JILL
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich hinaus auf die andere Straßenseite, während Sophie munter vor sich hin plapperte.
Ich hatte jedoch Augen nur für sie! Die Frau mit den violetten Strähnchen.
„Jill?“
Prompt gab ich ein langgezogenes ‚Ja’ von mir ohne meine Augen von der Unbekannten ab zu wenden, die gerade dabei war aus meinem Blickfeld zu verschwinden.
Sie war mir nun schon sicher zum fünfzigsten Mal über den Weg gelaufen innerhalb von zwei Monaten.
Nun spürte ich ein festes Ziehen an meinem Jackenärmel und drehte mich zu Sophie, die an mir zerrte und mit der freien Hand wiederholt schnipste.
„Willkommen zurück in der Realität, du Tagträumer!“
Ohne auf diese mehr als unnötige Bemerkung zu reagieren erklärte ich ihr kurz meine geistige Abwesenheit und erntete einen tiefen Seufzer.
„Gut. Hast du genug gestarrt? Können wir nun wieder zu den wichtigen Dingen zurückkehren?“
Ich nickte, dachte jedoch immer noch an die Unbekannte, anstatt Sophie zuzuhören. Noch nie hat mich eine Person so interessiert wie diese Schönheit. Leider ergab sich bis jetzt noch nie die Gelegenheit mal mit ihr ins Gespräch zu kommen. Aber auch, wenn es eine geben würde, so hätte ich nie den Mut einfach so diese Göttin anzuquatschen. Ich kann allgemein nicht wirklich gut auf Menschen zugehen.
„Jill?“ Wieder gab ich ein fragendes Ja von mir und sah nun wirklich zu Sophie, die mir ein Reiseplaner vors Gesicht hielt.
„Na, was sagst du?“
Ich schüttelte heftig mit dem Kopf und schob das Magazin bei Seite, damit ich Sophie wieder sehen konnte.
„Vergiss es. Meine Mutter lässt mich nie im Leben mit euch nach Mallorca fliegen. Es ist ja schon ein Wunder, dass ich ohne ihre Begleitung zur Schule gehen darf.“
Wobei ich mir immer vorstelle, wie meine Mutter ein Geheimzimmer in unserem Haus hat, welches ganz schwarz ist und voller kleiner Monitore. Angezapfte Überwachungskameras der Kreuzungen, der Banken und zahlreicher Firmen und sogar GPS Daten, die alle meine Schritte immer fleißig verfolgten. Ich sah es richtig vor mir, wie mein Handy Klingelte und meine Mutter dran wäre. ‚Schätzchen, pass bitte auf, in fünfzig Meter ist eine große Pfütze vor dir, nicht dass du mir da rein fällst und ertrinkst.’, oder eben eine andere ähnliche Situation. Aber nein meine Mama war nicht immer so ein Kontrollfreak. Erst seit circa zwei Jahren ist es so schlimm geworden. Genauer gesagt seit Dad’s tragischem Unfall. Es war nicht seine Schuld, wenn dann wohl eher meine.
Sophie blätterte immer noch munter rum und hüpfte leicht auf und ab. Das machte sie immer, wenn sie sich auf etwas freute.
„Weist du, das kriegen wir schon irgendwie hin. Ich kenne dich nun schon so lange. Ja, ich erinnere mich noch daran, als wär’s erst gestern gewesen, dass wir im Sandkasten saßen und ich dir immer den Sand aus den Händen schlug, weil du ihn versuchtest zu essen.“ Sophie gluckste ein paar Mal sehr laut und versicherte mir, sie würde meine Mutter schon noch irgendwie überreden.
Mehrere Tage schleppte ich die Blöde Zeitschrift mit mir herum und wusste nicht, wie ich meine Mutter darauf ansprechen sollte. Ich sah es eh schon vor mir, wie sie mir alle möglichen Gefahren aufzählte und Predigten darüber hielt, wie unberechenbar das Leben sein kann. Nun das wusste ich auch ohne ihre Belehrungen. Man nehme da meinen Vater, der sicherlich nicht ahnte, dass es sein letzter Arbeitstag sein wird.
Am dritten Tag fasste ich mir jedoch so viel Mut, dass es ausreichte, um das Thema wenigstens anzukratzen. Natürlich wurde ich sofort abgewimmelt mit den bereits gedachten Belehrungen und ein felsenfestes ‚NEIN’ war letztendlich die Antwort.
Auch Sophie schaffte es nicht meine Mutter vom Gegenteil oder zumindest einem Vielleicht zu überzeugen.
Es war wirklich mehr als nur deprimierend. Während meine Freunde es sich 10 Tage auf Malle gut gehen lassen würden, würde ich die wertvolle Zeit über daheim hocken und den Schnecken im Garten beim kriechen zugucken.
Was für geile Sommerferien!
Aber bis dahin war noch eine Menge Zeit. Wir hatten ja schließlich erstmal März, aber wer früher bucht kommt ja bekannterweise günstiger davon.
Mich ging das jedenfalls nichts mehr an. Gegen das eiserne Urteil von meiner Mutter konnte höchstens nur mein Dad ankommen, aber der war ja nun nicht mehr da. Er war es auch immer der alles recht locker sah. Jill kommt 2 Stunden zu spät ‚Ach Kinder. Die könne doch nie richtig die Uhr lesen’. Jill macht etwas kaputt ‚Wozu haben die klugen Köpfe Kleber und Nägel erfunden. Kann man alles wieder richten.’
Ich könnte jetzt noch weitere 300 Seiten lang seine Sprüche aufzählen, was jedoch nicht heißen soll, dass er alles durchgehen lies. Wenn es Ärger gab, dann aber richtig. Nur musste man dafür auch was richtig Großes angestellt haben.
Alles konnte man reparieren. Tja meinen Dad leider nicht. Dazu wären wohl auch der beste Kleber und alle Nägel der Welt nicht ausreichend, um ihn einigermaßen zusammenzuflicken. Abgesehen davon ist nach knapp über zwei Jahren auch nicht viel übrig, was man kleben könnte. Aber mir geht es gut. Ich habe gelernt damit umzugehen und weiter zu leben. Meine Mutter wohl weniger. Sie ist übervorsichtig geworden, nimmt ungern das Auto und verreist nun allgemein nicht mehr. Es ist wohl schon ein kleines Wunder, dass sie seit einem halben Jahr wieder ihren alten Job zurückbekommen hat.
Der Chef muss sie wohl echt gern haben. Michi sagte erst kürzlich dazu, dass da bestimmt zwischen denen etwas laufen muss. Nein das glaube ich aber nicht. Für meine Mutter gab es nur einen Mann und diesen wird so schnell kein anderer ersetzen können.
***
Fast bis zu den Sommerferien konnte ich mir die Planungen und die hammergroße Freude von meinen Freunden reinziehen. Absolut schrecklich. Immer, wenn ich mich mit Sophie alleine traf, herrschte Mallorca-rede-verbot, an welches sie sich jedoch nur selten hielt. Egal, ob wir beim Shoppen waren oder in unserem Lieblings Cafe saßen, jedes Gespräch endete irgendwann bei dem anstehenden Urlaub.
„Jill sei nicht traurig. Ich ruf dich auch mindestens einmal an, versprochen!“
Ja, als würde das meine Laune wieder bessern. Das sagte ich ihr natürlich nicht, da ich nicht unhöflich sein wollte, als ich es eh schon die letzten Monate war, was wohl auch irgendwie verständlich ist. Da fliegen die engsten und besten Freunde, was immerhin eine Clique von sechs Leuten ist nach Malle und werden von vier Leuten begleitet, die alle über 20 sind. Dabei handelte es sich um ältere Schwester, Onkel, Bruder und Cousin von den unter 20 jährigen Teilnehmer. Also alles keine wildfremden, die ein Auge auf die jüngeren werfen sollten.
Und dennoch war es viel zu riskant aus der Sicht meine Mutter. Gut würden wohl auch viele andere Mütter dem zustimmen, nur war es wohl bei den anderen Kids nie anders. Bei mir jedoch schon. Vor 3 Jahren durfte ich mit Sophie und ihrem älteren Bruder mit nach Italien fahren, zu Sophies Oma, die sich für ein sonnigeres und wärmeres Leben mit ihrem zweiten Mann entschied. Der erste Mann und somit Sophies Opa wachte an einem Morgen einfach nicht mehr auf. Herzstillstand.
Michi hatte natürlich auch hierzu gleich mal eine versaute Theorie aufgestellt, die Sophie allerdings so gar nicht witzig fand. Hm, ich weiß nicht was schöner ist. Tod beim Sex oder Tod im Traum? Was, wenn er etwas Schreckliches geträumt hat und deswegen einen Herzstillstand erlitt? Stell ich mir irgendwie nicht so prickelnd vor, vor allem, wenn ich dabei an meine Träume denke, die seit ca. zwei Monaten wieder etwas angenehmer sind, weil sie meistens von der Unbekannten mit dem violetten Haar handeln. Davor träumte ich überwiegend von Dad’s letzter Autofahrt. Ich stellte es mir tagsüber immer wieder vor wie das wohl passiert ist. Einmal habe ich den Unfall sogar mit Modelautos nachgestellt, nur um zu wissen, wie er genau gestorben ist. Das hätte ich wohl eher nicht tun sollten, denn danach hatte ich ein zu klares Bild vor Augen, welches in meinen Träumen leicht variierte. So war ich mal Beifahrer, Fahrer, Zuschauer, der Unfallverursacher und einmal sogar eine Katze, die mir aus unerklärlichen Gründen mitten auf der Autobahn saß.
* * *
Es waren noch wenige Wochen bis zu dem Tag, an dem meine Freunde abreisen würden. Man merkte mir wohl meilenweit an, dass ich deswegen nicht besonders in guter Verfassung, stimmungsmäßig war. Auch an meiner Mutter schien dieser Zustand nicht achtlos vorbeigerauscht zu sein, was bei mir keinen großen Überraschungseffekt auslöste. Kontrollfreak! Es war mitten unter der Woche und ich war bereits von der Schule heim gekommen. Sie war ebenfalls etwas früher daheim. Man sollte wohl erwähnen, dass sie zwar arbeitete, aber auch nur Teilzeit und aufgrund der super Verhältnisse zum Chef, auf welcher Basis diese auch sein mochte, arbeitete meine Mutter oftmals auch daheim und brachte kurz vor Arbeitsende die fertigen Pläne in die Firma. Meine Mutter ist Bauzeichnerin. Ein, wie ich finde, langweiliger Beruf. Verlangt zu viel Aufmerksamkeit und beinhaltet zu wenig Farbe, außer man arbeitet auf dem Computer. Da gibt es ein wenig Spielraum.
Jedenfalls war sie früher dran, als ich dachte, denn sonst hätte ich mich längst in mein Zimmer verzogen. Ich versteh mich mit ihr nicht besonders supertoll. Ich war schon immer eher ein Papakind. Oder sie versteht sich nicht besonders gut mit mir. Das weis ich nicht so recht.
An diesem Tag schien sie wirklich gut drauf zu sein. Man konnte ein Lächeln auf ihrem Gesicht verzeichnen und sie summte irgendeine Melodie, die mir nicht bekannt war. Natürlich sprach ich sie sofort drauf an. Hatte sie etwa ein Mittel gefunden, wie man Dad wieder lebendig machen kann? Nein, natürlich hatte sie nicht, stattdessen entdeckte sie was anderes womit sie mir das Leben schwerer machen konnte als es schon war.
„Ich dachte mir, es wäre wohl in der Tat nicht verkehrt, wenn du in den Ferien auch irgendwie raus kommst. Eine Kollegin hat mir eine nette Jugendreisegruppe empfohlen bei der ihre Kinder auch vor einigen Jahren mitgefahren sind.“
Mein Mund öffnete sich, doch ich bekam einfach kein Wort heraus. Absolute Sprachlosigkeit nennt man wohl solch eine Situation.
„Es wird von der Evangelischen Jugend geleitet und dort sind auch geschulte Mitarbeiter, die auf euch aufpassen. Ach ja die Reise geht nach Italien.“
„Du hast mich bei einer Sekte angemeldet?“ Mehr konnte ich nicht an Reaktion zeigen. Zumindest nicht in dem ersten Augeblick. Ich halte generell nicht viel von Religion und glaube auch nicht an höhere Mächte. Wohl eher an die Kausalität, was logischer klingt, als ein Übermächtiger ‚Vater’ aller Menschen, der die Kugel, die wir tagtäglich immer mehr zerstören in sieben Tagen schuf. Auch akzeptiere ich die Zufallstheorie. Allgemein an Zufälle glaube ich jedoch erst, seit mein Dad gestorben ist. Der Verursacher des Unfalls, im mittleren Alter, war ein Brillenträger. Er hätte wohl schon seit längerem einen erneuten Augentest machen sollen, tat er aber nicht, weil er schon ahnte, dass sie ihn nicht mehr ans Steuer lassen würde, außer er lässt sich die Augen Lasern. Während der Fahrt fiel ihm die Brille hinunter. So schilderte er zumindest nach dem Unfall den Verlauf. Er sah mit schon nicht deutlich genug, aber ohne so gut wie gar nichts. So kam es dazu, dass er die Kontrolle über seinen Wagen verlor und das Fahrzeug irgendwann Quer auf der Autobahn zum Stillstand kam. Massenkarambolage und es war Februar, die Straßen spiegelglatt.
„Es ist keine Sekte Jill. Meine Kollegin versicherte mir, dass die dort ein ganz normales Programm haben. Nach der Arbeit war ich noch im Büro von dieser Jugendleiterin und habe dich dort sogleich mal angemeldet.“
Ich tobte und schrie meine Mutter wie eine Wilde an. Ich wollte ja schließlich mit meinen Freunde zusammen wegfahren und nicht mit fremden Jugendlichen. Ich wollte keine neuen Bekanntschaften schließen oder fröhlich am Lagerfeuer Marshmallows rösten und Italien konnte sicherlich nicht mit Mallorca verglichen werden. Das Ende des Gesprächs war jedenfalls, dass meine Mutter in einem Befehlston die Sache besiegelte und auch keine Widerrede mehr gestattete. Dies ließ mich in der Tat wieder ruhig werden, da es das erste Mal seit, nun ja, seit dem Ableben meines Dads war, dass meine Mutter solch einen Ton drauf hatte. Nein eigentlich hatte sie ihn nie, sondern Dad, wenn ich vollkommen im Unrecht war und er das Gespräch nicht mehr weiter ins Lächerliche ziehen wollte.
Wie früher stampfte ich schmollend davon und knallte meine Tür mit voller wucht zu, so dass der Schlüssel sogar rausgefallen war. Natürlich musste auch diese Tat von meiner Mutter angemeckert werden, aber sie folgte mir nicht mehr hinterher. Erst spät abends, wagte ich es aus meinem Zimmer raus zu lugen und fand eine Broschüre und einen kleinen Zettel vor meiner Tür liegen.
Auf dem Zettel war eine Telefonnummer verzeichnet und drunter ‚Zum Abmelden’ gekritzelt von meiner Mama. Ich blätterte die Broschüre sorgfältig durch und entschied, dass es gar nicht so schrecklich klang. Zumindest schien es wesentlich interessanter zu sein als den Schnecken beim kriechen zuzusehen und die zehn Tage an der Seite meiner Mutter zu verbringen. Abgesehen davon fand es fast in dem Zeitraum statt, in dem meine Leute weg waren. In der einen Hand hielt ich nun den Zettel und in der anderen das Heftchen und sah abwechselnd beide an, doch keines der beiden gab mir die Antwort, nach der mein Inneres so durstete. Diese musste ich wohl oder übel selber treffen. Mit einem tiefen Seufzer knüllte ich den Telefonzettel zusammen und warf diesen mit einem eleganten Wurf in den Papierkorb neben mir.
„Definitiv ein 3-Punke-Wurf.“ scherzte ich über mich selber.
Somit war mein Schicksal durch mich selbst besiegelt worden. Hätte ich jetzt schon geahnt welche Folgen diese Entscheidung tragen würde, so hätte ich womöglich doch die andere Hand gewählt.
Kurz nach Beginn der Sommerferien verabschiedete ich meine Leute und hatte selber noch einige Tage Zeit, um meinen Kram für die Italienfahrt zusammen zu packen. Die Lust fehlte mir jedoch stets dazu und so schob ich es Tag ein Tag aus vor mich her. Währenddessen entschloss ich mich dazu ein neues Buch zu lesen. Seit Dads Tod interessierten mich sehr Geschichten mit tragischen Verlusten. Dieses Mal entschied ich mich für „Extrem laut und unglaublich nah“. Das Buch wurde sogar verfilmt vor einigen Jahren, was nicht automatisch heißen sollte, dass es gut war. Sophie schwor jedoch darauf, weil sie ihn im Kino gesehen hatte. Ich weigere mich meistens mitzugehen, da ich gerne vorher die echten Geschichten selber lese und erst dann die zusammen gestopfte Nachmache mir ansehe. Es ist allgemein faszinierend, wie aus der Zusammenarbeit mehrere kreativer Köpfe ein Drehbuch entsteht. Vielleicht macht es aber auch nur eine Person und dann sehen alle seine Vorstellung vom Buch in den Kinos. Natürlich mit kleinen Veränderungen durch die Schauspieler und den Regisseur, die ebenfalls eine klare Vorstellung in ihren Köpfen haben und diese verwirklichen wollen.
Um richtig abschalten zu können und mich vollkommen dem Buch widmen, fuhr ich raus an die Donau. Um diese Jahreszeit war sie voll gepflastert mit Pärchen, kleineren und größeren Gruppen, die alle sich zu der Sonne und Wärme hingezogen fühlten, wie ich. Zum Glück war mein Lieblingsplatz noch frei und um mich herum keine Menschenseele, da die Bäume zu viel Schatten warfen und somit den Platz nicht besonders attraktiv für das Sonnen machten.
Nach einem drittel des Buches klappte ich es wieder zu. Heute schien einfach nicht mein Tag zu sein. Oder es lag an dem Buch, für welches ich etwas Zeit brauchen würde, um es lesen zu können, ohne jedes Mal an meinen eigenen Dad denken zu müssen. Alles erinnerte mich plötzlich an ihn. Zum Beispiel die vorbeifahrenden Kanufahrer. Er liebte es und wollte immer meine Begeisterung dafür wecken. Leider vergebens. Ich habe zu große Angst vor diesen Dingern. Was, wenn ich umkippe und zu viel Wasser in meine Nase fließt, ich dadurch so schockiert bin, dass ich keine der gelernten „Umdreh Taktiken“ auf die Reihe bekomme und jämmerlich im Wasser kopfüber ertrink? Nein, viel zu gefährlich. Außerdem mag ich das Wasser nicht so besonders, weil man nie weis was sich drinnen wirklich befindet. Als Kind habe ich mir so meine Fußsohle aufgeschnitten, weil unter mir eine Glasscherbe war. Nun habe ich immer eine Taucherbrille dabei und check erstmal alles ab, bevor ich mich ansatzweise ins Wasser traue.
Ein weiterer Grund gegen das Kanufahren ist, nein war wohl die etwas schiefe Nase meines Dads. Als Kind hatte ihm ein anderer Kanufahrer sein Paddel ins Gesicht gerammt. Natürlich aus versehen, erzählte mein Dad immer. So vertiefe ich mich immer in meine Gedanken und schon bin ich wieder bei den Zufällen angelangt. An sich sind Zufälle etwas schönes, außer diese geschehen im negativen Sinne, wie in dem Buch. Man könnte sagen es war schlichtweg ein Zufall, dass sein Vater ausgerechnet in dem Gebäude sich befinden musste, welches wenige Stunden später zusammenkrachte wie ein Kartenhaus, allerdings mit viel Feuer und Rauch. Hier dachte wohl auch keiner der Leute, dass es ihr letzter Besuch in den Wolkenkratzern sein würde, abgesehen von denjenigen, die es geplant hatten.
* * *
Nun war es endlich soweit. Noch am Abfahrtstag stopfte ich alles Notwendige in meine Reisetasche und versuchte währenddessen die Gedanken loszuwerden, die mich meines Schlafes in der letzten Nacht beraubt hatten. Ich habe ja schon erwähnt, dass ich nicht besonders gut mit Menschen auskomme, vor allem mit Fremden. Ich geh ungern an Orte hin, wo viele Leute sind. Dazu zählen auch Discos und Festzelte. Womöglich habe ich Platzangst oder Menschenangst. Ich mag es nicht, wenn man mich lange ansieht, dann komme ich mir noch größer vor als ich schon bin. Auch finde ich es äußerst unangenehm, wenn sich an mir Leute durchzwängen müssen und somit ein Körperkontakt unvermeidbar wird.
Für solche Fälle habe ich immer meine Leute da, das heißt Sophie ist da, denn sie weiß am besten wie das zu regeln ist. Bereits ein kleiner prüfender Blick von ihr und sie ahnt, dass ich es keine Minute länger an dem besagten Ort aushalte oder sie übernimmt einfach das Reden für mich, wenn es darum geht mit Unbekannten in Kontakt zu treten. Wahrscheinlich wäre mein Leben ohne sie doch sehr anders verlaufen.
Und nun war Sophie nicht da. Ich, alleine unter ca. 20 fremden Menschen, wenn man die Betreuer mitzählt, und ich musste sicherlich mit einigen von ihnen ein Zelt teilen, da es sich um eine Zeltfreizeit handelte. Ich malte mir die schrecklichsten Dinge aus und jagte mir selber so viel Panik ein, dass ich mitten in der Nacht Sophie anrief, diese ging natürlich nicht ran, was mir bereits auch vor dem Anruf klar war. Bestimmt hatten die was viel Besseres zu tun, als auf einen Anruf von mir zu warten.
Ich war, wie immer eine der Ersten, die am Treffpunkt abgeliefert wurde. Kein Wunder auch, wenn meine Mutter, die ausnahmsweise dieses mal doch das Auto genommen hatte für eine Strecke, für die 15 Minuten völlig ausreichend wären, eine ganze Stunde eingeplante und tatsächlich fast 30 Minuten die Strecke entlang kroch, wie eine halb ausgetrocknete Schnecke. Dabei war nicht mal viel Verkehr um die abendliche Zeit in der Regensburger Innenstadt.
Da ich kein großes Drama veranstalten wollte, holte ich rasch mein Gepäck, rief ihr noch ein Tschüss hinterher und wies sie an, heim zu fahren. Ich glaube sie wollte mich noch drücken oder mir noch etwas sagen, aber ich hatte bereits jetzt schon eine nicht besonders gute Laune, da wären die typischen Anweisungen von meiner Mutter der reinste Horror gewesen.
Im Bus suchte ich mir einen Platz weiter vorne. Nicht zu nah an den Mitarbeiterplätzen. Genauer gesagt fünf Reihen hinter ihnen. Ich wolle ja schließlich aus der Gruppe nicht als der Mitarbeiterfan herausstechen und am Ende noch in einem harmonischen Bibelkreis enden.
Drei der Mitarbeiter waren bereits vor Ort. Ein männlicher und zwei Mädels, die nicht besonders alt aussahen oder so wirkten, als hätten sie ein 10-jähriges Schulungstraining absolviert, so wie es meine Mutter wohl erwartet hatte. Zwei weitere Mädels erschienen eine viertel Stunde später. Es hatte den Eindruck, als konnte man nicht arg zu viele Jungs für so was begeistern oder wir hatten schlichtweg zu wenige männliche Teilnehmer dabei. Auch diese trudelten nacheinander ein. Nachdem es mir zu dumm wurde draußen rumzustehen und zu gucken, mit welchen Sozialbrennpunkten ich mich in den kommenden Tagen abgeben musste, kehrte ich zurück zu meinem Platz und fragte mich selber, ob ich inzwischen auch so etwas wie ein sozialer Brennpunkt war. Ich stellte zwar nichts Dummes an, oder hatte ein Strafenregister so lang wie der längste Einkaufszettel der Welt aber verändert habe ich mich dennoch. Inzwischen legte ich viel weniger Wert auf die Dinge, die mir früher wichtig erschienen. Ging dafür viel regelmäßig mit meinem Leuten feiern und versuchte meine Macken in Alkohol zu ertränken, was schon des Öfteren ausartete im bösen Sinne, da ich einfach nicht mehr drauf achtete, wo meine Grenzen waren. Vielleicht habe ich mit dem Tod meines Vaters auch ein Teil von mir verloren oder vorübergehend verlegt. Welche Option für mich zutraf, wusste ich noch nicht so genau.
Inzwischen waren alle Teilnehmer da und der gesamte Bus war voll mit Taschen, Kissen und Decken, die auf den Sitzen verteilt lagen. Wie ich geahnt hatte, waren von allen 14 eilnehmenden Jugendlichen, nur fünf männlich. Das Alter lag zwischen 15 und 17 Jahren, laut der Broschüre, die ich damals in meinem Zimmer durchgeblättert hatte.
Es fehlte nur noch eine Betreuerin, die erst nach 20 Minuten angerollt in einem kleinen gelben Auto kam. Offensichtlich saß sie am Steuer und neben ihr eine Beifahrerperson. Ich hatte keine besonders gute Sicht aus meiner Sitzperspektive und konnte die Verspätete nicht erkennen. Außerdem war es inzwischen dunkel geworden, was die Sicht nochmals verringerte. Als sie endlich ihr Gepäck im Buskofferraum verstaut hatte und sich in unserem Fahrbahren Untersatz befand, wollte ich sogleich ein Blick auf sie erhaschen, da ich ja unbedingt wissen wollte, wem ich kein Vertrauen in den kommenden Tagen schenken würde auf Grund der mangelnden Kompetenz, die hier nun mehr als offensichtlich war. Dies gelang mir allerdings nicht, denn ich wollte ja nicht zu viel Aufsehen erregen und zu neugierig erscheinen. Noch dazu war es im Bus stockfinster, da der Busfahrer es anscheinend nicht schnallte, das Licht anzumachen. Kaum war mein Gedanke innerlich ausgesprochen sah ich die Lichter im Bus aufflackern. Endlich. Ich atmete durch, denn diese Dunkelheit im Bus machte mich leicht irre. Ich mag allgemein die Dunkelheit nicht. Womöglich liegt es daran, dass ich mit 14 Jahren abends von einem Unbekannten im Park verfolgt wurde. Irgendwann bin ich einfach losgerannt und sah erst zurück, als mir eine Gruppe Menschen entgegen kam. Ich bildete mir ein, jemanden im Gebüsch verschwinden sehen, bin mir aber nicht absolut sicher, dass es der Verfolger war oder, ob es je einen gegeben hat. Kann auch gut möglich sein, dass mich ein Einhörnchen verfolgte.
Nun spähte ich erneut nach Vorne und erkannte zwischen den Sitzen eine violette Haarsträhne von der letzten Mitarbeiterin, die momentan in der ersten Reihe irgendwie zwischen den Sitzen saß und sich mit ihrem Team unterhielt.
Sofort spürte ich einen Stich und eine schnelle Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Ich fühlte mich so, wie diese kleinen Wärmekissen, die man knickt und schon wird das Flüssige Salzgemisch hart. Irgendwo in mir wurde offensichtlich auch etwas geknickt, denn mir wurde dermaßen heiß in meinem Pulli, obwohl es draußen doch recht frisch war und die Klimaanlage über meinem Kopf vor sich hin kühlte.
Meine Augen waren weit aufgerissen und es kam mir wie eine Ewigkeit vor bis sie sich endlich rührte. Mehrmals flehte ich innerlich, dass es nicht sie sein durfte. Ich stellte mir mehrmals vor, wie sie sich umdrehte und eine picklige Frau vor mir stand, die schiefe Zähne hatte und eine Brille trug, welche absolut nicht zu ihrem Gesicht passte und vielleicht sogar eine Monoaugenbraue hatte. Ich spürte, wie in mir immer und immer wieder etwas knickte und die Hitze bis ins Unerträgliche stieg, aber die Mitarbeiter rührten sich nicht. Vielleicht verging nur eine Minute, während ich unruhig auf meinem Sitz hin und her rutschte, vielleicht auch eine Stunde. Ich hatte absolut kein Zeitgefühl in dem Moment.
Endlich.
Sie drehte sich um, und fing an zu zählen. Die Teilnehmer.
Mir klappte mein Unterkiefer herunter und ich starrte entgeistert meine unbekannte Göttin an. Nun wäre ich wirklich am liebsten aus dem Bus gesprungen und Heim gelaufen. Kurz bevor sich unsere Blicke trafen schaffte ich es irgendwie mein Unterkiefer meiner restlichen Mundpartie anzuschließen. Ich glaube, ich half sogar mit der Hand nach, aber da bin ich mir nicht mehr so sicher.
Unsere Blicke trafen sich. Stille.
War da etwa Erstaunen in ihren Augen zu sehen. Verwunderung?
„13“ Das war unser erster Wortkontakt. Ich war die Nummer 13. Womöglich hat sie so lange geschwiegen, weil ihr die Zahl entfallen war. Ich wollte mir ja nicht zu viel einbilden auf diese Kleinigkeit.
„13“, wiederholte ich leise und riss erneut meine Augen weit auf. Fantastisch, ich war eine Unglückszahl und als, wenn es nicht besser kommen konnte war es ein Freitag. Toll.
Ich bin nicht wirklich abergläubisch aber, wenn es um die Frau geht, der ich seit mehreren Monaten hinterher glotz, wie ein Hirsch, da glaube ich an alles und die Zahl 13 ist eine Unglückszahl für mich, denn mein Dad starb am 13. Februar.
Das erinnerte mich prompt an den Flugzeugabsturz der Fairchild-Hiller FH-227. Ihr Ziel war Santiago de Chile am 13. Oktober 1972. Aufgrund eines Unglücks, wie das ja immer der Fall ist, saßen die Überlebenden nach einer Bruchlandung in einer halbzerlegten Maschine im tiefsten Winter um die zwei Monate fest und das ohne Nahrung. Nun gut nicht ganz, denn im Wahn des Hungers beschlossen sie irgendwann die Toten zu verspeisen, um irgendwie am Leben zu bleiben, wohlgemerkt im rohen Zustand. Stell ich mir wirklich absolut grauenhaft vor. Ich wette mit Jedem, dass keiner der Passagiere sich vor dem Flug gedacht hat,
‚Ah, in ein paar Wochen werden ich den Fuß meines Sitznachbars anknabbern müssen, damit ich nicht drauf gehe.’ Wohl gemerkt handelte es sich bei dem Unglück um einen Freitag, den 13, was mich wieder zu meiner Situation zurückführte.
Ich starrte die ganze Zeit über leer aus dem Fenster, während meine Überlegungen wie ein ICE Zug an mit vorbeirauschten und merkte gar nicht, dass wir bereits unterwegs waren und wie es aussah gar nicht mehr in Regensburg. Für die Flucht war es also zu spät.
* * *
Mehrere Stunden lang dachte ich natürlich an die kommenden Tage. Wie sollte ich mich verhalten oder besser gesagt wie sollte ich diese Freizeit überleben. Mir wurde ja schon schwindelig, wenn ich mehrere Meter entfernt diese schöne Frau gesehen hatte und nun konnte ich sogar ihr Parfüm riechen und sie reden hören. Michi meint immer, man soll eine Gelegenheit nicht vorüberziehen lassen, denn das Leben ist unberechenbar. Heute bist du noch am Lächeln und morgen womöglich tot. Nun, vielleicht nicht sehr schön getroffen, was die Wortwahl angeht, aber er hatte irgendwie Recht. Ich konnte mich auch nicht von meinem Vater verabschieden und weiß gar nicht mehr was genau unsere letzten Worte zueinander waren. Auch Sophie trägt eine unausgesprochene Last mit sich. Schon seit Jahren war sie heimlich in Martin verknallt gewesen. Er war drei Jahre Älter als wir und Sophie hatte nie den Mut dazu einen älteren Jungen anzuflirten, weil sie sich meistens so unerfahren und „dumm“ vorkam, was natürlich absoluter Blödsinn war. Sophie ist eine der klügsten und tollsten Personen, die ich kenne und ohne sie, würde ich jetzt wohl gar nicht mehr leben.
Ich persönlich kannte Martin nur vom Sehen her aber einen engeren Kontakt hatten wir nie. Sophie jedoch schon. Nun ist es drei Jahre her, seit Martin bei einem Autounfall ums Leben kam. Sophie traf das damals sehr. Sie hatten vorher noch ausgemacht, dass sie sich am Freitag treffen und da wollte sie ihn endlich mal fragen, ob sie zusammen ausgehen, aber dazu kam es leider nie, da Martin am Mittwoch derselben Woche am Unfallort verstarb.
Damals konnte ich es noch nicht nachvollziehen, wie es ist jemanden zu verlieren, der einem viel bedeutet. Ich konnte zwar trösten und für sie da sein aber so richtig gefühlt ihre Trauer habe ich nie. Nun wusste ich ganz genau wie sich so was anfühlt und ganz ehrlich, es ist wohl das Schlimmste Gefühl auf der ganzen Welt.
Wenn man davon ausgehen würde, dass dies auch meine letzte Busfahrt in meinem Leben sein könnte und dies war wohl durchaus ein mögliches Szenario, so müsste ich sofort auf der Stelle aufspringen und zu der wunderbaren Frau, deren Name mir nach wie vor unbekannt war, hinrennen und ihr meine Gefühle offenbaren.
Natürlich tat ich das nicht, obwohl mir das Beispiel anhand von Sophies unausgesprochener Liebe doch irgendwie etwas Mut gab, dennoch nicht genug, um solch eine Verrücktheit anzustellen. Man denke da nur an die Folgen, falls es keinen tödlichen Unfall gab und ich dann als absoluter Freak der Gruppe abgestempelt wäre.
Das Denken erfordert viel Energie, die mir ausging nach einigen Stunden der inneren Monologe und ich verfiel in einen tiefen, erstaunlicherweise traumlosen Schlaf bis mich ihre sanfte Stimme über die Lautsprecher im Bus weckte. Sie stand vorne und erklärte irgendwas von einer Klopause an einer Tankstelle und unserem derzeitigen Aufenthaltsort. Das Alles interessierte mich recht wenig, da ich nur Augen für sie hatte. Ihre Schwarzen Haare wirkten in der Dunkelheit noch dunkler als sie waren und die knalligen violetten Strähnchen stachen hervor. Sie trug einen unsymmetrischen Haarschnitt, was bei meinen kurzen lockigen Haaren eigentlich unmöglich war. In dem Moment gefiel es mir sogar, dass ich in dem Bus saß und sie das erste Mal so richtig aus der Nähe betrachten konnte. Mir fiel es gar nicht auf, dass sie längst ihre Rede beendet hatte und nun einfach das Mikro in der Hand hielt. Sie schaute genau in meine Richtung. Ich sah zur Sicherheit hinter mir nach, da ich irgendeine Riesenspinne erwartete oder Ähnliches dort zu entdecken, aber nein da war absolut Nichts. Als ich mich wieder umdrehte sah sie immer noch her und da war es wieder das Knicken. Ich sprang auf und eilte den anderen Kids hinterher, obwohl ich weder aufs Klo musste, noch mir irgendeinen Süßkram in dem Kiosk kaufen wollte aber mich von ihren Blicken durchlöchern zu lassen verkraftete ich noch weniger in dem Augenblick.
Draußen gelang es mir Tatsächlich den ersten Kontakt mit den anderen Jugendlichen zu knüpfen. Dabei hielt ich mich streng an die Vorgaben von Sophie, wie immer halt. Dieses Mal fiel es mir jedoch schwer ins Gespräch zu kommen, da weder meine stärkere Hälfte anwesend war noch der dazu nötige klare Kopf.
