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„Schrecklich, nicht wahr?“ Sie beugte sich über seine Schulter, so dass sein Blick unweigerlich in ihren aufreizenden Ausschnitt fiel. Ihr Parfüm war billig und roch penetrant.
Er nickte.
Die aufgeschlagene Zeitung zeigte ein Bild des Leiters der Coleman Heilanstalt, der des Mordes an unzähligen Obdachlosen, Prostituierten und heimatlosen Einwanderern überführt worden war. “Der Schlächter von Steamtown” lautete die marktschreierische Schlagzeile.
„Sie sehen aus, als suchten Sie Gesellschaft. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Auf einen Drink? Einen Sherry, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
Der Barmann brachte das Gewünschte. Und einen Chateau Rêve für den Herrn.

Sie schaute ihn von oben bis unten an. Die blonden, fast weißen Haare fielen in sanften Locken über seine Schultern. Die Fingernägel waren sorgfältig manikürt. So etwas sah man selten. Jedenfalls hier in diesen Etablissements. Seine stahlblauen, beinahe kalt wirkenden Augen musterten sie interessiert.
„Eine anständige Frau hat sich nachts ja kaum noch auf die Straßen getraut“, begann sie im Plauderton. „Sie glauben, dass ich keine anständige Frau bin?“
In gespielter Entrüstung stemmte sie die Hände in die Hüften und neigte keck den Kopf zur Seite. „Ich beweise Ihnen gern, wie anständig ich bin. Barmann, noch einen Drink für mich und diesen anständigen Herrn! Sie sind ganz gewiss einer, in Ihrem feinen Anzug und mit der teuren, plasmagetriebenen Taschenuhr. Sehr vornehm. Wie? Oh, keine Sorge, ich gehöre nicht zu diesen Menschen. Ich habe lediglich einen Blick für so etwas, weil mein Vater Uhrmacher in der Pinkton Street war. Er hatte sogar einen eigenen Laden. Ich kann also mit Fug und Recht behaupten, dass ich einmal eine feine Dame war.“
Sie lachte. Laut und ordinär. „Jedenfalls bevor das Plasma die mechanischen Uhrwerke beinahe überflüssig machte. Und dann kamen der Krieg auf dem Kontinent und die Rezession. Die haben das Geschäft meines Vaters endgültig ruiniert und ihn letztens Endes umgebracht. Als er starb, war er ein gebrochener Mann. Ganz wie in diesen romantischen Fortsetzungsgeschichten, die man für einen Penny in der Mall Street kaufen kann - Doch genug davon…“
Sie deutete erneut auf die Zeitung.
„Der Schlächter von Steamtown. Da haben wir all die Monate gedacht, dass es sich um einen mörderischen Lüstling handelte, um einen Gentleman von hohem Stande, mit einem düsteren Geheimnis. Oder vielleicht um einen von diesen puritanischen Eiferern, der das Schmutzige und das Verbotene, all das, was ihm selbst nie vergönnt war, von den Straßen vertreiben wollte. Und am Ende stellt sich heraus, dass man all die armen Menschen nur für irgendwelche Experimente missbraucht hat. Zu Wiedergängern soll man sie gemacht haben, oder so etwas Ähnliches. Irgendwie gewöhnlich, findet Ihr nicht? Ihr nickt? Ihr seht es ganz genauso, wie ich, nicht wahr? Emotionslose Morde im Dienst der Wissenschaft. Ein trauriges Ende ohne Leidenschaft. Ohne Platz für düstere Legenden und herzzerreißende Schicksale.“
Sie lachte erneut ihr lautes und ordinäres Lachen, ließ sich vom ihm zu einem weiteren Sherry einladen. Der billige Alkohol begann, langsam seine Wirkung zu entfalten.
„Ich weiß, wir sollten dankbar sein, dass es vorbei ist. Aber irgendwie hatte es ja seinen Reiz. Die Gefahr, das Ungewisse, das Abenteuer…“ Sie strich mit dem Zeigefinger sanft über seinen Oberarm.
„Wer ist der Fremde, dem ich gegenüberstehe? Kann ich ihm vertrauen? Ist er ein Abenteurer? Ein Jäger? Oder gar ein gewissenloser Mörder?“
Sanft legte sie die Hand unter sein Kinn und schaute ihm in die unergründlichen Augen. „Ihr seid ein Abenteurer, das sehe ich Euch an. Ein Fremder in der Fremde, ohne ein liebendes Herz, das Zuhause auf Euch wartet. Ein Glücksritter vielleicht, der auf dem Kontinent mit dem Plasma sein Glück gemacht hat. Ein Mann, der das Abenteuer sucht, um zu vergessen. Habe ich recht? Dachte ich es mir doch. Ich kenne mich gut mit Menschen aus… oh, ich sehe schon, meine Worte beginnen, Euch zu langweilen. Ihr habt recht, ich rede manchmal zu viel. Dabei gibt es so viele andere Dinge, die wir tun könnten, heute Nacht.“

Sie hakte sich unter, als er ihr seinen Arm bot, bewunderte seine Muskeln, seine geschmeidigen Bewegungen. Beinahe katzengleich, fand sie. Wie bei einem Raubtier. Vielleicht war er ja doch ein Jäger? Bei diesen Kontinentlern wusste man das nie so genau, sie waren immer so unergründlich.
Ob er eine Droschke rufen sollte? Nein, ein kleiner Spaziergang würde ihnen gut tun. Der Alkohol machte den Kopf schwindeln. Und was sollte schon großartig passieren, jetzt wo die Gassen wieder sicher waren, bei Nacht, nicht wahr?
Nun zumindest so sicher, dass ein kräftiger Gentleman eine junge Dame unbehelligt nach Hause begleiten konnte.
Seine kalten Augen musterten sie amüsiert und sie lachte erneut ihr lautes und ordinäres Lachen. Es schien ihm zu gefallen. Langsam zog er sich die dünnen, schwarzen Lederhandschuhe über und schaute nach oben in den wolkenverhangenen Himmel über Steamtown. So verharrte er einen Augenblick. Das Uhrwerk der Lower Sanction Church schlug gerade Zwölf.

Eine dunkle, menschenverlassene Gasse.
Noch vor kurzer Zeit hätte sie ein mulmiges Gefühl gehabt, wenn sie dort hindurchspaziert wäre. Doch jetzt war es ja vorbei, man hatte den Jäger gefasst. Den Mann, der so ohne Leidenschaft getötet hatte, ohne Sinn für Romantik und Gefühle. Ohne Sinn für tiefe, für wahrhaftige Emotionen. Sie schaute zu ihrem Begleiter hinauf, dessen Augen sie im trüben Schein der wenigen Plasmalaternen noch immer amüsiert anblitzten.
Jetzt gab es nur noch sie.

Lächelnd erwiderte sie seinen Blick und zog das dünne Skalpell hervor.


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Texte: ©2009 Alle Rechte vorbehalten.
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2011

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Widmung:
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