechen schon unterbrichst?!“ Sie ist stinksauer, aber das ist sie ja eigentlich immer. Caspian van Flemming sagt ruhig: „Nein, kann ich nicht. Aber es wird wohl nicht zuletzt an dir liegen.“ Oh, der Prinz ergreift das Wort. Meine Güte. Nicht sehr überzeugend, aber immerhin schon mal ein ganzer Satz. Er versucht wenigstens, das Ruder rumzureißen. Die Kaiserin schnappt entsetzt nach Luft. Sie ist Widerspruch durch ihren Sohn wohl nicht gewöhnt, noch ein Hinweis darauf, wie viel Einfluss er hier hat. „Hinrichtung!“
„Auf keinen Fall!“ Caspian.
„Tod durch-“ Katharina.
„Kommt nicht in Frage!“ Caspian.
Warum liegt ihm bloß so viel daran, mich zu beschützen. Eigentlich müsste er doch auf derselben Seite stehen wie seine Mutter und mich dafür verachten, dass ich geflüchtet bin vor der Monarchie und nicht zuletzt auch vor der Kaiserin. Diese kreischt nun aufgebracht durchs ganze Schloss: „Wer sich unerlaubt entfernt, muss eliminiert werden!“ Caspian schüttelt resolut den Kopf: „Niemals.“ Kaiserin Katharina van Flemming bedenkt ihn mit einem todbringenden Blick. Ihren eigenen Sohn. „Du bist jetzt mal still!“ Caspians Mund klappt auf und wieder zu. „Wo ist Ben Soldir? Der andere!“ Mein Atem geht schneller und ich gerate wieder in Panik. Ben, ich habe ihn schon wieder einfach vergessen, möglicherweise liegt er genauso röchelt im Busch wie Juno oder aber sie haben ihn bereits umgebracht. „Also?! Ich höre!“ Katharina van Flemming ist kurz vor mir stehen geblieben, ihre Augen sind unnatürlich weit aufgerissen, aber sie hat dieselben Augen wie Caspian. Ich schüttele Caspians Griff gekonnt ab und er lächelt mich verkrampft an. Daraufhin verkündet er, er müsse ein paar Worte mit seiner Mutter wechseln und die beiden biegen um die nächste Ecke. Ich höre noch wie Caspian ihr etwas ins Ohr knurrt, dann ist mein Entschluss gefasst und ich renne so schnell wie möglich den Flur entlang, bloß weg hier! Kaum einen Korridor weiter tritt plötzlich der Monokel-Mann aus einer Tür, ich komme schlitternd vor ihm zum Stehen und keuche, weil ich fast gegen ihn geraten wäre. Ehe ich mich besinnen kann, biegt die Kaiserin auch schon um die Ecke und sagt mitleidig von ihrem Klackern der Schuhe begleitet: „Ben ist weg! Ich werde Suchtruppen losschicken! Der Arme! Vermutlich bald tot. Dormian, was tun Sie denn hier?“ Was hat Caspian bloß zu ihr gesagt, allein würde sie nie auf die Idee kommen, auch nur einen Finger für Ben zu krümmen. „Nein“, murmele ich leise, reiße mich von dem Szenario los und renne weiter. So zumindest die Theorie, doch Dormian hält mich am Saum des Kleides fest und zieht mich zurück. Sofort fragt die Kaiserin freundlich: „Brauchst du etwas, Mädchen?“ Ich glaube ich habe mich verhört! Jetzt plötzlich? Ich frage misstrauisch: „Wollten Sie mich nicht eben gerade noch umbringen?“ Dormians Griff um mich herum macht es mir absolut unmöglich, abzuhauen. Sie lächelt breit und winkt ab. „Schon vergessen! Brauchst du nun etwas?“ Ja, ich brauche Ben und Freiheit und was ich am wenigsten brauche sind Sie! „Wo ist Caspian?“, rutscht es mir über die Lippen. Er schreitet ebenfalls um die Ecke, die den Flur von diesem Korridor trennt und kommt langsam auf mich zu, während die Kaiserin gequält kichert. Ich schaue Caspian verwirrt an. Ich verstehe das alles nicht. Ich, eine entflohene Dienerin, treffe den Sohn der Kaiserin im Wald. Dieser nimmt mich kurzerhand mit in das Schloss, wo seine Mutter mich erst umbringen und kurze Zeit später wissen will, ob ich etwas brauche! Die Kaiserin legt den Kopf schief, ganz als wolle sie auf meine Gedanken reagieren und damit sagen ‚Was verstehst du daran nicht? ‘ Zuzutrauen wäre es ihr. Der Prinz wirft einen wütenden Blick in Richtung seiner Mutter und ich versuche dies ebenfalls. Nach einem kurzen Schweigen bricht die Kaiserin plötzlich in Tränen aus, dabei weint sie allerdings so verstörend laut, dass ich annehme, dass sie es größtenteils nur spielt. Sie versteht vermutlich genauso wenig wie ich, was hier los ist. Der einzige, dem zuzutrauen ist, dass er weiß, was er hier will, ist Caspian. Aber auch da bin ich mir nicht sicher. Ich wende mich an ihn und frage leise: „Caspian, kann ich jetzt bitte gehen?“ „Wohin?“ „Weg, wieder in den Wald. Oder sonst wohin.“ Ich denke an den Tod und fühle mich hilflos. Kurz will meine Hand zum Stein in meiner Brusttasche greifen, doch ich halte mich zurück. Zu groß ist meine Angst, dass Caspian ihn mir wegnehmen könnte. Er scheint mit sich zu hadern, Caspian meine ich. Schließlich sagt er: „Wir sehen uns hoffentlich wieder.“ Dabei klingt er wehmütig, nicht sicher, ob er mich wirklich gehen lassen soll. Dormian versucht die Kaiserin zu trösten. Ich weiß nicht, was ich von Caspians Worten halten soll und frage ihn mit gerunzelter Stirn: „Was meinst du damit?“ Er schaut aus dem Fenster und als nach zwei schweigsamen Minuten keine Antwort kommt, rufe ich wütend: „Adlige! Alle gleich!“ und verschwinde den Korridor hinunter. Hinter mir vernehme ich auch seine Schritte, aber sie gehen in die andere Richtung.