Man darf mich nicht falsch verstehen. Ich bin weder ein zurückgebliebener geistig verwirrter Mensch, noch fehlt mir sonst irgendwas. Ganz im Gegenteil. Ich bin überdurchschnittlich begabt. Dies ergab ein Test, den meine Eltern kurz nach meiner Einschulung machen ließen, aber um dies zu erklären, müsste ich wohl bei meiner Geburt anfangen, die sehr kompliziert verlief und meine Eltern bangen mussten, dass ich überhaupt das Leben so, wie es nun ist, erfahren würde. Ich habe auch viel später angefangen zu sprechen und unterhielt mich nicht viel oder vielleicht nicht gerne. Auch mit Sophie, im Kindergarten war es eher eine Zeichensprache, die im laufe der Jahre sich fortsetzte und wir nun auch ohne Worte uns verstehen. Ja, wirklich es reichen nur wenige Körperbewegungen und die andere weiß, was Sache ist. Als fest stand, dass ich nicht an Autismus litt, so wie meine Eltern vermuteten, der Test aber eine Hochbegabung als Ergebnis rausspuckte, wurde meinen Eltern empfohlen mich auf eine private Schule für die klugen Kids zu schicken. Aus dem Zusammenhang ergab sich eine Art Spiel zwischen Sophie und mir, da wir uns auf keinen Fall trennen wollten. Sie schrieb mir viele Kärtchen mit Sätzen auf, die ich stur auswendig lernte, was für mich nie ein Problem darstellte. Womöglich habe ich ein fotografisches Gedächtnis oder es liegt an meinem leistungsfähigen Gehirn. Jedenfalls sagte ich meinen Eltern, wenn die Situation es erforderte einfach das auf, was auf Sophies Kärtchen stand. Manchmal machte ich mich somit dümmer als ich war aber so wurde ich zu einem „normalen“ Kind. Nun was ist normal? Ich fasse es mal anders auf. Ich wurde so, wie meine Eltern es die ganze Zeit über sich gewünscht hatten. Klingt wohl etwas seltsam für jemanden, der mich nicht kennt. Dieses Kärtchenspiel führten Sophie und ich bis zum Ende meines 14. Lebensjahres. Der Hintergedanke änderte sich allerdings mit den Jahren und so wurden aus Anweisungen lustige Nachrichten, Tipps oder Erinnerungsnotizen an mich. Danach verlor ich die Lust daran so zu sein, wie andere mich gerne hätten, genauso wie ich meinen Dad verlor.
Die Fahrt verflog wie im Flug. Wahrscheinlich lag es an der Kommunikation mit Sandra, die ebenso alleine bei dieser Reise war und auch auf das Drängen ihrer Eltern zusagte. Ich fand sie nett und entschloss mich meine Menschenängste etwas in den Hintergrund zu schieben, da Sandra eine geniale Ablenkung zu meinem Gedankenmeer darstellte und ich mir einfach nur ihre Erzählungen anhörte.
In Italien angekommen beförderten wir als ersts unsere Gepäckstücke zum Zeltplatz, sowie auch die Kisten mit dem Material für die anstehenden sieben Tage. Anschließend gab es eine kleine Vorstellungsrunde, hauptsächlich für mich, da ich bei keinem der Vortreffen anwesend war, wo sich die restlichen Teilnehmer bereits mal beschnuppern konnten. Hier erfuhr ich nun zum ersten Mal ihren Namen. Amely. Genauso wurde diese geschrieben mit einem Y am Ende. Sie nannte sich jedoch lieber Amy.
„Ist kürzer“, sagte sie selber, wobei ihr vollständiger Name auch nicht sehr viel länger war, dennoch fand ich ihn wunderschön, sowohl die kurze als auch die lange Variante. Passte perfekt zu ihrem aussehen. Amy klang etwas frecher als Amely und ich war mir sicher, dass bei der Haarfarbe und den bunten Shirts, den zigtausend Open-Air-Festival Armbändchen auf ihrem linken Arm und den abgetretenen Chucks sie eine durchaus wilde und freche Seite hatte.
Danach folgte die Zeltaufteilung. Natürlich entschloss sich Sandra für meine Wenigkeit, da die restlichen Teilnehmerinnen sich bereits zu kleinen Gruppen zusammengefügt hatten. Zu uns kamen noch Sahra und Lara. Diese erinnerten mich sofort an Hanni und Nanni. Zwar waren es keine Zwillinge, würden aber durchaus als welche durchgehen, da sie so ziemlich denselben Kleidungsgeschmack hatten und sich auch vom Aussehen allgemein irgendwie ähnelten. Und dann ging’s endlich zum Strand, der nicht mal 100m neben uns lag. Ich entschloss mich dazu anfangs die Lage abzuchecken, so wie ich es immer tat. Erstmal zugucken, ob die Umgebung sicher war oder man doch irgendwo eine kreischende Blondine entdeckt, die panisch aus dem Salzwasser rannte und von einem Hai verfolgt wurde.
Natürlich passierte so etwas nicht. Haie kommen nie so nah an die Küste.
Der ganze, endlos wirkende Strand war voll mit den unterschiedlichsten Menschen. Eine Familie in der nähe von meinem Platz lachte fröhlich in einen Camcorder und hielt die schönen Erinnerungen fest. Wahrscheinlich für immer. Auch ich habe noch viele Erinnerungsstücke an meinen Vater. Da wäre zum Beispiel sein Anruf von der Arbeit. Er wünschte mir alles Gute zum Geburtstag und quatschte meine ganze Mailbox voll. Das ist wohl das Wertvollste und Wichtigste, was ich von ihm habe, denn das war sein letzter Anruf an mich.
Während meine Augen so umherschweiften, stellte ich mir meine Mutter vor, wie sie in ihrem kleinen schwarzen Zimmer saß und sich mit den allerneusten Hightechmitteln in den Camcorder der Touristenfamilie reinhackte, um zu sehen, dass ich noch leben war. Ich sah mich selbst zum Wasser gehen. Gerade mal knietief und genoss den Ausblick in die Weiten des Meeres. Natürlich ertönte mein Klingelton und meine besorgte Mutter war dran. ‚Schätzchen, geh bitte einige Schritte zurück, nicht dass du mir mit einer Welle mitgerissen wirst.’
Bei dieser Vorstellung muss ich leicht schmunzeln, weil das wirklich typisch nach meiner Mutter klang.
„Willst du denn gar nicht ins Wasser“ Mit einem eindeutigen Fragezeichen in meinem Gesicht drehte ich meinen Lockenkopf nach Rechts und sah die schöne Göttin nicht mal 30cm neben mit stehen. Sie trug eine kurze schwarze Badeshort, die an der Seite einen Lilafarbenen Streifen hatte und dazu passend ein schwarzes Bikinioberteil mit einer Lilaschnur.
„Ich warte noch Einbisschen. Muss mich erstmal mit dem Meer anfreunden, nicht dass die stürmische Begegnung in einem Kampf ausartet und ich dann unter dem Meer liege.“
Ich vernahm sofort ein süßes Lächeln auf ihren Lippen.
„Falls die Begegnung wirklich so dramatisch verlaufen sollte, hier eine kleine Beruhigung. Ich habe einen Rettungsschein.“ Schon sprang sie durch den Sand, wie „Bambi“ und rannte in das kühle Nass.
Als ob mir ihre Rettung helfen würde. Wohl eher würde ich einen Herzstillstand erleiden vor lauter Aufregung, wenn sie mich berühren würde oder über mich gebeugt eine Mund zu Mund Beatmung durchführen wollte. Aufgrund der Hitze zog ich mein Shirt und meine Short mit den unendlichen vielen Taschen aus. So ähnlich wie eine Bundeswehrshort, die am unteren Ende der Shortbeine jeweils eine Tasche besitzen. Auch hinten sind zwei und dazu die typischen Hosentaschen. Sehr praktisch, da ich meistens auch Geldbeutel und Handy von Sophie mitschleppen muss, weil sie zu faul ist eine von ihren unzähligen Handtaschen zu nehmen.
Die Sonne schien mit ihren warmen Strahlen auf meinen leicht bräunlichen Rücken, währen ich meine Hände in dem ungewöhnlich weichen Sand vergrub. Fühlte sich so ähnlich an wie der Sand im Beach-Volleyball Kasten in unserem Freibad. Nein dieser war viel feiner. Immer wieder sah ich sie, wie sie bis vor wenigen Minuten vor mir stand. Was für ein Körper. Lange braungebrannte Beine, definitiv nicht vom Solarium. Flacher schöner Bauch, der ebenfalls bereits einige Stunden der natürlichen Sonne genießen durfte. Ich will jetzt nicht wie eine notgeile Persönlichkeit klingen, aber am liebsten hätte ich sie an ihrem Armbändchen Arm gepackt, zu mir hinuntergezogen, ihr gleich nebenbei ihr Bikinioberteil abgestreift und sie lange und intensiv geküsst, während meine Hände sich auf ihren unartigen Weg durch sämtliche Körberregionen machten. Aufgrund dieser Gedanken verspürte ich eine bemerkbare Erregung und schämte mich zugleich dafür, da ich mich an einem öffentlichen Platz befand und um mich herum meine Freizeitleute lagen. Außerdem bin ich nicht so. Ich konnte es mir auch nicht erklären, wie ich so schnell und locker ihr antworten konnte auch, wenn mein Gelaber irgendwie schwachsinnig klang. Normalzustand wäre Stille und dann tauchte plötzlich Sophie auf, die irgendwas sagte und ich dazu meinen Kommentar abgab und schon war die erste Eisschicht gebrochen. Es wunderte mich auch, wieso ich hier lag und mir bereits schon fünfmal vorgestellt hatte, wie ich meine Betreuerin verführen würde. Erschreckend.
In meiner letzten Beziehung tat ich das natürlich auch, aber nicht vor dem eigentlichen Kennenlernen. Womöglich lag es aber auch daran, dass meine letzte Freundin so ziemlich die erste richtige Beziehung darstellte, die ich mit einer Frau geführt hatte. Und ja in der Tat sie war eine Frau, denn unser Altersunterschied betrug fünf Jahre. Dies ist nun ein halbes Jahr her, den sie entschloss sich ihr Studium in den USA fortzusetzen. Solch ein Angebot lässt man nicht links liegen. Ist doch Klar. Wir führten knapp ein Jahr eine, wie ich fand sehr tolle Beziehung und ich hätte diese Frau auch auf der Stelle geheiratet. Eine andere wollte ich nie und war der Ansicht, dass ich nie eine andere wollen würde, wenn diese nicht mehr an meiner Seite ist. Großer Irrtum.
Kennengelernt habe ich sie Auf einer Party, zu der Michi, mein aller beste Kumpel mich mitgeschleppt hatte. Es war eine Studentenparty und Michi wollte unbedingt dahin wegen den Mädels natürlich, nur fehlte ihm eine kleine Portion an Selbstvertrauen, um allein auf Weiberjagt zu gehen. Auf dem Weg dorthin dachte ich mir nur Welch eine Wahl, da hätte er auch einen Goldfisch mitnehmen können, der ist mit mir ein vergleichbarer Gesprächspartner. Erstaunlicherweise lief es jedoch besser als gedacht. Man muss auch dazu sagen, dass ich in meiner Freizeit gerne meinen Horizont mit Unistoff erweitere, da für mich das Gymnasium momentan einfach keine Herausforderung ist. Die nun vergangene 10. Jahrgangsstufe ist an mir vorbeigerauscht wie ein Wasserfall. Trotz meines Wissens und ich bin mir sicher, dass ich bereits jetzt schon gute Chancen hätte an einer Uni zu studieren, bin ich nicht eine 15 Punkte Schülerin. Ganz und gar nicht. Ich schwimme knapp über dem Mittelwert. Nicht weil ich etwas nicht weiß, sondern weil ich mich bei jeder Klausur frage wozu das alles? Es kann doch gut möglich sein, dass ich in fünf Jahren von einem Zug überfahren werde oder bei mir eine Krankheit festgestellt wird, die nicht heilbar ist. Für was hat mein Vater sein Leben lang gelernt und geschuftet wie ein Tier? Damit er nun in einer Holzkiste verrottet und meine Mutter jede Woche frische Blumen auf einen Marmorblock legt. Dem Stein erzählt, wie sehr sie ihren Ehemann vermisst? Ich weis das, weil ich sie einmal dabei beobachtet habe. Ich war kurz zuvor bei Dad und sah sie kommen, wollte jedoch nicht, dass sie mich sieht. Ich lehnte die ganze Zeit über an einem anderen Marmorklotz einige Reihen weiter weg und belauschte ihren Monolog. Sie schien verzweifelt zu sein.
Ich schweife immer wieder ab. Fazit ist, dass ich oft halbfertige Arbeiten abgebe. Meine Mutter wurde schon unzählige Male ins Direktorat zitiert. Ich wurde schon zu viele Male zu einem Therapeuten geschickt und Ende der Geschichte ist immer das Selbe. Rezepte für irgendwelche Tabletten, die mir helfen sollen besser zu schlafen oder mich besser konzentrieren zu können. Meiner Mutter wird immer wieder geraten mit mir über den Tod meines Vaters zu reden und mir somit helfen das zu verarbeiten. Alles Blödsinn. Mir geht’s gut. Ich komme damit klar.
Auf der Party jedenfalls hielt mich jeder für eine Studentin, obwohl ich damals erst 16 war. Lag wohl zum einen an meiner Größe, die immerhin 1,77 beträgt. Große Menschen wirken immer irgendwie reifer, finde ich. Zum Anderen konnte ich locker mit den Themen mithalten und unterhielt mich, als wäre ich eine von den Kommilitonen, was so rein gar nicht typisch für mich ist. Ich und ein flüssiger Dialog? Unmöglich. Darunter war auch meine Freundin. So kamen wir ins Gespräch und alles nahm seinen Lauf.
Nun vögelte sie irgendeine amerikanische Uschi und ist mit ihr überaus glücklich, sagte mein Facebook.
* * *
Ich hörte wie unsere Mitarbeiter uns zusammenriefen und anwiesen die, die noch im Wasser waren ebenfalls zu holen, weil wir wieder zurückkehren wollten. Ich sah auf meine Uhr, die ich so gut wie nie vom Handgelenk abnahm. Ich hatte es tatsächlich geschafft ganze zweieinhalb Stunden in der Sonne zu verbringen, ohne ein Schluck Wasser und ohne Sonnencreme, was wesentlich schlimmer war als der Wassermangel, denn der darauf folgende Sonnenbrand war verheerend.
An dem Anreisetag gab es noch ein Abendessen und anschließend eine Spielkennenlern Runde. Dabei verteilten sich alle Mitarbeiter auf jeweils ein Gesellschaftsspiel, welches unserem Alter angemessen war. Wir sollten alle in bestimmten Zeitabständen bei jedem Mitarbeiter in Erfahrung bringen, wie die Spielregeln waren. Dies geschah natürlich anhand von Proberunden. In ihrer Gruppe konnte ich mich gar nicht konzentrieren, denn zu sehr faszinierten mich ihre Lippen, die ich so gern geküsst hätte. Im Gegensatz zu mir hatte sie mittellange Fingernägel, die nur mit einem durchsichtigen Nagellack beschichtet waren. Ich hätte eher was Farbenfrohes erwartet. Vielleicht Lila. Auch ihre grünen Augen fand ich toll. Erinnerte mich wieder an etwas Wildes. In meinem Kopf ratterten bereits die wildesten Fantasien, wie Amy wohl im Bett wäre, ob sie auf Männer stehe oder auf Frauen und wenn es Männer waren, wie sie diese wohl verführte. Bei der letzteren Vorstellung erschauderte ich, da mir sofort mein erster Freund in die Vorstellung rutschte. Katastrophe.
Er an sich war toll. Ich weis noch, wie er nach zwei Monaten langsam darauf hinaus drängte endlich intimer werden zu wollen. Ich hatte nicht wirklich Lust drauf, aber die Neugier siegte letztendlich doch über mich. An dem Abend hatte er eine sturmfreie Wohnung seiner Eltern, da diese über das ganze Wochenende verreist waren. Es war einige Monate vor meinem 15. Geburtstag. Manche würden wohl sagen viel zu früh, aber ich fühlte mich immer schon reifer als auf dem Papier. Und ich fühle mich allgemein nur älteren Personen hingezogen. Phillip, mein Freund war auch zwei Jahre älter als ich. Ich mag es, wenn mein Partner, nun jetzt Partnerinnen einfach mehr Lebenserfahrung haben. Er hatte sich wirklich viel Mühe gegeben. In seinem gesamten Zimmer waren unzählige Kerzen aufgestellt und einige Rosen waren in Vasen verteilt. Ich fand es eigentlich viel zu kitschig sagte jedoch nichts, da ich ihn nicht kränken wollte und befürchtete, dass es dann gar nicht mehr in der Lage wäre den Geschlechtsakt zu vollziehen.
Mir war es richtig unangenehm, als er anfing mich auszuziehen und wollte, dass ich das Selbe bei ihm mache. Ich wollte weder ihn nackt sehen noch selber nackt daliegen. Ich finde meinen Körper persönlich nicht sehr schön. Viel zu lang, zu kleine Brüste und ich wirke immer zu dünn, obwohl ich laut dem BMI mich kurz vor dem Übergewicht befinde. Außerdem mag ich nur sehr selten irgendwas aus der Frauenabteilung in den Geschäften. Meistens endet mein Einkauf doch in meinem Lieblings Skaterladen in dem Jungs-Bereich.
Da lag ich also nun und er wollte auch noch, dass ich ihm sein Gummi überzieh, was in mir eine ganze Demonstration an Gründen, die dagegen sprachen auslöste. Ich schaffte es jedoch mich rauszureden mit der Drohung, wolle er den schon mit 17 Vater werden, falls ich es vermasseln würde. Da war das Ding rasch auf seinem Schwanz. Ich verschloss dabei die Augen, weil ich es nicht sehen wollte. In der Zwischenzeit fragte ich mich was ich denn da tat. Es sollte doch Spaß machen, zumindest klang es nach Lust und Leidenschaft, wenn Sophie davon sprach, die bereits diese Erfahrung gemacht hatte. Mir kam nie der Gedanke in den Sinnl, dass sie es als eine Zwangssache betrachtete. Ich fühlte mich dagegen wie ein Schwerverbrecher, der geradewegs zu seiner Hinrichtung geführt wurde. Während ich so vor mich hingrübelte, merkte ich gar nicht, dass Phillip bereits auf mir lag und gerade dabei war in mich einzudringen. Nein so durfte der Sex doch nicht sein. In Büchern, Filmen und Erzählungen von Sophie schien diese Sache eins der schönsten auf der Welt zu sein, die zwei Menschen miteinander teilen konnten. Ich drückte Phillip unsanft von mir weg, so dass er beinahe vom Bett fiel und hüllte mich schneller als der Blitz in meine Jeans, Shirt und Pulli ein. Während ich mich ankleidete, starrte er total konsterniert vor sich hin und fragte mich immer wieder danach, ob er was Falsches getan habe. Ich glaube ich gab ihm damals zur Antwort, dass es nicht das Richtige wäre und ich mich nicht freiwillig vergewaltigen lasse. Harte Worte. Seit dem Tag waren wir kein Paar mehr, weil weder ich noch er sich meldete und seit dem Tag konnte er mir nie wieder in die Augen schauen. Vielleicht machte er sich Vorwürfe. Natürlich erzählte ich Sophie davon und fragte mich, was mit mir nicht stimmte. Es war nicht so, dass ich keine Lust empfand. Somit war ich definitiv nicht frigide, aber mit Männern konnte ich mich einfach nicht anfreunden, das stand fest.
„Jill, du bist lesbisch.“ Meine Augen wurden ruckartig so groß wie die eines Makis. Wir saßen damals in einem, nein in meinem Lieblingscafe und Sophie sagte das in einer Lautstärke, die mir durchaus peinlich war. Ich stritt alles ab und weigerte mich diesen Gedanken in Betracht zu ziehen, jedoch waren Sophies Argumente zu offensichtlich.
„Wieso sitzen wir eigentlich immer hier, kannst du mir das verraten?“ Ich zuckte mit den Schultern, obwohl mir die Antwort wie ein Kloß im Hals steckte und ich ihn versuchte mit aller Gewalt hinunter zu schlucken.
„Weil du die ganze Zeit die Kellnerin anstarrst. Du setzt dich sogar so hin, dass du alle ihre Bewegungsrichtungen perfekt aus diesem Winkel beobachten kannst. Denkst du ich merk das nicht?“ Was sollte ich denn drauf sagen. Diese Bemerkung war einfach klar wie Glas, aber ich wollte mich nicht dazu bekennen, dass ich in gewisser Weise auf mich selber stand. Außerdem klang dieses Wort „Lesbe“ so abwertend. Wie ein dreckiges Schimpfwort und so eins wollte ich schlichtweg nicht sein.
„Weist du was, ich mach mich mal etwas Schlau, was hier so frauenmäßig abgeht und dann gehen wir auf Frauenjagt.“ Nun waren meine Augen viel größer als die eines Makis. Ich wollte schon das verneinen und am besten gleich aufstehen und das Cafe fluchtartig verlassen, aber Sophie hielt mich am Ärmel fest, so wie sie das immer tat, wenn sie merkte, dass ich kurz vor der Flucht war.
„Jetzt sei mal nicht so. Du willst es doch nur nicht zugeben aber immer, wenn wir durch die Stadt gehen, guckst du nur den Mädels hinterher. Ich hab dich noch nie dabei erwischt, dass du einem Typen nachgesabbert hast.“ Ich fühlte mich etwas erleichtert, denn anscheinend machte es Sophie absolut nichts aus, dass ich womöglich auf Frauen stand, aber um sicherzugehen fragte ich nach.
„Wieso sollte es mir was ausmachen. Das habe ich mir sowieso schon immer gedacht. Allein schon das Shoppen mit dir, ist vergleichbar mit Michis Shoppinggängen. Das Hinterhergucken den Frauen. Deine kalte Art gegenüber Phillip, der wirklich richtig verknallt in dich war. Ich habe nur darauf gewartet, bis du mir das irgendwann mal mitteilst.“ Das war sozusagen mein Outing vor meiner besten Freundin und nicht mal eine Woche später standen wir beide in einem Club, selbstverständlich mit unseren ausgeliehenen Ausweisen, für die sich aber keiner der Türsteher zu interessieren schien. An dem Abend lernte ich auch prompt Meike kennen. Eine sehr selbstbewusste Frau, die mit mir leichte Beute hatte, da ich noch absolut keinerlei Ahnung von nix hatte. Wenige Wochen später waren wir bereits zusammen auch, wenn unsere Beziehung auf einer kleinen Lüge bezüglich meines Alters basierte. Ich bezweifle, dass sie sich auf mehr als nur Freundschaft eingelassen hatte, wenn sie mein wahres Alter von Anfang an gewusst hätte und zwar, dass ich erst 14 war und nicht 17, wie ich es ihr im Club sagte. Einige Wochen nach dem Zusammenkommen fand sie es schließlich selber raus und beendete diese Romanze abrupt, was mir jedoch nicht sehr wehtat. Sie war zwar eine durchaus schöne Frau aber ich merkte bereits nach einer Woche, dass ich keinen weiblichen Mann an meiner Seite haben wollte. Meike war jedoch sehr dominant und nahm auch vollkommen die Rolle des Kerls ein, was nicht auf Anhieb ihrem Aussehen zu entnehmen war. Diese Dominanz zog sich durch Jede Ebene der Partnerschaft, wenn man den diese so nennen konnte. Ich kann nicht darüber Klagen, dass der Sex schlecht war, nein ganz und gar nicht. Im Gegensatz zu der Situation mit Phillip floss die Erregung bei jeder Berührung, die Meike an mir ausübte durch meinen gesamten Körper und gab mir ein Gefühl der Schwerelosigkeit, welches mir bis dahin sehr fremd war. Es fühlte sich total richtig an. So wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass meine nächste feste Freundin es um einiges besser drauf hatte als Meike aber die Erfahrung sollte noch kommen.
Ich weis bis heute nicht, wie dieses Spiel geht, welches in Amys Gruppe vorgestellt wurde. Aber zum Glück war es eins der weniger Interessanten.
Nach dem ersten Tag beschloss ich für die restliche Zeit Amy so gut es geht aus dem Weg zu gehen, ehe ich komplett meinen Verstand verlieren würde. Dies erwies sich jedoch schwieriger als gedacht. Der Zweite Tag verlief an sich sehr flott und um ehrlich zu sagen weis ich heute nicht mehr so genau was für ein Programm wir hatten. Am Abend saßen wir alle draußen und ich versuchte mich in die Gespräche der anderen Mädels etwas zu integrieren. Ich wollte ja schließlich nicht als kompletter Außenseiter dastehen. Ich erzählte zum Beispiel von dem eigentlichen Urlaubsziel, welches ich anstreben wollte. Auch erzählte ich von meiner Kontrollfreak Mutter und erntete große Zustimmung bei denen, die mit am Tisch saßen. Auf die Frage warum sie so sei hätten mir wohl zig tausend Gründe einfallen können.
„Es liegt wohl am Autounfall, den ich hatte.“ So war das nicht geplant gewesen. Ich bin keine Person, die jedem Lügenmärchen erzählt. Ganz und gar nicht. Aber ich wollte auch kein Wort von meinem Vater erwähnen und dann diese gespielten Mitgefühlsblicke ertragen müssen. Dies taten alle das ganze letzte Schuljahr über und ich hasste es über alles. Dies war an dem Abend Lüge Nummer eins.
Wir redeten über alles Mögliche und immer wieder klinkte ich mich aus den Diskussionen raus und verlor mich selber in meiner Traumwelt, wie immer. Unerwartet spürte ich ein Ziehen an meinem Shirt, so wie das Sophie meistens tat und selbstverständlich gab ich mein reflexartiges ‚Ja’ zur Antwort. Erst wenige Sekunden später sah ich in die erwartungsvollen Gesichter der anderen, die offensichtlich eine Antwort von mir hören wollten.
„Wie heißt dein Freund?“
„Phillip“ Nun fragte ich mich selber was ich da verflucht noch mal tat. Wieso sagte ich seinen Namen und wieso ging ich überhaupt auf diese Frage ein. Ich wollte gerade dies korrigieren als ich mir selber klar wurde, dass ich diese Leute so oder so nie wieder sehen würde und es im Prinzip egal sein könnte, was sie wussten und in wie fern diese Angaben von mir auch der Wahrheit entsprachen. Somit blieb die zweite Lüge bestehen und bereits einen kurzen Augenblick später bereute ich es schon fast nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Als mein Blick etwas umherschweifte, sah ich Amy nicht sehr weit entfernt bei einer anderen Gruppe Teilnehmern sitzen. Ich konnte ziemlich gut hören was diese sagten und fragte mich zugleich, ob sie das ebenso konnten. Die Frage, ob Amy meine Antwort mitgehört hatte brannte in mir, aber eine Antwort gab es leider nicht drauf. Lediglich ihr Blick irritierte mich etwas. Sie sah zu mir rüber, so wie das schon mehrmals der Fall war. Vielleicht bildete ich es mir nur ein oder da war tatsächlich eine Spur der Enttäuschung zu entdecken.
Der Dritte Tag wollte auch nicht besser werden und mein Plan ihr aus dem Weg zu gehen scheiterte erneut. Zwar gelang es mir immer einen Platz zu erhaschen, der weit genug von ihr war und nicht in einem Blickwinkel lag, aus dem ich sie die ganze Zeit hätte angucken können. Auch suchte ich mir immer die Gruppen aus bei Spielen oder anderen Aktivitäten, wo sie nicht dabei war, aber letztendlich mussten wir ja wieder aufeinanderprallen. Es war Nachmittag, als wir die nahegelegene Stadt besuchten. Wir durften uns frei bewegen und umherstreifen durch die kleinen Gassen, die für mich jedoch nichts Interessantes darstellten. So entschloss ich mich einfach in der Nähe des Versammlungspunktes zu bleiben. Genauer gesagt am Pier. Sie ließ nicht sehr lange auf sich warten. Bereits aus der Ferne erkannte ich sie. Flucht war jedoch unmöglich, da Amy geradewegs auf mich zusteuerte. Wäre ich einfach weggegangen, hätte ich sie womöglich noch gekränkt. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Selbstverständlich verwickelte sie mich in einen Dialog, der mehr als oberflächlich startete. Zuerst kam die Frage nach meinem Alter mit der darauf folgenden Bemerkung, dass ich ja viel älter wirke. Mein Alter wusste sie ganz genau, denn schließlich sagte ich es bei der Vorstellungsrunde und in meinem Anmeldebogen war dieser gewiss auch verzeichnet. Darauf folgte die Frage nach meiner Schule. Hier musste ich mit Entsetzen feststellen, dass ab dem kommenden Schuljahr ich sie täglich sehen würde, weil sie die 12. Jahrgangstufe besuchen würde. In diesem Moment fühlte ich um die 300 Knicke in mir. Zum Glück trudelten gerade Hanni und Nanni ebenfalls zum Pier und ich ergriff diese Chance, um mich zu ihnen zu gesellen.
Der Vierte Freizeittag gefiel mir wesentlich besser, denn hier stand eine Biketour auf dem Programm und die Frau meiner Träume war nicht die betreuende Mitarbeiterin, was mich sehr entspannte, denn ich wollte wirklich gerne mit den Jungs und Sandra mitfahren. Die restlichen Teilnehmer entschlossen sich für den Strand. Kurz vor der Abfahrt kam es dennoch erneut zum Kontakt.
„Hast du dich dieses Mal eingecremt?“ Knick, Knick, Knick. Ich nickte und stieg hastig auf das Leihbike. Mein Kopf war voll mit Bildern vom ersten Tag. Abends, als der Sonnenbrand sich deutlich bemerkbar machte, bot mir die Leiterin Manuela meinen Rücken mit Apres-Lotion einzucremen, jedoch musste sie sich unglücklicherweise einer Gruppe widmen, die nach ihr verlangte wegen einem Spiel. Wer hatte jedoch Zeit. Amy. Es ist nicht so, dass mir diese Berührung nicht gefiel, doch wäre ich ein Typ, hätte ich wohl einen Ständer gehabt nach dieser Eincrempartie. Ich will auch gar nicht näher auf meine Gedanken eingehen, aber ich schmolz förmlich vor mich hin und fand, dass sie die zärtlichsten Hände der Welt hatte. Sie konnte auch wahnsinnig gut massieren. Da wäre mir ein Dauersonnenbrand alle mal Wert gewesen, wenn ich stets solch eine Behandlung bekommen hätte. Aber auf der anderen Seite ist es auch eine wirklich blöde Situation gewesen. Da steht man heimlich auf eine Frau und diese ist dann eine Betreuerin. Eine blödere Konstellation der Positionen gibt es gar nicht, glaube ich.
Die Biketour war für mich der absolute Hammer. Wir hatten fast den ganzen Weg über ein Panoramabild des Meeres neben uns und unser Ziel war eine kleine Bucht, in der wir etwas Zeit hatten um ins Wasser zu hüpfen. Die Rückfahrt genoss ich mit freiem Oberkörper, nun natürlich mit Bikinioberteil, denn so freizügig bin ich dann doch nicht.
Das Beste daran war jedoch, dass weit und breit keine Spur von Amy war. Ich hatte sie tatsächlich für diese Zeit vollkommen aus meinem Kopf verbannen können. Alberte rum mit den Jungs, unterhielt mich inzwischen ohne Bedenken mit Sandra und hatte wirklich Spaß.
Dieser setzte sich nicht am darauffolgenden Tag fort, so wie ich es mir erhofft hatte. Der Tag war vollkommen Florenz gewidmet. Die Stadt lag etwa 2 Stunden von unserem Zeltlager entfernt und wir hatten den Luxus mit einem Bus dorthin zu fahren, der extra nur für uns da war. Vor Ort teilten sich alle in kleine Gruppen auf. Meine war wie bereits die ganze Woche über Sandra, Sahra und Lara und diese beiden gaben so ziemlich das Kommando an. Hanni und Nanni wollen das sehen. Hanni und Nanni wollen dort Shoppen. Hanni und Nanni wollen hier essen. Mir machte es nichts aus, da ich bereits nach den ersten 20 Minuten mir ein schickes Shirt ergattern konnte und als Erinnerung reichte dies schon vollkommen aus. Es fehlte nur etwas für meine Mutter und bei einem weiteren Aufenthalt in einem Klamottenladen blieb ich in einer sichtbaren Nähe vor einem Souvenirladen stehen. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, dass ich den anderen meine Abwesenheit mitgeteilt hatte, kann gut möglich sein, dass ich dies lediglich in meinen Gedanken aussprach. Dies passiert nämlich ab und zu und meistens kommt dann so ein Spruch von Sophie wie ‚Jill ich kann nicht 24 Stunden am Tag die Hellseherin für Gott und die Welt spielen.’
Ich fand schnell etwas Passendes für meine Mutter, denn das ist auch nicht so schwer. Die liebt es Wahrzeichen oder Symbole von den Orten mitzunehmen, die sie bereits besucht hat oder einer aus der Familie eben. Vor einigen Jahren war mein Vater geschäftlich in Japan und meine Mutter durfte mitkommen. Seit dem hat sie in ihrer Sammlung ein Maneki Neko oder anders gesagt eine winkende Katze.
Nach meinem Erfolgreichen Einkauf stellte ich mich wieder vor das Geschäft hin und wartete einige Minuten auf die anderen, aber weder Sandra noch die Möchtegernzwillinge waren zu sehen oder zu hören, was eigentlich so rein gar nicht zu den beiden passte. In der Umgebung konnte ich auch keine Spur von den dreien finden. Ich streifte etwas umher, erstmal in der Nähe des Ortes, wo ich sie das letzte Mal gesichtet hatte, jedoch ohne Erfolg. Den Weg hatte ich auch nicht mehr so genau im Kopf, da wir umherirrten wie die wilden. Von einer Straße in die nächste, zurück zu der vorherigen, dann wieder in eine Seitengasse. So ging das zwei Stunden lang. Das schlimmste war jedoch, dass ich nur noch eine halbe Stunde hatte bis wir alle beim Treffpunkt sein mussten. Ich versuchte auf Englisch mich durchzufragen aber keiner konnte oder wollte mir so recht helfen und es lag definitiv nicht an meiner Redekunst. Diese Sprache liegt mir zu einem achtel im Blut, väterlicherseits. Ich sah erneut auf die Uhr und spürte, wie die Aufregung nun doch in mir aufstieg. Ich befand mich in einer mir Fremden Stadt, umgeben von Leuten, die genauso Auskunft gaben wie die zahlreichen Marmorstatuen, welche die öffentlichen Plätze zierten und es waren nicht mal zehn Minuten bis ich am vereinbarten Treffpunkt sein musste. Genau in dem Augenblick klingelte mein Handy. Es war Amy, die sich bei mir meldete. Sie fragte natürlich wo ich mich befinde, denn meine Gruppe war schon eingetroffen und die anderen hatten den Betreuern bereits mitgeteilt, dass sie einen 25prozentigen Verlust der Gruppe erlitten hatten. Ich schilderte kurz meinen Aufenthaltspunkt und hörte, wie Amy den anderen mitteilte, dass sie weiß wo ich bin und würde sich auf den Weg machen, um mich zu holen und zum Bus zu bringen.
Wunderbar. Da will man auf keinen Fall in ihrer Nähe sein oder gar allein in ihrer Nähe und was passiert? Genau das Gegenteil. Es waren insgesamt sechs Mitarbeiter mit dabei und immer erwischte ich Amy als meine Ansprechperson. War dies ein Zufall oder ging diese Initiative womöglich von ihrer Seite aus? Während ich so am Grübeln war, merkte ich gar nicht, dass Amely bereits neben mir stand.
„Hey du Tagträumer, willkommen in der Realität.“
„Sophie?“ Selbstverständlich erntete ich einen sehr verwirrten und zugleich fragenden Gesichtsausdruck von Amy, die sich mit Mühe ein Lächeln verkniff.
