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Es war entsetzlich kalt.
Feine, glitzernde Flocken, mehr Eisstaub als Schnee, tanzten vom grauen Himmel herab und es fing an, dunkel zu werden. Es war der letzte Abend im Jahr, Neujahrsabend.
Nur wenige Leute noch waren auf den Straßen unterwegs und von denen hasteten die meisten nach Hause, die Köpfe zwischen die Schultern gezogen, die Hände in den Taschen der Mäntel vergraben. Selbst der allgegenwärtige Strom von Fuhrwerken, Droschken und Wagen war heute dünner. Der neue, weiße Schnee legte sich über den schmutzig grauen des Tages. Er verwischte die Spuren der Menschen und der Räder und wuchs unter den erwachenden Laternen zu schimmernd grünen Laken.

In dieser Kälte und Dunkelheit ging ein kleines Mädchen mit bloßem Kopf und abgerissenen Kleidern auf der Straße umher. Seine Füße waren trotz der bitteren Kälte bar.

Es hatte zwar Schuhe angezogen, als es von zu Hause weggegangen war, aber das half ihm jetzt nichts. Es waren ein paar alte ausgetretene Arbeitsschuhe gewesen. Eine der Aufseherinnen hatte sie so lange getragen, bis sich das Reparieren nicht mehr lohnte. Groß und löchrig waren sie gewesen – und die Kleine hatte sie verloren, als sie schnell über die Straße laufen wollte. Einem wütend hupenden Dampfwagen war sie gerade noch ausgewichen. Doch der eine Schuh war danach zwischen all den Pferdehufen und Rädern und Reifen und schmutzigen Haufen aus Schneematsch nicht wiederzufinden gewesen. Mit dem anderen rannte ein grinsender Straßenjunge davon.

Da ging nun das arme Mädchen mit seinen nackten Füßen, die rot und blau vor Kälte waren. In einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzchen und einen Bund davon hielt sie fest in der Hand. Niemand hatte ihr den ganzen Tag über etwas abgekauft, niemand hatte ihr auch nur ein Almosen gegeben.
Hungrig und verloren ging sie umher und sah so jammervoll aus. Schneeflocken fielen in ihre struppigen, langen Haare und sammelten sich auf ihren schmalen Schultern. Aus den Fenstern der Häuser um sie herum fiel das helle Licht von Plasmalampen und Hunderten festlicher Kerzen auf die Gehsteige und mit ihm kam ein angenehmer Geruch von Gänsebraten, der die stinkenden Abgase des Tages verdrängte. Es war ja auch Neujahrsabend!
Daran dachte sie, während sie mit tauben Füßen immer wieder über Klumpen gefrorenen Schnees stolperte.

In einer Ecke zwischen zwei Häusern setzte sie sich schließlich nieder und kauerte sich zusammen. Die kalten Füße hatte sie an sich gezogen, aber sie fror immer mehr.
Zurück ins Heim durfte sie nicht gehen – sie hatte ja keine Schwefelhölzchen verkauft, keine Almosen bekommen! Die Schwestern würden sie hungrig lassen. Nein, korrigierte die Kleine sich gleich darauf. Soviel Glück würde sie nicht haben. Sicherlich würde sie wegen der verlorenen Schuhe sogar mit dem Riemen gezüchtigt werden, bis Sitzen und Liegen eine Qual wären. Darüber hinaus war es ja auch im Schlafsaal des Waisenheimes kalt, wo sie nur das Dach über sich hatten, und der Wind durch die undichten Fenster pfiff.
Zitternd presste das Mädchen seine unverkaufte Ware an sich. Eine Schürze voll Holz und Wärme. Es kam ihr ungerecht vor. Obwohl sie natürlich wusste, dass es mit Gerechtigkeit in der Welt nicht weit her war.
Und doch – ein kleines Schwefelhölzchen würde ihr gut tun. Dürfte sie nur ein einziges aus dem Bund herausziehen, es an der Mauer anreißen und die Finger daran wärmen!

Lange Minuten saß sie in der dunklen Ecke.
Der Wind strich leise um sie herum, trug ihren Atem in dünnen, weißen Wölkchen aus ihrem Mund und die Kälte kroch ihr aus dem Pflaster den Rücken hinauf.
Schließlich wagte sie es doch. Mit steifen, zitternden Fingern zog sie eines der Hölzchen aus dem fest geschnürten Bündel. Fast fiel es ihr aus der tauben Hand, als sie es über die Mauer zog. Dann jedoch erwachte der Schwefelkopf zischend und fauchend zum Leben.
Eine warme helle Flamme lohte auf, wie ein kleine Kerze und sie glaubte, vor einem großen, eisernen Ofen mit Messingknöpfen und rumpelndem Kasten zu sitzen, als sie die Hand um das wunderbare Licht hielt. Das Feuer brannte so schön, erwärmte so herrlich! Sie streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen - da erlosch die Flamme.
Der Ofen verschwand und das kleine Mädchen saß da mit dem Überrest des ausgebrannten Schwefelhölzchens in der Hand.