Ich finde es immer noch höchst verwirrend, dass Caspian mich mit ins Schloss genommen hat, mich aber jetzt wieder gehen lässt. Seine Worte verwirren mich, er verwirrt mich. Er ist so anders als die Kaiserin. Viel einfühlsamer. Reifer, aber im gewissen Sinne immer noch ein Prinz. Ich bin total traurig, wütend und ratlos. Was mache ich bloß mit ihm? Wo soll ich ihn einordnen? Er ist mir ein Rätsel. Ich renne aus dem Schloss heraus und auf die nächstlegende Landstraße zu. Als sich meine Schritte verlangsamen, vernehme ich das Pulsieren des Steines. Männer, nicht wahr? Er kennt meine Gedanken. Natürlich, er besitzt mich ja schon fast, er ist der Tod. Mein Herz macht plötzlich Luftsprünge und ich lächle wie unter Drogen. Es fühlt sich an wie echte Freude. Es ist echte Freude. Wie fühlst du dich? Ohne Umschweife erzähle ich laut, was ich denke und wie ich mich fühle. Ich erzähle ihm, dass ich glücklich bin, wenn ich mit ihm sprechen darf und dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Und was ist mit dem Prinzen? Was hältst du von ihm? Kurz denke ich, dass mich diese Frage eigentlich verwirren sollte, aber das tut es nicht. Ich antworte ihm monoton, dass er schöne Augen und ein sanftes Wesen hat. Ich mag ihn, füge ich noch an. Es herrscht kurzes Schweigen, doch dann antwortet er, der Tod. Tatsächlich. Was denkst du von mir? Verträumt schaue ich ins Leere und murmele eintönig: „Ich liebe dich.“ Ich weiß nicht, ob stimmt was ich sage, aber es gibt keine andere Antwort, die in dieser Situation richtiger gewesen wäre. „Wirst du mich dieses Mal ein wenig länger an dich heranlassen, Venus?“ Ich drehe mich um und er steht hinter. Er steht dicht hinter mir, nicht einmal zwei Schritte trennen uns. Seine Haare wehen nicht im Wind und seine Haltung ist äußerst gerade. Er trägt einen schwarzen Anzug, der ihm perfekt passt. „Wenn du willst.“, antworte ich perplex. Er verringert die Entfernung zwischen uns und nimmt mein Gesicht in seine Hände. Seine blauen Augen durchstrahlen mich. „Ich wollte dich schon am ersten Tag.“ Ich verstehe den Sinn seiner Worte nicht, doch es macht mir nichts aus. Er beugt sich zu mir herunter und legt seine Lippen auf meine. Hilflos öffne ich meine Lippen und lasse den Rest Luft in meiner Lunge aus. Ich brauche dringend Sauerstoff. Seine Lippen verschmelzen mit meinen und enden in einem leidenschaftlichen Kuss. Seine Hand wandert meinen Körper herunter, dabei berührt er mich fast gar nicht. Er hinterlässt eine Gänsehaut und ein angenehmes Knistern, wo auch immer er mit seinen Fingern entlangfährt. Ich seufze genussvoll. Er ist bezaubernd, er ist wundervoll. Seine Zunge streicht sanft über meine Unterlippe und sofort erobert sie meinen Mund. Plötzlich sind sowohl seine Lippen, als auch seine Finger nicht mehr da, der Druck seines Körpers weicht von mir und ich falle zu Boden. Alle Gedanken prasseln wieder auf mich ein und der Nebel, der jedes Mal erscheint, sobald er in meiner Nähe ist, lichtet sich schlagartig. Mir fällt ein, dass er der Tod ist. Ob meine Gedanken von eben berechtigt waren, ist er wirklich so wundervoll? Will er mich nur glauben machen, dass er gut für mich ist? Er bekommt mich immer mehr unter Kontrolle und ich kann rein gar nichts dagegen tun. Seine Art fasziniert mich, doch seine Erscheinung lässt mich gefährlich werden. Gefährlich nah zum Abgrund treiben. Ob er mich irgendwann besitzt, weil mein Geist nicht stark genug ist, dem Nebel zu widerstehen? Das schlimmste aber ist, dass ich es will. Ich ersehne seine Berührungen und seine Nähe, weil er mich aufmuntert. Der rote Edelstein liegt reglos auf dem Boden. Schnell stecke ich ihn zurück dahin, wo er hingehört, zu mir und richte mich wieder auf.
„Dum-di-dum-di-dum!“ Oh nein, nicht Mark! Wie schafft er es bloß mich derartig zu belagern? Und vor allem nicht mitzubekommen, dass ich kein Interesse an ihm habe, geschweige denn, meine Zeit mit ihm verschwenden will. Er kommt betont lässig den Pfad entlang. „Es sieht immer noch blöd aus, wenn du die Luft küsst.“, bemerkt er nebenbei. Ich grummele wüste Beschimpfungen. Ich gehe davon. Blödmann. Er versteht nicht, wie wichtig mir das ist. Ohne es zu bemerken läuft mir eine Träne über meine Wangen. Der Wind scheint sie mir weg zu küssen und ein Windhauch scheint zu flüstern: Bis zum nächsten Mal, Venus. Ich zucke zusammen, als mich eine ungewollte Welle des Glücks durchfährt. Sie versiegt jedoch sofort wieder.
Es wird Abend und Stille senkt sich über das Land. Weit bin ich nicht gekommen, das Schloss ist kaum 500 Meter von mir entfernt. Dunkelheit senkt sich über die Ebene und ich habe kein Nachtlager. Mit der Nacht kommt auch die Kälte und kriecht durch meine Haut. Mark ist schon lange weg und ich sehne mich absolut nicht nach seiner Gesellschaft. Ich schleppe mich weiter. Weg vom Schloss. Von fern höre ich Hufgetrappel. Wer unternimmt denn jetzt noch einen Ausritt. Die Erde bebt und die Geräusche werden lauter, doch mir ist im Moment alles egal. Ich erkenne aus dem Augenwinkel, dass Caspians schwarzes Pferd neben mir angelangt ist. „Komm, ich bring dich ins Schloss.“, sagt er leise. Ich wanke und halte mich an seinem Steigbügel fest. „Ja…“, antworte ich müde. Er steigt ab und setzt mich auf sein Pferd. Dann schwingt auch er sich wieder drauf. Ich bin zu müde, um zu protestieren, deswegen halte ich meinen Mund. Langsam dirigiert er sein Pferd zurück zum Schloss. Nach kaum ein paar Metern sackt mein Kopf gegen seine Brust. „Schlaf gut.“, flüstert er mir zu. Er grinst schwach. Sofort schlafe ich an seiner Brust ein.
Meine Finger ertasten den weichen Stoff, auf dem ich liege. Bettwäsche. Hochwertige Bettwäsche. Ich schlage die Augen auf. Meine wohlig warme Decke habe ich wohl mitten in der Nacht aus dem Bett geworfen, denn sie liegt auf dem Boden. Ich liege in einem großen Bett mit weißem Bettbezug. Es steht an der Wand. Geradeaus sehe ich Bilder an den Wänden hängen, auf den meisten sind verschneite Winterlandschaften gemalt worden. Das Zimmer ist sehr prunkvoll. Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Caspian musste mich gestern hierhergebracht haben, nachdem ich an seiner Brust (!) eingeschlafen war. Wie peinlich! Was muss er von mir denken?! Ich richte mich auf und schaue, ob ich etwas anhabe. Meine Wangen werden rot bei meinen Gedanken. Aber ich trage immer noch das blaue Kleid, puh. Ich bin beruhigt, dass mich niemand ausgezogen hat. Doch ehe ich das verarbeitet habe, drängt sich ein anderes Gefühl in den Vordergrund. Ich fühle mich unwohl wegen des ganzen Prunk und Protzes. Ich fühle mich zerknittert. Gerade als ich aufstehen wollte, knallt plötzlich die Eingangstür gegen die Wand und Mark steht im Dienergewand vor mir. „Na?“, fragt er fröhlich. „Wurdest du befördert?