„Tut mir leid, wenn du jemanden anderen erwartet hast, aber noch länger können wir nicht warten.“ Ich hatte gar keine Zeit um mich richtig aufzurichten und ihr dann zu erklären wer damit gemeint war und wieso mir dieser Name überhaupt so rausrutschte, da merkte ich bereits ihren warmen, festen Händedruck in meiner Hand und folgte gehorsam meiner hübschen Retterin. Nach einigen Schritten hielt sie jedoch nach wie vor meine Hand, was mir durchaus unangenehm war. Zum einem klopfte mein Herz wie verrückt und ich befürchtete, dass meine Hand demnächst feucht, viel zu warm und weich wie ein Marshmallow werden könnte. Zum anderen spürte ich die Blicke der fremden Menschen auf mir haften, die sich bestimmt die unmöglichsten Dinge dachten. Zwei Frauen halten Händchen. An was wird da wohl als erstes gedacht.
Als hätte jemand meine Gedanken gelesen, hörte ich plötzlich einen Pfiff. Eine Gruppe Jungs schaute uns mehr als interessiert zu und schrien alle durcheinander etwas auf Italienisch. Ich bereute zutiefst, dass ich mich für Französisch entschieden hatte, da ich nun weder verstand was die sagten, noch konnte ich etwas entgegensetzen.
„Ciao belle!“, hörte ich einen, der vier Jungs rufen. Ein Weiterer fügte etwas hinzu, was ich jedoch nicht aufschnappen konnte. Ich bin mir aber sicher, dass es irgendwie ein Anbaggerspruch war. Ich merkte, wie Amy das Tempo sichtlich beschleunigte und ihr Händedruck fester und kräftiger wurde.
„Dove così urgente?“
Es folgte natürlich keine Reaktion von unserer Seite aus, aber dies schien den Typen gar nichts auszumachen. Womöglich hörten sie sich selbst gerne reden oder bildeten sich was ein.
„Siete innamorate?“
„Pure venite con noi!“
Einer der Jungs machte einige Schritte auf uns zu. Sofort zog Amy mich etwas enger an sich heran. Ich empfand die Nähe mehr als quälend, denn sie roch so gut und unsere Schultern berührten sich mehrmals, während wir weiterhin auf der „Flucht“ waren. Ich fand es allgemein sehr verblüffend eine Frau mir gegenüber zu haben, die ansatzweise in derselben Größenliga spielte, wie ich. Aber Amy schaffte es trotz ihrer langen Beine so grazil und feminin zu wirken, wie keine andere. Ich dagegen stampfte oftmals wie ein Elefant umher und empfand mich so rein gar nicht wie eine Feder.
Diese Nähe kam anscheinend ebenfalls falsch bei den Kerlen an, denn sogleich folgten die nächsten Bemerkungen
„Forse siete insieme?“
„Vi amate?“
Nun blieb Amy abrupt stehen, so dass ich mit voller wucht in sie hineinlief und eine intensive Berührung nicht vermeidbar war. Zum Glück war sie Standfester als ich angenommen hatte und eine weitere peinliche Szene blieb uns erspart, in der wir übereinander auf dem Boden lagen. Bereits nur bei dem Gedanken daran, wurden meine Ohren knallrot.
„Sì e siamo assoluto felice anche senza uomini!“
Meine Augen weiteten sich ziemlich stark, denn ich hatte keine Ahnung, dass Amy diese Sprache beherrschte und in so einem bissigen Ton eine Antwort entgegenbringen konnte. Bis jetzt war sie immer nett, gut gelaunt und hatte so eine sanfte Stimme, der man gerne den ganzen Tag zuhören wollte. Der dahin gebrüllte Satz hingegen war eine Note der Aggression, die sie bis jetzt ziemlich gut getarnt hatte.
Daheim schaute ich die ganzen gemerkten Wörter im Wörterbuch nach und war mehr als erstaunt darüber, was dies für einen Dialog ergab.
Die Jungs riefen, wie man sich das schon denken konnte so was in der Art wie ‚Hey ihr Süßen, wohin des Weges?’ ‚Seit ihr schon vergeben?’ ‚Kommt doch mit uns weg’ Anschließend folgten wohl so Sätze wie ‚Seit ihr etwa zusammen? Liebt ihr euch?’ Die letzte Bemerkung löste irgendwas in Amy aus und sie konterte überraschenderweise mit einem Satz, den man als Betreuerin wohl nicht loslassen sollte, vor allem nicht vor einem italienischen Mann, der es dann als seine Pflicht ansehen hätte können die liebenden Lesben zu bekehren. Sie entgegnete mit einer Bestätigung des Zusammenseins und der Hinzufügung von dem Statement, dass sie, beziehungsweise dass wir auch sehr glücklich ohne des männlichen Geschlechts wären. Man kann sich wohl denken, wie ich nach der Übersetzung geschaut hatte. Sophie war auch erstaunt, denn sie half mir dabei meine Erinnerung ins Deutsche umzuwandeln, da sie Italienisch als zweite Fremdsprache hatte.
Ich weis gar nicht wie lange sie mich noch an der Hand hielt. Die Jungsgruppe war bereits nicht mehr in sichtweite und keiner verfolgte uns, aber sie ließ einfach nicht los. Ich empfand es mehr als schön, aber mir war es auch irgendwie peinlich, wie ein Kleinkind an der Hand geführt zu werden. Außerdem waren wir kurz vorm Ziel und ich wollte nicht vor den anderen Teilnehmern händchenhaltend auftauchen. Somit blieb ich kurz stehen und schüttelte leicht mit der Hand, die nach wie vor fest umschlossen war. Die Deutung war wohl mehr als offensichtlich, denn Amy ließ sofort los und strich sich ihre kürzere Haarseite nach hinten, obwohl das eigentlich überflüssig war, da die Haare so oder so nicht hinter dem Ohr blieben. Es schien ihr ebenfalls etwas unangenehm zu sein. Womöglich hatte sie einfach nicht mehr dran gedacht und die mehr als belästigende Situation brachte sie komplett durcheinander.
Am letzten gemeinsamen Abend in Italien gingen wir alle zum Strand. Unsere Leiterin Manuela hielt ihr Abschiedsprogramm. Das Thema lautete Liebe, Nähe, Zweisamkeit. Es war irgendwie wie eine Predigt, aber doch ziemlich gut versteckt und auch mit einem Thema, was Jugendliche interessiert.
Sie las eine Geschichte aus irgendeinem Buch vor, die sehr herzergreifend war. Ich hörte jedoch nicht die ganze Zeit zu, da ich in dem Augenblick nur noch an meinem Vater denken musste. Menschen, die man liebt. Das hatte Manuela in ihrer Rede erwähnt und viele weitere Sätze gesagt, die in mich wie Pfeile rein flogen mit der maximalen Geschwindigkeit eines Pfeils. Mir war schon seit über zwei Jahren klar, dass er für immer weg ist aber an dem Abend schien auch der letzte Zug in mir angekommen zu sein mit der Bestätigung, dass es absolut sicher nie wieder Momente geben wird mit diesem, mir geliebten Menschen.
Während der Rede sah ich verschwommen, da ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war, eine Person aufstehen und weggehen. Es war Amely. Keiner folgte ihr. Es schien so, als würden die anderen wissen was Sache ist, zumindest die Mitarbeiter.
Nachdem dieser sehr deprimierende Programmpunkt beendet war, durften wir noch eine Weile uns frei am Strand bewegen. Die Mädels schnappten ihre Kameras und schossen überbelichtete Nachtfotos. Einige setzten sich zu kleinen Kreisen und unterhielten sich. Ich schnappte mein Strandtuch und ging gezielt auf die Stelle zu, wo ich den Umriss von Amy erkennen konnte. Mehrmals schrie ich innerlich zu mir selbst, dass ich umdrehen solle. Stehenbleiben zumindest. Aber meine Füße wollte mir nicht mehr gehorchen. Sie schritten voran. Angekommen, legte ich ohne irgendwas zu sagen mein Strandtuch um ihre Schultern, da es ziemlich kühl war so nah am Wasser. Auch, wenn es dunkel war und weit und breit keine Laterne stand, konnte ich deutlich das glitzern auf ihren Wangen sehen. Eigentlich hatte ich vor wegzugehen, aber nun setzte ich mich neben sie und schwieg. Wie lange wir so nebeneinander saßen weiß ich nicht, denn in ihrer Nähe verlor ich jegliches Zeitgefühl.
„Vor etwa eineinhalb Jahren ist mein Vater gestorben.“ Ich drehte mich langsam zu ihr um. Wieso erzählte sie mir so was. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich sie etwas gefragt hatte, aber dies störte sie auch nicht. Die Wörter sprudelten förmlich aus ihr heraus und so erfuhr ich, dass ihr Vater an Krebs gestorben war nach zwei gescheiterten Therapien und unzähligen Operationen. Sie erzählte auch von der Unterrichtsbefreiung in der Zeit, weil sie so viel Zeit wie möglich mit ihren Dad verbringen wollte. Zwei Jahre Schule lies sie dafür insgesamt sausen und musste wiederholen. Konnte ich jedoch gut nachvollziehen. Ich hätte es wohl auch so getan.
„Mein Vater ist auch tot.“ Ich sagte das so leise und so unscheinbar, als würde ich vom Wetter reden. Sie schien sichtlich überrascht zu sein und erkundigte sich natürlich sofort nach dem Autounfall, in den ich angeblich verwickelt war. Nun hatte ich die Bestätigung, dass sie alles mitgehört hatte an dem Abend und auch sicherlich das mit Phillip.
Auch, wenn es mir sichtlich schwer fiel, klärte ich die Sache zumindest mit meinem Dad auf. Phillip blieb aber vorerst noch erhalten. Das Gespräch war jedoch inzwischen dermaßen erdrückend und schwer, dass mir die Tränen in den Augen Standen und ich nur mit viel Mühe diese irgendwie wieder aus den Augen bekommen konnte ohne, dass sie mir die Wangen hinunter liefen.
„Wie kam es eigentlich dazu, dass du Amely heißt?“ Eine bessere Frage fiel mir in dem Moment nicht ein. Ich wollte einfach nur ein Themawechsel haben.
„Meine Mutter ist leidenschaftlicher Fan von dem Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“ und als sie mich zum ersten Mal sah, wusste sie sofort, dass ich eine Amelie bin.“ Auf so was war ich nicht wirklich gefasst gewesen. Vor allem auf die schnelle Reaktion. Nach einigen Sekunden des Grübelns fand ich doch noch die richtigen Worte.
„Aber der Name stimmt ja nicht überein.“ Bestimmt hätte man auch etwas Besseres erwidern können, aber man sollte nicht vergessen, dass ich nach wie vor einen erhöhten Herzschlag hatte, in mir einen Knick nach dem anderen verspürte und geplagt war von ferkligen Gedanken, die im Zusammenhang mit der Frau standen, die neben mir saß. Die Gedanken führten dazu, dass ich mich auch noch für mich selbst schämte, was die Situation nicht erleichterte. Ich hörte Amy lachen. Es war kein herzliches, lautes und fröhliches lachen, jedoch eine ganz kleine Vorstufe davon, zumindest hoffte ich es, dass es echt war und nicht erzwungen.
„Es war ein Scherz. Ich wieß nicht warum meine Eltern sich so entschieden haben. Vielleicht ist ihnen kein Besserer eingefallen.“ Daraufhin richtete sie meine Frage gegen mich selbst. Mir war spätestens an dem Punkt klar, dass es mehr war als nur ein Gespräch zwischen Betreuerin und Teilnehmer. Dafür war die Situation zu nah und vertraut. Ich wusste auch nicht so recht, was ich davon halten sollte, denn Kompetenz sieht ganz anders aus. Aus meiner Sicht betrachtet überschritt Amy in dem Augenblick die Grenzen, als sie mir von ihrem Vater erzählte. Betrachtet man die Situation noch genauer, so bin ich allerdings schuld daran, dass es zu so einer Entwicklung kommen konnte. Wer war nun also schuld, wenn es den einen Schuldigen überhaupt gab.
„Jill brachte so zu sagen meine Eltern zusammen. Deswegen heiße ich so.“ Ich stand auf und hielt ihr meine ausgestreckte Hand hin, die ich vorher gründlich an meiner Schort abgewischt hatte, damit sie sich nicht feucht anfühlt, was sie sicherlich war.
Meine Andeutung wurde auf Anhieb richtig verstanden. Wir kehrten gemeinsam zu der restlichen Truppe zurück und ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, dass ich gerade auf eine gewisse Art und Weise mit meiner Betreuerin intim geworden war.
Auf der Rückfahrt legte ich mir die Worte zurecht, mit welchen ich mich von Amy verabschieden wollte. Ich war fest entschlossen ihr meine Nummer zu geben. Ich hatte diese bereits auf einen kleinen Zettel geschrieben und drunter meinen Namen. Eigentlich hatte ich nichts zu verlieren. Würde sie sich nicht melden, so wäre es klar, dass ich mir keine Hoffnungen machen brauchte, würde sie sich doch melden, so wäre dies womöglich der Anfang von einer interessanten Bekanntschaft.
Ich war wie immer eine der letzten, die abgeholt wurden. Das war ebenfalls typisch für meine Mutter. Hinbringen zu früh und abholen zu spät. Ich habe viele Stunden mit Warten verbracht als ich noch jünger war und immer vom Basketballtraining abgeholt werden musste.
Wie schon unendliche Male im Kopf durchdacht, ging ich alle Mitarbeiter durch und bedankte mich für die schöne Woche. Zuletzt war Amy dran, die etwas abseits stand und ihr Gepäck bereits in dem kleinen gelben Wagen verstaute. Drinnen saß eine ältere Frau, ihre Mutter nahm ich stark an. Ich ging zu ihr, wir umarmten uns und ich wünschte ihr noch eine gute Heimfahrt. Jetzt war der Augenblick, indem ich meine Nummer rausholte und ihr Übergab. Nein tat ich nicht.
Diese Aktion blieb lediglich nur in meiner Fantasie, stattdessen drehte ich mich um und ging brav zu unserem Wagen. Innerlich tobte in mir ein Tornado der stärksten Stufe und eine Wut auf mich selber stieg in mir auf. Ich spürte wie die Tränen meine Wangen hinunterflossen. Schnell wischte ich diese weg, denn ich wollte nicht, dass meine Mutter sich irgendwas dachte, wahrscheinlich Negatives.
Ich hatte meine einzige Chance vertan diese wunderbare Frau kennenzulernen. So was ist wirklich bitter. Ich glaube viele kennen solch einen Moment, in dem man etwas tun will und man denkt Nichts und Niemand kann einen aufhalten und dann stolpert man über seine eigenen Füße. In meinem Fall war es meine eigene Feigheit.
Mit einem Schlag war ich kaputt, lustlos und total fertig. Ich lies mich von meiner Mutter drücken, bequatschen und alles andere Muttertypische machen. Ich war weder genervt von ihren Stirnküssen, noch regte ich mich über ihre unendlich vielen Fragen auf, die sie mir ohne Punkt und Komma stellte. Ich war einfach nur leer.
* * *
Ganz früh am Morgen, es war gerade mal neun Uhr, war ich bereits hellwach. Wahrscheinlich lag es daran, dass wir auf der Freizeit ebenfalls so früh aufstehen mussten.
Den letzten Abend überstand ich mit viel Mühe und Not, aber ich wollte meine Mutter nicht kränken. Zeigte ihr brav meine Fotos, zumindest die, die ich extra für sie gemacht hatte. Die üblichen Urlaubsfotos eben. Jill neben einem Brunnen. Jill vor einer schönen Mauer. Jill mit anderen Leuten. Jill am Strand. Jill ganz glücklich. Bevor ich zu Bett ging, überreichte ich ihr noch ihr mitgebrachtes Souvenir. Ich hätte nie gedacht, dass ein kleines Stück Plastik und Metall eine Person so glücklich machen konnten, meine Mutter anscheinend schon. Sie konnte ihre wenigen Glückstränen nicht zurückhalten und zeigte ihre Freude vor allem durch das zahlreiche Drücken ihrer Tochter, die vergeblich nach Luft schnappte und durch Sätze wie ‚Ist schon okay Mam.‘ und ‚Es ist schön, dass es dich so freut. Habe ich also eine gute Wahl getroffen.‘ versuchte sich wieder loszureißen, da man ja bekannterweise seinem Dialogpartner gerne in die Augen blickt, anstatt diesen mit der Brust zu ersticken. Meine Mutter störte das allerdings kein Stück.
Ich packte meine Kamera und die alten Treter in meinen Rucksack, schnappte mir meine Inline Skates, ein Brötchen und machte mich auf den Weg zu Sophie. Wir hatten noch am Abend ausgemacht, dass wir heute uns treffen würden. Bezüglich der Zeit hatten wir jedoch keine Vereinbarung getroffen und wie ich mir bereits schon gedacht hatte, öffnete mir eine verschlafene Sophie die Tür und murmelte irgendwas vor sich hin. Wie ein Zombie schlenderte sie zurück in ihr Zimmer und ließ sich wieder in ihr Bett fallen.
„Wieß du eigentlich wie spät es ist?“ Ihr Kopf versank komplett in ihrem Kissen und es war mehr ein Raten des Gesagten als tatsächliches verstehen ihrer Wörter. Es dauerte zwar einwenig, bis Sophie etwas munter wurde, aber dann ging es endlich los. Wir erzählten uns gegenseitig von den Erlebnissen und staunten nicht schlecht über die witzigen und verblüffenden Stories der anderen. So erfuhr ich, dass Sophie mit einem heißen Spanier rumgeknutscht hatte und diesem am liebsten mit nach Hause genommen hätte. Ich wusste aber auch, dass es nur vorübergehend war, denn Sophie verliebte sich sehr selten und der einzige Typ für den sie bis jetzt am meisten empfunden hatte war nach wie vor Martin.
Mag sein, dass es etwas übertrieben und kindisch klingt, aber ihre Spitze des persönlichen Liebeseisberges bildete nun mal eine unerfüllte Liebe und wenn man dieses Gefühl genauer erläutert, so würden einige die Situation wiedererkennen. Der Mensch ist von Natur aus ein sehr gieriges Wesen. Dazu zählt die Wissensgier, Neugier, Habgier und andere Sorten davon und wenn etwas nicht zu Ergründen, Haben oder Erforschen ist, was aber so sehr nach einer Antwort verlangt, da findet man einfach keine Ruhe, so lange bis das Rätsel gelöst ist. Dies beginnt schon im Kindesalter, wenn man feststellt, dass der Dreieckklotz einfach nicht in die Viereckaussparung im Lernspielkasten passt. Bis man begreift wieso das so ist, muss eine gewisse Zeit vergehen.
Sophie wurde leider ihr Lernspielkasten viel zu früh weggenommen und so konnte sie ihr Rätsel nie beenden.
Ich weis, es ist ein etwas wager Vergleich und womöglich nicht ganz passend, aber so ist es nun mal. Jeder strebt nach Antworten und Lösungen.
Auch ich sehnte mich nach einer Lösung der vielen Fragen und schilderte meine Woche in Italien. Anschließend, wie bereits erwähnt, half mir Sophie mit der Übersetzung der gemerkten Wörter. Ich kann mir allgemein sehr gut Dinge merken. Es wundert mich bis heute, wieso ich in Italien den Weg von der Stadt zum Treffpunkt nicht mehr im Kopf hatte. Einige würden wohl sagen es war Schicksal. Andere dagegen würden von Zufall sprechen. Ich konnte mich weder mit der einen noch mit der anderen Option recht anfreunden.
Natürlich erwähnte ich auch den vermasselten Versuch Amy meine Nummer zu geben.
„Sie hat dich doch angerufen? Somit muss die Nummer noch in deinem Handy sein“ Daran hatte ich gar nicht gedacht. Da zeigte sich mal wieder, dass Sophie meine Lebensretterin war. In diesem Fall aber erfolglos, denn auf der Rückfahrt war ich gezwungen mein Handy zu zerlegen, da sich auf eine wundersame Weise Sand in den Zwischenräumen eingenistet hatte. Somit waren die nichtgespeicherten ankommenden Telefonate weg.
„Tja, dann“ Sophie machte eine lange theatralische Pause und strich sich in der Zeit ihre langen dunklen Haare nach hinten. „hast du wohl oder übel keine andere Wahl, als bis zum Schulanfang zu warten.“
Natürlich, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Amy würde ja im kommenden Jahr eine Stufe über mir sein. Im selben Schulgebäude und womöglich in derselben Klasse wie Sophie. Für mich war das anstehende Schuljahr nun das dritte ohne Sophie neben mir als Banknachbarin. Unsere Wege trennten sich, als es feststand, dass ich das Jahr wiederholen musste, aufgrund zu vieler Fehltage. Aber das nahm mir keiner übel, ganz im Gegensatz wurde mir sogar dazu geraten damals. Sie sagten so kann ich besser den Tod von meinem Vater verarbeiten. Konnte ich jedoch sehr lange nicht.
Nicht mal eine Woche später sah ich sie erneut. Sophie und ich saßen in meinem Lieblings Cafe „Carpe Diem“ und verputzten mit viel Genuss unsere Eisbecher. Begleitet wurde diese lässige Stimmung von den zahlreichen neckischen Kommentaren von Sophie, die meine beobachtenden Blicke der Kellnerin gegenüber sehr amüsant fand. Inzwischen versteckte ich mein Interesse ihr gegenüber nicht mehr so streng. Aber so wirklich kennenlernen wollte ich sie jedoch auch nicht, obwohl sie inzwischen mit mir sogar Smalltalkrunden hielt und uns beiden eine extra Eisportion spendiert hatte. Der Grund lag offensichtlich bei Amy, denn die Woche war zu turbulent gewesen, so dass sich mein Gefühlschaos immer noch nicht gelegt hatte.
„Na sieh dir das mal einer an. Nun kannst du sogar zwei Frauen begaffen.“ Ich machte eine abwertende Handbewegung und sah in der Zeit auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sie sah immer noch so schön aus, wie vor einer Woche. Die Haare hatte sie nachgefärbt, denn die Farben wirkten nun viel kräftiger. Wie es aussah bemerkte sie uns zum Glück nicht. Während ich ihr so beim vorbeigehen zusah, wurde ich permanent angeschubst von Sophie, die mir somit signalisierte, dass ich meiner Traumfrau folgen sollte, aber ich konnte nicht. Vielleicht wollte ich aber auch nicht.
Lukas ist einer von unseren Freunden. Er ist derjenige, der immer die klugen Sprüche loslässt. Zumindest erscheinen diese immer richtig passend für die jeweiligen Situationen. An dem Tag musste ich ebenfalls an einen Spruch von ihm denken.
‚Wenn sich etwas nicht aus Zufall und purer Intuition ergibt, so sollte man nicht mit Gewalt die Lösung suchen.“ Vielleicht hatte er Recht und es sollte einfach nicht sein, denn Gelegenheiten gab es mehr als genug in der Freizeitwoche, aber keine wurde genutzt.
Ich erzählte Sophie eigentlich immer alles. Sie war meine Kummerbox, meine Trösterin und meine Lachkumpanin, aber dieses Mal behielt ich einen oder doch mehrere Gedanken bezüglich Amely für mich. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass Amy mich immer musterte. Ihre Blicke verharrten viel länger als notwendig auf mir. Solche Kleinigkeiten ergaben im Gesamtpaket etwas Großes und ich stellte mir selber die Frage, ob es möglich wäre, dass da doch ein Hauch von Interesse war.
Ich wollte aber nicht, dass Sophie mit einem logisch klingenden Kommentar diese Illusion zerstörte oder meine Vorstellung unterstützte und so etwas wie Hoffnung aufkeimen ließ.
Es gibt nichts Schlimmeres als in einem ausweglosen Labyrinth nach einem Ausgang zu suchen. Diese Erfahrung wollte ich nun wirklich nicht machen und so blieben manche Gedanken vorerst geheim.
Das Schicksal oder die Intuition oder auch eine andere Kraft meinte es wohl doch gut mit mir, denn zwei Tage später erwachte ich unfreiwillig aufgrund einer Sms, die mir geschickt wurde. Ich dachte zuerst an Lukas, der sich an dem Tag mit mir treffen wollte und stellte mir bereits vor dem Lesen der Sms in Gedanken vor, wie ich ihn zur Schnecke machte für das Aufwecken. Es war jedoch eine unbekannte Nummer, die mir seltsamerweise so bekannt vorkam. Nach einigen Sekunden des Grübelns war ich mir absolut sicher, dass es die Nummer von Amely war. Sie hatte eine auffällige Zahlwiederholung, die mir in Erinnerung geblieben war.
„Hey, lange nichts mehr gehört von dir. Lust auf ein Kaffee. Das gilt natürlich als eine Einladung.“
Sie konnte auf keinen Fall mich damit meinen. Dies war schlichtweg unmöglich. Ich sendete dennoch eine Antwort.
„Mir geht’s ziemlich gut, das Angebot würde ich auch annehmen aber ich denke, dass du dich verwählt hast.“
Nicht mal eine Minute später klingelte mein Handy erneut.
„Verwählt? Dann nehme ich an du bist nicht Jenny?“
„Nein“
„Wer dann?“
„Jill“
„Oh. Tut mir leid. Die Nachricht war tatsächlich nicht an dich gerichtet. Den Kaffe schulde ich dir wohl dennoch.“
Ich traute meinen Augen nicht. Kommunizierte ich da etwa tatsächlich mit der Frau, die ich so begehrte? Ich brauchte einige Minuten, um mich wieder zu beruhigen ehe ich eine Antwort verfassen konnte.
„Ist keine Pflicht. Wenn du aber mal Zeit hast, gern.“
Wieder kam blitzschnell eine Antwort.
„Okay. Ich meld mich dann. Bis die Tage.“
Natürlich glaubte ich nicht daran, dass tatsächlich eine weitere Reaktion kommen würde. Ich hielt das ganze für die elegantere Variante des ‚Oh tut mir leid, falsche Nummer’ Spruches. Mein Handy war dennoch ab der Sekunde immer dabei. Ich ließ es so oder so nur selten daheim liegen, aber in den Wochen trennte ich mich nur im Schlaf und unter der Dusche von dem Teil. Ja es waren Wochen und die Ferien waren fast vorbei. Ich verbrachte Tag ein Tag aus damit meinen Display mehr als zu oft anzustarren in der Hoffnung da würde eine heilige Nachricht erscheinen von einem bezaubernden Engel. Es ist sicherlich bekannt, dass wenn man auf etwas so verbissen wartet oder sich freut, die Aufregung und dieser Effekt von ‚Wann ist es soweit, wann ist es soweit, wann ist es soweit’ irgendwann verfliegt und man eigentlich kaum noch an das denkt, was zu Beginn noch ein besonderes Gefühl ausgestrahlt hat. Genau so erging es mir auch. Mit jedem Tag wurde die Aufregung kleiner, die Erwartung verkroch sich immer mehr in den Hintergrund und an einem Tag blieb mein Handy komplett daheim liegen, während ich mit meinen Freunden am Weiher es mir gut gehen ließ. Erst abends warf ich einen schnellen Blick auf das Display und blieb fassungslos vor dem kleinen Kommunikationsgerät stehen. Ich weiß gar nicht wie lange ich den Bildschirm anstarrte, bis ich endlich auf öffnen drückte.
„Hey! Sorry für die späte Meldung. Hatte einiges zu tun. Kaffeangebot steht immer noch. Wann hast du Zeit?“
Ich war mehr als verwirrt, denn nie hätte ich daran geglaubt, dass von dieser Frau tatsächlich eine Rückmeldung kommen würde. Die ganze Nacht lag ich wach und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Zurückschreiben. Sie warten lassen. Sich gar nicht melden. Eine Unmenge an Möglichkeiten ergab sich und es galt die eine auszuwählen, die richtig war.
Ziemlich früh am Morgen entschloss ich mich letztendlich ihr zu antworten. Womöglich war es nicht ganz die passende Uhrzeit dafür, aber ich befürchtete, dass zu einem späteren Zeitpunkt mir der Mut dazu fehlen würde.
Einige Stunden später, während ich es geschafft hatte für diese Zeit einzuschlafen wurde ich von dem SMS-Ton wieder mal geweckt.
„Das klingt gut. Wie wär’s mit heute?“
Ich ließ mich wieder in mein Bett fallen und war bereits dabei mir auszumalen wie das Treffen verlaufen könnte, schrieb ihr jedoch währenddessen bereits eine Zustimmung und wuschelte mit der freien Hand zur selben Zeit panisch durch meine Locken.
* * *
Verabredet waren wir um 15 Uhr in einem Cafe. Ausnahmsweise mal nicht mein Lieblings Lokal. Zwei hübsche Frauen in meiner Umgebung hätte ich nicht verkraftet. Außerdem wäre es doch sehr kontraproduktiv gewesen mich mit einer möglichen Konkurrentin vor den Augen der Bedienung blicken zu lassen.
Ich stand geschlagene zwei Stunden vor meinem Schrank und warf mit Kleiderstücken um mich her wie einer Verrückte. Sogar meine Mutter warf einen Blick in mein Zimmer und blieb wie erstarrt stehen. Sofort witterte sie natürlich, dass etwas Wichtiges bevorstand und zählte da eins und eins zusammen. Sie kam zum Entschluss, dass es sich um ein Date handeln musste. Sogleich folgte eine Ansprache bezüglich der richtigen Verhütung und dem Hinweis, dass ich an meine Pille denken sollte, die ich bereits seit nun über zwei Jahren nicht mehr nahm. Meine Mutter ahnte aber natürlich nichts von solcher verschwenderischen Tätigkeit ihrer Tochter und ließ diese weiterhin ausstellen.
Bis jetzt fand ich nie den richtigen Augenblick, um ihr mitzuteilen, dass ihre Tochter sich demselben Geschlecht hingezogen fühlte und somit nie ein Schwiegersohn in Frage käme, den meine Mutter sich sehnlichst wünschte in absehbarer Zukunft.
Zum Anderen hatte ich auch ehrlich gesagt ziemlich große Angst, da bei einem Gespräch vor einem Jahr ich irgendetwas in Richtung Schwul fallen lies und sogleich das angewiderte Gesicht meiner Mutter betrachten konnte mit abfälligen Bemerkungen darüber wie ekelig das wäre. Seitdem schweige ich darüber und erdulde ihre Verkupplungsversuche mit irgendwelchen Söhnen von Arbeitskolleginnen oder Freundinnen. Sie hat mir einmal sogar ans Herz gelegt, dass Michi ein sehr feiner Mann wäre. Immer nett und gebildet auch noch. Er hat große Zukunftspläne und würde ihr gefallen. Natürlich war diese Andeutung an mir vorbeigerauscht wie ein ICE Zug auf Überholspur, weil Michi einfach mein aller bester Kumpel ist, mehr aber auch nicht.
Endlich hatte ich kleidungstechnisch etwas Passendes gefunden, was mir ansatzweise gefiel. Es war ein dunkelblaues Shirt und eine kurze schwarze Hose. Die mit den vielen Taschen. Von der Sorte habe ich um die acht Stück, die im Sommer getragen werden. Was anderes besitze ich gar nicht. Dazu kamen natürlich schwarze Skaterschuhe mit blauen Schnürsenkeln und um das ganze Outfit abzurunden zog ich noch ein kariertes weißgraues Hemd drüber. Noch ein paar Accessoires, wie Armband, Ring, Kette und ich war bereit. Ich bin kein Mädchen, die sich stundenlang mit ihrem Make up beschäftigt. Das einzige was ich besitze ist Kajal, Labello und eine Gesichtslotion. Ganz selten verwende ich auch Wimperntusche. Dennoch sollte kein Bild entstehen, dass ich einem Jungen gleiche, denn meine Gesichtszüge und auch das Auftreten sind schlicht zu feminin, um männlich zu wirken. Ich mag einfach bequeme Sachen, die einen sportlichen oder androgynen Touch haben.
Auf dem Weg zu ihr fand ich meine Kleidungswahl doch nicht so gelungen und war kurz davor wieder heimzugehen, um eine neue Entscheidung zu treffen oder irgendwo mitten in der Stadt einen kurzen Zwischenstopp zu machen, um mich neu einzukleiden. Letztendlich tat ich weder das eine noch das andere, da ich es mehr als hasse, wenn man spät dran ist. Ich war wie immer fünfzehn Minuten vor der Ausgemachten Zeit am vereinbarten Ort und sah sie bereits aus der Ferne an einem Tisch in der Sonne sitzen. Mein Herz schlug schneller und wie schon in Italien verspürte ich einen Knick nach dem anderen und mir wurde unglaublich heiß.
Ich hatte keinem vom dem Treffen erzählt, nicht mal Sophie, was eigentlich nicht typisch war, da wir uns gegenseitig so ziemlich alles erzählten. Dieses Mal wollte ich es jedoch allein schaffen, denn Sophie konnte nicht mein ganzes Leben lang da sein und mich aus den unmöglichsten Situationen retten. Außerdem, so wie ich Sophie kenne, wäre sie ebenfalls
Mitgekommen. Sie hätte sich irgendwo in guter Sichtweite verschanzt und mir aus ihrem Hinterhalt aus Nachrichten geschrieben. Solch eine Situation hatten wir in der Tat schon.
„Hey. Schön dich zu sehen. Sag mal wie spontan bist du eigentlich?“
Ich schüttelte ihr immer noch die Hand und fragte mich in der Zeit, ob das ein Test war oder so was ähnliches. Gleich zur Begrüßung solch eine Frage?
„Na ja. Ich habe, denk ich mal, eine gute Portion davon, sonst wäre ich jetzt nicht hier, oder?“
Ich sah sie nicken und ein breites Grinsen erstrahlte auf ihrem Gesicht, so dass man sogar ihre Zähne genau sehen konnte, die sehr gerade und überdurchschnittlich weiß waren.
„Super, denn hier kommt eine kleine Änderung des Programms. Wir schnappen uns ein Kaffe, Eis, Milchshake or what ever auf dem Weg zum Mitnehmen und machen es uns am Ufer der Donau gemütlich?“
Ich Stimmte prompt zu, denn so hatte ich doch mehr Freiraum, als wenn wir uns starr gegenübersitzen würden in einem überfluteten Café und das im direkten Altstadtzentrum.
Es verging nicht einmal eine Viertelstunde und die Ankündigung wurde in die Praxis umgesetzt. Der erste längere Dialog bezog sich jedoch auf unsere Väter und so langsam ahnte ich, dass sie wohl nur nach einer gleichgesinnten Person Ausschau hielt mit der sie sich ab uns zu verbal austauschen konnte.
Es kam mir allgemein vor, als wäre sie nicht sehr berührt bei ihren Erzählungen und als hätte diese wunderschöne Frau, die inzwischen auch eine Pinke Strähne in ihrem Schwarzviolettem Haar trug meine Gedanken gelesen, folgte ihrerseits eine Erklärung.
„Ich hatte genug Zeit, um es zu akzeptieren. Klar habe ich nach wie vor meine emotionalen Momente, aber so ist es wohl besser für alle.“
Eine lange Pause erfolgte und mir brannte die Frage auf der Zunge, die bereits im nächsten Satz eine Antwort bekam.
„Meine Mutter war am Ende. Nervlich. Körperlich. Emotional. Es kam mir vor, als würde ich beide verlieren. Und ich, nun dieses Warten auf den Tod. Irgendwann wollte ich keine Sekunde von ihm weichen, weil ich Angst hatte, dass er genau in dem von mir abwesenden Augenblick geht. Für immer.“
Während sie von ihrem Vater erzählte hatte ich mich selber vor Augen, wie ich auf ihre Nachricht wartete. Gut ich gebe zu, absolut keine Vergleichssituation, aber ich verstand auf eine seltsame Art und Weise was sie damit sagen wollte. Bei mir war es jedoch ein schönes Irrewerden.