Nun zündete sie ein zweites Schwefelholz an.
Das brannte und leuchtete so hell wie das erste und wo sein Licht auf die Mauer fiel, da wurde diese so durchsichtig wie Glas. Die Kleine konnte geradewegs in die Stube hineinsehen, wo der Tisch glänzend weiß mit feinem Porzellan gedeckt stand. Köstlich dampfte, mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt, die gebratene Gans. Und was das Allerköstlichste davon war: Die Gans watschelte mit Messer und Gabel im Rücken über die Diele und geradewegs hin zu dem armen Mädchen!
Da erlosch auch das zweite Schwefelhölzchen und nur die kalte Mauer war noch zu sehen.

Sie zündete ein neues an.
Da saß sie auf einmal unter dem schönsten Festtagsbaum. Viel tausend Lichter brannten in den grünen Zweigen und bunte Bilder, wie sie in den Ladenfenstern aushängen, blickten auf sie herab.
Die Kleine streckte beide Arme danach aus, da erlosch das Schwefelhözchen, die vielen Festtagslichter stiegen höher und höher und sie sah sie nun als klare Sterne. Einer davon viel herab und ließ im Fallen einen langen Feuerschweif am Himmel zurück.
“Nun stirbt jemand!” flüsterte das arme Mädchen.
Denn die alte Großmutter, welche die Einzige gewesen war, die es gut mit dem Kind gemeint hatte, hatte gesagt: “Wenn ein Stern vom Himmel fällt, so steigt eine Seele hinauf.”

Wiederum strich sie ein Schwefelhölzchen an der Mauer an, das weit umher leuchtete.
Und in seinem Schein sah sie die alte Großmutter klar und deutlich stehen; sie lächelte sanft und liebevoll.
“Großmutter!” rief die Kleine, “Oh, nimm mich mit! Ich weiß, dass du wieder verschwunden bist, wenn das Schwefelhölzchen ausgeht – verschwunden wie der warme Ofen, die gebratene Gans und der schöne Festtagsbaum!”
Und sie strich eilig alle noch übrigen Schwefelhölzchen an, um die Großmutter festzuhalten. Die Schwefelhölzchen leuchteten mit solchem Strahlen, dass es heller wurde als der helle Tag. Noch nie war die Großmutter so schön und so hold gewesen! Sie nahm das kleine Mädchen an ihre Hand und flog in Glanz und Freude mit ihr so hoch dahin, dort, wo es keine Kälte, keinen Hunger und keine Furcht und keine Angst mehr gab.

Aber schließlich erlosch das letzte Hölzchen.
Die Großmutter lächelte und neben sie trat eine dunkle Gestalt.
Das war jemand in einem Mantel wie schwarze Flügel. Sein Gesicht war so weiß wie der Schnee und dort, wo bei uns Menschen die Augen sind, waren nur zwei dunkle Brunnen.
Die Großmutter legte die kleine Hand des Mädchens in jene des Mannes und verschwand. Die Finger des Mannes aber waren hart und bleich und kalt wie das Pflaster unter ihren Füßen.

Und da wußte das Mädchen, dass es ein Engel war.
Der Engel der Toten, der sie jetzt aufhob, als sei sie nicht schwerer als eine Feder. Sie hatte von ihm gehört, hatte die größeren Kinder des Nachts in den Betten flüstern gehört, wie er die Seelen aus den Straßen tilgte. Wie er jene Verlorenen, die keinen Platz auf der Welt hatten, in seinen Armen davon trug. Und ja, auch sie hatte keinen Platz mehr in der Welt, dachte sie, als die Dunkelheit sie umfing.


Es war ein langer Weg, den der Engel sie trug, eingehüllt in tiefste Finsternis. Sie spürte die Kälte nicht mehr, sie fühlte den Wind nicht mehr und alle Sterne waren verschwunden. In tiefster, samtener Schwärze schwebte sie dahin, in den Armen des Engels.
Die Luft war schal, verbraucht und tot. Unsichtbar im Dunkel huschten ungesehene Dinge, trippelten Schritte, wisperten Stimmen Worte, die sie nicht verstand. Doch das berührte sie nicht. Im Arm des Engels war sie geborgen. Und nach einer Weile verschwand das Mädchen, löste sich auf in der Nacht.