“, frage ich besorgt. Um mein Wohl besorgt, da ich nicht denke, dass ich es länger aushalten würde, wenn er mich jeden Morgen so erschrecken würde. Erschreckenderweise bemerke ich im nächsten Moment, dass ich mich scheinbar damit abgefunden habe, jeden Tag hier aufzuwachen. „Nein, aber die Kaiserin meinte, ein paar vertraute Seelen würden dich aufmuntern!“ Die Kaiserin also… ich wusste, dass sie nichts tun würde, was meinem Wohl wirklich guttut. „Nein, im Gegenteil, ich möchte allein sein.“, antworte ich sachlich. Bloß nicht aufregen, führt ja eh zu nichts. Er verlässt zu meiner Überraschung sofort das Zimmer und lässt mich in Ruhe. Ich schwinge meine Beine aus dem bequemen Bett und stehe auf. Dann hole ich die Decke vom Boden und breite sie ordentlich auf dem Bett aus. Draußen zwitschern die Vögel im Innenhof. Ein anderer Diener erscheint im Türrahmen. Ich kenne ihn nur flüchtig. „Äh, Venus- ich meine, Miss Crowd, Sie sind bereits wach. Ich werde es dem Prinzen und der hochverehrten Kaiserin sogleich ausrichten.“ Ich nicke zögerlich, er schwitzt und ist verängstigt. „Haben Sie was anderes zum Anziehen für mich?“, frage ich den Diener höflich. Ich weiß ja, wie es ist, im Dienst angeschrien zu werden und das möchte ich dem Armen natürlich ersparen. Er nickt auf den Schrank zu und hastet dann zu Ihrer Majestät, um Caspian und der Kaiserin die Nachricht auszurichten. Ich gehe zum Schrank und gucke hinein. Ich ziehe mir ein hochwertiges Kleid an, das mich sofort als Prinzessin eingestuft hätte. Dazu trage ich Schuhe mit flachem Absatz. Nicht zu hoch. Das Kleid geht fast bis zum Boden. Vor einem Spiegel mache ich mir einen ordentlichen Dutt. Es klopft an der Tür. Ich murmele: „Herein.“ Ich bin es nicht gewohnt, Leute erst hereinbitten zu müssen. Caspian öffnet langsam die Tür. Der Prinz hat geklopft, wahrscheinlich ist er nicht dazu verpflichtet, macht es aber aus Anstand. Er lässt seinen Blick über mich schweifen und nimmt den Anblick mit großen Augen auf. Er sagt nach einiger Zeit: „Du siehst bezaubernd aus.“ Er sagt es fast schon ehrfürchtig. Gegen meinen Willen schnellen meine Mundwinkel nach oben und ich werde rot. „Danke.“, murmele ich. „Hast du gut geschlafen?“, fragt er sanft. Ich nicke und teile ihm lediglich mit, dass der ganze Luxus ziemlich ungewohnt ist. „Ich würde gern etwas essen.“, sage ich bittend, nachdem er mir mitgeteilt hat, dass ich mich daran gewöhnen werde. Er streckt einen Arm einladend aus und nimmt vermutlich an, ich würde mich unterhaken. Ich komme etwas schneller als normal auf ihn zu und ergreife seinen Arm. Er führt mich lächelnd aus meinem Zimmer zu einem großen Essensaal. Seine Augen strahlen und sein Blick schwebt immer mal wieder auf mir. In diesem Saal war ich beinahe noch nie, da ich so gut wie nie für irgendwelche Küchendienste eingeteilt worden bin. Am noch leeren Tisch stehen vielleicht ein Dutzend Stühle, er rückt einen nach hinten, damit ich mich setzen kann. Ich bedanke mich und setze mich. Auch Caspian setzt sich, neben mich. Die Kaiserin wird ebenfalls mithilfe dreier Diener herbeigeführt und setzt sich an die Spitze des Tisches. Sie eröffnet das Essen. Ich schaue unsicher zu Caspian. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Nähe der Kaiserin irgendwas herunterbekomme. „Greif ruhig zu.“, muntert er mich auf. Die Kaiserin nimmt sich eine Weintraubenrebe und isst sie zügig, gierig. Ich greife vorsichtig nach einem Apfel und beiße kleine Stücke ab. Caspian hält sich zurück. Ich schenke mir ein Glas Bananensaft aus einer Karaffe ein und greife unsicher, wo es anzufassen ist, das Glas. Die Kaiserin spitzt die Lippen, als sie sieht, wie ich das Glas anfasse. Auf einmal umschließt Caspians Hand meine und er führt sie ein wenig weiter nach unten. Er lächelt spitzbübisch. Ich schaue ihn erschrocken an, gucke dann jedoch sofort wieder auf meinen Teller. Seine warme Hand hat sich gut angefühlt. Sicher. Im weiteren Verlauf trinkt Kaiserin Katharina, während sie angestrengt versucht, Caspian und mich zu ignorieren, einen Espresso nach dem anderen und es herrscht Schweigen. Ich würde am liebsten Aufstehen und den Essenssaal verlassen, da mir dieses peinliche Schweigen ziemlich laut vorkommt. Caspian fängt meinen Blick auf, der nur zu gut zum Ausdruck bringt, wie gern ich von hier wegwill. Doch auch er weiß, dass es unhöflich ist vor der Kaiserin aufzustehen. Nach einem weiteren Zug aus ihrer kleinen, goldverzierten Tasse, richtet Kaiserin Katharina ihre Aufmerksamkeit schließlich doch auf mich und fragt mich harsch: „Möchtest du noch was?“ Ich bin schon lange fertig mit essen und verneine dankend. Sie nickt. Dann schiebt sie ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten, steht auf und tänzelt froh davon. Ich entspanne mich etwas. Meine verkrampften Schultern sacken zusammen und meine übertrieben aufrechte, höfliche Haltung verpufft. So wie der Tod immer. Plötzlich fällt mir etwas Entscheidendes ein und ich taste unauffällig nach dem roten Stein. Doch meine Brusttasche ist leer. Wo ist er hin? Hat Caspian ihn mir genommen? Ich wage einen verstohlenen Blick, aber er starrt nur auf den Tisch. Ich brauche meinen Stein, wie soll ich sonst mit dem Tod kommunizieren. Ich möchte nicht nochmal direkt bei einem Todesfall beiwohnen, es sei denn es ist Marks. Junos schrecklicher Tod sollte mir eigentlich ziemlich zu schaffen machen, doch entweder ich verdränge alles gekonnt oder der Tod nimmt mir das Grauen. Das fände ich sogar noch realistischer. Zum wiederholten Male grübele ich darüber nach, ob es Ben wohl gut geht. Ich vermisse den Stein und versuche gleichzeitig mich dagegen zu wehren. Es ist nicht richtig, mit dem Tod sprechen und ihn erwarten zu wollen. Caspian verlässt schweigend seinen Platz und fast genau zeitgleich erhebe ich mich ebenfalls. Er schaut mich fragend an und fragt: „Was möchtest du jetzt tun?“ Ich verschränke meine Finger von einer spontanen Nervosität gepackt. „Können wir rausgehen?“, frage ich mit fast schon piepsiger Stimme. Er nickt kurz. Wir verlassen also kurzerhand den prunkvollen Essensaal in den Flur. Diesem folgen wir nach rechts, am Ende durch eine weitere Tür in einen kreisrunden Empfangsbereich und von dort aus durch eine Hintertür aus Glas in den prachtvollen Innenhof. In der Mitte ist ein riesiger steinerner Springbrunnen mit einer Meerjungfrau, die auf einem Delfin reitet, während dieser sich mit einem zweiten verwebt. Aus der Hand der Frau und aus den Schnauzen der Delfine entspringt das klare, kühle Wasser und ergießt sich in einem großen Becken, welches von einem breiten Rand umgeben ist. Es plätschert angenehm. Überall um uns herum wachsen Blumen in allen möglichen Farben, gut organisiert, nach Farben geordnet und nicht eine Blume aus der Reihe tanzend, hauptsächlich Rosen und Tulpen. Ich erspähe kein Unkraut weit und breit. Viele Gärtner müssen hier jeden Tag arbeiten, um den Hinterhof intakt und wunderschön zu halten. Ich atme tief die Luft ein, die angenehm nach Blumen duftet. Es ist ein wundervoller Tag. Die Sonne knallt gleißend vom Himmel und taucht den Hof in ein helles Licht. Eine leichte Brise lässt die Blüten der Blumen schaukeln. Ich erfreue mich bei dem Anblick etwas derartig Schönem. „Einer der wenigen schönen Orte in diesem Schloss.