„Wie genau ist er von dir letztendlich gegangen?“
Ich biss mir leicht auf meine Unterlippe. So viel Neugier konnte doch gar nicht gut sein, vor allem nicht bei so einem traurigen Thema.
„In der Nacht. Weder meine Mutter noch ich waren da. Aber er sagte mir einige Wochen vorher, dass es der schönste Abgang für ihn wäre, wenn er uns nicht sehen würde.“
Ich erhob leicht meine Augenbraue, da mir dieser Wunsch sehr absurd erschien.
„Er sagte, er will nicht in unsere Augen blicken und genau wissen, dass es ein Abschied für immer ist. Augen sprechen eine Sprache, die wir nicht hinter unseren verschlossenen Mündern verstecken können. Zwar kannst du diese schließen aber auch dann deuten sie etwas.“
An dieser Aussage schien in der Tat etwas zu sein. Ich stellte mir vor, wie es wohl gewesen wäre, wenn Dad erst im Krankenhaus gestorben wäre. Wie es wohl wäre, wenn wir ihn so kaputt und verletzt gesehen hätten und er uns, wie wir um ihn trauerten bevor er wirklich tot war. Es wäre wohl ein sehr trauriger Abschied geworden. Trauriger als dieser wirklich verlaufen war, da es in dem Sinne gar keinen Abschied gab. Diese Vorstellung machte mich sehr traurig und im Gegensatz zu Amy konnte ich nie lange über den Tod meines Vaters so munter und unbekümmert reden.
„Tagträumer?“
Ich wendete meine Augen ohne meinen Kopf zu erheben nach rechts zu Amely, die leicht nach vorne gebeugt in meine Augen blickte. Ich weiß nicht was genau sie aus meinem Blick herauslesen konnte, aber es reichte aus, um sie dazu zu bewegen einen Themawechsel anzustreben.
„Wie lange bist du denn schon mit deinem Freund zusammen?“
Ich versuchte meine Augen von ihr abzuwenden, denn ich wollte nicht, dass sie eine andere Antwort aus diesen herauslesen konnte und überhaupt hatte ich seit meiner Ankunft daheim nicht mehr an diese kleine Lüge gedacht. Wobei so richtig als Lüge konnte man das doch gar nicht werten, denn nicht jeder musste wissen mit wem ich wirklich zusammen war oder sein wollte. Egal wie sehr ich mir selber was vormachte, die ausgesprochene Unwahrheit war im Raum und musste beseitigt werden. Dazu hätten wohl einfache Sätze wie ‚Ach das habe ich nur gesagt, damit die mich in Ruhe lassen.’ oder ‚Ich habe gar keinen Freund, denn ich bin lesbisch.’ vollkommen gereicht, um diesen Dilemma ein Ende zu bereiten. Aber da ich keine Zeit hatte im Vorfeld über mögliche Auswege nachzudenken und in meiner zu dem Zeitpunkt befangenen Lage mich bereits bei einem falschen Blick mehr als ertappt fühlte, folgte auch dementsprechend eine ganz unglücklich gewählte Antwort.
„Knapp über ein Jahr.“
Ich spähte leicht zu ihr rüber und sah, wie sie sich langsam zurücklehnte und im hohen Gras versank, welches noch nicht dem städtischen Rasenmäher zum Opfer gefallen war.
„Ziemlich lange“, hörte ich sie leise flüstern.
Irgendwie musste ich die Situation noch hinbiegen, damit es nicht ganz ausartete und fügte hastig hinzu, dass die Beziehung nicht mehr so super liefe. Aber auch das löste nicht viel Reaktion bei Amy aus. Es kam mir sogar vor, als wäre ihre anfängliche Neugier und diese Interesse mit der sie mich ansah, verflogen. Es konnte aber auch gut möglich sein, dass ich zu viel in ihre Blicke und Bewegungen interpretierte oder einbildete und nun einfach mal ein klares Bild sah auch, wenn nur für eine kurze Zeitspanne.
„Das könnte ich nie.“
„Was könntest du nie?“
Ich konnte beim Besten Willen keinen Zusammenhang erkennen zwischen meinem gesagten Satz und ihrem und fragte mich bereits, ob ich schon so arg in meiner Gedankenwelt versank, so dass ich ganze Dialogabschnitte verpasste, die mir mitgeteilt wurden.
„Mit einem Mann zusammen zu sein.“
Ich hustete wild drauf los, da mein letzter Schluck von dem inzwischen warmen Eis shake es leider nicht rechtzeitig geschafft hatte meine Kehle hinunter zu sausen ehe ich gewaltig nach Luft schnappen musste, um diesen Adrenalinstoß zu verarbeiten. Mein Herz raste wie das einer Gazelle, die vom Löwen durch die Prärie gehetzt wurde und mein Blick ähnelte anscheinend dem meiner Mutter, als ich damals das Thema Schwul ankratzte, um so auf mich überzuspringen.
„So schlimm?“
Ich schüttelte hastig mit dem Kopf und stammelte etwas vor mich hin, was irgendwie wenig Sinn ergab.
„Hey. Ich tue dir ja nichts. Keine Panik. Dass lesbische Frauen sich in alle Frauen, die um sie herum sind verlieben und über diese herfallen ist so ziemlich die absurdeste Feststellung von euch Heterogepolten.“
Ich setzte mehrmals an und wollte ein ganzes Meer an Entgegnungen aus mir raus fließen lassen, aber blieb dann doch stumm, weil keines der Wörter zusammenpassen wollte und in meinem Kopf immer noch ihre Sätze wie ein Echo hallten. Nun war ich also endgültig hetero und sah zu, wie diese Göttin ganz sorglos in die Wolken blickte und zu irgendwelchem Takt in ihrem Kopf leicht mit dem linken angezogenen Bein hin und her schwang.
Sie wendete ihren Blick wieder zu mir und richtete sich ruckartig auf, Umschloss dabei fest ihre Beine und sah mich durchdringend an.
„Was bist du denn so still auf einmal?“
„Ich weis nicht was du von mir hören willst.“
„Habe ich dich so arg geschockt?“
„Ja in gewisser Weise schon. Das Erstaunen schwebt nach wie vor um mich herum.“
Sie grinste mich wieder mit ihrem süßen Lächeln an und ich fand die ganze Situation mehr als seltsam. Wollte sie doch womöglich mehr als sie zugab. War das ein Test? Ein Annäherungsversuch? Falls ja, so wäre dieser ja gnadenlos gescheitert und hätte die Folge mit sich, dass ich meine große Chance vertan hatte.
Soweit konnte ich jedoch zu dem Zeitpunkt noch nicht denken. All die Überlegungen kamen erst sichtlich später. Als ich noch neben ihr saß, hatte ich nach wie vor das Gefühl, dass sie meine Betreuerin war. Ich konnte einfach diese Rangordnung nicht ablegen, obwohl die Freizeit schon längst vorüber war.
Diese irritierende Situation wollte ich jedoch nicht für mich behalten und stellte auch darauf folgend ihr die Frage was, wenn ich erneut an einer Freizeit teilnehmen würde oder woanders dabei wäre und sie wieder eine Betreuerin wäre.
„Kann nicht passieren.“
Ich wartete gespannt auf die Erklärung, die sie mir noch nicht geäußert hatte.
„Kommst du echt nicht selber drauf?“
Ich schüttelte leicht mit dem Kopf, denn mein Verstand war bereits seit Beginn des Treffens nicht wirklich in der Lage irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen.
„Du wirst am 13. Februar 18, also knapp in einem halben Jahr. Bis dahin finden keine Auslandsfreizeiten mehr statt, das wäre Punkt A und Punkt B ist, dass du mit 18 Jahren dann zu alt bist, um erneut teilzunehmen. Fazit ich kann nicht erneut in einer dir gegenüber überlegenen Position stehen. Zum Glück“
Sie schmunzelte leicht und stützte ihren Kopf auf ihren Knien ab.
Ich staunte und hackte gleich nach bezüglich des ‚Zum Glück’.
„Nein es war nicht negativ gemeint. Aber ich finde man kann sich gut mit dir unterhalten und du verstehst mich auch in einer gewissen Situation. Das können nicht alle. Sie meinen zwar zu wissen was ich durchgemacht habe und wie es mir gehen muss, aber eigentlich hat keiner eine Ahnung, der nicht dasselbe oder etwas Ähnliches erlebt hat. Außerdem wirkst du allgemein viel reifer, als es ist.“
Es war wohl das schönste Kompliment, was ich in den letzten Monaten, nein Jahren gehört hatte. Meistens war ich diejenige, die Aktionen startete, die meinem Alter nicht mehr entsprachen oder Dinge hinterfragte, die nur ein Kind hinterfragen würde und nun hörte ich genau das Gegenteil und das aus dem Mund einer hübschen Frau.
„Danke“, hörte ich mich selber sagen, um keine Stille aufkommen zu lassen und sah ziemlich berührt in den Sonnenuntergang, der uns entgegenwinkte mit seinen letzten Sonnenstrahlen für den heutigen Tag.
Ich lag noch die halbe Nacht wach an diesem Abend und ließ das gesamte Treffen Revue passieren vor meinem inneren Auge. Dabei musste ich immer wieder an ihren Abschiedssatz denken, der mir eine leichte Gänsehaut auf meinen Armen und im Nacken bescherte. Sie bedankte sich bei mir dafür, dass ich so ein ehrlicher und netter Mensch bin. Solche traf sie nicht viel zu oft und würde diese sehr schätzen.
An sich klang ja die Aussage sehr toll und vielversprechend, wäre da nicht die kleine Lüge bezüglich meiner Liebessituation. Inzwischen kam mir der anfänglich kleine Lügenwollknäuel so groß wie der Durchmesser der Sonne vor und es war mir ab diesem Zeitpunkt schlichtweg unmöglich das Bild gerade zurücken, aus Angst diese Frau, die mir bereits jetzt sehr wichtig war, würde mich nicht mehr so mögen wie es bisher der Fall war.
In den Ferien folgten noch zwei weitere treffen mit Amy. Diese fanden in Form eines Shoppingtages statt und einem abendlichen Spaziergang durch unsere Stadt. Regensburg war noch nicht lange Amelys Wohnort. Davor lebten ihre Muter und sie so ziemlich am anderen Ende von Deutschland. Sie erzählte mir jedoch, dass sie beide dort nicht mehr leben konnten und wollten. Keine Blicke, die zu viel erzählten, obwohl die Menschen kein Wort äußerten in der Kleinstadt. Keine Vorgeschichte. Einfach ein Neuanfang. Amys Mutter leitete eine ganze Autowerkstatt, die in Regensburg einen Zweigsitz hatte. Somit war die Ortswahl bereits zu Beginn fest auf diese Stadt verankert. Wie es dazu kam, dass ihre Familie Werkstätten, verteilt auf mehreren Bundesländer hatten, konnte oder wollte sie nicht näher schildern, aber ich erfuhr auch so noch viele weitere Details aus dem Leben dieser attraktiven Frau, welche ich wie ein Schwamm aufsog und noch tagespäter immer wieder in Gedanken abspielte, so ähnlich, wie ich das noch vor einem Jahr mit der letzten Mailboxnachricht meines Vaters tat.
* * *
Ehe ich es versah kündigte sich auch schon das neue Schuljahr an und wie jedes Jahr war ich an meinem ersten Schultag viel zu spät dran. Es lief immer gleich ab. Ich trödelte zu lange rum, war dann in Eile und sauste mit meinem Bike wie eine Irre, ohne auf den Verkehr zu achten zu Sophie, die bereits leicht angenervt auf mich wartete und die ganze Fahrt über nur am Meckern war. Dies hatte zur Folge, dass sie irgendwann so aus der Puste geriet und wir das letzte Stück unsere Fahrräder zur Schule schieben mussten, was den Verspätfaktor natürlich steigerte.
Dies gab mir jedoch genug Zeit, um endlich Sophie in meine mehr als klägliche Situation einzuweihen, was ich nach wie vor noch nicht getan hatte. Es war nicht so, dass mir das Schweigen leicht fiel, aber irgendwie wollte ich auch nicht darüber reden, weil ich letztendlich dann doch die Dumme wäre bei dem Dialog und wer stellt sich schon gerne als der Narr der Nation dar?
Die Folge meiner Geheimnistuerei war eine beleidigte Sophie, die in dem Moment absolut nicht verstehen wollte, wieso ihre beste Freundin so eine lebensverändernde Geschichte für sich behielt. Sophie war schon immer eine Weltmeisterin im Schmollen und zeigte dies auch mehr als direkt. Bei dieser Situation, konnte ich zusehen, wie sie auf ihrem Fahrrad davon flitzte und mich allein zurückließ. Womöglich eine etwas übertriebene und kindische Reaktion ihrerseits, aber das war nun mal Sophies Macke. Die Folge war wohl glasklar. Ich verringerte etwas mein Gehtempo, weil ich von der ganzen Hektik und Eile keine Lust mehr hatte erneut in die Pedalen zu treten und ging in einem ruhigen Gang, zusammen mit meinem Zweirädrigen Begleiter zur Schule.
„Na du?“
Ein leichtes Zucken durchfuhr meinen Körper und ich wendete meinen Blick nach hinten und sah ihr violettes Haar durch die Luft wehen, während sie mit aller Gewalt ihre frisch geschnittenen Haare hinter ihre Ohren zu zwängen versuchte.
„Ziemlich spät dran, findest du nicht?“
„Du allerdings aber auch.“, entgegnete ich und wendete meine Augen wieder in Gehrichtung.
„Dann werden ein paar Minuten mehr auf dem ‚Zuspätseinkonto‘ auch kein Weltuntergang auslösen.“
Mit einem Sprung stand Amy ebenfalls neben ihrem metallischen Gefährt und leistete mir Gesellschaft die letzten verbliebenen 500 Meter.
Die kommenden Wochen des neuen Schuljahres verstrichen wie im Flug und ich hatte nach wie vor nicht das Gefühl in der Schule angekommen zu sein. Neben den üblichen Stunden trat ich, wie auch die Jahre zuvor in die Theatergruppe ein. Lediglich in den letzten zwei Jahrgangstufen nahm ich nicht daran teil. Ebenso wenig wie ich zu den Basketballtrainingsstunden oder Spielen auftauchte. Abgesehen von diesen beiden Tätigkeiten spielte ich in einer Band, die nun auch seit über zwei Jahre nicht mehr existierte. Ich liebte das Spielen und den Klang meiner E-Gitarre, aber genauso wie das Leben in meinem Vater erlosch, verschwan auch die Interesse an solchen banalen Aktionen, die nicht Lebensnotwendig waren. Das Kanu-Fahren hat schließlich meinem Dad auch nicht das Leben gerettet.
Der Grund für meinen Entschluss wieder meine schauspielerischen Leistungen zur Schau zu stellen war wohl die Tatsache, dass Amy ebenfalls in dieser Gruppe war und nach einigen Predigten von Sophie, die bereits noch am selben Tag sich wieder mit mir versöhnt hatte, gab ich nach und schrieb mich ein. Ich bereute es zutiefst und wäre am liebsten nicht hingegangen, denn ich lebte nun seit Monaten ein Lügenleben und verstrickte mich immer tiefer in dieses Fass ohne Boden. Wenn ich so wäre wie Sophie, dann wäre diese Angelegenheit innerhalb Minuten geklärt gewesen und Amy wäre mir wohl noch anschließend um den Hals gefallen. Ich war aber Jill. Die Jill, die sich zu viele Gedanken über alles und jeden machte. Die Jill, die sprachlos wurde, wenn sie ein Kompliment bekam. Die Jill, die auf keinen Fall den Mumm hatte diese Lüge bei Seite zu räumen. Ich bin auch sicherlich nicht die erste Person, die sich in so einer misslichen Lage verstrickte. Es gibt noch viele andere, die heimlich, unglücklich, verrückt, unheimlich in jemanden verschossen sind oder waren und nicht die nötige Portion Mut aufbringen konnten, um dies zu gestehen. Meine Situation stellte so eine Art Mischung aus allen Möglichkeiten. Ich war unglücklich und heimlich und das unheimlich in diese Frau verknallt und da auch mir diese Menge Mut fehlte, nutzte ich wenigstes den Wink des Schicksals, um so oft wie möglich Zeit mit ihr verbringen zu können. Leute, die bereits in meiner Situation sich befanden, würden nun zustimmend mit den Köpfen nicken. Die, die es nicht nachvollziehen können, würden sich wohl höchstens mit der Hand ins Gesicht klatschen und einen Schrei des Entsetzens von sich geben, geschmückt mit dem Worten ‚Oh mein Gott, wo ist denn das Problem, sag es doch endlich einfach.’ Aber genau das konnte ich schlichtweg nicht, auch wenn es sich um solch eine Kleinigkeit handelte.
‚Die kleinsten Dinge können zu den Problematischsten werden.’ Diesen Satz merkte ich mir, als Michi nach einer gelungenen Hausparty in einem dementsprechenden Zustand fünf Anläufe gebraucht hatte, um sich eine Zigarette zu drehen. Natürlich war der Satz vollkommen aus dem Ursprünglichen Kontext gerissen aber viel zu oft kam genau dieses Statement in meinen Gedanken hoch, wenn ich an meine Situation dachte.
Bereits bei der zweiten Besprechung in unserer kleinen aber feinen Theatergruppe wurde die Frage aufgestellt, was wir den dieses Jahr aufführen sollten. Die betreuende Lehrkraft Fr. Gruber gab uns ziemlich viel Freiraum und tauchte nur ab und zu auf, um einen Zwischenstand der Dinge zu erfahren, bei bestehenden Fragen zu helfen und andere kleine oder größere Pannen beseitigen. So konnten wir selber bestimmen wie vertieft wir an die Sachen herangehen wollten. Diese Methode zahlte sich bis jetzt immer am Ende aus. Bei der Auswahl der klassischen Stücke blieb die Begeisterung ziemlich auf der Strecke. Ein paar eigene Ideen fanden regen Beifall, aber so richtig begeistert war keiner der Anwesenden.
„Also, wenn ihr nicht komplett von den bereits vorhandenen klassischen Stücken abgeneigt seid, dann kombinieren wir doch einfach Klassik mit dem Modernen.“
Amy sprang auf und drehte sich einmal um ihre eigene Achse, wie eine Ballerina.
„Ist Lieb ein zartes Ding? Sie ist zu rau, zu wild, zu tobend und sie sticht wie Dorn.“
Sie sah alle erwartungsvoll an, doch nur die Wenigsten nickten und funkelten mit den begeisterten Augen.
„O wackrer Apotheker, Dein Trank wirkt schnell. - Und so im Kusse sterb ich.“
Spätestens jetzt machte es bei den meisten Klick, dass es sich um die Zitate aus Shakespeares „Romeo & Julia“ handelte. Während die wenigen immer noch am Raten waren, zitierte Amy weitere Auszüge aus dem Stück, begleitet mit einer übertriebenen Mimik und Gestik, die alle zum Grinsen und Lächeln motivierte.
„Also zu der Idee. Wie findet ihr den Vorschlag diese Story in unsere Zeit zu verlegen. Wer sich nichts drunter Vorstellen kann, dem empfehle ich den Film dazu. Nur ich bin mir absolut sicher, dass wir es um einiges Besser als Hollywood und Leonardo DiCaprio hinbekommen könnten.“
Beim darauf folgenden Treffen wurde abgestimmt und Amys Vorschlag gewann mit einer Mehrheit von fünf Stimmen, mich inbegriffen.
Nun galt es natürlich das Skript zu verfassen. Dafür veranstalteten wir einen Filmnachmittag bei dem wir uns die Hollywood Version anschauten und einige Details auch übernahmen. Der Rest wurde mit viel Fantasie und Zeitaufwand zusammengetragen. Nach diesem Schritt folgten die Rollenverteilungen.
„Jill? Willst du Romeo spielen?“
Es wunderte mich nur wenig, da ich in den letzten Jahren immer die Besetzung einer männlichen Rolle bekam. Es lag wohl zum Einem daran, dass unsere Truppe überwiegend von dem weiblichen Geschlecht dominiert war und zum Anderen wählten die wenigen Kerle lieber Aufgaben, die mit der Technik zu tun hatten. Andere dagegen nahmen nur an dem kreativen Part teil, wie Plakat und Flyergestaltung, Kleiderentwurf und Kulissenerstellung. Für diejenigen, die in ihrer weiteren Laufbahn etwas in der entsprechende Richtung machen wollten, war dies ein großer Pluspunkt in den Bewerbungsunterlagen.
Ich bestand auf eine Abstimmung oder Auslosung, verlor diese jedoch kläglich, denn so ziemlich jeder bestand darauf, dass ich diese Rolle bekomme, wieso auch immer. Für die Julia, sowie einige andere Rollen gab es mehrere Vorschläge und somit wurde per Los entschieden wer was bekommt.
Ich weiß wirklich nicht, ob das Schicksal oder der Zufall es zu gut mit mir meinten oder doch sich aus meiner jämmerlichen Situation eine Unterhaltungsshow machten, aber es musste ja so kommen, dass ausgerechnet Amy die Rolle der Julia bekam. Mein Herz setzte sicherlich einige Schläge aus, denn ich sah nur noch die Kussszene vor Augen und hoffte, nein flehte, dass diese nicht in unserer Variante vorkommen würde. Ich stellte mir vor, ihre atemberaubenden schön geformten Lippen mit meinen zu berühren und fühlte sogleich ein Kribbeln, so als wäre eine ganze Ameisenkolonie durch meinen gesamten Körper durchmarschiert.
„Romeo!“
Sie stand nicht weit weg von mir entfernt mit verschränkten Armen und lehnte sich, scheinbar gelassen am Tisch an. Auf ihren Lippen erstrahlte ein neckisches Grinsen, denn sie sprach den Namen anders aus als in der Originalfassung. Statt dem ‚E’ benutzte sie ein ‚Ä’ und setzte die Betonung ebenfalls auf den ersetzten Buchstaben. Es klang spanisch. Zumindest tat es dies, wenn sie es sagte. Es schien allen ziemlich gut zu gefallen, denn für das restliche Schuljahr hörte ich meinen neuen Kosenamen des Öfteren in der Theatergruppe und sogar außerhalb dieser, meistens von Amy selbst.
***
Während ich mich immer mehr und besser mit der Frau meiner Träume verstand und wir inzwischen eine art Freundschaft führten, fand ich kaum noch Zeit für meine restlichen Freunde. Ich war wie besessen von dieser Frau, die an einem Tag mit mir fast schon in ein heftigen Flirt verfiel und mein Herz immer höher und höher schlagen ließ und einen Tag darauf mir von ihrer neuen möglichen Flamme berichtete und dieses kleine Herzchen, was einen Tag zuvor noch in hohen Bögen durch die Lüfte flog zu Boden schickte, wie ein Tennisspieler den kleinen gelben Ball bei einem Schmetterschlag.
Ich verstrickte mich in dieser Zeit immer weiter in meine Lügen vom nichtvorhandenen Liebesleben. Inzwischen war ich laut diesen wieder Single und wollte demnächst keine weitere Beziehung starten. Ich versuchte mehrmals sie anzuflirten und ihr zu signalisieren, dass ich sogar sehr an ihr interessiert war. Leider nahm sie das alles nicht besonders ernst, denn wir hatten die Grenze längst überschritten zwischen Interesse und guter Freundschaft. In solchen Situationen achtet man dann weniger auf die Person selbst, als auf den Bann der platonischen Bindung, die zwischen zwei Parteien steht. In der Tat vergaß ich sogar manchmal, dass ich diese Frau nach wie vor begehrte. Erst wenn ich daheim war und kurz vorm Einschlafen erneut an sie dachte wurde mir immer wieder doch bewusst, dass ich inzwischen mehr als nur verknallt war.
Das merkten auch meine Freunde, die ich vernachlässigt hatte, denn meine Freizeit gestaltete sich überwiegend nur mit Amy. Wir machten einige Inliner-Touren durch Regensburg, die ich normalerweise immer mit Sophie tat. Amy lud mich zu sich ein, um einen einfachen chilligen Spieltag zu veranstalten, die normalerweise für Michi oder Lukas reserviert waren. Ich hätte mir auch nie vorstellen können, dass Amely, diese zarte und so feminine Frau ein totaler Ego-Shooter oder Autorennen Fan war. Es gab noch viele andere Aktionen, die nun Amy für sich beanspruchte und es musste der Tag kommen, an dem Sophie und die andere endlich zu Wort kamen. Es war kurz vor den Weihnachtsferien als diese Intervention über mich kam. Ich sollte zu Sophie kommen, sie meinte es wäre sehr dringend und es würde um Leben und Tod gehen. Natürlich folgte ich dieser Aufforderung, denn auch, wenn ich nicht viel Zeit mit diesen Menschen in den letzten Monaten verbracht hatte, so waren sie mir nach wie vor wichtig. Umso mehr war ich letztendlich von den Beschuldigungen und den Vorwürfen überrascht und gekränkt. Ich fühlte mich schlichtweg überrumpelt. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Michi, Sophie, Lukas, Sabrina, Jenny und Paul, als sie mir sagten, dass Amely mir keineswegs gut tat und ich ihr zu viel Zeit widme?
Verstanden meine besten Freunde denn gar nicht meine Lage? Diese Frau, von der behautet wurde, sie wäre ein schlechter Einfluss auf mich, hatte dafür gesorgt, dass ich einmal die Woche im freiwilligen Theaterkurs erschien. Außerdem zauberte sie mir so oft in den vergangenen Wochen ein Lächeln auf meine Lippen, welche vorher regungslos und meistens verschlossen blieben. Sie war diejenige, die mir wunderschöne Träume bescherte und ich wieder wirklich angenehme Nächte hatte. Allgemein ging es mir fantastisch, seit ich mit Amely meine freie Zeit teilte. Ich schnappte mir sogar meine E-Gitarre an einem Sonntag und spielte einige Akkorde, ehe meine Mutter in mein Zimmer stürmte mit einem erfreuten Gesicht, weil sie sich ebenfalls über diesen Fortschritt freute.
Ja sogar meiner Mutter war es aufgefallen, dass es mir besser ging und wem verdankte ich das alles? Wem?
Ich wischte meine Tränen weg, die mir den ganzen Weg über in Strömen liefen, als ich fluchtartig Sophies Haus verließ und meinen Freunden alle möglichen und unmöglichen Wörter an die Köpfe warf. Aber nun sah ich das, was auch die anderen schon die ganze Zeit gesehen hatten. Das Alles war nichts als die Produktion einer großen dicken Lüge, die diese Freundschaft zusammen hielt. Würde Amely die Wahrheit erfahren, so wären wohl die letzten Worte, die ich von ihr hören würde, Vorwürfe und Beschuldigungen darüber, dass ich der mieseste und verlogenste Mensch war, den sie jemals getroffen hatte. Sie würde sich niemals in mich verlieben, denn sonst hätte sie doch schon längst etwas unternommen. An Mut fehlte es ihr nie, meiner Ansicht nach. In dieser Nacht war ich sauer auf alles, denn mein schönes Kartenhaus fiel zusammen und ging zugleich in Flammen auf. Mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Fest entschlossen stampfte ich durch die frische Schneeschicht zu Amelys Haus. Ich musste dafür die halbe Stadt überqueren, aber mir war das egal, denn ich wollte nicht mehr mit dieser Lüge leben und ihr etwas vormachen. Ich ging sogar dieses Risiko ein, dass ich niemals ihr wieder so nahe stehen würde, wie bis jetzt. Nach einer Stunde erreichte ich ihr Haus, wurde aber immer langsamer was mein Schritt-Tempo betraf. Die Aggression und die Wut machten zusehends wieder meiner Angst und der Nachdenklichkeit Platz. In meinen Gedanken sah ich mich wieder mit der Narrenkappe rumlaufen.
Es war nur noch ein kleines Stück, aber bereits aus der Entfernung konnte ich zwei Gestalten bei Amelys Haus entdecken. Ich machte einen großen Bogen und schlich zu einem Gebüsch. Von dort aus legte ich eine Strecke von 100 Meter zurück schleichend und halb gebückt durch zahlreiche Sträucher und versteckte mich immer wieder hinter den kahlen Bäumen. Endlich sah ich zum ersten Mal einen Vorteil in meiner Größe. Ich konnte mich geschickt hinter dem hohen Gartenzaun des Nachbars verstecken und hatte trotzdem freie Sicht auf das Geschehen vor mir.
Amely stand mitten auf dem Weg zwischen Eingangstür und Gartentor und redete mit einem anderen Mädchen, die sich an das Gartentor lehnte und wie es aussah nicht gehen wollte.
„Wiederholen wir das noch mal?“
Ihre Stimme gefiel mir ganz und gar nicht. Diese hatte etwas eroberndes, starkes, Sicheres in sich. Genau das Gegenteil zu dem was meine Stimme veräußerte.
„Vielleicht.“
„Ich kenne dieses vielleicht. Habe ich schon einmal gehört.“
Die, die am Tor angelehnt stand, drückte sich ab und kam langsam auf Amely zu, beide Hände tief in den Hosentaschen versteckt und ich fragte mich in der Zeit, was an der komischen Person so toll sein sollte. Sie sah aus wie ein Kerl. Total Macho durch und durch. Ein lässiger, wackeliger Gang. Oberflächliches Anbaggern. So sah ich diese Frau, die ich noch nicht mal kannte und war von mir selber mehr als entsetzt, da ich wie eine verbissene alte eifersüchtige Ex-Freundin klang. Eifersüchtig. Das war mein Stichwort. Ich spürte es schon, wie es in mir brodelte, wenn ich daran dachte, dass diese Fremde meine Amely anfasste oder sie gar küsste. Beinahe sprang ich hinter dem Zaun hervor, konnte mich jedoch im letzten Augenblick selber bremsen und lauschte mit knirschenden Zähnen weiter.
„Was meinst du mit wie heißt sie?“
„Ach tu nicht so. Du hast eine andere im Kopf, stimmt doch oder?“
Amy schwieg und drehte leicht ihren Kopf zur Seite. Ich war mir sicher, es diente dazu, um das Ablesen ihrer Augen zu vermeiden, denn das machte sie oft, auch bei mir, wenn sie auf einer Frage keine Antwort geben konnte, aber sich sicher war, diese würde ich in ihren Augen sehen. Die Andere grinste und hüpfte leicht auf und ab.
„Ach ich wusste es doch.“
Anschließend kam sie Amely ganz nah. Viel zu nah, wenn es nach mir ginge. Meine Augen weiterten sich wie zwei Scheinwerfer, als ich mit ansehen musste wie dieses Machostück meine Göttin fest in ihre Arme umschloss und sie einfach so küsste. Ich schnappte mehrmals nach Luft, aber mir kam es vor, als würde es nicht genug von dieser auf dem gesamten Planeten geben, denn so groß war mein Sauerstoffmangel in diesem Moment. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich war kurz davor alles kurz du klein zu schlagen in diesem fremden Garten, doch dann sah ich Amely, wie sie diese aufdringliche Person von sich schob. Dezent, aber effektiv. Ein kleiner Triumpf überkam mich und die Welt schien wieder fröhlicher zu sein.
„Ich kann nicht.“, hörte ich sie flüstern.
Die Andere nickte verständlich, umfasste Amys Gesicht mit ihren dreckigen Händen und sah ihr tief in die Augen. Ich lachte innerlich wie eine Kranke, denn wie billig war denn das? Waren wir etwa in einem Bollywood Film und gleich springen 30 Tänzer aus den Büschen und hinter der Fassade hervor und tanzen eine halbe Stunde?
„Wenn du wieder kannst, dann weißt du ja wo ich wohne.“
So einfach schien das zu sein. Mit diesen Worten drehte sich die vermeidliche Konkurrentin um und verließ das Anwesen von den Argons mit einem schnulzigen Gutenachtwunsch. Ich saß noch einige Minuten hinter dem Nachbarszaun, bis das Licht im Erdgeschoss anging. Schnell wie der Wind überquerte ich den Garten, sprang mit Leichtigkeit über den eineinhalb Meter hohen Zaun und rannte davon. Es war mir natürlich klar, dass ich nicht noch mal an dem gleichen Abend zu Amely gehen würde und ihr alles beichten. Mir wurde auch beim Laufen klar, dass ich es wohl nie schaffen würde und somit ein anderer Plan her musste. Auf der halben Strecke hatte ich keine Puste mehr. Die kalte Luft brannte auf meiner Haut und das Atmen fiel mir viel zu schwer bei diesen Temperaturen. Die restliche Strecke ging ich langsam Heim und lies meine immer wieder aufkommenden Wut an den unschuldigen Schneehügeln, die sich an den Straßenrändern häuften aus. Auch ein, mit wahrscheinlich viel liebe gerollter, Schneemann musste dran glauben.
Am nächsten Tag telefonierte ich alle der Interventionsbeteiligten durch und entschuldigte mich schon mal telefonisch. Anschließend versammelte ich die ganze Truppe in meinem Stammlokal und spendierte eine große Pizza. Ich musste nicht zweimal rufen, denn diese Pizzen waren der absolute Hammer, abgesehen davon, konnte keiner meiner wahren Freunde mir wirklich lange sauer sein. Natürlich ließen sie mir das nicht einfach so durchgehen und kritisierten mein Verhalten vom vorherigen Tag gewaltig, aber ich widersprach nicht und gab ihnen Recht.
Der zweite Punkt auf der Tagesliste war die Aussprache mit Sophie über Amely. Ich wusste nicht weiter und war nach dem Erlebnis der vergangenen Nacht nicht mehr im Stande alleine zu Urteilen.
Sophie tigerte in ihrem Zimmer auf und ab, während sie ihren linken Arm hinter dem Rücken hatte und mit dem Rechten einen imaginären Bart kräuselte.
Ich saß ihr gegenüber auf dem Bettrand und stützte meine Arme an den Knien ab, in den Handflächen lag mein Kopf. Es musste wohl ziemlich verzweifelt ausgesehen haben, denn immer wieder huschte ein leichtes Lächeln über Sophies Gesicht, welches sie aber sofort zu unterdrücken versuchte.
„Dir wird meine Antwort nicht gefallen, Jill.“
Das hatte ich schon erwartet, denn mir gefiel nie eine Antwort, die in Bezug zu Amely stand, weil diese irgendwie meistens ziemlich negativ waren.
„Der Plan B lautet DISTANZ.“
Sie sprach den Satz sehr langsam aus und klopfte mehrmals mit ihrer rechten Faust in die linke offene Handfläche. Das erinnerte mich fast an eine politische Rede, in der die Kandidaten ihre unendlichen Verbesserungsvorschläge runterrattern und vieles versprachen, was meistens nie gehalten wurde.
Zu beginn klang es grauenhaft. Die Frau, die mir so sehr gefiel und mit der ich die letzten Monate so viel Zeit verbracht hatte nun einfach so bei Seite liegen lassen? Hörte sich nach einer unmöglichen Tat an.
***
Der Plan funktionierte besser als gedacht, lag aber wohl auch daran, dass zwischen dem Beschluss des Planes und den Weihnachtsferien nicht mal vier Wochen lagen. In dieser Zeit wurden die Schüler bekannterweise immer mit allen möglichen Schulaufgaben, Kurzarbeiten und unangekündigten schriftlichen Leistungsnachweisen überhäuft, aufgrund welcher fast alle Aktivitäten neben der Schule in einen vorübergehenden Ruhestand befördert wurden. Ich hätte zwar genug Zeit gehabt, um mir den Schulstoff reinzupauken und in den Theaterkurs zu gehen, dann wäre ich jedoch so ziemlich die einzige gewesen. Somit fielen drei Treffen aus, wohlgemerkt zu meinem Glück, denn unsere Gruppe erwies sich als eine sehr flotte Gemeinschaft und wir waren mit unserer modernen Version von Romeo & Julia bereits bei dem vierten Aufzug. Unsere Spielzeit war ebenfalls knapp bemessen und so wurde das Stück an mehreren Stellen gekürzt und zu unseren Gunsten verändert. Eigentlich konnte man das nicht mehr als Romeo & Julia im eigentlichen Sinn betrachten, sondern als eine Eigenkreation mit ähnlichem Titel. Im Gegensatz zum Original mit fünf Auszügen war der vierte Auszug bei unserer Aufführung der letzte. Das bedeutete für mich, ich näherte mich mit einem rasenden Galopp der verfluchten Kussszene, die bereits von den Skriptschreiberinnen festgelegt war. Aufgrund dieser Aussicht war es mir nur zu Recht, dass die Theaterstunden vor den Ferien nicht mehr stattfanden.