So war es also, wenn man starb. Man wurde vom Engel in die Unterwelt getragen, wo man die Welt in den Schatten vergaß. Für einen Moment dachte sie an jene Seelen, die aufstiegen, wenn Sterne fielen.
Doch das waren andere Seelen, reine Seelen. Sie war nicht rein. Das wusste sie. Sonst hätten die Schwestern sie nicht immer wieder bestraft, hätte sie nicht die Narben des Riemens auf ihrem schmalen Rücken. Die Schwestern hatten schließlich recht gehabt. Sie war nicht aufgestiegen in den Himmel.

Irgendwann schien es dem Mädchen, als tauche vor ihr in der Dunkelheit ein Licht auf.
Und tatsächlich – der Engel trug sie auf einen seltsamen Schimmer zu, ein Tor in der Finsternis und ihr war, als würde die Luft wärmer. Nach Schwefel roch es und sauer nach Plasma.
Freilich, das waren die Gerüche der Unterwelt. Die Feuer der Verdammten, von denen die Schwestern erzählt hatten. Die Seen aus Plasma, in welche die Vergessenen eingingen, um einst durch die Gebeine der Stadt aufzusteigen und in den Lampen der Menschen zu brennen.

Zwei Schatten tauchten vor der Pforte aus Licht auf, ungeschlachte Gesellen, die lange Speere in der Hand hielten. Das waren die Wächter des Schattenreiches, die dafür sorgten, dass niemand hinein gelangte, denn die vergessenen Seelen und keiner hinaus. Das Mädchen aber war eine verlorene Seele und sie kam auf den Armen des Engels. Und richtig, schon traten die Wächter beiseite, neigten das Haupt und ließen den Engel passieren. Weiter und immer weiter trug sie der Engel, hinein ins Licht.

Vor ihr eröffnete sich eine weite Höhle, im Halbdunkel der Unterwelt sah sie Häuser und Fels und Dampf und gewundene Gassen. Die Stadt der Unterwelt, die Heimat der vergessenen Seelen.
Und da waren sie. Vor den Augen des Mädchens traten die Vergessenen aus den Tunneln und Häusern und versammelten sich stumm, um den Engel der Toten zu begrüßen. Erst waren es wenige, dann Dutzende und schließlich wohl Hundert und mehr. Männer waren es, Frauen und ja, auch Kinder.

Sie umringten den Engel und das Mädchen, doch hielten sie Abstand. Flüstern kam auf, ein Raunen. Und die ganze Zeit trug sie der Engel tiefer hinein in die Stadt, bis sie an einen großen Platz kamen. Auf Säulen brannten hier Plasmafeuer und zwischen den Säulen trat ein Mann hervor, auf den ging der Engel zu.
“Duke, Sir”, sagte der Engel, als er stehen blieb. Seine Stimme klang wie das Rascheln alter Zeitungen im Wind.
Duke, das war der Titel eines Herrn, das wusste das Mädchen. Und mit einem Mal wusste sie, dass jenes der Herrscher dieses Ortes war, der Herr der Unterwelt. Ängstlich verbarg sie ihr Gesicht im Mantel des Engels.
“Eine weitere arme Seele?” hörte sie den Duke sagen.
“Eine weitere, Sir”, wisperte der Engel.
“Warum tut Ihr das?”
“Sie braucht neue Leute, Sir. Und wenn ich das richtig sehe, gilt das auch für Sie, Sir.”
“Aber Sie meinen, das hier sei ein Leben für ein Kind?”
Das Mädchen sah auf, in das weiße Gesicht des Engels. Der Engel sah zurück und seine Augen funkelten wie zwei schwarze Sterne. “Es ist ein Leben. Das ist besser als keins. Glaubt mir, Sir.”
Mit diesen Worten legte er das Mädchen in die Arme einer Frau, die jetzt neben dem Duke stand. “Mach’s gut, Kleine.”
Ein seltsamer Satz für einen Engel. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass der Engel des Todes eine Melone trug.
Staunend sah sie hinauf in das Gesicht der Frau. Sie lächelte und sie war warm und roch nach Suppe. “Willkommen zu Hause”, sagte die Frau. Da presste das Mädchen sein Gesicht an ihren Busen und schluchzte.
Der Herr der Unterwelt und der Engel der Toten aber nickten sich zu.
Dann wandte sich der Engel ab und ging durch die Stadt der Vergessenen davon. Die Menschen wichen stumm vor ihm zurück, doch als das Mädchen aufsah, konnte sie in keinem der Gesichter Angst entdecken.
Als er den Platz fast verlassen hatte, rief ihm der Duke hinterher: “Ein gutes, neues Jahr, Mr. Ferret.”
Der Schritt des Engels stockte und er wandte sich noch einmal um und blinzelte. Einmal. “Ein gutes neues Jahr”, sagte er leise.
Da lächelte das Mädchen. Und der Engel lächelte zurück.

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Texte: ©2009 Alle Rechte vorbehalten.
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2011

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