“, erklärt Caspian hinter mir. Ich sehe ein, dass er Recht hat. „Er ist wohl nur für die ganz feinen Herrschaften gedacht. Ich bin noch nie hier gewesen.“, spreche ich aus, was ich denke. Vor Caspian van Flemming habe ich da keinerlei Skrupel. Irgendwie ist er kein Prinz für mich, sondern eher eine wunderbare Gesellschaft, so ähnlich wie Ben. Vermutlich weil ich Caspian nicht auf dem Thron, sondern im Wald zum ersten Mal angetroffen habe. „Ich zeige ihn nicht vielen.“, sagt Caspian nun, „Der Hinterhof ist nämlich ein Ort, an dem ich oft anzutreffen bin. Hier kann ich gut nachdenken.“ Hier läuft ja auch nicht ständig Personal herum. „Aber du zeigst ihn mir. Bin ich oft in deinen Gedanken?“ Die Frage ist sehr gewagt, aber ich muss es einfach wissen. Warum hat er mich hierher gebracht? Etwa nur weil ich an die frische Luft wollte und wir hier ungestört sind? Oder hatte es einen tiefgründigen Grund? Er tritt näher an mich heran, aber ich drehe mich nicht um. „Seit wir uns zum ersten Mal trafen, mehrmals am Tag.“, flüstert er andächtig. Ich wende meinen Kopf zu ihm und frage leise: „Wirklich?“ Er war auch oft in meinen Gedanken gewesen, doch nie wirklich, weil ich mir Gedanken darüber machte, ob ich ihn liebe, sondern eher wie das mit ihm weitergehen soll. Natürlich ist mir aufgefallen, dass es einen besonderen Grund haben muss, warum er mich mit zu sich nimmt und mir auch noch Unterkunft im Schloss anbietet. Aber ich bezweifle, dass ich seine gutmütige Art und vor allem seine Augen verdient habe. Dass er auch jeden Tag an mich denkt, bringt mich ehrlich gesagt, ziemlich durcheinander. Caspian, nun in meinem Blickfeld, nickt und lehnt seine Stirn vorsichtig an meine. Unsere Gesichter sind kaum noch voneinander entfernt. Ich spüre seinen Atem in meinem Gesicht. Seine Haare kitzeln mich leicht. Mich durchfährt ein Zucken. Lass das! Ein Zischen durch meine Gedanken. Ruckartig nehme ich meine Stirn von seiner. Dem Tod würde das nicht gefallen, ganz und gar nicht. Er hat mir eine Botschaft gesendet. Ich muss meinen Stein zurückhaben! Wo ist er?! Caspian bleibt unbewegt dort stehen und murmelt: „Irgendwas stimmt nicht mit dir.“ Er klingt nicht vorwurfsvoll, sondern besorgt. Seine Besorgnis würde mich aus der Haut fahren lassen, wenn ich nicht ungeheuer beherrscht wäre. „Du hast Recht. Ich…ich kann nicht.“ Ohne zu wissen, was ich überhaupt sagen will, stottere ich das hervor und schaue hilflos im Hof umher. Auf der Suche nach etwas oder jemandem, der mir erklärt, was hier vor sich geht und mir zeigt, was ich machen soll, denn ich kann es offensichtlich nicht allein. Caspian jedoch wird hellhörig. „Was kannst du nicht?“ Ich versuche ihm zu erzählen, was es mit dem Tod auf sich hat und dass ich eine sogenannte Todesflüsterin bin und was das bedeutet, bekomme es aber nicht über die Lippen. „Sag es mir!“, fordert er mich auf. Er möchte es wissen. Wahrscheinlich rechnet er mit Problemen in meiner Familie oder sowas. Irgendwas, was kleine Mädchen aus der Bahn wirft. Aber was ich ihm sagen will, ist eine ganz andere Dimension. Das ist nicht verständlich, nicht für ihn. Schließlich jedoch überwinde ich mich und erzähle ihm die ganze Geschichte von Anfang an. Auch, dass ich Ben im Wald verloren habe. Dass ich von einem Psychopathen angegriffen wurde und dass ich nicht weiß, was zu tun ist. Meine Küsse mit dem Tod verschweige ich so gut es geht und beschreibe nur, dass er mir immer wieder nah kommt und dann verpufft. Vermeiden kann ich aber nicht, dass mir hin und wieder, während ich erzähle, ein glückseliges Lächeln über die Lippen rutscht, wenn ich an den Tod denke. Als ich geendet habe, fährt er sich aufgebracht durch die Haare und streicht sich eine Strähne aus der Stirn. „Befrei dich von ihm.“, lautet sein einziger Kommentar. Ich schüttele hilflos den Kopf. „Wie denn? Immer wenn er bei mir ist, wenn er auch nur mit mir spricht, fühle ich mich glücklich. Ich kann nichts gegen ihn tun.“ Das ist die Wahrheit. Ich kann nichts gegen ihn ausrichten. Gegen seine Ausstrahlung. „Ruf ihn nicht. Wehr dich. Verfall ihm nicht. Lass dir helfen. Ich helfe dir. Wenn du willst!“, bietet er an. Er ist fast ebenso aufgelöst wegen des Geständnisses wie ich. Bereitwillig hat er mir alles geglaubt. Ob er bereits wusste, dass es Todesflüsterer gibt, oder ist er selbst einer? Ich weiß nichts über ihn. Trotzdem weiß ich, dass der Tod eifersüchtig auf ihn werden wird und wenn das passiert kann ich für nichts mehr garantieren. „Er wird dich töten! Ich glaube, es ist schon zu spät, ich bin ihm längst verfallen.“, schreie ich zuerst, doch während ich das sage, wird mein Ton immer leiser, bis ich schließlich nur noch flüstere. Immer noch mache ich mir keinen Kopf darüber, Caspian nicht mit Eure Hoheit oder sonstiges angesprochen zu haben. „Hoffnung hat jetzt höchste Priorität.“ Ich vergrabe aus einem plötzlichen Impuls und um es dem Tod zu beweisen, dass ich es kann, mein Gesicht an Caspians Brust. Sein Spruch war zwar wenig aufmunternd, aber er versucht mir zu helfen. Er versteht mich und ich kann ihm vertrauen. Hoffentlich. Er legt seine Hände behutsam auf meinen Rücken und murmelt mir zu, dass wir das schaffen. Wir. Er benutzt den Plural. Aus irgendeinem Grund macht mein Herz plötzlich Luftsprünge und ich erwidere seine Umarmung stürmisch. Ich halte mich wie ein Ertrinkender an ihm fest und ziehe mich an ihn. Er ist fest, er ist wirklich hier. Keine Illusion. Als er mir einen leichten Kuss auf mein Haar gibt, schließe ich die Augen und schmiege mich an ihn. Das ist doch keine Freundschaft mehr, oder? Empfinde ich etwas? Tut er es? Er sicherlich. Vielleicht hoffe ich auch einfach, in ihm jemanden gefunden zu haben, der mir hilft und zur Seite steht. Den perfekten Partner. Aber Liebe? Vielleicht entwickelt sich so etwas mit der Zeit. Bestimmt. Zum ersten Mal fühle ich mich fast so glücklich wie in der Gesellschaft des Todes. Aber eben auch nur fast. „Ich liebe dich.“, wagt er sich vor. Mir bleibt jedoch eine Antwort erspart, denn eine Dienerin stört unser trautes Zusammensein. Hoffentlich wird sie nicht tratschen. Ich reiße mich von Caspian los und sofort beginnt sie mit ihrem Bericht. Sie erzählt hastig, dass ein blonder, junger Mann aus dem Wald des Verderbens gestolpert gekommen ist. Gut soll er nicht ausgesehen haben. Aber halbwegs gehen konnte er. „Wo?! Wo ist er??