Es gelang mir aber nicht eine passende Ausrede zu finden, um nicht zu Amelys Silvesterparty zu gehen, denn ich sagte ihr schon einige Wochen im Voraus zu und nun rechnete sie fest mit meinem Erscheinen. Ich versprach auch meinen Leuten, dass ich mit ihnen ins neue Jahr anstoßen würde. Hier war bereits der erste Konflikt entstanden, der sich jedoch wie von selbst löste an dem letzten Tag im fast vergangenen Jahr.
Ich war wie immer pünktlich bei Amelys Haus angekommen und erinnerte mich noch viel zu gut an die belauschte Szene, die nun einige Wochen zurücklag. Ich schüttelte heftig mit dem Kopf, als würde ich so die Erinnerungen aus diesem verbannen können, ehe ich auf den Klingelknopf drückte. Den ganzen Weg über fragte ich mich selber, wie es dazu überhaupt kommen konnte, dass ich bereit war irgendwohin alleine zu gehen, wo ich lediglich zwei Personen kannte. Die eine nannte sich Amely und die andere war ich selber. Der Rest bestand aus Amelys Freunden, die in einer gemütlichen Runde die Silvesterparty bei Amy starten wollten und anschließend diese in eine Disco verlegten. Amys Mutter war nicht im Haus. Sie verbrachte die Feiertage am anderen Ende von Deutschland im Kreise der Familie, welche nichts als Verachtung von Amelys Seite zu spüren bekam. Sie Erzählte mir, dass alle ziemlich heuchlerisch und verlogen waren und von solchen Leuten hielt sie ja nun absolut gar nichts. Mehrmals Spielte sie Dialoge vor, die sehr überspitzt rüber kamen, aber womöglich hatte sich das ganze auch wirklich so zugetan. Ich wollte nicht zu sehr in den familiären Angelegenheiten rumstochern.
Mein Plan war es einige Stunden mit Amy zu verbringen und anschließend zu meinen Leuten zu gehen, denn bei Lukas stieg ebenfalls eine Hausparty mit allem was dazu gehörte und das exklusive Eltern.
„Schön, dass du da bist.“
Sie umarmte mich, wie bei jeder unsere Begrüßung und Verabschiedung und bat mich herein. Um nicht mit leeren Händen zu erscheinen, besorgte ich mir noch am Vormittag einen Six-pack Bier. Die Marke, die Amely gerne trank.
Langsam schlenderte ich in das Wohnzimmer, wo bereits eine ganze Herde fremder Leute saß. Nein eigentlich waren es nur sieben Personen, aber auch so eine kleine Anzahl von Menschen reichte aus, um mich in den innerlichen Wahnsinn zu treiben. Ich spürte es, wie sie mich alle ansahen und ihre Blicke gar nicht mehr von mir richten wollten. Auch ich betrachtete meine Beobachter und stellte schnell fest, dass nur zwei männliche Gäste anwesend waren, aber diese wirkten nicht so, als würde sie sich für das weibliche Geschlecht sehr interessieren. Genau das Gegenteil dachte ich mir jedoch bei den Mädels, die wie Geier zu mir hergafften und bei einer bereits ein unübersehbares Grinsen auf dem Gesicht zu verzeichnen war.
Ich nahm Platz, stellte mich vor, während mein inneres Ich panisch in meinem Kopf umher rannte und eigentlich aus diesem Raum so schnell es ging wieder abhauen wollte.
„Das war aber echt nicht fair von dir uns zu verschweigen, dass du noch so ein Leckerbissen erwartest, Amely.“
Ich schluckte und sah irritiert zu der Dame rüber, die mich ganz offensichtlich mit einem essbaren Objekt verwechselte.
„Hätte dir aber auch nichts gebracht, Franzi.“
Eine andere, die zu meiner rechten Seite saß, rief Franzi bei ihrem Namen und wies diese an, die Finger von dem Frischfleisch zu lassen. Der Vergleich mit einem frischen Stück Fleisch und mir war ziemlich daneben, wie ich fand, sagte jedoch nichts zu den, mir fremden Personen, und lächelte nur doof vor mich hin.
„Seit doch nicht so gemein Mädels. Außerdem, Jill ist nicht auf unserem Ufer wohnhaft.“
Während Amely noch am Reden war, platzierte sie einige von meinen mitgebrachten Bierflaschen auf dem Tisch, sowie eine Schüssel mit Chips und nahm schließlich ebenfalls Platz, indem sie die Dame zu meiner Rechten leicht verdrängte, um sich in die Lücke zwischen dieser und mir zu setzen. Das fand ich überaus gut, denn so fühlte ich mich sicherer, weil ich am Ende der Couch saß und rechts neben mir eine bekannte Person, die mich nicht für ein frisches Stück Fleisch hielt.
Was jedoch eine Welle der Wut und Ärger in mir hervorrief, war die Bemerkung über mein Heteroufer, welches ja eigentlich gar nicht existierte.
Das Erstaunen in Franzis Gesicht war mehr als offensichtlich zu entnehmen und wenige Sekunden darauf folgte auch schon ihre Aussage, dass dies sehr schade war.
Ich beteiligte mich zwanghaft an den Dialogen und bemühte mich so locker zu wirken wie es nur ging, leider kam ich mir dennoch mehr wie ein Affe im Zoo vor, der angegafft wurde und gelegentlich irgendetwas Essbares in seinen Pferch geschmissen bekam.
Als ich klein war, machte ich das auch gerne, aber wie es sich rausstellte mochten die Affen kein Ziegenfutter, was so gar nicht verwunderlich war, da dieses Zeug in der Tat abscheulich schmeckte. Das mit dem Geschmack will ich jedoch nicht genauer erläutern, denn Kinder machen ja bekannterweise oft verrückte Dinge.
Um diesen oberflächlichen Dialogen zu entfliehen huschte ich des Öfteren zu Amely in die Küche, die einen kleinen Snack vorbereitete aus belegten Schnittchen. Diese fauchte abermals wie eine schreckhafte Katze und scheuchte mich immer wieder raus. Offensichtlich wollte die heiße Gastgeberin keine Hilfe.
„Amely. Tut mir wirklich leid, aber ich bewege mich kein Schritt mehr aus der Küche. Franzi weicht nicht von meiner Seite, egal wo ich mich hinbewege oder hinsetze und ich sehe es deutlich vor mir, dass zwei Proseccos später sie über das Frischfleisch herfällt wie eine hungrige Löwin.“
Dabei deutete ich bei dem Wort Frischfleisch auf mich vom Kopf bis Fuß. Amely seufzte und entschuldigte sich unzählige Male.
„Ich habe ihnen doch gesagt, dass sie sich beherrschen sollten. Ich weis ja, dass es für dich schon eine Herausforderung war hierher allein zu kommen. Hättest ruhig deinen Neuen mitnehmen können als Unterstützung.“
Ich senkte meinen Kopf, da ich ihrem Blick ausweichen wollte. In der Tat war ich inzwischen so arg in meiner Lügenwelt versunken, dass es auch einen neuen Mann gab, der sicherlich demnächst zu meinem festen Freund wurde in der Lügenwelt. Diese Aussicht machte mich noch trauriger, als ich es eh schon war. Vor einigen Monaten wollte ich diese Frau noch unbedingt an Silvester küssen und ihr endlich meine Liebe gestehen, aber nun war meine Mission ihr aus dem Weg zu gehen, was jedoch vollkommen aus dem Ruder geriet, da ich in der absoluten Nähe zu ihr stand und bereits mit meinen Blicken sie wieder mal auszog, so wie ich das sicherlich schon um die 3599 Mal getan hatte. Und schon waren es 3600.
Während ich immer noch so am Grübeln war, spürte ich ihren Oberarm an meinem, denn sie streckte sich geradewegs an mir vorbei, um eine Schüssel aus einem Schrank zu nehmen, der hinter mir hang. Natürlich wendete ich mich schneller als sie sich strecken konnte und half ihr dabei, was eigentlich vollkommen unnötig gewesen wäre, da sie nur wenige Zentimeter kleiner war als ich und somit selber perfekt rankam. Ihr Parfümduft zog seine unendliche Spur an mir vorbei und umhüllte mich in seinem Flair und ich war gerade dabei sie einfach in den Arm zu nehmen und ihre zarten Lippen endlich zu küssen, als Karin aus dem Wohnzimmer lautstark nach der Gastgeberein verlangte. Ich nutzt diese Fluchtmöglichkeit, aus meiner erotisch angehauchten Situation aus und schickte sie zu den anderen und widmete mich der Zubereitung des Essens.
Eigentlich war sie gar nicht so lange aus der Küche verschwunden gewesen, aber anscheinend war ihr Alkoholpegel bis zu dem Entfliehen noch nicht im gesamten Körper verteilt oder sie schaffte es in der Tat auf so eine kurze Zeit sehr viel zu trinken. Jedenfalls war dieser deutlich sichtbar, als Amy wieder in der Küche auftauchte. Sie grinste vor sich hin, strich wie gewohnt ihre Haare hinter die Ohren, obwohl diese nie dort blieben und schielte immer wieder zu mir rüber.
„Triffst du dich nachher noch mit deinem Schwarm?“
Meine Finger griffen mit aller Kraft in die Kante der Arbeitsplatte und ich verfluchte mich aufs Neue für meine Feigheit und Verlogenheit, schüttelte jedoch mit dem Kopf und hoffte, dass das Thema vom Tisch war für dieses Jahr. Damit lag ich aber ziemlich falsch.
„Was genau findest du denn so toll an Männern?“
Ich wusste, dass Amy noch nie einen Freund hatte und auch nie einen haben wollte, denn ihr Herz schlug nur für Frauen, genau wie meins nur für sie, aber was hätte ich den sagen sollen? ‚Weis ich gar nicht, denn ich liege ebenfalls lieber zwischen den Schenkeln einer heißen Frau.’ Oder so etwas wie ‚Ach wenn die Männer Brüste und keinen Penis haben, find ich sie ziemlich sexy.’
Stattdessen zuckte ich nur hilflos mit den Schultern und starrte ihre Fliesen auf dem Boden an. Ich versuchte sogar diese zu zählen.
„Jill, du bist wirklich manchmal ein verdammt komischer Mensch. So still, irgendwie verletzlich und dann beweist du doch eine geheime Stärke, die irgendwo tief in dir schlummert und viel zu selten zum Vorschein kommt. Ich würde zu gern mehr davon erleben im kommenden Jahr.“
Sie schwankte leicht hin und her und tippte mich während ihrer unflüssigen Rede immer wieder oberhalb meiner Brust an. Ich war mir sicher, dass sie sich auf die Stelle beziehen wollte, wo sich mein Herz befand, auch, wenn sie womöglich aus Höflichkeit oder aufgrund ihres Alkoholkonsums nicht den richtigen Fleck berührte.
Mir wurde heiß und schwindelig zugleich. Diese unnormale Nähe zwischen ihr und mir gefiel mir ganz und gar nicht. Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, denn diese Frau machte sich mehr als offensichtlich an mich heran, jedoch war mir auch klar, dass dies nur dem Prosecco und Wodka-Bull zu verdanken war. Ich malte mir in Gedanken aus, wie dieser Abend enden würde. Ich würde sie später womöglich küssen und wäre verpflichtet ihr dann am nächsten Tag mein Verhalten zu erklären. Oder sie wäre so beschämt deswegen, so dass sie über den Silvesterabend nie wieder ein Wort verlieren würde und mir womöglich auch noch aus dem Weg gehen würde. Vielleicht sogar aus der Theatergruppe austreten, in der ich nur ihretwegen war. Abgesehen von dieser Sache wären meine Freunde mir mehr als nur etwas beleidigt und eine große Pizza würde beim zweiten Mal nicht mehr helfen.
All diese negativen Aspekte stürzten sich über mich wie die Geier über den Kadaver und ich wollte nur eins. Fliehen. Mit wenigen Sätzen erklärte ich Amy, dass meine anderen Freunde bereits auf mich warteten, was eine absolute Lüge war, die sich zu dem vollen Lastwagen mit den anderen Lügen dazugesellte. Es war noch nicht einmal 22 Uhr, somit hatte ich noch eine gute Stunde Zeit, um diese mit Amely zu verbringen, aber die Lust danach war mir gründlich vergangen. Ich warf in das Wohnzimmer noch einen Abschiedsgruß rein, schnappte mir meine Bierfalsche, die noch halb voll war und machte mich aus dem Staub.
Der Silvester Abend endete für mich damit, dass ich wieder mal meine Grenzen gewaltig überschritten hatte, einen emotionalen Ausbruch erlitt und nach dem Countdown kauernd und schluchzend in einer Ecke saß und von Sophie getröstet wurde. Für mich war die Party definitiv vorbei und auch für Sophie, die mich mit zu sich nahm und am frühen Morgen auch noch neben mir auf dem Kloboden verbrachte, während die geschätzte halbe Wodkafalsche, die vielen Erdbeerlimes Schnäpse und weitere alkoholische Getränke meinen Körper auf die wohl übelste Art und Weise verließen.
* * *
Einige Wochen später teilte mir Amely mit, dass sie nun endlich nach einer langen Zeit wieder in festen Händen war. Ja, ich hörte es richtig. Amely war vergeben und als, wenn allein diese Aussage nicht einen Fleisch zerfetzenden Schmerz in meinem Inneren verursachte, war ihre neue Freundin diese Macho Tusse vom Abend, als ich die beiden belauscht hatte. Und auch das war noch immer nicht der Gipfel des Dilemmas, denn wäre ich nicht so fluchtartig weggelaufen, hätte ich es sicherlich verhindern können, dass Amy sich betrank an dem Abend und später in der Diskothek der teuflischen Verführerin über den Weg lief. Nach dem Countdown befand sich Amely demnach in den Händen dieser Flirterin und später in ihrem Bett, so war’s zumindest zu verstehen, laut den sehr wenigen Angaben von Amelys Seite aus und ich hätte das alles verhindern können bereits mit einem einzigen Kuss. Ich war nicht nur der Narr der Nation, sondern ein Trottel der gesamten Welt.
Ich wusste auch noch, dass wir telefonierten kurz nach Beginn des neuen Jahres, denn ich sah ihre Nummer am nächsten Morgen unter den letzten Anrufern auf Platz eins. An das Gespräch konnte ich mich jedoch gar nicht mehr erinnern und Amy leider auch nicht, behauptete sie zumindest.
Es war also vorbei. Die Hoffnung auf mein Happy End hatte ich mir selber vermasselt. Andererseits lautete meine Mission nach wie vor mich von ihr fern zu halten und dafür mehr Zeit meinen Freunden widmen, was ich auch tat. Es ist schwer zu beschreiben, aber seit dieser Verkündung von Amy wurde mir auch irgendwie leichter ums Herz. Ich empfand zwar nach wie vor ziemlich viel für sie, mur ich wollte nicht gegen eine Wand mit dem Kopf knallen. Deshalb wurden meine Hoffnungen in den Schatten gestellt, dafür machte sich aber eine unbekannte Ruhe im Vordergrund breit und gab mir die Möglichkeit Dinge zu bemerken, die bis dahin nicht auf meiner Sichtebene lagen.
Keinem war es aufgefallen, dass Michi sich in den letzten Wochen irgendwie seltsam verhielt. Er fragte uns öfters, ob sein Haarschnitt gut aussah oder sein neues Parfüm gut roch. Auch was die Kleidung anging, ließ er sich von den anderen und mir beraten.
Ich nutzte die Gelegenheit bei einem Stadtausflug aus und forderte ihn auf die Karten auf den Tisch zu legen. Anfänglich stammelte er wirres Zeug vor sich hin und kam nicht zum Kernpunkt seines Murmelns.
„Michi? Was ist denn los?“
Mit festem Griff umklammerte er seine Tasse Kaffe und starrte diese durchdringend an.
„Also die unschuldige Tasse wird dich auch nicht vor einer Antwort bewahren.“
Langsam ließ er das Geschirrstück wieder los und schob es einige Zentimeter von sich weg, anschließend lehnte er sich ein kleines Stück zurück, prüfte, ob seine Brille richtig saß und verschränkte die Arme.
„Weist du warum ich dich noch kein einziges Mal in Bezug auf Amely kritisiert habe?“
Natürlich schüttelte ich mit dem Kopf, denn Gedanken lesen konnte ich nicht.
„Weil es mir genauso geht. Ich versteh dich voll und ganz. Gut, was den Punkt Vernachlässigung der Freunde angeht, da gebe ich den anderen vollkommen recht. Die andere problematische Situation, in der du dich befindest, ist meiner Meinung nach gar nicht mal so lächerlich, wie die anderen es darstellen.“
Auf meinem Gesicht erstrahlte ein breites Grinsen und ich sah mich selber vor meinem Inneren Auge meine Narrenkappe abnehmen und jubeln.
„Wie heißt die geheimnisvolle Frau denn, welche du anhimmelst?“, fragte ich und versuchte mit viel Mühe meine Mundwinkel endlich zu lockern.
„Laura. Ich hab sie durch Lukas kennengelernt beim Bowling vor einigen Monaten.“
Natürlich wollte ich alles haargenau wissen und quetschte Michi bis auf die letzte Information aus. Am Ende wunderte ich mich, dass er auf einmal so schüchtern war. Das war absolut nicht sein Normalzustand. Wenn man Michi beschreiben müsste so würde dieser Steckbrief ungefähr so aussehen. Er ist ein großer sportlicher Typ, knackige 18 Jahre jung, trägt gerne einen ganz kurzen Bart, der jedoch sehr gepflegt und zu Recht geformt ist und sieht allgemein verdammt gut aus. Dieser Mann achtet sehr auf sein Aussehen und geht mindestens zweimal die Woche mit seinem Hund joggen. Er ist oft Schweigsam und hört eher zu, aber, wenn er etwas sagt, dann bleibt es noch lange in Erinnerung, zumindest in meiner.
Während er mir von dieser Frau erzählte, warf ich immer wieder einen Blick zu der Kellnerin, die bereits zum fünften Mal an uns mit einem leeren Tablett vorbeihuschte. Irgendetwas war an ihr neu, ich konnte nur nicht zuordnen wo genau die Veränderung war.
„Hörst du mir noch zu oder brauchst du bereits ein Sabbertüchlein?“
Darauf konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen, war aber wieder vollkommen bei seinem Thema.
„Wieso sprichst du sie nich einfach an? Du hast dich ja nicht in einem Lügenmärchen verstrickt, im Gegensatz zu mir, also wo liegt das Problem?“
Er zuckte leicht mit den Schultern und klammerte sich wieder an seine schon leere Kaffeetasse. Wenige Sekunden später stand bereits meine heiße Kellnerin vor unserem Tisch und fragte uns höflich, ob wir noch was wollten. Nun fiel es mir endlich auf, was neu an ihr war. Eigentlich hätte ich es auf Anhieb sehen müssen. Ihr linkes Handgelenk wurde von einem sehr auffälligen Bändchen geschmückt. Dasselbe hatte Amely auch und ich wusste auch genau woher. In einem Club fand eine Woche zuvor ein Lesben- und Schwulenabend statt und an der Kasse gab es statt des üblichen Stempels diese bunten Bändchen.
„Jill, magst du auch noch was?“
Mein Blick wanderte von dem Armbändchen zu meinem Gegenüber und ich realisierte, dass von mir eine Antwort verlangt wurde. Sofort schielte ich schnell in die Karte, und tippte auf eine heiße Schokolade. Die Kellnerin nickte mit einem freundlichen Lächeln, nahm die Karten wieder vom Tisch und machte sich auf den Weg zur Theke.
„Wenn ich du wäre, so würde ich die Gelegenheit nutzen, nicht das sie ebenfalls in festen Händen landet.“
„Woher weist du, dass sie es noch nicht ist?“
Michi schob abermals seine Brille, die von einem schwarzen Gestell umrandet war, auf den richtigen Platz und fragte mich, ob es mir nicht aufgefallen war.
„Was aufgefallen?“
Nein ich verstand absolut nicht, was er mir versuchte mitzuteilen, wurde aber gleich darauf aufgeklärt.
„Egal an welchen Tisch sie muss, sie wählt immer denselben Weg. Und zwar einen, wo sie dich gut sehen kann.“
Diese Aussage musste natürlich überprüft werden und in der Tat, es gab mehrere Möglichkeiten, wie man zu den Gästen gelangen konnte. Sie wählte nur einen bestimmten Weg aus. Es gab auch eine weitre Kellnerin, aber diese kümmerte sich um die andere hälfte des Lokals, wie es aussah.
„Lass uns einen Deal abschließen.“
Ich zog eine Augenbraue hoch und versteckte meine Handflächen komplett in meinem Pulli, so wie ich das im Winter allzu gerne tat.
„Wenn du es schaffst mit ihr auszugehen, werde ich auf der Stelle Laura auf ein Date einladen.“
Ich gab von mir einen seltsamen quietschenden Ton, welcher dem eines Meerschweinchens ähnelte und verschränkte die Arme.
„Klar. Ich und die Frauen ansprechen. Machst du dich lustig über mich?“
„Ganz und gar nicht. Du brauchst dringend eine Ablenkung und ich einen Grund, um es endlich durchzuziehen und du weiß ja, ich halte immer meine Versprechen.“
Es war lächerlich. Warum sollte ich diese Frau ansprechen? Gut zugegeben sie war sehr attraktiv und ich ging wohl nur ihretwegen immer wieder in dieses Cafe und das schon seit Jahren. Und ja, ich hatte nichts dagegen mal mit ihr auszugehen, aber was, wenn sie nein sagen würde oder schon vergeben war. Das hätte zu bedeuten, dass ich mir ein neues Cafe suchen müsste und nur hier gab es die super tollen Pizzen. Eine durchaus schreckliche Vorstellung diese nie mehr verköstigen zu können. Die Neugier in mir war jedoch größer und in den letzten Monaten mit Amely hatte ich doch einiges dazugelernt und ich wollte etwas offener meine Umgebung und deren Mitmenschen empfangen. Somit ging ich auf dieses riskante Spiel ein und brachte Michi zum Erstaunen, da dieser, wie es aussah zu sehr davon überzeugt war, dass ich nicht den nötigen Mut dazu hätte, um die hübsche Kellnerin anzusprechen. Beim meinem Plan war solch eine Kontaktaufnahme aber auch nicht notwendig. Mein Plan sah etwas anders aus.
Bevor wir jedoch das Cafe verließen hatte ich eine wichtige Frage an Michi, die ich ihm eigentlich schon zu Beginn des Treffens stellen wollte.
Ich brauchte einen Freund, denn Amely nörgelte schon ununterbrochen, dass sie gerne einen Pärchenabend mit mir und unseren Partnern veranstalten wollte, denn in meiner Lügenwelt war ich bereits mit dem Eroberer meines Herzens glücklich zusammen. Diese Lüge entstand weniger durch ein Versehen, sondern mehr durch ein verletztes Herz und durch die gewaltige Portion Dummheit. Mit andern Worten gesagt, ich wollte nicht solo und verzweifelt auf sie wirken. Ihr ging es gut, also musste es mir ebenso gut gehen. Die Frage nach dem Sinn dieser Aussage stellte ich mir einige Tage lang selber, bis ich mich schließlich dazu überwandt diese Aktion zu dem Haufen anderer dummer und sinnfreier Aktionen dazu zuaddieren.
Ich musste gar nicht viel sagen oder den Überzeugungspart übernehmen, denn Michi willigte ohne große Nachfragen ein, meinen Pseudofreund zu spielen. Somit war ich in das zweite Kapitel meiner Lügenwelt hinangerutscht, denn nun erfand ich nicht nur Dinge, sondern sorgte auch dafür, dass diese real wurden. Welch eine hervorragende Leistung.
Beim verlassen des Kaffees achtete ich streng drauf, dass meine Kellnerin nicht in sichtweite war. Ich musste deswegen unseren Abgang um ganze fünfzehn Minuten hinauszögern. Michi weihte ich nicht ein, denn ich wollte selbstständig diese ‚Mission Impossible’ bewältigen. Streng nach Plan schritt ich zu der Theke und überreichte der anderen Kellnerin ein zusammengefaltetes Blockblatt auf dem stand „Für die Frau mit dem Regenbogenbändchen“. Diesen verfasste ich mit einem einfachen Inhalt, meiner Handynummer und meinem Namen, als Michi sich kurz auf das stille Örtchen verdrücken musste. Wie ich hieß, wusste die Kellnerin bereits nur zu gut, denn Sophie nannte mich beim Namen sicherlich schon 1000 Mal bei den Besuchen in diesem Lokal. Somit war es ihr klar wer hier einen Annäherungsversuch startete, hoffte ich zumindest.
Draußen schnappte ich Michi bei der Hand und begab mich in eine gute Lage, aus der ich die Cafetheke noch sehen konnte aber wir nicht mehr im Sichtfeld der Bedienung lagen und beobachtete das verblüffende Geschehen. Meine Kellnerin kam zu ihrer Kollegin und bekam, wie beauftragt meinen Zettel zugesteckt. Auf ihrem Gesicht erstrahlte ein Lächeln, ehe sie meine Botschaft geöffnet hatte. Wie es aussah ahnte sie bereits was drin stehen würde. Umso größer wurde ihre Freude als sie es dann tatsächlich getan hatte. Ich will nicht übertreiben, aber ich glaubte zu sehen, wie die Kellnerin hinter der Bar hüpfte und total am Grinsen war. Sofort musste ich an mich selber denken, wie dämlich ich mich bei Amely angestellt hatte und fragte mich, ob die Kellnerin sich die ganzen Jahre auch in einer ‚Jill-Situation’ befand oder andere Gründe für den bisherigen Stillstand verantwortlich waren.
* * *
Das Leben gestaltet sich manchem ganz anders, als man es sich vorstellt. Mein Leben stellte ich mir nie so vor, wie dieses in Wirklichkeit war und manche Ereignisse schienen wie ein Mysterium zu agieren. Sie tauchten unerwartet auf und veränderten alles in meinem Leben, so wie der Nachmittag mit Michi. Noch am selben Tag bekam ich den ersten Anruf von Klara, die verdammt viel Mut aufbringen musste, um dieses Telefonat überhaupt ins Leben zu rufen und es brachte mich sehr zum Staunen, dass es tatsächlich Menschen gab, die noch schüchterner und verschlossener waren als ich. Eigentlich konnte das doch gar nicht sein, weil ich war hier diejenige, die nach wie vor Gefühle für eine Frau empfand und sich dennoch so arg dämlich angestellt hatte, dass der Schaden irreparabel geworden war und die einzige Lösung den Titel ‚die Flucht’ trug.
Bei Klara eröffnete sich mir eine komplett neue Welt, in der ich gezwungen war etwas zu unternehmen und es fiel mir wesentlich leichter als bei Amy. Vielleicht lag es daran, dass ich anfangs nicht dieselbe Portion an Gefühl für diese Frau empfand oder aber an der Tatsache, dass, wenn ich nicht den ersten Schritt tat, würden wir uns nie vom Fleck rühren.
Man sollte nicht denken, dass die Frau nicht fähig war etwas zu unternehmen, sie erinnerte mich allerdings so oft an mich selber in den Situationen mit Amely.
Je mehr ich sie beobachtete, desto klarer wurden die kleinen und großen Fehler und eigentlich fast schon übertrieben lächerlichen Ängste dieser schönen und klugen Frau, die in mir eine Göttin sah.
Ja in der Tat, sie sprach von höheren Mächten und erzählte mir, wie oft sie daran gedacht hatte mich endlich mal nach meiner Handynummer zu fragen. Aus Angst eine Dummheit zu begehen, traute sie sich allerdings nie. Da wäre zum Beispiel Sophie, die fälschlicherweise für meine Freundin gehalten wurde oder eine andere weibliche Begleitung, die ich mit in das Cafe schleppte.
Auch reagierte ich nie auf ihre Gesten und Zeichen, die sie mir anscheinend förmlich zugeschmettert hatte in dem letzten Jahr. Davor hielt sie ihre Interesse im Hintergrund, denn sie befand sich in festen Händen und war keine von diesen Mädchen die hinter dem Rücken ihrer Partnerin eine neue Flamme entfachten, um dann die alte zu erlöschen. Nach anfänglichen Zweifel und Unsicherheit, fand ich immer mehr und mehr gefallen an dieser Frau. Mit ihr war es so einfach, denn ich wusste genau, was in ihr vorging. Auch sie legte nach einem doch sehr holprigem Start ihre Schüchternheit ab und zeigte ihre verborgene selbstsichere Seite.
Ich begriff, dass es darauf ankam zu versuchen, denn eine Abfuhr bringt eine Gewissheit, aber Angst und Feigheit zerfressen einen innerlich bis auf die Knochen und man findet nie seine Ruhe.
So erging es mir mit Amely, sogar nachdem ich mit Klara zusammen kam, musste ich unentwegt an meine Verflossene denken. Ihr jetzt etwas zu gestehen fand ich überflüssig und irgendwie ziemlich lächerlich. Es stellte mich in ein unvorteilhaftes Licht auf der Bühne und zeigte meine hässliche Seite. Die Seite eines Lügners, Betrügers und Schwindlers. Alles nicht besonders ansprechende Eigenschaften, fand ich.
Ein anderer Gedanke, der mein Schweigen verstärkte, war die Frage, warum Amely nicht die Initiative ergriffen hatte. Sie war eine Persönlichkeit, die gern mit der Tür ins Haus fiel und sich keine Gedanken darüber machte, wie andere sie sahen. Es wäre für sie sicherlich ein Kinderspiel gewesen mich zu packen und ihre Lippen auf meine zu pressen. Einfach so.
Ich war mir auch sehr sicher, dass sie, falls es schief gelaufen wäre, eine Ausreden parat hätte.
Aber sie tat nichts in den ganzen Monaten.
Somit ergab meine Schlussfolgerung, dass Amy nicht dieselben Gefühle für mich übrig hatte und ich einfach zu viel in ihren Handlungen und Wörtern zu sehen dachte, als es in der Wirklichkeit war.
Das brachte mich sogar irgendwie zum lachen, denn da sitze ich jahrelang in einem Cafe und schaue eine Frau an und sehe nichts von irgendwelchen Signalen, dafür aber glaube ich eine ganze Ladung davon zu erkennen bei einer anderen, die nie welche gesendet hat.
„Jill?“
Ich drehte mich um und sah in die Augen der Frau, die erst wenige Minuten her mir voller Erregung in den Nacken Atemstöße hauchte und Laute von sich gab, die mir eine Gänsehaut über meinen Rücken jagten. Ich spürte nach wie vor ihre warmen Handflächen auf meinem Körper kleben, die immer wieder durch die Fingernägel vier rötliche Linien auf meinem Rücken hinterlassen hatten.
„Manchmal würde ich nur zu gern wissen, in welchen Sphären du wandelst, wenn du mal wieder in deiner eigenen Gedankenwelt versinkst.“
Ich musste leicht schlucken, denn obwohl ich wahnsinnig glücklich war solch eine wunderbare Frau meine Freundin nennen zu dürfen, wandelte ich dennoch nach wie vor in der Vergangenheit. Genauer gesagt schlenderte ich in diesen Abwesenheitsmomenten durch meinen Korridor, der voll gepflastert war mit den Portraits von Amely. Ich fühlte mich wie ein Ganove, der bei seinem Einbruch ertappt wurde.
Doch ein Ganove weiß, wie man sich in Schal und Rauch hüllt, so zog ich die nackte Schönheit an mich heran und legte meine warmen Lippen, die vor nicht langer Zeit ihren gesamten bebenden Körper mit Küssen erkundschaftet hatten, auf ihre, um weitere Gespräche zu vermeiden.
Wie es aussah hatte ich meine Narrenkappe gegen eine unreine Weste eingetauscht.
***
Alles hätte eigentlich gut laufen können. Ich verstand mich gut mit Amely, aber mein Herz sehnte sich inzwischen nach Klara. Ja es war ein großer Fortschritt, der mich weg von der Illusion zu der Realität brachte und dennoch schaffte es Amely alles wieder aufzuwirbeln und Chaos in meine Ordnung zu bringen.
Sie drängte mich mehrmals zu einem Pärchenabend und bestand darauf endlich meinen neuen Freund kennenzulernen. Sie sprach von einem „Check“, denn ich verdiene ja schließlich nur das Beste vom Besten und sie hätte da so ein Gespür für die richtige Wahl.
Ich hielt das für einen Witz und dachte nicht weiter nach, was ich lieber hätte tun sollen, denn ich vergaß, dass Amy eine begabte Augenleserin war und kein Blinzeln konnte man von ihr verbergen, wenn sie sich jemanden vorknöpfte. Zum Beispiel Michi, der mit Fleiß und Mühe meinen Freund spielte, aber eben nur mit Verstand und nicht mit Herz bei dieser Aufführung agierte.
Es dauerte nicht einmal einen halben Abend lang, bis sich die beiden, also Amy und mein bester Kumpel so richtig in den Haaren hatten. Sie löcherte ihn über jede Kleinigkeit aus und er fühlte sich nach und nach in die Enge getrieben, denn unsere vorbereitete Scheinliebe war nicht zu tiefgründig erarbeitet als sie hätte sein sollen. So schafften wir es mit viel Improvisation und etwas Glück den Abend durchzuhalten und hofften, dass es nun ein Ende gab und Amely locker lassen würde. Dies erwies sich aber als ein großer Irrtum, denn die Augenforscherin erweckte in sich den Drang einem seltsamen Gefühl etwas gründlicher nachzugehen und bestand noch mal darauf etwas zu viert zu unternehmen.
Was hätte ich tun sollen? Ihr die Wahrheit sagen?
Ja, vermutlich schon, aber wer schon so weit gegangen war, wie ich, konnte einfach nicht mehr zugeben, dass es ein Fehler war. Inzwischen kam auch zu meiner Angst auch noch ein anderes Gefühl, welches sich Sturheit nannte. Wozu sollte ich mich selber demütigen, wenn es keinen Grund dafür gab. Der Frau musste ich nicht mehr Imponieren und die Freundschaft unnötig gefährden wollte ich auch nicht.
Nach der zweiten Verabredung rief sie mich an und wollte unbedingt mit mir unter vier Augen sprechen. Das hatten wir schon lange nicht mehr gemacht, denn in letzter Zeit traf ich sie entweder nur beim Theaterkurs oder mit Michi. Ab und zu auch mit Sophie, die mit knirschenden Zähnen sie erduldete, aber immer darauf bestand mitzugehen beziehungsweise Amy mitzunehmen, denn irgendwie sah sie diese neue Fürsorgerin von Jill als eine ernste Bedrohung und wollte die Situation im Überblick behalten.
Es war also klar, dass ich mich etwas unwohl fühlte, als ich ihr Haus betrat. Ich nahm Platz auf ihrem Schreibtischstuhl und wartete darauf, was sie mir wichtiges zu erzählen hatte.
„Jill, bitte sei mir nicht sauer oder wütend und hör mich komplett an, bevor du womöglich aus dem Haus stürmst.“
Jetzt wurde ich etwas nervös und ungeduldig. In meinem Kopf spielten sich bereits Hoffnungsszenen ab, in denen diese Göttin mir einen Liebesantrag machen würde und es doch noch ein Happyend geben könnte. Sogleich platzte Klara in meine Fantasiewelt ein und verschränkte ihr Arme vor dem eigentlichen Bild. Hier war eindeutig Endstation. Ich warf einen Blick wieder zu der realen Amely, die nach wie vor auf eine Reaktion von mir wartete und nickte ihr zu, während meine Fantasie sich wie eine Rauchwolke über meinem Kopf auflöste.