“, frage ich hysterisch. Sie haben Ben gefunden! Endlich! Oh Gott, ich bin so froh! Wo er wohl ist? Überlebt er? Sind seine Verletzungen zu schwer? Die Dienerin schickt uns in die Krankenstation des Schlosses. Ich frage ihn aufgebracht, wo es sich befindet. Caspian legt die Stirn in Falten und sagt zu mir: „Komm mit, ich bring dich hin.“ Ich laufe schnell hinter ihm her. Er nimmt die große Wendeltreppe bis in die dritte Etage. Als wir oben ankommen, geht unser Atem ziemlich schnell, als ob wir einen Marathon gelaufen wären. Ich bin von Sorgen um Ben gequält. Caspian stößt schnell und fast ruppig die große Flügeltür auf. Auf einem der Betten liegt Ben. Verletzt und blutig. Die Kleidung, die ich für ihn gestohlen habe, hängt zerrissen und steif vor Blut an seinem Körper herab und sein Brustkorb hebt und senkt sich unregelmäßig und ziemlich langsam. Sein Mund steht offen, seine Lippe ist aufgeplatzt. Er ringt um Atem. Klaffende, noch immer blutende, oder schon wieder blutende Wunden zieren seine gesamte Brust. Seine Arme liegen schlaff neben seinem Körper. Die Kaiserin steht am Bett. „Was machen wir mit ihm?“
„Ben, Ben! Hörst du mich?!“ Ich höre meine Schreie nur am Rande des Bewusstseins. Sein Körper sieht geschunden und hart verwundet aus. Das Blut läuft in das weiße Bettzeug. Seine Haare sind verfilzt und dreckig. Ich renne zu ihm hin, doch seine Augen sind geschlossen. Seine Erscheinung ist nicht zu vergleichen mit dem Ben, den ich zum ersten Mal in meinem Zimmer angetroffen habe, vor nicht einmal einer Woche. Er hustet plötzlich, doch zum Glück ist es kein Blut. „Venus…“, röchelt er leise. Oh Gott! Er erkennt mich. Er lebt! Ich strecke zitternd eine Hand aus und streiche ihm mit kalten Fingern eine dreckige, blonde Strähne aus der glühenden Stirn. Darunter spüre ich ein paar Kratzer, aber sie sind bereits verkrustet und nicht mehr offen. Deshalb sind sie wohl auch nicht der Grund, weshalb er kaum sprechen kann. Seine Stimme ist brüchig und leise, aber an seinen Lippen kann ich seine Worte ablesen, die er versucht zu formen. „Mark. Verräter.“ Das ist alles, was ich verstehe, aber es reicht mir auch schon. „Was? Mark?!“ Ich wusste es. Kein Mensch ist so dumm wie Mark. Er hat sich bestimmt die ganze Zeit nur bescheuert gestellt, um Ben aus dem Hinterhalt anzugreifen. Kann Mark mit dem Tod sprechen? Stecken sie unter einer Decke? Wem kann ich noch vertrauen. Ben. Caspian? Mir selbst? „Er wird nicht hingerichtet.“ Ich sage es zu niemand bestimmten, aber jeder weiß, dass ich Ben meine, nicht Mark. Ben darf nicht sterben, er ist meine einzige Stütze. „Das wird nicht mehr nötig sein, er wird so oder so sterben.“, lässt die Kaiserin verlauten, als hätte sie sich bereits damit abgefunden, dass sie Ben verlieren wird und einen neuen Diener einstellen muss. Aber wahrscheinlich interessiert es sie einen Dreck. Geld dazu hat sie ja genug und solange ihr Sohn und sie selbst außer Gefahr sind, ist es ja auch alles egal. Ich hasse sie. Ben holt rasselnd Atem. Ich schreie sie an, obwohl ich mich nicht in der Position befinde, eine Regierungsperson anzubellen: „Dann verhindert es!“ Caspian verschwindet eiligen Schrittes. Ich hoffe für ihn, er holt Hilfe, sonst braucht er sich nie wieder zu mir zu scheren. Ich mache mir Platz auf Bens Bett, hebe seinen Kopf vom Kissen, ziehe dieses weg und setze mich dorthin. Dann lasse ich seinen Kopf in meinen Schoß sinken und beuge mich zu ihm runter. Ich flüstere ihm beruhigend zu, dass er durchhalten soll und dass ich ihn retten werde. Ich will es so sehr. Caspian wird Hilfe holen, er weiß, dass ich nicht von Bens Seite weichen kann, nicht jetzt. Deshalb ist er gegangen. Ich habe schreckliche Angst davor, dass Ben stirbt. Doch noch mehr quälen mich Fantasien, wie der Tod Ben nach seinem Tod weiterschikaniert und verletzt, quält. Aufs Übelste misshandelt. Erst jetzt, da ich in Bens Gesicht sehe, merke ich, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen und dann tropfenweise in seinem Gesicht landen. Ich gebe ein markerschütterndes Schluchzen von mir. Wie kann Caspian so lange brauchen?! Halte durch, Ben! Wir schaffen das. Ich brauche dich. Ben ist auch ein Todesflüsterer, ob er wohl gerade mit dem Tod verhandelt? Über Leben und Tod. Ben nimmt einen tiefen Atemzug, der sich nicht gut anhört und atmet dann zittrig wieder aus. Aber auf seinen nächsten Atemzug warte ich vergeblich. „NEIN! Ben, atme!“ Ich bin kurz davor, seinen Kopf zu schütteln. Ben schnappt entsetzt nach Luft und füllt seine Lungen. Ich atme erleichtert aus und streichele seinen Kopf unsicher. „Ja, gut so.“, lobe ich ihn. Ob Lob hilft?
Endlich! Caspian erscheint mit fünf weiteren Männern und Frauen in steril wirkenden Kitteln. Ich wische mir die Tränen von den Wangen. Alles wird gut. Die Ärzte eilen auf den kämpfenden Ben zu und machen sich mit flinken Händen und spezialisierten Fingern an die Arbeit. Das alles ging so schnell und die Befehle an die Assistenten waren so komplex, dass ich absolut nichts verstand. Dass ich weinte und immer noch nichts sah, machte auch nichts besser. Ich werfe Caspian einen tränenverschleierten, aber dankbaren Blick zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens und Zitterns verkündet einer der Ärzte, dass es gut aussieht. Ich seufze vor Erleichterung und schaue friedenfindend auf Ben hinunter. Er ist schon ein tapferer, abgehärteter Geselle. Ich bin mir fast sicher, dass ich das nie geschafft hätte. Seine Atmung hat sich derweil beruhigt und er scheint fast zu lächeln. Aber genau sehe ich es nicht. Ich weine nun mehr vor Freude als alles andere. Gerade wird irgendwas zugenäht, eine Fleischwunde unter Bens Herzen. Er war dem Tod sicherlich nur knapp entronnen. „Soll ich gehen? Ich meine, störe ich?“, frage ich mit dünner Stimme. Der Arzt lächelt mich kurz an, schüttelt den Kopf und sagt: „Dieser Mann braucht jetzt Ablenkung.“ Ich bleibe sitzen und erzähle Ben irgendwelchen unterhaltsamen Quatsch aus meiner Kindheit. Manchmal sind auch versteckte Beschimpfungen an die Regierung und die Kaiserin dabei. Ich bin mir sicher, Ben versteht diese Witze und entschlüsselt meine Worte. Es scheint fast, als ob er sich an meiner Stimme festhält, um nicht vor Schmerz ohnmächtig zu werden, nachdem sie eine Wunde nach der anderen professionell schließen und behandeln. Ich höre nicht auf zu erzählen, obwohl es ihn sicherlich nicht interessiert, was ich sage. Er lacht trotzdem hin und wieder, zuckt dann jedoch immer wieder zusammen vor Schmerz. Gesagt hat er noch nichts. Ich freue mich über jedes noch so kleine Lachen, weil es mir zeigt, dass er genug Kraft hat, mir zuzuhören.
Die Ärzte haben Ruhe verordnet. Ich habe Ben versprochen so bald wie möglich wieder zu kommen und ihn dann behutsam im Bett liegen lassen. Ich glaube, er war bereits eingeschlafen, als ich zur Tür hinaus war. Ich hatte ihn mit einem letzten besorgten Blick betrachtet, dann war ich zu Caspian gegangen. Schließlich war er nicht zuletzt, dafür verantwortlich, dass Ben lebte. Während niemand etwas unternommen hatte, hatte er mir geholfen und Ben gerettet. Als ich bei ihm ankomme, sagt er: „Wenn das nicht ein gutes Zeichen ist, es gibt auch noch Menschen, die sich dem Tod widersetzen können. Also schaffst du das auch.“ Sehr witzig, aber in dieser Situation ziemlich unangebracht. Ich habe die Ereignisse von heute glaube ich noch nicht genug verkraftet, um darüber lachen zu können. „Vorerst will er mich nicht umbringen, denke ich.“, antworte ich leise. In diesem Moment kommt doch tatsächlich Mark, dieser Verräter. Dieser hochgradig bescheuerte Typ. Dieses…. Ich knurre: „Hau. Einfach. Ab. Verräter!“ Mark scheint verwirrt. „Was will sie schon wieder, Vater, weißt du, was sie hat?“ Triton. Oh nein, nicht auch noch der. Er steht wirklich vor mir. Ziemlich edel gekleidet, jedenfalls im Gegensatz zu seinem sonstigen Outfit. Ich greife panisch nach Caspians Hand. Er drückt sie zurück, aber das ist nebensächlich. Ich sage viel zu schnell: „Caspian! Das sind ein Verbannter und sein Sohn. Seine Kumpanen sind sowohl an Junos Tod als auch an Bens Verletzungen schuld!“ Caspians Gesicht verdüstert sich, als er erkennt, wen er vor sich hat. „Sie wurden doch verbannt, weil sie sich an mehreren Mädchen vergangen haben!“ Marks Vater murmelt mit Macho-Miene: „Es hat sich gelohnt.“ Ekel. Ich reiße die Augen auf. Vergewaltigung, Missbrauch, das passt du ihm. Ich möchte ihn noch nicht mal in meinen Gedanken haben. Er lacht. „Caspian, verbann sie aus dem Schloss.“ Ich spreche ihn in aller Öffentlichkeit nicht mehr mit Eure Hoheit an. Caspian erklärt, dass er Triton zwar verurteilen kann, aber Mark nicht. Ich fasse es nicht. Laut Caspian gibt es keine Beweise für eine Straftat von Mark. Aber ich hab ganz genau gehört, was Ben gesagt hat. Er hat die Worte Mark und Verräter in einem Satz verwendet! Der Alte wird abgeführt und Mark bleibt. Triton wehrt sich kein bisschen. Wahrscheinlich sieht er ein, dass es eine sowieso sinnlose Tat war, hierher zu kommen. Ich bin nur halb zufrieden, doch ich komme zu keinem Wort mehr, denn Caspian richtet sein Wort an mich. „Komm heute Nachmittag um 15:00 Uhr zu mir, ja?“ Ich schaue auf die Uhr, die an der Wand hängt, es ist 10:00 Uhr. Was hat er vor? „Was soll ich machen in der Zeit und was machst du?“, frage ich verwirrt. „Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Du kannst tun, was du möchtest.“, teilt er mir mit. Ich glaube, er geht in den Hinterhof. Wohin sonst? Er will ja immerhin nachdenken. Er drückt leicht meine Hand in seiner und lässt mich dann los. Er haucht mir ein „Bis später“ zu und lässt mich stehen. Ach Mann. Was soll ich tun? Mein einziger Verbündeter, neben Ben, geht. Ich schaue ihm wehmütig hinterher. „Lust auf ein Date… mit… mir?“, dringt Marks Stimme an mein Ohr. Sicher nicht, Kleiner! Ich tippe mir genervt an die Stirn und gehe den inzwischen vertrauten Flur entlang in Caspians Garten. Ich möchte ihn sehen und ich möchte wissen, was er macht. Aber er ist nicht hier. Das Wasser plätschert vor sich hin. Ich setze mich an den Rand des Brunnens. Ich habe gemischte Gefühle, Hoffnung, Freude, Trauer, Hass, Verzweiflung. Wirrwarr. Mark wagt zum Glück nicht, hierher zu kommen. Oder er findet diesen Ort einfach nicht. Ich schaue verträumt in das klare Wasser und die sich spiegelnde Oberfläche, die immer wieder von Spritzern durchbrochen wird. Es fließt unaufhörlich. Ich pflücke mir eine Blume und halte sie gedankenverloren in der Hand. Ich freue mich, dass ich den Stein nicht mehr habe. Obwohl, ich vermisse ihn, oder? Bevor meine Gedanken Tiefe annehmen, unterbricht mich die Stadtglocke. Die von Pra Desch. Sie klingt bis hier hinten. Vermutlich, weil es hier so leise ist. So idyllisch. Ich zähle mit.
Voller Vorfreude gehe ich ins Schloss zurück, nach weiteren quälenden Stunden ist es nun endlich soweit. Ich weiß noch nicht mal, wo Caspian ist. Er hat mir auch nicht gesagt, wo wir uns treffen. Ich streife auf der Suche nach seinem Zimmer durch das Schloss. Alle Türen sehen nur leider gleich aus. Ich frage einen Diener. „Nächster Gang, erste linke Tür.“, lautet die Antwort. Ich bedanke mich und gehe dorthin. Die Tür steht einen Spalt offen. Ich klopfe an. Er hatte heute Morgen auch angeklopft. Er ruft mich herein. Zögerlich betrete ich das Zimmer. Caspian sitzt auf seinem riesigen Bett und legt meinen roten Edelstein auf seinen Nachttisch. Mehr von seinem Zimmer nehme ich leider nicht wahr, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, auf den Stein zuzuschnellen. Ich schnappe ihn mir und die ‚tödliche‘ Seite in mir funkelt Caspian böse an. Er hatte ihn mir die ganze Zeit vorenthalten. „Du musst den Stein vernichten.“, rät er mir. Pah! „Nein!!“, brülle ich ihn an. Er hat mir ja wohl gar nichts zu sagen! Das ist meiner, nur meiner. Der Tod ist meiner, nur meiner. Niemals werde ich ihn zerstören. „Wenn du von ihm los willst, musst du den ersten Schritt machen.“, sagt er ruhig und bedacht. Ich betrachte innerlich zerrissen den Stein und murmele: „Ich kann nicht.“ Caspian steht langsam auf und kommt kurz vor mir zum Stehen. Er streckt seine Hand aus und sagt hart: „Wenn du es nicht kannst, ich kann es.“ Meine Finger krallen sich den Stein und schließen sich krampfhaft um ihn. Ich werde ihn nicht hergeben, ich muss aber! „Es ist nur ein Wink. Gib mir den Stein. Ich will nur das Beste für dich!“, fordert er leise. Ich sehe es ein und gleichzeitig auch wieder nicht. „Nein. Ja.“, sage ich völlig verwirrt. Das Wirrwarr in meinem Kopf hatte sich ausgebreitet. Meine Hand hält den Stein immer unerschütterlich fest gepackt. Caspians große, warme Hände schließen sich um meine und er raunt: „Lass einfach los, Venus!“ Ich versuche es und gleichzeitig will ich es nicht. Ich kann einfach nicht loslassen. Am liebsten würde ich schreien. Das macht mich verrückt. Caspian seufzt. „Er will es nicht!“, rechtfertige ich mich. „Widersetz dich ihm!“, meint Caspian aufmunternd. Der hatte leicht reden. Alles, was er mir bisher gesagt hatte, hatte keinen Einfluss auf meine Mentalität oder gar auf meine Hand gehabt. „Wie soll ich das anstellen?“, frage ich verbittert. Er lässt meine Hand los und fährt sich verzweifelt durch die wuscheligen Haare. Er geht auf und ab und macht mich damit furchtbar nervös. Gerade als ich ihm sagen will, er solle das doch bitte lassen, fährt er mir dazwischen: „Lenk dich ab.“ Was sollte das denn?! „Dann kann ich ihn dir wegnehmen.“, fügt er hinzu. Als ob das funktionieren würde, klammerte mein Unterbewusstsein nicht auch an diesem Stein? Aber immerhin wäre es ein Versuch. Ob ich es schaffe oder nicht, steht in den Sternen. „Ja, das würde gehen, denke ich.“, sage ich wenig überzeugend. „Was lenkt dich ab?“, fragt er. Ich werde rot und starre auf seine Schuhspitzen. Natürlich war mir zuerst eingefallen, was mich beim Tod immer abgelenkt hatte, von der Welt abgelenkt hatte. Eine Verführung und anschließend… Ich spüre seinen Blick auf mir und sein sicherlich schiefes Grinsen. „Mach dich darauf gefasst, dass ich dich dann hassen könnte, weil du mir die Verbindung zum Glück genommen hast.“ Ich sagte es hart, damit er wusste, was auf ihn zukommen könnte. Doch es ließ ihn absolut unbeeindruckt. Stattdessen glaubte ich sogar, wir hätten für einen Moment denselben Gedanken. Wenn diese Plage aus der Welt geschafft war, konnte unser Glück kommen. „Irgendwann wirst du begreifen, dass ich dir die Verbindung zum Untergang abgeschnitten habe.“, murmelt er mir verschwörerisch zu.