„Ich glaube“
Sie machte eine kurze Pause und suchte nach den richtigen Worten, um ihren Satz zu beenden.
„Nein ich bin mir sicher, dass Michi dich nur verarscht.“
Sogleich warf ich ihr einen entsetzten Gesichtsausdruck entgegen, nur galt mein Entsetzen weniger der Feststellung, sondern der Tatsache, dass Amely es wirklich durchschaut hatte.
„Ich weis, das muss für dich seltsam klingen, aber ich sehe es ihm an, dass er keine wahren Gefühle für dich übrig hat.“
Wie Recht sie doch hatte. Aber warum sah sie dann nicht, wie sehr ich sie vor einiger Zeit gebraucht hatte oder bemerkte nicht, wie tief meine Gefühle für sie waren.
Ohne mir die Chance zu geben etwas zu sagen, nahm sie meine Hände in ihre und zog mich zu sich heran. Ich fiel ihr ungewollt in die Arme oder besser gesagt auf sie drauf, denn anstatt aufrecht zu bleiben, fiel sie einfach um.
„Jill ich mag dich wirklich sehr und ertrag das nicht, wenn dir irgendein Idiot wehtut. Verstehst du mich?“
Nein ich verstand absolut gar nichts, denn was sollte diese Aktion hier gerade darstellen?
Ich begriff nicht wieso ich gerade auf ihr lag und sie mich mit einem Todesgriff umklammerte und mir mit einer unheimlich erotischen Stimme diesen Satz ins Ohr flüsterte.
Abgesehen davon spürte ich ihren Herzschlag, der eindeutig einige Takte zu schnell war für diese Aktivität, wenn man es als solche bezeichnen könnte.
Es war der perfekte Moment, um sie zu küssen oder über sie herzufallen. Ich war mir sogar sehr sicher, dass sie mich nicht vom Bett gestoßen hätte, falls ich der Idee nachgegangen wäre.
Aber ich tat nichts. Ich löste mich von ihrem Griff und stand auf. Ich klammerte die letzten zwei oder drei Minuten einfach aus.
Mit mehreren Argumenten stellte ich meine Sicht der Dinge klar bezüglich Michi und zupfte meine Klamotten in dieser Zeit zu Recht. Ich wollte schließlich das Haus nicht wie ein frisch durchgevögeltes Flittchen verlassen. Ja so fühlte ich mich in dem Augenblick. Schmutzig und unehrlich, und der einzige Grund wieso ich nichts unternommen hatte war Klara. Wie sie, wollte ich nichts hinter ihrem Rücken machen. Es war schlicht unfair dieser Frau gegenüber.
Aber Amely öffnete in mir an diesem Abend ebenfalls eine Tür und nun war ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich nur die Signale einbildete. Es konnte doch nicht sein, dass sie auf diese Art ihre platonische Freundschaft zum Ausdruck brachte. Ich sah sie nicht mit anderen auf ihrem Bett rumrollen oder in der Wiese. Ich merkte auch nie, dass sie anderen so nahe kam und ihnen etwas ins Ohr flüsterte mit einer Schlafzimmerstimme.
Seit diesem Abend und der zweiten geöffneten Tür, die lieber verschlossen hätte bleiben sollen, kehrte alles wieder auf Position NULL.
Das bedeutete im Klartext ich hatte die gesamte Gefühlsportion für Amely wieder auf dem Tisch und für Klara ebenfalls. Zwei Hauptgänge auf einmal. So viel also zum Thema im Herzen hat nur eine Frau Platz. Jetzt wurde ich demnach zu einem Polygamisten.
***
Immer wieder war ich kurz davor Klara endlich die Wahrheit zu sagen und somit das ganze Lügenpaket aufzudecken, aber auch bei ihr fehlten mir die Worte oder der Mut. Man darf mich aber nicht als eine ausnutzerische und egoistische Person betrachten, denn Gefühle waren definitiv da, nur ist es bekanntlich sehr schwer diese auf zwei Personen aufzuteilen und Amy zog meine Aufmerksamkeit wie ein Magnet stets mehr an sich heran als Klara.
Seit diesem verfluchen Abend bei ihr daheim, war alles komisch. Ich verglich Klara andauernd mit Amely und fand fast immer diverse Kontrapunkte.
Klara war schüchtern, Klara studierte Jura, Klara handelte viel zu vorsichtig, Klara bestand nie auf abwechslungsreichen Sex.
Gut das sollte wohl etwas genauer erläutert werden. Es war nicht so, dass der Sex schlecht war, nein ganz und gar nicht. Diese Frau raubte mir mit jedem Orgasmus, den sie hatte, meinen Verstand. Von den Orgasmen, die sie mir bescherte will ich erst gar nicht reden, denn dazu fehlen mir einfach die richtigen Worte.
Dennoch war da irgendwie auf Dauer nicht genug Feuer dahinter. Etwas fehlte mir.
Amy dagegen schien mir eine ungezähnte Amazone zu sein, die es gern abwechslungsreich hatte.
Ich will jetzt nicht pervers klingen, aber mich hat der Gedanke schon immer gereizt es mal in einer Bibliothek zu treiben. Von einer Frau verführt zu werden zwischen „Kafka“ und „Moby Dick“, ohne dabei auch nur einen Laut loszulassen, welch eine lustvolle Schandtat.
Dazu sollte erwähnt werden, dass ich eine absolute Leseratte bin. Dies steigert wohl das Vergnügen um einiges. Ich schweife wieder ab von der eigentlichen Erzählung.
Mit den Vergleichen zwischen den zwei unvergleichbaren Frauen nistete sich irgendwann eine Verfestigung eines Bildes in meinem Kopf, dass nur Amy die eine richtige für mich wäre und wenn sie es nicht sein konnte, so gar keine.
Ich konnte sogar darauf verzichten in mein Lieblings Cafe zu gehen, solange ich dafür die Freundschaft zu Amy nicht verlieren würde, denn Amy war immer da, wenn es mir nicht gut ging und sah es schneller als Sophie oder meine anderen Freunde. Rief öfters an und fragte mich, wie es mir so ging. Wenn ich mal schlechte Tage erlebte, so war sie es, die am meisten Trost spendete. Sonst war es immer Sophie gewesen, welche die stärkste Verbindung zu mir hatte und mich schon fast mein ganzes Leben lang kannte und dann tauchte eine Frau auf, die dasselbe innerhalb von Monaten schaffte. Das erklärte auch wohl Sophies Angst, dass man mich ihr entreißen könnte.
Also war es auch kein Wunder, dass Sophie jede Möglichkeit nutzen würde, um Amely von der Klippe zu stoßen. An meinem Geburtstag sollte sie diese Gelegenheit auch bekommen, denn Amely wusste nicht, dass ich diesen Tag mehr als hasste.
So kam es dazu, dass sie bereits vor der Schule auf mich wartete und mir mit einer herzlichen Umarmung und den besten Wünschen ein Geschenk überreichte. Ich starrte sie mit einem leichten Entsetzen an, denn es war nun schon zwei Geburtstage her, seit ich genau an diesem Datum eine Gratulation erhielt. Jeder meiner Freunde wusste bescheid, dass ich diesen Tag absolut verabscheute und nicht daran erinnert werden wollte. Somit wurde im Kreise aller Beteiligten ein anderes Datum gewählt, an dem mir jeder gratulierte und mit mir feierte. Womöglich eine kindische Aktion, aber ich war einfach noch nicht soweit an diesem Tag zu feiern, an dem ich viel zu früh zur Welt kam und mein Dad 15 Jahre später zu früh von mir ging. Und wie ich bereits erwähnt hatte, war es meine Schuld, dass er nicht mehr da war, denn hätte ich mich ganz normal, wie alle anderen Kinder im Bauch meiner Mutter entwickelt, wäre ein frühzeitiger Keiserschnitt nicht notwendig gewesen. Dann hätte mein Geburtstag erst ungefähr zwei Monate später stattgefunden. So wäre mein Vater nie an dem Montag, den 13. Februar eine Stunde früher von der Arbeit losgefahren, damit er rechtzeitig bei meiner Geburtstagsfeier ankommen konnte und wäre auch nie in den schrecklichen Unfall verwickelt worden. Eigentlich hätte es lediglich gereicht, wenn seine Schnürsenkel offen wären oder das Auto erst beim dritten Startversuch angesprungen wäre oder er an zwei roten Ampeln hätte warten müssen, dann wäre er jetzt noch bei mir.
Ich wurde von der Öffentlichkeit eigentlich nie daran erinnert in den letzten Jahren, denn auch die Verwandtschaft hatte es inzwischen verstanden, dass ich nicht an dem Tag feierte und keine Glückwünsche empfangen wollte. Spätestens nachdem ich an meinem 16. Geburtstag die Tante mütterlicherseits am Telefon anschnauzte, die solle sich ihre Glückwünsch sonst wohin schieben und, dass ich nie wieder am 13. Februar, von keinem der Familienangehörigen auch nur einen Ton hören wolle, welcher auf meinen Feiertag verweist, war der Groschen gefallen. Am selben Tag hörte ich noch, wie meine Mutter alle anderen Anrufer abwimmelte und es ihnen untersagte die nächsten Jahre an dem Tag anzurufen.
Ich weis noch genau, dass sie am Telefon flüsterte und bereits beim ersten Klingeln den Höhrer ergriff, damit ich nicht unnötig belästigt wurde.
Nun stand ich also da und dieses traurige Schicksal, welches ich nach wie vor irgendwo tief in mir drin einsperrte, prasselte auf mich nieder, wie ein Regen mit Golfball großen Regentropfen und das direkt ins Gesicht. Ich ging stumm an Amy vorbei, ohne ihr Geschenk entgegenzunehmen. Meine Hände griffen mit voller Kraft in die Träger meines Rucksackes und ich verkniff es mir mit viel Mühe nicht zu weinen. Ich spürte, dass alle mich anstarrten, die ebenfalls gerade auf dem Weg ins Schulgebäude waren und die eben erlebte Situation live verfolgen konnten. Ich weiß zwar nicht, wie das möglich war, aber keiner sagte zu mir etwas an dem Tag in den vergangenen Jahren. Keine Lehrer, keine Mitschüler. Manchmal dachte ich mir, dass Sophie alle gewarnt hatte und ihnen womöglich sogar drohte, wenn sie dabei waren ihre Klappe aufzumachen in den letzten beiden Jahre, denn in der Tat war sie in der Schule den ganzen Tag über immer an meiner Seite und wich keinen Zentimeter. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, dass sie sich total erkältet in die Schule schleppte und alle meine Anweisungen zum Arzt oder Heim zu gehen missachtete im letzten Jahr. Einen Tag später war sie dann doch krankgeschrieben.
„Toll gemacht Amy.“
Ich sah gar nicht hinter mir, hörte aber diese Worte, die Sophie mehr als abfällig gegenüber der Frau äußerte, die es eigentlich nur gut gemeint hatte. Sie wusste es ja schließlich nicht, weil ich ihr gegenüber auch nichts dergleichen erwähnt hatte.
„Was ist denn los? Was habe ich falsch gemacht?“
Ab hier beschleunigte ich meinen Gang, denn ich wollte nicht hören, wie Sophie sie aufklärte oder ihr weitere abfällige Bemerkungen an den Kopf schmiss. Ich hatte in dem Moment selber meinen Kopf voll mit den Vorwürfen, die ich mir ununterbrochen, seit der Gratulation vor die Füße warf, denn egal wie man es drehte, war letztendlich theoretisch betrachtet ich diejenige, die Schuld an dem Tod meines Vaters hatte und dann kam der Lastwagenfahrer, der die Tat praktisch umsetzte.
Amely vermied eine weitere Begegnung mit mir an dem Tag und erst spät abends erreichte mich eine lange Sms von ihr, in welcher sie sich mehrmals entschuldigte, was sie meiner Ansicht nach gar nicht hätte tun brauchen, denn ich war nicht mal böse auf sie oder machte ihr Vorwürfe, sondern es kam mir nur so vor, als würde man mich mit dem Aussprechen dieser, eigentlich tollen Wörter wieder zurück in das Jahr versetzen, als es passierte.
Ich weis noch ganz genau, wie meine Mutter vor der Tür beinahe einen Zusammenbruch erlitt und ich aus dem Nebenzimmer rauslugte und mich darüber wunderte, dass zwei Polizisten vor der Tür standen. Mein erster Gedanke war, dass die wegen mir da waren, denn einige Tage zuvor waren meine Leute und ich bei einem Einkaufhaus und veranstalteten nach Ladenschluss ein Einkaufswagenrennen, bis wir bereits vom Weiten einen Streifenwagen bemerkten und uns so schnell es ging mit dem Bier aus dem Staub machten. Man Bedenke, dass ich an dem Tag noch nicht mal 15 Jahre alt war und eine Begegnung mit den Gesetzeshütern sicherlich schlimme Folgen mit sich hätte.
Ich merkte jedoch schnell, dass es um weitaus Ernsteres gehen musste und rannte vor, doch meine Mutter stieß mich zurück, rief nach meiner Oma, die mich ebenfalls wegschickte und erst etliche Stunden später wurde ich endlich aufgeklärt, als auch die letzten Gäste, frühzeitig abgeholt wurden. Für ein 15 jähriges Kind, welches zwei Stunden zuvor noch mit viel Freude seine Geschenke auspackte und sich darauf freute, dass der Vater jeden Augenblick ebenfalls kommen wird, war das ein gewaltiger Schlag ins Gesicht. Nein, eigentlich wurde ich in den Minuten, als es mir von meiner Oma mehr als schonend beigebracht wurde von einem fliegenden Klavier erschlagen und das Klirren des Musikinstrumentes hallt immer noch in meinen Ohren, wenn jemand dieses Ereignis hervorruft.
Das makabere an der Geste von Amely war aber das Geschenk selber, denn es war ein Gutschein für meine erste Fahrstunde in der Fahrschule, die ich bereits im Visier hatte, jedoch bisher noch nicht den Mut aufbrachte meine Mutter von meinem Vorhaben zu erzählen, denn diese bekam bereits Stielaugen bei den Worten Auto und Jill in einem Satz. Abgesehen von dem Gutschein, gab es natürlich eine Karte mit einigen selbstgeschrieben Zeilen von Amely.
„Auch, wenn die Vergangenheit dir viel Kummer gebracht hat und einige Ereignisse dein Leben für immer verändert haben, so wirst du diesen vielleicht ja irgendwann mal entfliehen, bis es jedoch soweit ist, kannst du ja schon mal deine Flucht planen und mit diesem Gutschein will ich dir den Start erleichtern.“
Ich wusste genau auf was sich diese Worte bezogen. Das Gespräch lag schon einige Monate zurück und ich hatte auch nur beiläufig einige Sätze fallen lassen aber wie es aussah war nicht nur ich mit einem guten Gedächtnis gesegnet worden. Nun galt es irgendwie meine Mutter von meinem Vorhaben zu unterrichten, denn schließlich war ich nun volljährig und konnte es selber entscheiden, trotz einer Meinungsunstimmigkeit zwischen ihr und mir.
* * *
Der schreckliche Geburtstag war jedoch nicht das Schlimmste, was das neue Jahr mir bescherte, denn die Theaterstunden übertrafen diesen Tag um einiges. Es hatte allgemein den Anschein, dass sich dort jeder in eine andere Rolle begab und diese drei Unterrichtsstunden lang durchspielte. Alle waren offener und lebendiger, als außerhalb dieser Zeit. Auch Amy schien immer in ihre Rolle zu verfallen, in der sie sich ziemlich nah an mich heranwagte und sogar mit mir flirtete. Ich ging darauf ein, genoss ihre Aufmerksamkeit mir gegenüber und vergaß in diesen Stunden alles um mich herum. Wenn wir probten, konnte ich alles tun. Sie berühren und ihr in Worten von ‚Romäo’ das sagen was ‚Jill’ eigentlich fühlte. Außerdem stand noch die Probe der letzten Szene in Aussicht, die ich zwar auf der einen Seite sehr fürchtete aber auf der anderen auch kaum erwarten konnte. Ich fragte mich oft, ob Amy es zulassen würde, dass ich sie küsse, oder die ganze Sache nur bei einem ‚Fast-Kuss’ enden würde. Ich sollte nicht all zu lange drauf warten, denn bereits ende Februar waren wir mit dem Proben bereits soweit. Der große Moment war also gekommen. Schon in der Früh war ich total hyperaktiv und konnte kaum am Stuhl sitzen. Mathe und die anderen Fächer interessierten mich nicht die Bohne, denn in meinem Kopf war nur eine einzige Frage. Wird sie den Kuss wirklich zulassen, oder nicht?
Sophie fand meine Aufregung gar nicht gut aber sie war an sich gegen Amy eingestellt, denn diese kümmerte sich Sophies Ansicht viel zu sehr um mich.
„Du solltest sie nicht küssen Jill.“
„Warum nicht?“
Ohne einen Blick zu Sophie zu werfen biss ich erneut in meine Brotzeit rein und sah mich stattdessen auf dem Pausenhof etwas um, doch leider war keine Amely zu sehen. Ich hatte sie den ganzen Tag noch nicht gesehen und befürchtete schon, dass sie womöglich krank war.
„Weil es dir nur wehtun wird. Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht und du nach wie vor Gefühle für sie übrig hast, was nebenbei echt nicht fair ist gegenüber Klara.“
Sophie machte eine etwas längere Pause, wahrscheinlich in der Hoffnung ich würde etwas drauf erwidern, doch inzwischen wollte ich einfach nichts mehr zu diesem Thema hören, denn das was Sophie sagte, wusste ich selber auch schon und noch tiefer in den Wunden bohren, wollte ich nicht.
„Ich mag sie übrigens.“
„Wen?“
Diese Frage hätte ich mir sparen können, denn natürlich bezog sich das Mögen auf Klara. Vor einigen Wochen hatte Sophie das Vergnügen Klara kennenzulernen, als diese allein im Cafe war und von Klara angesprochen wurde. Aus Sophies Erzählungen heraus konnte ich ein ziemlich intensives Gespräch herauskristallisieren, diese wollte jedoch nicht genauer drauf eingehen. Ich vermutete, dass Klara sich inzwischen auch schon Gedanken machte, wieso ich ihr gegenüber in letzter Zeit so kalt und distanziert war.
Sophie konnte wirklich hinterlistig sein, das wusste ich nur zu gut. Sie war es ja damals, die meine Schulversetzung verhinderte und sie war es auch immer, die mich vor anderen beschützte.
So langsam kam mir aber auch eine andere Theorie auf. Sie war es, die mich vor allem und jedem fernhielt. Wie konnte ich mich den da richtig entwickeln, wenn ich in einer imaginären Luftblase saß.
Nach dem Gespräch machten die beiden heimtückisch hinter meinem Rücken aus, dass wir auch mal was zu dritt unternehmen sollten, was mir absolut nicht passte, denn ich hatte irgendwie die Befürchtung, dass Sophie irgendwas im Schilde führte und auch mich womöglich von der Klippe stoßen würde, aber nur um dann die Retterin zu spielen und mich heldenhaft in letzter Minute am Ärmel zu packen und vom Absturz zu bewahren.
„Sophie. Ich weis, dass du dich um mich Sorgen machst aber ich muss auch irgendwann allein zu recht kommen. Wir werden nicht ewig hier in der Stadt wohnen und uns täglich sehen. Somit lass mich meine eigenen Fehler machen auch, wenn ich dabei in ein Fettnäpfchen nach dem anderen trete“
Es kränkte meine beste Freundin offensichtlich, denn es folgte keine Belehrung oder Gegenwehr von ihr. Das einzige was sie von sich gab in einem kargem Tonfall war die Anweisung, ich solle Klara aufklären und dieses Spielchen beenden.
Spielchen, sagte sie. Sophie verstand wohl nur ansatzweise welches Chaos in mir tobte. Wäre es alles nur ein Spiel, so hätte ich nicht täglich eine Last von zig Tonnen auf meinen Schultern zu tragen. Ich würde auch gewiss besser schlafen und nicht von zwei unterschiedlichen Frauen träumen. Es waren nicht die besten Träume, muss ich zugeben. Mal war ich Glücklich mit einer von beiden. Ein anderes Mal verbündeten sie sich gegen mich und kamen am Ende sogar zusammen. Ich war mir sehr unschlüssig darüber, wann und wie ich Klara es beibringen sollte, dass es kein WIR geben würde in naher Zukunft aber der noch bevorstehende Theaterkurs an dem Tag veränderte meine Sicht der Dinge gewaltig.
Alle waren bereits vor Ort, als ich mich dazugesellte. Auch Amy war da, die fröhlich durch die Gegend hüpfte, mithalf beim Aufbau der Kulissen, die bereits fast fertig waren und den Kostümproben und dabei eine wahnsinnig gute Laune verstreute. Diese war fast schon ansteckend und zwang mich einfach dazu zumindest ein Lächeln auf meinem Gesicht erstrahlen zu lassen.
„Habe ich da etwa deine schlechte Laune gerade erfolgreich verscheucht?“
Von meiner Seite erfolgte ein eindeutiges Nicken, während ich mich wieder mal fragte, wie diese Frau es anstellte alles zu merken, was mich betraf aber es nicht zu kapieren, dass ich Gefühle für sie hegte? War sie den so blind auf dieser Ebene oder wollte sie einfach nichts davon wissen, weil sie ja nach wie vor glücklich mit ihrer Macho Tusse zusammen war?
Kurz darauf befand ich mich bereits in meinem Kostüm, welches liebevoll von Naomi und Simone kreiert wurde, stand auf der Bühne und sagte meinen Text auf. Ich war vollkommen in meinem Element und spielte ihren Romäo, den Sohn des Montague so, als wäre ich nie jemand anderes gewesen. Die abgeänderten Reden hatte ich bereits vollkommen im Kopf und konnte diese Fehlerfrei wiedergeben. Irgendwie eine Erstaunliche Sache. Da traute ich mich nicht von Anfang an der Frau klarzumachen, dass ich in sie verliebt war aber auf einer Bühne vor einer gewaltigen Menschenmasse, konnte ich eine Rolle wiedergeben ohne Probleme.
Inzwischen zückte ich meine Gifttablette, die in Wirklichkeit ein Mentos war und nahm diese zu mir, trank ein Schluck von einem Energy im und sprach weiter meine Worte, die wie eingraviert waren in meinem Kopf. Im Gegensatz zum Original starb Romäo nicht sofort nach der Einnahme, sondern erst nach einigen Minuten seiner Rede. Unser Stück handelte aber ebenfalls von den zwei verfeindeten Familien nur in der modernen Zeit. Somit wurden aus Schwertern Waffen und aus Pferden Autos, welche aus Karton von dem kreativen Kulissenteam gebastelt wurden. Lediglich die Profilseite, hinter der sich ein Brett mit Rollen befand und ein kleiner Hocker oder ein Stuhl. Auch die Gruft, in der die vorübergehend tote Juley, unsere veränderte Julia, wurde mit Hilfe von einigen Leitern, Tüchern und Papier gestaltet. Alles Ding, die bereits in der Schule vorhanden waren oder nur wenig verändert werden mussten.
„Mit meinem Blick betrachte ich euer Antlitz nun zum letzten Mal ehe wir uns auf der anderen Seite wiedersehen. Die letzte Berührung eurer weichen Haut, wie kalt und fort ihr doch seid, meine Geliebte. Mit diesem Kusse werde auch ich meine Lieder für die Ewigkeit des Lebens schließen, um so euch wieder an meiner Seite wissen.“
Ich beugte mich zu ihr rüber und spürte ihren ruhigen Atem bereits auf meinen Lippen. Meine Hände glichen dem eines feuchten Tuches, während mein Herz wie eine wilde Trommel schlug. Ich wusste nicht, ob ich es überhaupt wagen sollte oder ein imaginärer Kuss bereits ausreichte, um weiter mit dem Stück vorzusetzen, doch diese Entscheidung wurde mir genommen, als unerwartet ihre Lippen meine berührten. Ich hatte schlichtweg zu lange überlegt, so dass die Initiative nun von der geglaubten Toten kam. In mir tobte ein Feuerwerk an Knicken und Explosionen des Adrenalins, Beide verbreiteten eine unmögliche Hitze im Inneren meines Körpers. Die Ameisenkolonien zogen ihre Wege durch alle möglichen Stellen meines Leibes, die jedoch im Zentrum meiner Weiblichkeit ihren Höhepunkt erreichten.
War das etwas dieses Gefühl, von dem Sophie immer sprach. Der richtige Kuss, der einem den Boden unter den Füßen raubte und einen alles andere vergessen ließ? Ja, so musste sich dieser anfühlen, denn ich war im absoluten Rausch, ohne jegliche Mittel, die diesen hervorrufen hätten können, außer Mentos reagierte nicht nur auf Cola, sondern auch auf einen Energydrink, was ich jedoch stark bezweifelte.
Diese Verschmelzung dauerte nicht mal fünf Sekunden, aber es hatte den Anschein, als wäre für mich die Welt für eine ganze Stunde stehengeblieben. Inzwischen war ich zu Boden hingefallen und war tot und in der Tat lag ich da, wie betäubt von ihren Lippen. Keine andere Person hatte mir jemals solch ein Gefühl oder ansatzweise etwas Vergleichbares beschert und nun war ich hin und weg von dieser Frau mehr den je.
Nach dem Durchlauf klatschte Fr Gruber wie eine Besessene und war sehr verblüfft von unserer Arbeit. Nur wenige Details der Kulisse waren noch nicht fertig, sowie einige Kostüme, die genäht werden mussten. Ein Generaldurchlauf sollte nach Fertigstellung dieser fehlenden Objekte stattfinden, ansonsten waren wir bereits fertig und bald wäre die erste Aufführung. Auch ein Auftritt beim Tag der Offenen Tür war geplant. Der kompletten Besprechung hörte ich nur mit einem halben Ohr zu, denn nach wie vor tobte in mir ein Orkan der Verwirrung und der Erregung, wenn ich auch nur einen kleinen Blick zu Amy warf. Diese hingegen war nach wie vor ganz fröhlich eingestimmt und es machte ihr wohl absolut nichts aus, dass unsere Lippen sich für wenige Sekunden berührt hatten.
Mit dem Gong, sprang ich als erste von meinem Tisch, auf dem ich saß und Frau Grubers Worten kaum mitfolgte, schnappte meinen Rucksack und verschwand hinaus zu den Fahrrädern.
„Wartest du noch auf mich, bitte?“
Eine weitere Ameisenherde stampfte durch meinen Körper hindurch, als ihre Stimme meine Gehörgänge erreichte.
„Ich hab es ziemlich eilig.“
Meine Worte klangen wie die Stimme eines alten Antwortbeantworters, so monoton und Gefühllos, und das, obwohl in mir gerade ein Gefühlsparadies tobte und gar nicht mehr zur Ruhe kommen wollte. Amy durchschaute mich immer schneller als es mir lieb war, obwohl ich ihr nie direkt in die Augen sah. Aufgrund dessen war ich mir sicher, dass sie auch diese Situation zumindest Teilweise deuten konnte. Womöglich komplett falsch aber mein seltsames Verhalten ihr gegenüber war nicht zu übersehen.
„Okay. Bis morgen dann.“
Wie ich bereits vermutet hatte, verstand Amely, dass hier eine andere Ursache herrschte, als die mangelnde Zeit, von der ich sprach. Ihre Antwort war dementsprechend ebenfalls dumpf und nicht mehr so fröhlich, wie einige Augenblicke zuvor. Diese Verabschiedung tat mir weh, denn eigentlich hätte ich sie am liebsten in die Armen genommen und nochmals geküsst oder sie wenigstens nur umarmt aber dazu fehlte mir die Standhaftigkeit in den Beinen zu dem Zeitpunkt.
Ich entschloss mich dazu, mein Fahrrad zu schieben, denn es war ziemlich kalt, um zu fahren und so eilig hatte ich es nicht mehr Heim zu kommen. Dies war wohl eine schlecht durchdachte Situation gewesen, denn aus welchen Gründen auch immer, musste Amely ausgerechnet an diesem Tag in meine Richtung fahren. Ansonsten lag ihr Heimweg genau in die entgegen gesetzte Richtung und nur ein kleines Stück des Weges hatten wir gemeinsam zu bewältigen.
„Wie es aussieht, kannst du es ja nicht zu sehr eilig haben.“
Ich hatte nicht einmal die Zeit, um auf diese Bemerkung, welche von einer deutlich hörbaren beleidigten und gekränkten Stimme ausging zu antworten, so schnell wie Amy an mir vorbeisauste und das Tempo sogar noch beschleunigte, um womöglich nicht meine Antwort zu hören, die jedoch so oder so mir im Mund steckengeblieben war. Nun war ich mir absolut sicher, dass mein Verhalten komplett falsch interpretiert wurde, denn Amy nahm sicherlich an, dass ich mich vor ihr drückte, wegen dem Kuss, den ich in ihrer Denkweise mehr als abscheulich fand. Ich nahm mir fest vor, diese Angelegenheit am nächsten Tag zu klären, vorerst musste jedoch eine andere Unwahrheit ans Tageslicht gelangen auch, wenn es mir sehr schwer fiel. Mein Weg führte mich demnach nicht zu mir Heim, sondern zu Klara, die endlich die Wahrheit erfahren musste. Ich konnte nach diesem Erlebnis diese wunderbaren Frau nicht mehr in die Augen blicken, ohne dabei mich schrecklich zu fühlen, denn nun war ich tatsächlich der Übeltäter, der sie streng betrachtet, hintergangen hat. Klara verdiente es meiner Meinung nach ebenfalls solch ein Erlebnis zu haben und dieses musste von beiden Seiten so erlebt werden, wie ich es vor nicht mal einer halben Stunde erfahren durfte, auch wenn es in meinem Fall nur eine einseitige Gefühlssache war. Dennoch wollte ich nicht mehr, dass Klara an mir klammerte und sich wie ein Lemming von der Klippe stürzte, wenn ich es mal verlangen sollte.
Natürlich verschwieg ich so ziemlich die meisten Details aber eins war wichtig, dass nicht genug Gefühl da war und diese Beziehung keine Zukunft hatte, weil eine andere mein Herz bereits über ein halbes Jahr zuvor stahl.
Ich werde diesen Ausdruck in ihren Augen wohl nie vergessen, denn es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich im übertragenden Sinne einer Person das Herz aus der Brust riss. Es bedurfte nicht vieler Worte, denn die wenigen, die ich geäußert hatte, sagten schon zu viel und ihre Augen, die halb zusammengekniffen mich fehlend ansahen und eine wässrige Schicht diese überzog, verriet mir, dass ich dieser tollen Frau eine gewaltige Portion Schmerz zugefügt hatte. In diesem Augenblick hielt ich es für einen großen Fehler, sie jemals angesprochen zu haben, ohne dass es mir klar war, welchen Mut und welch ungewohntes Verhalten ich mit dieser Tat vollbrachte. Ich stand zu meinen Fehlern und der Tatsache, dass hier eine Sackgasse war und dachte nicht wie üblich erst tagelang über alle möglichen und unmögliche Folgen nach, die aufkommen konnten. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich spontan handelte und nur aufgrund der Lippenberührung, welche nicht mal als ein tatsächlicher Kuss bezeichnet werden durfte, war mir das alles möglich gewesen. Erst, als ich nach langem Schweigen die Wohnung von Klara endlich verlassen hatte und sie alleine mit ihre Trauer zurückließ, wurde mir dieser Ausmaß an Fortschritt nach und nach wirklich bewusst. Ich weis nicht mehr wie lange ich umherirrte, bis ich endlich vor meiner Haustüre stand. Zu viele Gedanken kreisten in meinem Kopf herum und zu viel war an diesem Tag passiert, um es auf einmal verarbeiten zu können.
Trotz der Kälte, die ich gegenüber Klara in der letzten Zeit über gezeigt hatte, empfand ich dennoch Gefühle für sie und wurde nach der Offenbarung, wie jeder andere Mensch von Zweifel, Unsicherheit, Trauer und Sorge umhüllt und diese wollten in den darauf folgenden Tagen keinen Meter von mir weichen. Nun war mir auch klar, wie sich meine vorherige Ex-Freundin wahrscheinlich gefühlt haben musste, denn sie war damals wohl in einer ähnlichen Situation, wie ich jetzt und ich ließ nun eine weitere ‚Jill’ zurück mit ihrem Kummer, den sie wohl erst Monate später verdaut haben würde.
„Weist du den eigentlich wie spät es ist?“
Diese kreischende Begrüßung kam von meiner Mutter, die geradewegs auf mich zusteuerte und ihre Arme in die Hüften stemmte. Ich kannte diesen Blick nur zu gut und hielt mich bereit für eine übliche Belehrstunde ihrerseits, denn in unserem Haus herrschten eigentlich strenge Regeln, wie zum Beispiel die Vorschrift bei der ich mich zu melden habe, wenn ich mich verspäte und nicht zu der vereinbarten Zeit nach Hause komme. Generell musste ich unter der Woche spätestens um Mitternacht daheim sein. Ich hielt mich nur zwischendurch an diese Regeln und fand es auch eher lästig, als hilfreich. Ich war 18 Jahre alt und konnte doch selber entscheiden wann ich wo auftauche.
Meine Mutter brabbelte während meiner Gedankengänge immer noch aufgebracht vor sich hin und wollte gar nicht mehr zum Ende kommen. Da ich leider nicht die Klugheit bei solchen Angelegenheiten besaß, die mir ermöglichte unbeschadet aus den menschlichen Konflikten herauszukommen, machte ich natürlich eine gewaltige Bruchlandung in der nächsten Krise mit den folgenden Worten.
„Mama, ich bin nicht mehr ein kleines Kind. Ich will nicht jedes Mal Rechenschaft ablegen müssen, damit du dich besser fühlst.“
Meine Mutter pustete ihre Backen auf, wie ein Hamster und versuchte wohl gerade einen weiteren Anfall von Worten zurückzuhalten, ehe ihr eine passende Antwort auf meine ausgesprochenen Worte einfiel.
„Du tust unter diesem Dach das, was ich dir sage, verstanden?“
Da war es wieder. Die typische Ausrede der Eltern, wenn ihnen kein vernünftiger Grund einfiel auf das, was ihre Sprösslinge von sich gaben. Nur zu Gut, dass ich diese Reaktion bereits vermutet hatte und somit gut kontern konnte. Wahrscheinlich zu gut.
„Gut, dann wirst du auch nichts entgegenbringen, wenn ich dich hiermit informiere, dass ich ab dem kommenden Monat meinen Führerschein machen werde, denn dieser befindet sich außerhalb deines Daches und somit in einer Gefängnisfreien Zone.“
Womöglich hätte ich meine Wortwahl etwas bedachter wählen sollen aber aufgrund der Ereignisse des Tages war jegliche Feinfühligkeit in mir bereits verbraucht und somit durfte ich in das verdutzte Gesicht meiner Mutter schauen, wie ihre Augenbrauen angespannt hin und herzuckten und ihre Augen ebenfalls umherwanderten, als hätte sie einen spannenden Text auf meiner Stirn oder in meinen Augen entdeckt und würde diesen vertieft durchstöbern, womöglich nach all den Antworten, die sie von mir seit Längerem erwartete.
„Von mir bekommst du keinen Cent dafür.“
Ziemlich gelassen winkte ich sie ab und sagte ihr, dass sie sich keine Sorgen machen brauche, denn das Geld habe ich bereits seit einem Jahr mir zusammengespart. Darauf folgte ein hysterischer Anfall in dem meine Mutter mich als eine undankbare Tochter beschimpfte und schluchzend weiter ihre Predigten von sich gab und schließlich die Trumpfkarte ausspielte, indem sie mir vor Augen hielt wie gefährlich das Autofahren wäre anhand des Beispielopfers Dad.