„Der Teil, der ihm längst gehört, muss lernen, es zu begreifen.“
„Und der andere Teil?
„Der freut sich darauf.“
Er lächelt und hebt mein Kinn.
Zwei Sekunden später lächele ich unter seinen weichen Lippen. Ob das richtig ist oder nicht macht mir nichts aus. Schon bald greifen meine Hände in seine Haare (sie sind sehr weich und lassen sich gut verstrubbeln). Der Kuss ist anders als die mit dem Tod. Ich fühle alles, denke alles, was ich will und empfinde mehr. Beim Tod habe ich nicht gedacht, mich einzig und allein ihm hingegeben. Das wird mir letztendlich zum Verhängnis. Aber bei Caspian ist es leichter, ich kann mich auch fallen lassen und weiß, dass er mich auffangen wird. Ich weiß es, weil ich in der Lage bin zu denken, zu fühlen. Das Denken hat allerdings auch gewisse Nachteile, so zum Beispiel, dass ich den Stein partout nicht loslassen möchte. Egal, was Caspian unternimmt. Ich nehme außerdem sehr wohl wahr, dass er mich in Richtung Bett lenkt, was mich verunsichert. Er genießt es, ich auch. Sehr sogar. Ich versuche mich gehen zu lassen. Ob Caspian schon mal jemanden geliebt hat? Er lässt mich aufs Bett fallen und die Matratze wippt, als ich aufkomme. Doch er beugt sich zu mir herunter und bedeckt mich weiterhin mit Küssen. Ich versuche mit der anderen Hand seine Hemdsknöpfe zu öffnen, aber schaffe es nicht. Er haucht Küsse auf mein Kinn, meinen Hals. Sowohl meine als auch seine Atmung geht schneller und gleichzeitig genüsslich. Plötzlich spüre ich seine Hand an meiner. Ich versuche meine Finger mit seinen zu verschränken, bis ich merke, dass ja der Stein in meiner Hand liegt. Meine Finger lösen sich von ihm und Caspian nimmt ihn in die Hand. Nach einem letzten flüchtigen Kuss richtet er sich wieder zu voller Größe auf. Ich springe auf und greife sofort wieder danach. Doch er zieht seine Hand zurück. Wie kann er es wagen? Moment, das ist doch gut, oder? Aus einem unerklärlichen Grund fühle ich, dass dieser Kuss nur ein Mittel zum Zweck war und bin schrecklich enttäuscht. Ich weiß, dass es mir gefallen hat und ihm auch. Trotzdem werde ich dieses Gefühl einfach nicht los. Caspian weicht rückwärts vor mir zurück. Ich bleibe stehen und frage mich, was er vorhat. Wenige Sekunden später merke ich es jedoch, als er sein Schwert zieht und die Klinke auf den Stein treffen lässt. Bevor ich eine Empfindung in meinem Herzen habe oder ein Gedanke in meinem Gehirn verankern kann, kreische ich durchdringend. Er kann den Stein einfach nicht zerstören, das steht ihm nicht zu! Ich springe endgültig auf. Es ist ein Edelstein, also zerbricht er zum Glück nicht. Wahrscheinlich ein Rubin, immerhin ist er rot. Dass er nicht in tausend Teile zerspringt, könnte aber auch daran liegen, dass er vom Tod höchstpersönlich ist. Ich spüre bei jenem Versuch von Caspian, den Stein zu zerstören, indem er auf den Stein einschlägt einen immensen Schmerz in meiner Brust und höre förmlich das wütende Gebrüll des Todes. Ich schluchze trocken auf und renne auf meinen Edelstein zu. Doch Caspian kickt ihn mit der Stiefelspitze unter einen Schrank. Dann schnellt er auf mich zu und hindert mich im letzten Moment daran, mich auf den Boden zu schmeißen und den Stein wieder hervorzuholen. Seine Arme schließen sich von hinten fest um meinen Körper, sodass ich fast keine Bewegungsfreiheit mehr habe. Ich trete um mich und kreische verstört: „Gib ihn mir wieder!“ „Ganz ruhig, Venus. Es ist nur ein Stein!“ Caspians Stimme ist gefasst und ruhig, aber unter seiner Oberfläche brodelt vermutlich so etwas wie Schmerz oder Entsetzen, wie sehr ich diesen Stein brauche. Vielleicht muss er auch einfach damit leben, dass der Stein und damit der Tod ein Teil von mir sind. „Er gehört ihm! Er ist sein! ICH bin sein!“, schleudere ich ihm ins Gesicht. Er hält mir wirksam den Mund zu und zischt alles andere als ruhig und gefasst: „Befrei dich von dem Gedanken Du bist nur solange sein, wie du es selbst glaubst!“ Ich bin weiterhin völlig außer mir. Der Tod sollte nicht unter irgendwas liegen, er ist zu mächtig. Caspian sollte mehr Respekt zeigen! Ich schmeiße ihm wahllos Beschimpfungen an den Kopf, aber zu meiner Enttäuschung erträgt er alles widerstandslos. „Alles wird gut. Es ist nur ein Stein.“, murmelt er mir immer wieder zu, wie ein Mantra. Ich merke, wie ich heiser werde, ich krächze nur noch und bin erschöpft, meine Kräfte haben dramatisch nachgelassen. „Venus? Was fühlst du?“, fragt Caspian nervös. Ich schüttele nur den Kopf, kein Bedarf zu reden. Muss Gefühle unterdrücken, solange es geht. Ich sinke auf den Boden, nachdem meine Beine mir ihren Dienst versagen und bleibe zusammengekauert dort sitzen. Ich vergrabe das Gesicht in den Händen. Ich bin ausgelaugt und zu nichts mehr fähig. Selbst die Versuchung, den Stein zu holen hat nachgelassen. Caspian streicht mir sanft über den Rücken. „Wie willst du ihn zerstören?“, frage ich rau und leise. Ich weiß sehr wohl, dass wir eben den ersten Schritt getan hatten. Mehr als eine halbe Stunde stand ich mit ihm da und habe um mein Leben geschrien. Das kann der Tod nicht einfach so hinnehmen und Caspian auch nicht, geschweige denn ich. „Ich kann ihn nicht zerstören. Nur dem Tod zurückgeben.“ Was? Ich zucke zusammen. Wie will er das anstellen?! „Er wird ihn nicht annehmen.“, warne ich ihn. Sein Tonfall ist schon ein wenig heiterer, als er sagt: „Ich werde ihm den Stein in die Hand drücken und gehen.“ Ich frage mich, wie er in diesem Moment einen Witz reißen kann. Ich schweige. „Hasst du mich jetzt?“, fragt er leise. „Die Seiten schweigen.“, gebe ich ihm wenig gesprächig zur Antwort. Was erwartet er auch von mir. Er hat mir eben einen absolut schwachsinnigen Plan vorgestellt. Er kann den Tod ja noch nicht mal sehen. Erwartet er am Ende, dass ich dem Tod den Stein in die Hand drücke und nebenbei noch sage, dass es schön war, ihn kennengelernt zu haben? Ich klammere mich an Caspian, er soll mich bloß nicht allein lassen. Gleichzeitig würde ich nichts dagegen haben, von ihm allein gelassen zu werden, um mit dem Tod in Ruhe reden zu können. Ich bin innerlich zerrissen.
Es stupst jemand gegen die Tür und sie schwingt auf und knallt lautstark gegen die Wand. Ich höre einen leisen Fluch und keine Sekunde später humpelt Ben auf Krücken in das Zimmer. Ein Wunder, dass er überhaupt schon laufen kann, geschweige denn eine Tür aufkriegt mit den Dingern. „Die Kaiserin wollte, dass ich gucke, was bei euch los ist.“, meint er fast gelangweilt. Ich freue mich tierisch, ihn so lebendig zu sehen. Besonders nach dieser schmerzhaften Tortur, die sowohl er als auch ich hinter mir habe. „Ben!“, rufe ich immer noch heiser. Er grinst breit und kommt schwächlich ins Zimmer, aber natürlich versucht er, den Starken zu mimen und lässt sich nichts anmerken. „Ich störe euch hoffentlich nicht.“ Ich bin mir fast sicher, dass es ihn nicht interessieren würde, wenn dem so wäre. Er zuckt kurz zusammen, wahrscheinlich weil er mit dem falschen Fuß aufgesetzt hat. „Nein.“, antworte ich kurzbündig. Beiläufig werfe ich einen Blick auf den Stein, nur um zu gucken, ob er noch da ist. „Ich habe gehört, du bist auch ein Todesflüsterer?“, fragt Caspian Ben interessiert. „Was ist ein Todesflüsterer?“, fragt Ben, während er es sich auf Caspians Bett bequem macht. In Anbetracht dieser wichtigen Tatsache, ist er sehr entspannt. „Du redest mit dem Tod, oder?“, fragt Caspian hartnäckig. „Abgesehen davon, dass ich ihm nur knapp entronnen bin, manchmal.“, antwortet Ben geheimnisvoll. Das darf nicht wahr sein. Auch er kann sich dem Tod nicht entziehen. Obwohl ich weiß, dass er nicht denselben Tod sieht. Er sieht diese Frau. „Hast du sie geküsst, die Frau?“, mische ich mich nun auch in das Gespräch ein. Der arme Ben weiß gar nicht, wie ihm geschieht, doch er antwortet brav, was so gar nicht seiner Art entspricht: „Erst… dann hat sie mich gefoltert.“ „Gefoltert?!“, hake ich erschrocken nach. Gefoltert! Steht mir das auch bevor, wenn ich nah am Tod bin? Ben nickt einmal und wendet sich dann Caspian zu. „Warum möchten Sie…“, setzt er an. Doch Caspian wirft ihm einen vielsagenden Blick zu und er fängt von vorne an. „Warum möchtest du das wissen?“ Er geht zu meiner Überraschung zu dem Stein und in diesem Augenblick macht es Klick. Er will Ben dazu benutzen, mir den Stein wegzunehmen und ihn dem Tod wiederzugeben. Caspian holt den Stein hervor und ich raune Ben zu: „Nicht, Ben!“ Meine Augen reiße ich auf und ich schüttele meinen Kopf, damit er mitbekommt, dass ich es ernst meine. „Das mache ich, nicht Ben!“, sage ich laut. Nie in meinem Leben werde ich Bens Leben nochmal in Gefahr bringen, nur weil ich in Gefahr bin. Niemals. „Davon träumst du, oder?“, fragt Caspian ironisch, „Ich gebe dir den Stein nicht nochmal. Also?“ Sein Hauptaugenmerk liegt wieder auf Ben. Dieser zuckt mit den Schultern und sagt: „Ist schließlich nichts dabei, nicht wahr? Was soll ich genau tun?“ Ich glaube, er hat noch nicht verstanden, dass er damit sein Leben aufs Spiel setzen könnte. Wie kann er so leichtfertig mit sich selbst umgehen, ist das bei Leuten, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind etwa immer so? Ich kreische ohne Stimme wegen meiner Heiserkeit: „Nichts dabei?!?!“ Bens Miene wird die eines genervten Elternteils und er sagt leichtfertig: „Venus, reg dich ab. Es ist nur ein Stein. Ich soll dieser Frau nur einen Stein geben.“ Nur ein Stein?! Das ist DER Stein. Der bedeutendste aller Steine auf der Welt. Ich drehe fast durch und sage: „Sie ist der Tod!“ Und meine damit natürlich die Frau. „Du musst es mal ruhiger sehen. Ich schaff das. Sieh mal, dann sind wir wieder alle in Sicherheit.“, beruhigt er mich wirklich ungemein. (Ironie) Ich schaue ziemlich zweifelnd. Er setzt ein seiner Meinung nach unwiderstehliches Lächeln auf und fragt: „Lässt du mich gehen?“ Meine Augen suchen seinen Blickkontakt und ich gebe ihm zu verstehen, dass ich das nicht lustig finde. „Ich habe Angst um dich.“, sage ich ernst. „Ich kann auf mich selbst aufpassen. Aber ein schöner Gedanke, dass du an mich denkst.“ Sein Grinsen breitet sich aus. Das dieser Idiot auch alles in den falschen Hals bekommen muss. Für eine Sekunde stiehlt sich ein Lächeln in mein Gesicht. Doch es verschwindet sofort wieder, als Ben zum Fenster humpelt und es aufklappt. Ich habe ja sogar jetzt schon Angst um ihn, dass er von seinen Krücken fällt oder ein Fenster auf ihn einschlägt. Das ist natürlich vollkommen absurd und ich sollte aufhören mich wie eine überkandidelte Mutter aufzuführen. „Du machst es also?“, fragt Caspian ausdruckslos. Mir ist klar, dass ihm nur mein Wohl am Herzen liegt und vielleicht Bens. Aber ich habe Vorrang. Aber ich möchte nicht, dass jemand für mich stirbt und dass alles über meinen Kopf hinweg geregelt wird, finde ich auch alles andere als gut. „Wie oft soll ich es denn noch bestätigen?“, fragt er langsam genervt. Ungeduldig war er ja schon immer. „Gib mir den Stein.“, fordert er. Caspian drückt ihm den Stein in die Hand und als er in Bens Hand liegen bleibt, fängt er an zu pulsieren. Wie bei mir. Ich starre mit glasigen Augen auf das Prachtexemplar von einem Stein. Caspian flüstert Ben etwas ins Ohr, der von der Schönheit des Steines unbeeindruckt bleibt und dieser steckt ihn sich in die Brusttasche. Wie ich auch. So viele Parallelen. Es flackert leicht. Ich folge dem Stein mit meinem Blick vom Boden aus. Caspian schreitet zu mir und hält mir eine Hand hin. Ich ergreife sie fest und er zieht mich in einer einzigen flüssigen Bewegung hoch. Selbst als ich stehe, lässt er mich nicht los. „Dieser Stein strahlt Macht aus. Er ist faszinierend.“, sagt Ben. Caspian rät ihm, die Frau nicht zu rufen, aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dieser Tipp absolut gar nichts nutzt. „Schau weg von dem Stein.“, rate ich ihm stattdessen. Er guckt weg. Dann humpelt er auf den Krücken nach draußen. Ich habe absolut keine Ahnung was er vorhat, aber wünsche ihm viel Glück. Ich denke, dass er keines haben wird. Verscheuche diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Caspian tritt auf der Stelle, nervös. „Er ist stark, vermutlich stärker als du.“ Ich nehme diese Beleidigung jetzt einfach mal hin. „Wie meinst du das, stark?“, frage ich stattdessen. Er sagt: „Sowohl seelisch als auch körperlich.“ In diesem Moment hören wir beide ein Lautes Rums. Ich glaube, wir denken in diesem Moment beide, dass Ben wohl doch nicht so stark gewesen sein kann.
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner besten Freundin, die mit mir zusammen eine WhatsApp Geschichte geschrieben hat, aus der dieses Buch resultiert.