Da hatte sie eindeutig ihre Grenzen überschritten, denn dieses Thema war tabu und das wusste sie ganz genau. Ich hatte ihr schon mehrmals gesagt, dass ich von ihr keine Belehrungen hören wollte, in welchen Vater als Beispiel genannt wurde.
„Dann hättest du ihm besser die Autoschlüssel wegnehmen sollen und ihn mit der Bahn fahren lassen oder was weis ich, dann wäre er jetzt noch hier und ich wäre glücklich mit ihm.“
Meine Finger ballten sich zu einer Faust und ich spürte wie der Zorn auf diese Frau immer größer wurde. Nur weil sie nicht mit der Situation klarkam, musste sich das doch nicht an mir auslassen. Immer war ich diejenige, die den Kürzeren zog seit er nicht mehr da war.
Aber mir war auch bewusst, dass ich ihr mit diesen Worten sehr wehtat aber der Stolz und die Sturheit waren größer als die Reue. Ich drehte mich um und schritt in mein Zimmer ohne noch ein weiteres Wort von meiner Mutter zu hören.
Vielleicht bin ich eine schlechte Tochter, die es in der Tat nicht zu schätzen weis, was man alles für sie macht und wie viel Kraft diese Taten kosten. Auf der anderen Seite bin ich ein Teenager wie jeder andere und wollte einfach diese noch zum Teil unverdorbene Zeit so erleben wie die meisten meiner Freunde und nicht in einer Plastikkugel leben, von der Außenwelt abgeschnitten, wie ein Nagetier im Käfig. Dies verstand meine Mutter anscheinend nicht, denn ihre Angst mich auch noch zu verlieren war viel größer als die Einsicht, dass sie mich nicht immer beschützen konnte und das gewiss auch nicht für den Rest ihres Lebens und ich war zu dem Zeitpunkt noch nicht in der Lage und eventuell nicht reif genug, um ihr diese Angst zu nehmen.
* * *
Die Versuche Amely auf den Kusstag anzusprechen erwiesen sich als schwieriger als gedacht, denn diese wollte mit mir nicht reden und ging mir die gesamte restliche Woche komplett aus dem Weg. Als wäre diese Strafe nicht groß genug, lies sie sich auch noch am Freitag von ihrer Freundin abholen, die mit einem Auto angerollt kam. Meine Eifersucht schein man kilometerweit zu riechen, denn Sophie stand unerwartet hinter mir und legte ihre Hand auf meine Schulte, als würde sie mir so ihre unsichtbare Leine anlegen, die mich davon abhalten sollte dieser billigen Konkurrentin an die Gurgel zu springen.
„Wir sollten heute dich etwas ablenken. Du hast es dringend nötig.“
Sophies Worte klangen weniger wie ein Vorschlag, sondern mehr dem einer Befehls, welchen ich auf keinen Fall verweigern durfte. Wollte ich aber auch nicht, denn aufgrund der Zurückweisungen in den letzten Tagen, mit welchen Amely mich scheinbar genussvoll quälte, wollte ich einen Abend lang einfach nur für mich haben. Der letzte Abend, der mir und meinen Freunden gehören sollte war der Silvester gewesen und das Ende von dem war ja ein totaler Reinfall.
Da ich endlich das Alter errichte, welches mir die meisten Türen und Tore öffnete der abendlich angehauchten Stadt, war es natürlich klar, dass wir uns erst einmal eine ordentliche Kneipentour erlaubten, ehe wir in einen Club weiterzogen. Die Aufenthalte in den Kneipen wurden mit jedem Zwischenstopp länger und der Alkohol floss in Strömen unsere Kehlen hinunter. Ich, die in schlechten Verfassungen all den Kummer versuchte zu ersaufen, sorgte auch an diesem Abend dafür, dass meine so schüchterne und feine Art sich für mehrere Stunden Urlaub gönnte und mich allein in meinem zu offenen und direkten Zustand zurück ließ. Als wir endlich die vorher bestimmte Diskothek erreichten, war bereits die Partystunde geschlagen und die Straßen waren voll von jugendlichen, die umhertrotteten und ebenfalls auf ihren Wegen in Clubs, Bars oder bereits nach Hause waren. Die Regensburger Innenstadt bot einem mehrer Möglichkeiten an zu feiern, an den unterschiedlichsten Orten und man könnte sagen, dass ein Zusammentreffen mit Personen, die man nicht mochte oder sehen wollte eigentlich ausgeschlossen war. Eigentlich.
In meinem Fall, wollten das Schicksal und der Zufall weiterhin eine hochwertige Unterhaltung geboten bekommen und so kreuzten sich mein Weg und der von Amely an diesem Abend in der Disco.
Als ich sie bemerkte, wollt eich sofort diese Lokalität verlassen, wurde jedoch von meinen angetrunkenen Begleitern daran gehindert, die ebenfalls ihre Vernunft bereits vor Stunden gegen den Alkoholgenuss getauscht hatten. Mir blieb also nichts anderes übrig, als aus der Ferne diese wunderschöne Frau zu beobachten, wie sie am andere Ende des Raumes ihre Freundin küsste und sie mit ihren Blicken verführte. Ich sah zum ersten Mal, die andere Seite dieser Frau, die mir bis dahin verborgen blieb und war dabei meinen Verstand abermals zu verlieren, der bereits so oder so einen großen Schaden ihretwegen davontrug. Sie bemerkte mich offensichtlich erst zahlreichen Minuten später und ihre Überraschung deswegen konnte man ihr deutlich im Gesicht ablesen. So als wäre keine Schweigefolter zwischen uns gewesen, kam sie zu mir rüber.
„Hey, wie lange bist du den hier schon drin?“
„Nicht sehr lange.“
Was anderes konnte ich ihr nicht entgegnen, denn ich wusste selber nicht mehr genau wann ich hereinkam und wie lange ich schon dasaß und sie beobachtete.
Irgendetwas schien Amely nicht zu passen. Womöglich meine Anwesenheit selbst oder die blöde Situation zwischen uns, die nach wie vor herrschte und eine seltsame Spannung erzeugte, die eindeutig negativ geladen war.
Wäre ich nüchtern gewesen, hätte ich mich wohl umgedreht und wäre gegangen, um diese negative Ladung weiter aufzuladen, leider war ich aber nicht mehr nüchtern genug und so folgte eine Fortsetzung des Dialoges meinerseits.
„Wieso hast du mich geküsst?“
Ihre Augen weiteten sich etwas und sie sah sich um, so als hätte sie Angst, dass uns jemand belauschen könnte, was absolut absurd war, da man bei der Lautstärke gerade mal sein Gegenüber hören konnte und auch das schon mit Mühe.
„Lass uns ein anderes Mal darüber reden, wenn du mehr bei Verstand bist.“
Sie war im Begriff zu gehen und das sicherlich für den Rest des Abends aber meine nun direkte Art forderte nach sinnlosen Klärungen, die mich noch tiefer in die Höhle des Löwen schubsten.
Ich packte sie an der Hand und zog sie wieder zurück zu mir, was noch mehr Verwunderung in Amelys Augen auslöste.
„Ich will es jetzt hören. Später wirst du eine wunderbare Ausrede parat haben, jetzt ist es noch ein spontaner Dialog.“
Dafür, dass ich bereits doch ziemlich viel getrunken hatte, glaubte ich felsenfest zu wissen was ich noch tat und hatte keine Bedenken, dass diese Worte im Schlimmen enden könnten.
„Was genau willst du den von mir hören?“
Sie machte eine kurze Pause, sprach jedoch sofort weiter.
„Es war lediglich eine Probe nichts weiter und, wenn wir vor Publikum auftreten werden, soll es echt wirken, mehr ist dahinter nicht.“
„Das glaube ich dir aber nicht.“
„Glaub was du willst. Du hast definitiv zu viel getrunken.“
Ich nippte demonstrativ an meinem Bier und ließ mit dem Rumstochern nicht locker. Das Gespräch nahm immer mehr und mehr an unterdrückter Wut und der negativen Ladung zu, von beiden Seiten, die kurz davor waren überzulaufen.
„Ich glaube, du stehst auf mich.“
Das hätte ich liebe nicht sagen sollen, denn damit trieb ich nun die Löwin zwanghaft aus ihrer sicheren Höhle heraus und diese konterte mit ihren Krallen, die ziemlich schmerzhaft waren.
„Und ich glaube du bildest dir zu viel ein. Ich bin glücklich vergeben und bevorzuge Frauen, die bereits über ihre kindische Phase hinweg sind. Du entsprichst absolut keiner Kategorie, die mir auch nur Ansatzweise gefallen würde.“
Solche Worte von einer Frau zu hören, für die mein Herz doppelt so schnell schlug, wie für den Rest der Welt war mit einem Dolchstich in dieses rasende kleine Ding zu vergleichen. Natürlich war ich schuld dran, dass es soweit kam, denn ich hätte einfach die sichtlich schlechtgelaunte Frau nicht piesacken dürfen, tat ich aber, und nun folgte der Rückschlag, der wie ein Bumerang zu seinem Besitzer zurückkehrte. In dem Fall traf dieser jedoch Amely.
„Gut, dann unterlass doch bitte in Zukunft diese Berührungen, Flirtversuche und andere Annäherungen mit denen du mich schon seit Monaten belästigst.“
Autsch. Ich sah, wie die Dame meines Herzens schweigend sich durch die party wütende Menge schlängelte zu dem Tisch an dem ihre Freundin saß, dieser einige Worte sagte und sich Richtung Ausgang begab. Es dauerte nicht einmal zwei Minuten da stand das Mannsweib vor mir und quatschte mich dumm von der Seite an. Ich hatte genug Zeit, um sie mal genauer zu betrachten und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass diese gar nicht so männlich und hässlich aussah, wie es vom Weiten wirkte beziehungsweise ich es mir eingebildet hatte. Ihre Augen waren umrandet mit Kajal. Die Gesichtshaut überzog eine dünne Schicht Make-up und ein Zungenpiercing kam ab und zu zum Vorschein, während sie ihre Drohungen mir gegenüber äußerte.
Ich wollte mir das nicht länger gefallen lassen und stand auf, was mir einen Größenvorteil von circa zehn Zentimetern verschaffte. Was anschließend passierte, kann ich nicht mehr richtig zuordnen. Vielleicht habe ich sie angefasst oder sie fühlte sich von meiner Größe bedroht, auf jeden Fall erinnere ich mich nur daran, dass Amely sie von mir wegzerren musste, was absolut nichts brachte da dieser Bullterrier sich immer wieder an mich klammerte und seine Meinung durch Zerren und Schubsen klarstellen wollte. Ende der Auseinandersetzung war ein gerissener Pulli meinerseits und der Rausschmiss von allen Beteiligten. Amely sprach kein Wort mehr zu mir, schnappte sich draußen nur ihre wilde Bestie und ging von dannen. Ich versuchte mehrmals Sophie und Michi telefonisch zu erreichen, vergeblich. Nach einer Viertelstunde des Wartens vor den mir nun doch verschlossenen Türen, gab ich auf, hinterließ Sophie eine Nachricht auf ihrem Handy und ging Heim.
Erst um die Mittagszeit entschloss ich mich endlich meine eigenen vier Wände zu verlassen. Beinahe lautlos öffnete ich meine Zimmertüre und streckte meinen Kopf heraus. Durch meine Gelenke zog sich ein seltsamer Schmerz durch, als wäre eine gesamte Rugby Mannschaft auf mich draufgesprungen und ein abartiger Geschmack überzog meine gesamte Zungenfläche. Ich konzentrierte mein Gehör auf die Geräusche des restlichen Hauses, welche vollkommen ausblieben und wunderte mich darüber, da meine Mutter üblicherweise bereits früh am Morgen schon wach war und irgendwas im Haushalt erledigte. Diese Beschäftigungen hatten meistens einen hörbaren Lärmpegel.
Vorsichtig schlich ich mich entlang des Flurs und spürte nun, wie schwer und unbeweglich sich mein gesamter Körper anfühlte. In der Küche angekommen, bemerkte ich einen Zettel auf der Herdplatte. Es handelte sich um eine Nachricht von meiner Mutter, die spontan beschloss für das restliche Wochenende zu einer guten Freundin nach Frankfurt zu fahren und würde dort bis Mitte der kommenden Woche verbleiben. Natürlich nahm sie die Bahn und nicht das Auto.
Ein stiller Freudeschrei zeigte sich in Form eines fetten Lächelns auf meinem Gesicht, denn mein Mund war viel zu trocken und ich fühlte mich zu heißer an, um tatsächlich einen Schrei von mir zu geben. Sogleich schnappte ich mir eine Flasche Wasser, die sich im Kühlschrank befand und setzte mich auf den Kühchenstuhl, um mir den letzten Abend in Erinnerung zu rufen. Mein Gedächtnis hatte offensichtlich ziemlich Verschwommene Bilder aufgezeichnet und einige Zusammenhänge waren nicht mehr vorhanden. Eigentlich nahm ich an, dass ich nicht sehr viel an alkoholischen Getränken zu mir genommen hatte, aber der Blick in meinen Geldbeuten einige Minuten später verreit mir etwas anderes. Ich schmiss mein Portmonee wieder auf den Tisch und ließ mich in mein Bett fallen. Bezüglich des Geldes machte ich mir keine Sorgen, denn durch Sabrina war es mir möglich immer mal wieder in der Firma ihres Vaters ein wenig Geld nebenbei zu verdienen. Fließbandarbeit ist zwar so ziemlich die anstrengendste Tätigkeit, die ich bis jetzt in meinem Leben durchgeführt habe aber wer spaß haben will, muss vorher sich diesen erarbeiten, das sagte immer mein Dad, wenn er irgendeine Arbeit für mich hatte und diese entsprechend belohnte.
Vielmehr machte mir das Ereignis zwischen Amely und mir Sorgen. Zu Beginn glaubte ich an einen bösen Traum, der sich mit meiner Erinnerung vermischt hatte und nun mir eine falsch erlebte Realität vorgaukelte, jedoch erzählte mein zerrissener Pulli eine andere Geschichte, die mir absolut nicht gefiel. Amely anrufen, wollte ich aber auch nicht, denn zu sehr schämte ich mich für meine Worte und für die Handgreifliche Auseinandersetzung mit ihrer Freundin, an welche ich mich jedoch kaum erinnern konnte. Ich hoffte, dass Amy sich selber vielleicht im Laufe des Tages melden würde und wir uns aussprechen konnten. Leider blieb mein Handy stumm den ganzen Tag über bis auf zwei besorgte Anrufe von Michi und Sophie, die mit dem Erwachen auch wieder ihre Schuldgefühle erlangten. Ich durfte mir eine halbe Stunde lang anhören, wie leid es Sophie tat und diese bot mir sogar an vorbeizukommen, was ich höflich ablehnte, da ich einfach nur allein sein wollte.
Nach einigen Stunden des Nichtstun und umherschlendern in der Wohnung beschloss ich mir etwas zu kochen. Meine Muter dachte zum Glück daran, mir einen halbwegs vollen Kühlschrank zu hinterlassen.
Einige Stunden später, in einer verwüsteten Küche mit einer Menge gekochtem Essen und eine besser gelaunte Jill, die durch das Haus hopste und alle ihre Lieblingstitel mitsang, die über ein Notebook mit Hilfe einer Playlist nacheinander abgespielt wurden, nahm der Tag doch noch positive Züge an. Ich sollte wohl dazu erwähnen, dass ich nicht die übelste Sängerin bin aber ich bevorzuge dennoch lieber meine E-Gitarre. Meine Ablenkung schien auf jeden Fall zu funktionieren und so dachte ich nicht weiter über den misslungenen Abend nach. Mein Plan war es Amely in der Schule abzufangen und mit ihr in Ruhe über das Geschehene zu reden und bis dahin holte ich mir zur Abwechslung mal einen musikalischen Vollrausch das restliche Wochenende hindurch.
* * *
Mein Plan ging nicht so auf, wie ich es erwartet hatte, denn Amely würdigte mich keines Blickes mehr und alle meine Versuche mit ihr ein Gespräch anzufangen endeten anfangs erst mit oberflächlichen Ausreden und später durch eiskalte Abfuhren. Die Frau wollte offensichtlich keinen Kontakt mehr zu mir, deswegen ging ich auch davon aus, dass sie am Mittwoch, der unmittelbar nach dem Wochenende folgte nicht im Theaterkurs erscheinen würde, täuschte mich jedoch bei dieser Vermutung ziemlich, als ich ihre Person dort antraf.
Sie saß auf einem Tisch und schaukelte mit den Beinen. Die so fröhliche und leichtfüßige Art, die sie sonst immer in den drei Stunden verbreitete, verwandelte sich in einen Elefanten, der in einem Porzellanladen Ballettübungen durchführte und das obwohl dieser zwei linke Füße hatte. Nichtsdestotrotz half sie dem Kulissenteam beim Basteln, sprang zwischen verschiedenen Leuten, ging mit anderen einige Textstellen durch und beteiligte sich nach wie vor mit einer Leidenschaft, die allerdings ziemlich getrübt war. Sie sprach auch mit mir aber nur in Anwesenheit von anderen oder, wenn es um das Stück ging. Dieses Verhalten konnte ich absolut nicht deuten und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte aber ich wagte den Versuch mit ihr ins Gespräch zu kommen, um so vielleicht das Gespräch später in Richtung Aussprache zu lenken. Um dies zu verwirklichen, kam ich zu ihr rüber, setzte mich neben Amely auf den daneben stehenden Tisch und fragte sie wie es ihr so geht. Mein Herz klopfte dabei wie schon die Male zuvor im Dschungeltakt und das seltsame Gefühl, welches ich seit diesem Abend hatte, verstärkte sich, je näher ich ihr kam. Womöglich waren es Schuldgefühle oder die Nüchternheit, die aus mir wieder die schüchterne, zurückhaltende Jill machte, welche nie ein böses Wort aussprach, zumindest nicht in Gegenwart solch einer hübschen Frau.
Amely schwieg und sah mich musternd an. Ihre Augen waren so ausdruckslos wie noch nie. Kein Lächeln. Kein Glitzern in den Pupillen, wie dies sonst immer der Fall war. Absolut regungslos. Ehrlich gesagt machte sie mir ziemlich angst und ich war gerade dabei mich wieder von ihr zu entfernen, bevor sie ihre Krallen ausfuhr und anschießend ihre Beute für immer in die finstere Höhle verschleppte, doch stattdessen spürte ich ein heftiges Ziehen an meinem Ärmel und merkte erst jetzt, dass Amely bereits ihre Sitzende Position aufgegeben hatte und nun neben mir stand und mich ebenfalls zum Aufstehen bewegte durch das Ziehen. Anschließend folgte ein etwas festerer Griff an meinem Unterarm und sie zog mich raus in den Flur.
„Ich wollte nicht, dass die anderen mithören was ich dir zu sagen habe.“
Ich hielt für einen kurzen Augenblick mein Atmen an, denn ich befürchtete, dass sie mir nichts Erfreuliches mitteilen wollte anhand ihres Blickes zu urteilen, der sich geradewegs durch mich durchbohrte, wie ein Spieß.
„Damit das klar ist. Ich will keinen Kontakt mehr zu dir haben.“
Diese Worte trafen mich wie ein Schuss mitten in das bereits verkümmerte kleine Herzchen, welches in den Letzten Monaten schon auf die abartigsten Arten gedanklich massakriert wurde.
„Ich will keine Erklärungen oder Diskussionen bezüglich des Warum und Weshalb. Lassen wir es einfach. Ich bin jedoch kein Arsch und lasse die anderen“
Sie deutete dabei auf den Raum hinter uns.
„nicht im Stich, da sich keine andere Juley so kurzfristig auftreiben lässt und die Aufführung dann abgesagt werden muss. Das will ich keineswegs. Aber abgesehen von diesem Theaterstück haben wir absolut nichts mehr gemeinsam. Verstanden?“
Ich nickte automatisch, wie ein hypnotisiertes Kaninchen, welches allen Anweisungen Folge leistete. Ein erneuter durchstoßender Blick haftete sich an mich, ehe sich die zornige Göttin umdrehte und wieder in den Proberaum ging. Kurz bevor sie die Tür zum Raum hinter sich zufallen ließ, drehte sie sich ein kleines Stückchen wieder in meine Richtung, lediglich mit ihrem Kopf, so dass ich sie im Profil sah von ihrer kurzgeschnittenen Haarseite.
„Ich habe mich echt gewaltig in dir getäuscht Jill.“
Das waren die letzten Worte, die sich zwischen uns im Raum ausbreiteten und ich somit genau an diesem Tag einen weiteren Verlust einstecken musste, der nicht nur schmerzlich war, sondern auch meinen Herzschlag für die darauffolgende Zeit um das doppelte verlangsamte. Zumindest fühlte es sich so an, denn das Leben zog wie eine unendliche Schleife an mir vorüber und alles wirkte auf einmal so trist und monoton.
Mir wurde bewusst, dass ich es einfach zu weit getrieben hatte und die Schuld lag ganz allein auf meiner Seite. Genauer gesagt lag diese gleich neben meiner Dummheit, die wunschlosglücklich mit der Narrenkappe auf dem Kopf durch die Gegend hüpfte.
Der einzige kleine Trost lag darin, dass die Theatergruppe fast fertig war mit den Vorbereitungen und erst, wenn die Kulissen, Kostüme und die Musik passten, stand uns eine Generalprobe bevor. Bis es aber soweit war, sollte es noch einige Wochen in Anspruch nehmen und bis dahin fand für mich keine weitere verpflichtende Stunde mehr statt, denn ansonsten wäre ich wohl in meinem Kummer jämmerlich ersoffen, wenn ich einmal die Woche diese bösen Blicke von der schönsten Frau der Welt ertragen hätte müssen. Im Schulgebäude dagegen gab es genug Ausweichmöglichkeiten, die von beiden Seiten genutzt worden. So sahen wir uns, wenn es hochkam einmal die Woche im Vorbeigehen.
Meine Vorstellung über die Entwicklung der Ereignisse zwischen Amely und mir, sah in meinem Kopf natürlich komplett anders aus und ich fragte mich deswegen mehr als zu oft welches krankhafte Spiel das Schicksal mit mir trieb. Erst gab es mir die Möglichkeit der Frau so nahe zu kommen, um dann von ihr doch letztendlich gehasst zu werden. Die Aussichten sahen düsterer aus als je zu vor und wieder mal war es Sophie, die mich aufmunterte und sich um mich kümmerte, so wie all die Jahre zuvor auch. Wahrscheinlich freute sie sich insgeheim, dass sie nun wieder meine Nummer eins war.
Ich bin jedoch kein Mensch, der gerne im Mittelpunkt steht, egal aus welchen Gründen auch immer. War ich noch nie. Ich fand es immer schrecklich, wenn unsere Schulbasketballmannschaft, inklusive mir ein Spiel gewonnen hatte und ich, dann Tagelang auf den Gängen und auf dem Schulhof angestarrt wurde und einige mir ihre Gratulationen in Form von Schulterklopfen oder Handschütteln offenbarten. Ein absolut abartiges Gefühl, denn ich mag es nicht, wenn fremde Menschen mich berühren oder mich zu lange angucken oder allgemein sich zu lange in meiner Nähe aufhalten. Wenn ich aber mitten im Spiel war, war es eine ganz andere Sache. Da kümmerte es mich absolut nicht, ob mich vier paar Augen anstarrten oder 200. Ich kümmerte mich nur um das Spiel und darum, dass meine Mädels den Ball bekamen oder rechtzeitig abgeben konnten. Ich schrieb mir meistens vorher eine Zahl auf, welche für die Punkte stand, die ich persönlich erzielen wollte. Eine wohl etwas seltsame Angewohnheit aber bei mir ist nie etwas einfach und gewöhnlich. Schon allein das Beispiel mit Amy beweist es abermals besser als tausend Anekdoten über mein verrücktes Verhalten. Spätestens jetzt wären auch die absoluten hoffnungslosen Romantiker gerade dabei sich gewaltig über mich zu ärgern und die Fingernägel wären bereits wohl auch bis zur Unkenntlichkeit nieder gekaut, weil ich mich wie ein kompletter Vollidiot benommen hatte und total versagte.
Natürlich badete ich selber in meinem eigenen Selbstmitleid und stellte mich an den Rand der Klippe mit einem Abgrund, bestehend nur aus zahnstocherspitzen Erhebungen aber ich wollte nicht, dass es die anderen mitbekamen. Die letzten sieben Monate meines Lebens zeigten mir eine komplett neue und fremde Seite an mir, nein ich muss mich korrigieren, denn eigentlich waren es viele neue Seiten, die ich bis dahin noch nicht kannte und mich teilweise darüber freute diese neuen Züge in mein Persönlichkeitssortiment aufnehmen zu können. Genau diese Neuen Bruchstücke meines Ichs sorgten auch dafür, dass keiner meiner Freunde es mitbekam, wie mies es mir in Wirklichkeit ging.
Was das Erzählen von halben Wahrheiten anging, so war ich bereits ein Profi darin und auf die Fragen wie es mir ginge und, ob alles in Ordnung wäre antwortet ich mit einem herzhaften Lächeln und der Frage, ob man es mir denn nicht anmerke, dass es mir wieder ziemlich gut ging. Darauf folgten dann Äußerungen die meine Lüge bestätigten und auf das frische Lächeln verwiesen oder es wurden mir andere Komplimente gemacht.
Amely gab es also nun nicht mehr in meinem Leben und die einzigen Nachrichten, die mich erreichten, waren ihre Facebook Updates, welche jedoch nie ein Wort von ihrer Freundin beinhalteten. Ich malte mir schon aus, dass die womöglich nicht mehr zusammen waren und das verschaffte mir eine seltsame Genugtuung. So schmerzte es umso mehr, wenn ich die beiden irgendwo in der Stadt zufällig sah und meine Gangrichtung abrupt änderte, um dieser Wildgewordenen und der, die mich verstoßen hatte nicht begegnen zu müssen und als, ob diese Lage nicht bereits genügte, um mich fertig zu machen, wendete sich ein weiteres Blatt gegen mich in meinem Leben, welches noch mehr Unterhaltung meinem Schicksal und dem Zufall gab.
Es war bereits Mitte März und mein Freundeskreis löste sich nach und nach zu kleinen Zweiergrüppchen auf. Zwar wurde dennoch weiterhin einiges gemeinsam unternommen, nur war es nicht mehr dasselbe wie früher.
Michi war der erste, der mit seiner Laura zusammenkam und sie in unseren Kreis integrierte, und für eine seltsame Stimmungsart sorgte mit diesem Sachzug. Es fühlte sich anders an, wenn seine Freundin meistens mit uns abhing. Die Nähe zwischen ihm und mir wurde aufgelöst durch das unaufhörliche Händchenhalten mit Laura und seine Präsenz in ihrer Nähe glich dem eines hochintelligenten Professors, der keinerlei Erbanlagen zum Thema Spaß übermittelt bekam. Es tauchten weitere seltsame Angewohnheiten bei Michi und Laura auf, wie zum Beispiel seinen Partner so oft es geht im Kreise der Anwesenden zu küssen und sie zu berühren. Michi war zwar keiner dieser Verrückten und hielt sich zurück, was aber durch den eifrigen Einsatz seiner Freundin ausgeglichen wurde, die ihn ständig irgendwie betatschen musste. Ich schaute mir dieses Szenario einige Male an, ehe ich mich dazu entschloss für die darauf folgenden geplanten Aktionen von meinem Freundeskreis und in Begleitung von Laura mir Ausreden einfallen zu lassen, um dieses Liebesspektakel nicht mehr ertragen zu müssen, denn jedes Mal, wenn sich ihre Lippen von seinen wie magischen angezogen fühlten, sah ich Amely vor mir und ihre wunderschönen vollen Lippen. Wie ein Kurzfilm liefen die Erinnerungen an mir vorbei und ich merkte, dass ich sie wirklich schrecklich vermisste. Mir fehlten unsere Dialoge oder die Albernen fünf Minuten, die sich dann auf eine gesamte Stunde ausdehnten. Es gab so viele Momente, die mir einen Wasserfall an Tränen in die Augen jagten und ich versuchte diese zu unterdrücken, indem ich meine Zähne so fest es ging zusammenpresste, bis ich einen leichten Schmerz im Kiefer verspürte. Nach einigen Wochen tat mir dieser ziemlich weh und ich musste mir eine andere Methode suchen, wie ich meine aufkommende Emotion unterdrücken konnte.
Dies erwies sich in Form von aufgebissenen Lippen, Abgekauten Fingernägeln und letztendlich durch eine geprellte Hand, weil die Wand doch standhafter war als meine Faust. Wie man merkt, ging es mir prächtig und das Leben hätte nicht besser sein können.
***
Um mir weitere Krankenhausaufenthalte zu ersparen besorgte ich mir kurz darauf ein Tagebuch und versuchte so meine Gedanken und Probleme loszuwerden, indem ich diese niederschrieb und, dann das Buch zumachten und hoffte, dass diese Plagegeister unter dem Gewicht des Deckels zerquetscht wurden und mich nie wieder belästigen konnten. Dies klappte teilweise, denn nach den anfänglichen Standarttexten, die mein liebes Tagebuch verkraften musste, entstanden Gedichte, Sprüche und Songtexte. Dies hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht aber es tat wirklich gut meinen Kummer in Form von reinen Reimen oder durch Sprüche für immer festzuhalten.
Der zweite Trostspender waren meine Führerscheinstunden, die ich mit absoluter Freude absolvierte und meine Mutter jedes mal in den Wahnsinn trieb, wenn ich mich nicht gleich nach dem Fahren bei ihr meldete, um zu sagen, dass ich noch lebte. In der Tat vergaß ich das oft, manchmal wollte ich aber auch einfach vergessen und dabei wusste ich nicht mal genau welcher Beweggrund es war, der mich zu so einer schlechten Tochter bildete.
Womöglich gab ich ihr nach all den Jahren doch noch eine Teilschuld, denn schließlich bestand sie darauf, dass mein Dad früher erscheinen sollte, damit er wenigstens diesen Geburtstag nicht verpasst, so wie es die Jahre davor üblich war. Ich litt jedoch nie darunter oder war traurig deswegen, denn mein Vater erklärte mir oft, wie aufwendig und wichtig seine Arbeit war und das er verantwortlich wäre für sämtliche Abläufe und sich nicht immer die Zeit nehmen konnte für mich. Hier klang sein Spruch ‚wer spaß haben will, muss vorher sich diesen erarbeiten.’ sehr absurd, denn er arbeitete mehr als andere und hatte kaum Zeit für sich. Er vernachlässigte mich zwar nie aber die Zeit, die er mit mir verbrachte, musste er dann oft noch spät in der Nacht nacharbeiten, da er seine Arbeit auch ab und an mit nach Hause nahm. Wo blieb da der Spaß von dem er sprach? Jeden Tag eine zweieinhalbstündige Fahrt auf sich nehmen, Überstunden leisten und, dann auch noch daheim Arbeiten. Ein Sklave der Moderne, nannte ich diese Gattung.
Die Zweite, welche meinen Freundeskreis erweiterte war Jenny. Sie haute uns jedoch alle um mit ihrer Offenbarung, denn sie hatte keinen neuen Freund, sondern tauchte eines Tages mit einer Frau an ihrer Seite auf. Sie sprach einige Wochen vorher schon von einer neunen Person, die in ihr Leben getreten war. Erzählte uns von einer stürmischen Nacht, die sie nicht vergessen konnte und von einigen Treffen, die ihr den Verstand geraubt hatten. Dabei stellte sich jeder natürlich einen Kerl vor, da Jenny auch immer von einem ‚ER’ sprach. Man kann sich also sicherlich vorstellen, wie erstaunt wir die Neue in unsere Runde begrüßten. Vor allem mich traf es am meisten, denn nie hätte ich geglaubt, dass in meiner Clique eine weitere Frauenliebende Frau auftauchen würde und nun waren wir bereits zu dritt, wenn man Jennys Freundin mitzählte. Dies ergab natürlich eine Menge Veränderungen, da Jenny ihre neu entdeckte Vorliebe für das weibliche Geschlecht in vollen Zügen ausleben wollte, zwar mit ihrer Freundin, jedoch auf etlichen Partys und Veranstaltungen, die im Sinne des Regenbogens stattfanden. Der Vorteil für mich lag darin, dass ich nun nicht mehr gezwungen war Sophie zu solchen Aktivitäten mitzuschleppen.
* * *
Ich habe ja schon mehrfach erwähnt, dass das Schicksal mich nicht besondern mochte oder vielleicht war es der Zufall, vielleicht aber auch beide zusammen, denn egal wie sehr es bergauf ging, musste ja wieder etwas passieren, was mich bei dieser mühsamen Klettertour aufhielt oder behinderte, wenn nicht sogar ein Stückchen herb stürzen hieß.
Jenny, Ihre Freundin Larissa und ich planten seit einiger Woche einen Ausflug in die Münchner Nachtwelt. Dort, wo sich einem eine komplett neue Atmosphäre bot mit zahlreichen unbekannten Gesichtern. Klang vielversprechend und sehr Reizvoll. Dort war ich eine unter vielen und keine Person kannte mich, denn so richtig bekannt war es noch nicht, dass ich nur Frauen mochte und durch die Unehrlichkeit gegenüber Amely, die sich auch an weitere Tratschmäuler verbreitete, war ich nun das absolute Heteromädchen. Der größte Grund war natürlich nach wie vor Amely selbst. Auch, wenn ich es komplett vermasselt hatte und dieser Frau sicherlich egal war, ob ich nun auf einer ehrlichen Basis mit ihr umgegangen bin oder nicht, dennoch wollte ich das grässliche Bild meiner Persönlichkeit nicht noch mehr in den Dreck ziehen, falls das überhaupt noch möglich war.
Keinem, auch nicht mir wäre es irgendwie in den Sinn gekommen, dass ausgerechnet diese einzige Person, von der ich auf der Flucht war ebenfalls denselben Gedanken bezüglich der Partywelt in München hatte.
Der Abend, auf den ich mich so sehr freute, war also ruiniert, denn kurz nach unserem Ankommen, sichtete ich sie bereits und verfluchte sämtliche Gottheiten auf der Welt und letztendlich verfluchte ich auch sie selbst, nahm diese Worte jedoch einigen Minuten später wieder zurück, da mir etwas mulmig wurde bei dem Gedanken meine Flüche könnten doch zur Abwechslung mal wirken. Ich versuchte nicht besonders aufzufallen und hielt mich immer in einer eher dunkleren Ecke auf. Die Tanzfläche, die mich magisch anzog und immer wieder lockte musste leider ohne mich auskommen, doch auch das half nichts, denn irgendwann im Laufe des Abends trafen sich unsere Blicke, als ich gerade dabei war die Toilette zu verlassen. An dieser Stelle schickte ich in Gedanken unzählige Beschimpfungen an das Bier, welches zu schnell meinen Körper verlassen musste, sowie auch an meinen Körper, der keinerlei Ausdauer besaß.
Es war das erste Mal seit einem Monat, dass wir uns direkt anblickten und es reichten nur diese wenigen Sekunden aus, um mein Herz wieder zu einem wilden Beat schlagen zu lassen. Mein Mund blieb jedoch verschlossen und schweigend zog ich von dannen zu meiner finsteren Gruft, in der Hoffnung sie würde mich nicht finden und somit keine möglichen Blicke zu mir werfen. Damit hatte ich aber wie immer unrecht. Statt ihrer Blicke verfolgten mich den restlichen Abend zwei Paar Augen, die ihrer Begleiterinnen. Ich konnte nicht einordnen, ob sie mir auf diese Weise ihre Verachtungen und Drohungen entgegenbringen wollten oder sich lediglich fragten, was die angebliche Hetero Tusse in so einem Laden suchte. Erst bei dem Vorletzten Song, kam eine der beiden zu mir angedackelt und versuchte es zuerst mit einem schwachen Smalltalk, den ich jedoch sofort zunichte machte.
„Was genau willst du von mir? Weist du ich habe Augen im Kopf, aufgrund dieser weis ich, dass du zu Amely dazugehörst.“
Die Spionin war sichtlich überrascht von so viel Direktheit, ebenso wie meine eigene Wenigkeit, die sich aber nichts anmerken lies diesbezüglich.
Nach einem zögernden Moment, der voller Stille zwischen der Fremden und mir lag, kam sie etwas näher.
„Ja aber das sollst du gar nicht wissen.“
Ich zog eine Augenbraue hoch, denn mich wunderte es, dass die zornige Göttin sich doch noch für mich zu interessieren schien.
„Wieso schickt sie dich zu mir?“
„Ich soll in Erfahrung bringen was du hier machst.“
„Ach daher weht der Wind.“
Ich erhob mich aus meiner Ecke.
„Richte deiner Herrin aus, dass ihre Neugier nur dann gestillt wird, wenn sie mich das persönlich fragt.“
Ohne weiter der Geschickten Beachtung zu schenken ging ich an ihr vorbei, mein Blick immer auf Amely gerichtet. Ich hoffte darauf, dass sie wenigstens kurz zu mir hersehen würde, damit sie meinen Blick in vollen Zügen deuten konnte, denn das war schließlich ihr Spezialgebiet.
Diese Bitte lies nicht sehr lange auf sich warten und schon sah ich ihr Antlitz kurz zu mir rüber schwenken, ehe es wieder in der Massenmenge untertauchte meine Botschaft war aber übermittelt, darin bestand kein Zweifel.
Den ganzen Heimweg über fragte ich mich, wieso sich eine Person so sehr für die Aktionen einer anderen interessierte, welche ihr doch vollkommen gleichgültig war. Dies ergab keinen logischen Sinn, außer Amely lag noch etwas an mir und sie sich inzwischen gar nicht mehr darüber aufregte, was ihr mein besoffenes Ich damals entgegenbrachte. Dieser Entschluss brachte einen kleinen Hoffnungsschimmer in meine bis dahin so schwarzweiße Welt.
* * *
Es stand ein großer Tag bevor. Dieser trug den großen Titel ‚Generalprobe’ und ließ mich immer wieder erschaudern, wenn jemand in meiner Nähe es aussprach. Nach dem zwar nicht besonders positiv aufgefallenen Discobesuch in München brannte ich darauf mit ihr irgendwie in Kontakt zu treten in der Hoffnung Amely würde mich darauf ansprechen und somit den Grundstein für eine Unterhaltung legen. Meine Fantasie blühte noch viel weiter und höher und ich sah uns schon wieder Arm in Arm umherspazieren, so als wäre nie etwas gewesen. Gut zugegeben eine etwas überstürzte Reaktion meinerseits aber diese kleine Portion Hoffnung in mir beflügelte mich und ich hob ab in die Höhen der Illusion. Den Genuss dieser durfte ich aber leider nicht all zu lange kosten, weil bereits der erste Ausdruck, den ich von Amely zu sehen bekam, als ich in den Aufführungssaal kam, gab keine Aussicht auf eine nette Plauderei.
Sie sagte kein Wort zu mir und sprach auch nicht über den vergangenen Samstag. Lediglich ihre Textstellen sagte sie fehlerfrei und voller Emotion auf und sah mir dabei in die Augen. Das verblüffte mich an dieser Frau mehr als alles Andere. Wie schaffte sie es ihren Hass mir gegenüber so gut zu verbergen und diesen komplett für die Dauer des Stückes verschwinden zu lassen. Natürlich spürte ich, dass ihre Berührungen und ihre Nähe anders waren, als vor der Auseinandersetzung aber ich bezweifelte sehr, dass jemand anderes auf der Bühne das Selbe fühlte wie ich. Die Aufführung näherte sich ihrem Höhepunkt und bis zu diesem Augenblick gab es lediglich einige kleine Textfehler von diversen Leuten, auch von mir und die Kulissen waren nicht so standhaft, wie erwartet, dies ließ sich sicherlich noch korrigieren.
Ich stand vor ihr und hielt erneut in den Händen meine Todestablette und den Trank, der mit dem kleinen weißen runden Teil eine tödliche Mischung ergeben sollte und sagte die Zeilen auf, die mir zugewiesen waren. Dafür musste ich mich vor ihrem Sarg, in dem sie lag niederknien und die letzten Sätze von mir geben, ehe der Kuss folgte und anschließend der Tod. Sie lag da mit verschlossenen Augen und atmete ganz ruhig, so dass es in der Tat den Anschein hatte, sie wäre fort. Ich beugte mich über sie und wusste nicht genau was ich tun sollte, denn meine schlummernde Prinzessin so küssen, wie diese es das letzte Mal tat, war hier offensichtlich fehl am Platz. Auf der Anderen Seite hieß es doch immer „Wer es nicht wagt, der nicht gewinnt.“
Während ich mich noch mit der Entscheidung plagte, machte Amely Köpfe mit Nägel und drehte ihr Gesicht von mir um, so dass mir nichts anderes Übrig blieb, als ihr eine Lippenberührung auf ihre Wange zu geben, mehr auch nicht.
Es war enttäuschend und traurig zugleich, denn tief in meiner Vorstellung hoffte ich sehnsüchtig darauf, dass sie mich erneut küssen würde. Es war mir aber auch klar, dass dies eigentlich ein total absurder Gedanke war, denn nach der blöden Anmache im Club würde keine halbwegs vernünftige Frau sich der Person nähern, welche ausdrücklich nach Distanz verlangte. Ich sah, wie schon oft genug in den letzten Wochen die Narrenkappe wieder vor mir, die mit all den vielen Glöckchen rumbimmelte und sich förmlich über mich lustig machte. Die Narrenkappe!
So tief war ich also inzwischen gesunken.
Diese Traurige Bilanz des Tages fand wieder Platz auf einer Doppelseite in meinem Tagebuch in Form eines Gedichtes, welches am Rand von unzähligen Narrenkappen umrandet war. Ich bin keine Künstlerin und sogar ein Strichmännchen sieht bei mir total krumm und schief aus, dementsprechend waren auch die Verzierungen, welche aber hier doch eine passenden Dekoration darstellten, denn genauso krumm und schief war in mir drin alles und das nur weil eine Frau mich nicht mehr des Blickes würdigte.
Obwohl ich mein Tagebuch brav weiterführte, auch wenn dieses nur zu unregelmäßig mit meinem Kummer gefüttert wurde und meine Freunde mir eine kräftige Ablenkung beisteuerten, ging es mir kein Stückchen besser. Eigentlich wurde alles viel schwerer und dunkler, weil die vorgespielte Freude nicht lange hielt und ich abends immer in tiefe Trauer verfiel. Ich gebe es ganz offen und ehrlich zu, dass ich des Öfteren weinte aber nicht wegen Amely, auch wenn es mich auch sehr traf, dass es mit ihr kein Vorwärts mehr gab. Der Grund für meine Tränen war mein Vater, den ich schrecklich vermisste und mich so einsam und verloren fühlte seit er nicht mehr da war. Die einzige, die mir den Kummer wegnehmen konnte war Amely gewesen aber auch diese war nun nicht mehr da, um mir einige fröhliche Stunden am Tag zu geben. So ergab der eine Gedanke an Amy den anderen und ich landete am Ende immer bei meinem Vater. Ich ging viel öfter als ich eigentlich wollte zu seinem Grab und quatschte sogar mit dem Marmorblock wie meine Mutter, was mit einem Heulanfall endete, da all die Beschissenen Dinge in meinem Leben aus mir herausströmten und ich es nicht schaffte ihnen standhaft zu bleiben.
Egal wie sehr ich es versuchte alle davon zu überzeugen, dass ich inzwischen damit klarkam, war es nicht die Wahrheit und die Jahre ohne meinen Vater hielten mich mit einem maroden Seil irgendwie am Leben. Irgendwann würde dieses bestimmt reißen, davon ging ich stark aus, denn ab und an schlich sich in mein Unterbewusstsein die Frage, wieso ich nicht mit ihm im Auto saß, denn so wäre mir diese grässliche Sicht der Dinge erspart geblieben und ich wäre jetzt womöglich an einem besseren Ort.
Dieser Zustand der Alarmstufe Rot löste auch bei meiner Mutter alle Glocken aus, die bei Gefahr in ihrer kleinen dunklen Kammer mit den Monitoren Signal gaben.
Ich hätte es nicht gedacht, dass sie mich so arg in ihrem Blickfeld hatte und irgendwie alles mitbekam auch, wenn wir nie miteinander redeten über die ernsten Themen des Lebens.
* * *
Es war eigentlich ein Tag wie jeder und ich unternahm nach der Schule noch etwas mit Lukas, weil ich absolut keine Lust hatte meine Wände im Zimmer anzustarren bis es endlich Zeit war, um einzuschlafen. Genau das tat ich nämlich seit der Generalprobe des Theaterstückes mindestens zwei Mal die Woche.
Nach dem Besuch bei Lukas schlenderte ich ziemlich gelassen nach Hause und fand meine Mutter am Küchentisch sitzend vor mir. Ich wollte mir gar nicht vorstellen wie lange sie da schon saß und wartete. Ihre Arme waren auf der Tischfläche ausgebreitet und neben ihr stand ein Glas Wasser. Diese Haltung kam mir verdammt bekannt vor und ich ergriff systematisch die Flucht in mein Zimmer.
„Nicht so eilig. Komm wieder her und setz dich.“
Sie sprach in einer verdammt ruhigen und leisen Tonart und fixierte mich genau mit ihren Augen, um so mir immer einen Schritt voraus zu sein. Mir blieb keine andere Wahl, denn wäre ich nicht ihrer Aufforderung nachgegangen, gäbe es einen fetzen Streit und das wollte ich nun absolut nicht nach dem halbwegs schönen Nachmittag.
Ich nahm Platz und lehnte mich gelassen zurück in der Erwartung von einer ihrer wichtigen Reden.
„Jill ich habe mir das nun sehr lange und gründlich überlegt und glaube, dass es vielleicht das Beste wäre, wenn du für einige Woche in ein Sanatorium gehst.“
Meine Handflächen landeten lautstark auf dem hölzernen Tisch und ein Schrei schmückte diesen Ausbruch an Gefühl. Meine Mutter zuckte leicht zusammen, blieb jedoch weiterhin wie ein Stein vor mir sitzen und sah mich mit einem Blick an, der voller Bedauern war. Sie bedauert ganz offensichtlich mich, denn sonst war keiner da, dem dieser gelten konnte.
„Liebling. Es ist wirklich nur das Beste für dich.“
„Woher nimmst du dir diese Behauptung und wirfst sie mir hier grundlos vor die Füße?“
Ich war immer noch aufgebracht und konnte mich kaum auf meinem Stuhl halten. Die Worte flogen aus mir heraus mit einer Lichtgeschwindigkeit.
„Schätzchen. Ich sehe doch, dass es dir gar nicht besser geht und du mir komplett abrutscht.“
Mein Kopf senkte sich während meine Zähne sich mit voller Kraft aufeinanderpressten. Vor meinen Augen sah ich nur das Bild, welches sich vor nun über drei Jahren in mein Gedächtnis gebrannt hatte. Sie saß damals ebenso an diesem Tisch und hielt ihre Rede, die der jetzigen so ähnlich klang, so als hätte man mich erneut in die Vergangenheit geworfen. Ich glaube sie trug sogar etwas Ähnliches. Durch meinen Kopf flossen die Erinnerungen an das damalige Gespräch. Sie sagte es würde mir gut tun, wenn ich einige Wochen abschalten könnte. Auf diese Weise es besser verarbeiten und mit Leuten reden, die extra dafür geschult wurden. Damals ließ ich mich in der Tat drauf ein und hoffte, so würden die schrecklichen Bilder und Vorstellungen verschwinden, sowie der Schmerz, welcher in mir drin steckte und mich von Innen auseinanderriss. Sie gab mir Hoffnung und ich vertraute ihr wie ein blindes Huhn und letztendlich brachte es gar nichts. Ich habe geredet. Ich habe mich geöffnet und geweint. Ich habe auf alle möglichen Arten versucht ihn gehen zu lassen und dennoch war der Schmerz nach wie vor da und zerrte an mir noch fester als am Anfang. Inzwischen hatte ich mich fünf fremden Personen geöffnet, die meinten zu wissen, wie mir geholfen werden konnte. Der Haufen von Tabletten, die mir verschrieben wurden gegen alles Mögliche linderte den Verlust kein bisschen und die Lösungsvorschläge waren nichts als Wege in den Abgrund. Sie irrten sich alle, denn es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder jemand würde in meinem Leben eine größere Rolle spielen als meine Vater und somit den Kummer überdecken, so dass ich eine Ebene hatte, die nicht so stark von dem Leid geprägt war und ich endlich lernen konnte damit zurecht zu kommen oder mein Leben hörte auf zu existieren und somit auch der Schmerz.
„Jill, verstehst du was ich damit sagen will?“
„Ich bin nicht taub. Deine Hilfe kannst du von mir aus an dir selbst anwenden, ich habe keinen Bedarf.“
Ohne meine Kopf wieder zu erheben, stand ich auf und wollte nur noch weg.
„Setz dich wieder hin, sofort.“
Ihr Schrei ertönte so laut, dass ich mich für einen kurzen Moment erschrak. So wie es aussah sie sich auch, denn meine Mutter schluckte einige Male, obwohl sie weder etwas gegessen noch ihr Wasser angefasst hatte. Eigentlich wollte ich weg aber die Neugier darauf was noch kommen würde, war doch stärker und so nahm ich wieder platz und versteckte meine Hände in der Pullitasche, den Kopf nach wie vor gesenkt.
„Wenn du nicht anfängst mit mir zu reden, bin ich gezwungen Entscheidungen in diesem Haus zu treffen, auch wenn diese mir einen großen Schmerz zufügen. Ich habe mit Birgit lange geredet und sie war derselben Meinung wie ich.“
Birgit, war natürlich klar. Die Freundin aus Frankfurt, zu der meine Mutter geflohen war, um über ihre schlimme Tochter zu sprechen.
„Und du denkst mich in die Klapse zu stecken ist die beste Lösung? Danke für diese Samariter Tat.“
„Sprich nicht so mit mir, hörst du? Ich will nichts Schlechtes für dich. Außerdem dreh die Wörter hier nicht um. Es ist keine Irrenanstalt, sondern ein Ort, wo du dich entspannen kannst und wieder Kräfte sammeln.“
Ich lehnte mich schlagartig so weit es ging vor und stützte mich mit meinem Händen auf der Tischfläche ab. Es war nicht einfach ihr in die Augen zu blicken und sie sehen zu lassen, dass mir die Tränen in Strömen liefen. Wie ich erwartet hatte, wendete sich ihr Gesicht leicht weg von mir. Ich wusste nicht, ob sie selber kurz vor einem Tränenausbruch stand oder dieses kaputte Geschöpf vor ihr einfach nicht ansehen wollte.
„Sieh mich an!“
Ich hatte sie noch nie so angeschrienen wie an dem Abend aber da war einfach so viel Wut in mir drin, die nicht weg konnte, denn seit dem mein Vater und ihr Ehemann weg war, hatten wir uns Gegenseiten so gut wie gar nichts mehr zu Sagen, denn die Brücke, die uns miteinander verband war für immer eingestürzt. Sie schwieg die meiste Zeit und erst auf den letzten Drücker kam so was hervor, wie dieses Gespräch, was einem bereits entschlossenen Urteil glich. Auf der anderen Seite spielte sie jedoch die total Besorgte, rief mich viel zu oft an um zu wissen wo ich steckte und machte sich um die aller unwichtigsten Dinge die meisten Sorgen.
Ihre Augen wanderten zu mir und seit wahrscheinlich einer Ewigkeit guckten wir uns gegenseitig an. Es war wie bei einem Verhör. Zwei Menschen, die sich an einem Tisch gegenübersaßen und einer den anderen durchstoßend betrachtet und alle seine Mimik Veränderungen registrierte. Bei dieser Befragung, war jedoch meine Mutter diejenige, die nun durchlöchert wurde.
„Du empfindest es nie für nötig erst mit mir über Dinge zu reden, die dich beschäftigen. Stattdessen rennst du mehrmals die Woche zum Grab und jammerst diese kleine Fläche Erde voll mit deinen Sorgen und Problemen. Du erzählst diesem Leblosen Stück Nichts alles aber mit mir wechselst du nie ein Wort. Und dann setzt du dich hier her, wartest darauf bis ich heim komme, um mir mitzuteilen, dass du es für angemessen hältst mich in eine Genesungsanstalt zu schicken?“
Ich schnappte schnell nach Luft und setzte meine Wortkotzerei fort, da ich nun nicht mehr zu bremsen war. Alles, was schon so oft in meinem Kopf hin und her wanderte aber nie ihr gegenüber ausgesprochen wurde, wollte nun endlich ans Tageslicht.
„Außerdem behandelst du mich wie ein Objekt. Eine Vase, die nicht zu Bruch gehen darf. Kontrollierst meinen Alltag, rufst mich ständig an und übertreibst mit deinen Wahnvorstellungen bei den simpelsten Dingen.“
Ich stand auf, denn nun war mein Wutpegel soweit gestiegen, dass all die Zurückhaltung in meinem Körper von dieser regelrecht zerquetscht wurde. Mit wenigen Schritten war ich bei der Kommode und griff nach der Vase, die ich bereits einige Sätze zuvor in mein Visier nahm. Mit voller Kraft schmetterte ich dieses unschuldige Objekt zu Boden und sah, wie es in unzählige Scherben vor meinen Füßen zerbrach. Wie in Zeitlupe sprangen die einzelnen Glassplitter in alle Richtungen und verstreuten sich auf dem Boden in einem unregelmäßigen Muster. Das Geräusch des Glases, welches zu Bruch ging war wie eine eigenartige Melodie, welche mich seltsamerweise beruhigte und mir ein gutes Gefühl gab. Meine Mutter sprang in dieser Zeit entsetzt auf und ging einige Schritte zurück, um nicht von den Splittern getroffen zu werden. Sie hielt sich die Hände vor ihr Gesicht und schüttelte mit dem Kopf.
„Sieh her!“
Ich war immer noch genauso laut wie zuvor und meine Mutter gehorchte sofort, wahrscheinlich weil sie nach wie vor in einem Schockmoment war oder einfach angst vor mir hatte.
„Das ist etwas was zerbrechlich und kaputt ist. Es ist weg. Für immer. Ich bin aber keine beschissene Vase. Ich will leben Mama ohne, dass ich mich eingeengt fühle oder komplett allein, denn das bin ich weil du nie auf mich hörst sondern darauf was andere sagen oder auf deine unzähligen Zeitschriften, Bücher oder Internetseiten. So funktioniert das Leben jedoch nicht. Dad ist zwar tot und kommt nie wieder, so wie diese Vase aber ihn hast du nie wie eine Verrückte verfolgt und beschützt. Es ist nun mal passiert und keiner wird ihn uns wieder zurückbringen können.“
Ich setzte kurz aus, denn mir kamen dien Tränen hoch, weil ich in meinen Gedanken das Bild von den Modelautos hatte und den Unfall, so betrachtet live immer und immer wieder abspielte.
„Du sprichst es zwar nie aus und gehst was dieses Thema angeht immer aus dem Weg aber die Wahrheit ist, dass er von diesem Lastwagen wahrscheinlich bis auf den letzten Knochen zerquetscht wurde und die Rettungsleute das, was von ihm noch übrig war von den Karosserieteilen runterkratzen mussten.“
Ich sah wie sie sich dich Ohren zuhielt und die Augen zusammenpresste, so als würde das ebenfalls ihr Gehör dämpfen.
„Du bist von uns diejenige, die es immer noch nicht verarbeitet hat und das sogar in einem schlimmeren Ausmaß als ich.“
Eine schweigende Stille brachte ein und ihre Hände lösten sich nach einigen Minuten von ihrem Körper. Sie stand immer noch wie erstart da und gab keinen Ton von sich. Lediglich ihre Augen betrachteten die einzelnen Splitter unter ihren Füßen, die im künstlichen Licht einen dumpfen Glanz abgaben.
„Ich wollte doch nur immer das Beste für dich. Dich schützen.“
Das sagte sie nicht zu mir. Es war eher ein Monolog, denn ihre Augen waren glasig und voller Tränen, die noch nicht über den Rand der Lieder gerollt waren. Sie guckte auch nicht mich an, sondern irgendetwas im Raum oder die Leere selbst.
Meine Mutter setzte sich langsam wieder auf ihren Stuhl und nahm das Glas Wasser in die zittrige Hand.
„Jill, du bist das einzige was mir von ihm geblieben ist und ich wollte nicht, dass du durch eine leichtsinnige Tat von mir gehst. Du warst so zerbrechlich aber wahrscheinlich erinnerst du dich gar nicht mehr an diese Zeit.“
Langsam führte sie das Glas zu ihren Lippen und nahm einen großen Schluck ehe es wieder auf demselben Platz abgestellt wurde.
„Du kannst mich aber nicht immer auf Schritt und Tritt verfolgen und hoffen, dass ich nicht sterbe, so wie er.“
Unzählige Fältchen zierten das Gesicht meiner Mutter. Immer mehr und mehr wurde das glatte Gesicht zu einer Hügellandschaft, welches die tropfenden Tränen überschwemmten.
„Was soll ich nur tun Jill. Was?“
Ich konnte ihre Worte kaum verstehen, denn die Luft reichte ihr nicht einmal für ein Wort aus eher sie wieder nach Luft schnappen musste und zwischendurch jaulende Töne von sich gab.
„Hör auf, mich festzuhalten.“
Ihre Arme glitten auf den Tisch und der Kopf folgte zugleich. Die Schultern erhoben und senkten sich in einem wiederholenden Muster und das Schluchzen nahm immer mehr zu und ich stand nur da und rührte mich nicht vom Fleck, denn ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie umarmen wollte ich nicht, denn zu groß waren inzwischen die Schuldgefühle, bezüglich der harten Worte, die ich ihr entgegen warf. Auch um die Vase tat se mir nun irgendwie leid, denn diese konnte doch gar nichts dafür.
Ich weis nicht wie lange ich da stand und wartete aber irgendwann verstummten die Geräusche und sie erhob leicht den Kopf.
„Du bist noch da?“
Ich sagte keinen Ton, nickte jedoch ganz leicht. Nun wusste ich, dass es ihr wieder etwas besser ging und womöglich war es gar nicht so schlecht, dass sie einfach mal weinte. Ich tat es auch oft und es ging mir danach besser, zumindest für eine kurze Zeit.
Für diesen Abend war das Gespräch vorbei, denn ich wollt kein weiteres beleidigendes Wort mehr von mir geben und von solchen gab es noch eine ganze Menge. Die erste Hürde war überwunden und ich hoffte, dass sie sich mir gegenüber in Zukunft mehr öffnen würde und auch öfters mit mir sprechen, anstatt erst alle anderen mir vorzuziehen.
Schweigend holte ich eine Schaufel und Besen und kehrte meinen Wutausbruch zusammen.
Sie wünscht mir kurz bevor ich fertig war eine Gute Nacht und verschwand in ihrem Schlafzimmer.
Mehrmals dachte ich daran zu ihr reinzugehen und ihr irgendwas zu sagen. Etwas, was nett klang oder aufbauend aber ich wusste nicht genau was. Mir hatte auch niemand etwas gesagt, als es mir miserabel ging. Ich musste allein da durch und die einzige Aussprache, die meine Mutter mit mir hatte, war die Erklärung, dass wir beide Stark sein mussten, weil wir nun die einzigen im Haus waren und uns um alles kümmern mussten. Sie teilte mir auch mit, dass sie die Sachen von meinem Vater gerne spenden würde. Die meisten.
Dieser Dialog fand ungefähr neun Monate nach der Beerdigung statt. Mehr hatten wir uns aber nicht zu sagen. Womöglich war ich damals zu jung oder noch zu sehr getroffen von diesem Schicksalsschlag aber heute, drei Jahre nach seinem Tod sah es ganz anders aus und all die Wörter drängten sich um die Wette hinaus aus meinem Mund aber noch blieb dieser verschlossen. Der Ausgesprochene Teil war lediglich ein Krümel von der Torte, jedoch musste erstmal der richtige Zeitpunkt kommen, damit ich ihr alles sagen konnte und diese Zeit wollte ich mir unbedingt nehmen.
* * *
Bereits am nächsten Tag begrüßte ich den Sonnenaufgang auf meinem Fahrrad und kurvte entspannt durch die noch leicht dämmrigen Straßen. Der Winter war endlich passè und die ersten warmen Tage kündigten sich an, begleitet von dem Ohren betörenden Gesängen der kleinen und größeren Vögel. Ich genoss es richtig durch die noch menschenleeren Wege durchzusausen und meinen Kopf komplett abzuschalten. Der Grund meiner so frühen Flucht aus dem trauten Heim war die Auseinandersetzung mit meiner Mutter in der vergangenen Nacht. Eigentlich war es mein Wunsch, dass wir endlich eine Verbindung zueinander aufbauten und uns mit Worten unterhielten, anstatt mit vorurteilen und Vermutungen, die unsere wildesten Fantasien erschufen. Als ich an dem Morgen meine Augen öffnete war mir absolut nicht nach Reden zumute. Ich befürchtete um den Tod einer zweiten Vase und ein weiterer Mord sollte nicht an meinen Händen haften. Deswegen entschloss ich mich Sophies Wochenendschalf um einige Stunden zu verkürzen, so wie dies bereits viele Male davor war und mich bei meiner besten Freundin etwas auszujammern und anschließend darauf vertrauen, dass Sophie eine geniale Ablenkungstaktik parat hätte.
Es erwies sich schwerer als gedacht, denn Sophies Schlafmangel war enorm und somit glich sie in den ersten Stunden eher einer Leblosen Puppe, die auf ihrem Bett lag und immer wieder für kurze Zeit wegpennte. Dies wunderte mich nicht besonders, denn mein Besuch hatte ich erst spät in der Nacht durch eine Sms angekündigt und bekam, wahrscheinlich von der bereits halb im Schlaf schlummernden Sophie eine Antwort, die ihre Hand beinahe automatisch tippte, ohne dabei das Gehirn wirklich anzustrengen.
Während der Abwesenheit von Sophie wurde mein Kopf doch wieder mit den Ausschnitten der vergangenen Nacht gefüllt und mein Verstand versuchte diese irgendwie zu verarbeiten aber solch ein Ausbruch war einfach zu viel für mich gewesen. Ich war mir sicher, dass es auch viel zu viel für meine Mutter war, denn bis zu dem Zeitpunkt gab es zwischen uns nicht wirklich viele Auseinandersetzungen und seit Dads Abgang herrschte vollkommene Funkstille. Nur die Oberflächlichen ‚Hi, wie geht’s dir’ oder ‚Ich fahr einkaufen, brauchst du etwas?’ blieben uns als Diskussionsthemen über.
Davor war es mir nie so richtig aufgefallen, wie fremd mir meine eigene Mutter doch war. Ich dachte eigentlich, dass wir ein normales Verhältnis hatten und ich eben mehr zu meinem Vater tendierte, was die Unternehmungen betraf. Während ich so da saß auf dem Laminatboden und Sophie ruhig vor sich hin atmete und gelegentlich einen leisen Schnarcher von sich gab, versuchte ich mir vorzustellen, wie es für meine Muter wohl all die Jahren so war, wenn ich an erster Stelle immer zu Dad rannte, egal ob mir etwa wehtat oder ich ein Bild für ihn malte. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass ich jemals meiner Mutter Bilder zeigte oder für sie kritzelte.
Dies konnte aber natürlich auch nur daran liegen, dass die Erinnerung an meine Kindheit bereits fast erloschen war und lediglich die allerbesten Episoden von meinem Gehirn in das Erinnerungsarchiv übertragen wurden.
Es ist wirklich wissenschaftlich bewiesen, dass man im Laufe seines Lebens, vor allem während der Schulzeit vieles aus seinem Kopf ausmistet, damit dort viel Platz für Mathe und Englisch und Deutsch bleibt. Wenn es nach mir ginge, so wäre mein Kopf voll von allen Erinnerungen an meinen Vater. Es ist irgendwie wirklich erschreckend, denn immer, wenn ich mich an irgendeine Situation aus meiner Kindheit erinnere und er mit im Bild ist, so sehe ich nie sein Gesicht. Ich weis nicht, ob er lächelt oder traurig ist in dem Moment. Wären da nicht die vielen Fotos, so würde ich sicherlich heute nicht mal wissen wie er aussieht. Irgendwie eine traurige Tatsache.
Nach drei Stunden regte sich Sophie endlich wieder und erwachte aus ihrem Winterschlaf. Wie von einem Blitz getroffen, sprang sie auf, begleitet mit den Worten
‚Ich bin wach, ich bin wach!’ und musste sich erstmal einige Minuten orientieren, ehe sie wieder richtig ansprechbar war.
„Schön, dass du wach bist. Fühlst du dich nun ausgeschlafener?“
Sie rieb sich mehrmals die Augen und schien angestrengt zu überlegen.
„Haben wir uns heute schon mal gesehen oder habe ich das nur geträumt?“
Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen, denn exakt so eine Situation gab es bereits einige Male, wenn ich mich zu einer sehr frühen Tageszeit ankündigte. Ich ließ Sophie aber immer ausschlafen und nickte manchmal selber auf ihrem Sofa wieder ein. Wenn es mir jedoch nicht zum Schlafen zu mute war, ratterten die Zahnräder in meinem Kopf solange, bis das Dornröschen neben mir auch mal soweit war.
„Brauchst du einen Kaffee oder wie wäre es allgemein mit einem Frühstück?“
„Gern aber meine Eltern sind weg und haben nichts eingekauft. Weist du, da hätte ich gern mal deine Mutter für solche Angelegenheiten. Deine weiß immer was du magst und was du brauchst und wenn sie für einige Tage wegfährt, so ist bei dir die Küche voll mit Essbarem. In meiner wüten höchstens nur Mäuse und die sind nicht so besonders meine Lieblingsspeise.“
Sophie streckte ihre Armen weit in die Luft und verbog ihren ganzen Oberkörper in einer sitzenden Haltung leicht auf die rechte Seite und anschließend auf die linke. Ich hörte einige Male die Knochen knacksen und schüttelte leicht mit dem Kopf, weil ich dieses Geräusch absolut nicht ausstehen kann. Es klingt zu sehr nach Knochenbruch, zumindest stell ich mir das so vor, wenn das menschliche Gerüst bricht, wahrscheinlich ist es aber dann um einiges lauter und natürlich schmerzhafter.
„Das habe ich mir schon gedacht. Deswegen der Vorschlag, dass wir in der Stadt frühstücken. Ich lade dich auch ein.“
Sofort strahlte Sophie mit ihrem Lächeln, so als wäre sie nicht erst vor wenigen Minuten aufgewacht, sondern hätte nichts anderes seit Stunden getan als zu Lächeln. Das konnte Sophie ziemlich gut. Ihre schlechte oder müde Laune in eine frische, voller Energie und Elan Laune verwandeln. Man musste nur wissen wie man diese ködert.
Nicht einmal eine Stunde später, und das war in der Tat ein Rekord für das herrichten bei Sophie, saßen wir in einem Cafe. In meinem Stammlokal ließ ich mich nicht mehr blicken seit der Trennung mit Klara. Ich hatte angst diese würde mich aus Wut vergiften oder mit dem Geschirr nach mir werfen, falls ich die Räumlichkeiten betreten sollte.
In aller Ruhe erzählte ich Sophie von dem Vorfall mit meiner Mutter und regte mich während meiner eigenen Rede erneut auf. Mit einem gedanklichen Argument über einen weiteren möglichen Geschirrmord, schob ich meinen Teller vorsichtshalber etwas von mir weg.
Sophie hörte aufmerksam zu und nickte immer wieder zwischendurch, widmete sich jedoch ganz offensichtlich mit der größeren Leidenschaft ihrem Croissant. Diesen schnitt sie erst vorsichtig auseinander und füllte ihn mit Nutella vereinte die zwei Hälften wieder miteinander. Dies konnte sie bis zu viermal wiederholen und erst dann kam ein ‚Ich bin satt’ von ihrer Seite. Vergingen einige Stunde, so durfte ich mir dann das Jammern bezüglich ihrer schrecklichen Figur anhören, was natürlich ein absoluter Quatsch war, denn sie hatte eine verdammt sportliche und schlanke Figur. Sophie zog dann an den Oberarmen oder am Bauch und deutete mit einem absoluten Entsetzen darauf, wie viel Fett an ihr wäre. Es war durchaus amüsant sie dabei zu beobachten, denn sie steigerte sich immer mehr und mehr in ihre Wahnvorstellungen rein und schwor hoch und heilig, dass sie nie wieder bereits so früh am Morgen so viel ungesundes Essen zu sich nehmen würde. Ihre Vorsätze hatten aber ein sehr geringes Haltbarkeitsdatum und somit begann der Teufelskreis kurz darauf wieder von vorn.
An diesem Morgen beließ sie es bei lediglich zwei Runden und beteiligte sich endlich auch aktiv am Gespräch.
„Ich kenne dich schon ziemlich lange und ich bin der beste Therapeut, den du je bekommen könntest. Ich kann dir deswegen versichern, dass du auf keinen Fall in irgendeine Anstallt musst, um deine Batterien wieder aufzuladen.“
Sie machte eine lange fast dramatische Pause und schleckte sich dabei ihre Finger ab. Sophies Augen wanderten bei diesem Prozess mehrmals zum Körbchen mit den Backwaren und dann wieder zu mir. Sie konnte sich ganz offensichtlich nicht entscheiden, ob sie weiter an ihren Fingern knabbern sollte und darauf hoffen, es würden sich weitere Nutellaspuren darauf finden oder doch noch ein weiteren Croissant vernichten. Um ihr diese Entscheidung abzunehmen, nahm ich eins aus dem Korb, sagte sie könne ruhige weiterreden und ich würde ihr eins zubereiten und mir gleich ein zweites dazu, damit wir beiden dick und hässliche werden. Nach dem Motto: Gleiches Schicksal für alle.
„Das Problem ist doch ganz offensichtlich. Du bist was zwischenmenschliche Beziehungen angeht die absolute Niete und kein Wunder, dass du weder mit deiner Mutter noch mit Amely das auf die Reihe bekommst. Meine Hilfe wurde nur Ansatzweise umgesetzt und ja ich gebe zu, auch ich habe dir wohl das eine oder andere Mal den falschen Ratschlag vermittelt. Aber ich denke du kommst nicht drum herum deiner Mutter endlich mal die Wahrheit zu sagen bezüglich deiner Neigung. Das würde wahnsinnig viel Aufklären.“
Bei den letzten Sätzen von Sophie starrte ich sie unentwegt an und achtete gar nicht mehr drauf was ich genau mit meinen Händen tat. Die Nutella verbreitete sich somit bereits auf meinen Händen anstatt da wo sie eigentlich hinsollte.
„Gehört zu deinem Service auch dazu, dass ich dann anschließend deine Finger abschlecke?“
Ich wendete meinen Blick schlagartig nach unten und ließ den Croissant auf den Teller fallen mit dem dazu begleitenden Wort ‚Shit’.
„Nein, das ist nur Nutella.“
Um das Lachen zu verkneifen, schnappte sich Sophie eine bestrichene Hälfte und deutete darauf, dass sie die zweite mir überlassen würde. Schnell war ihr Mund mit einer anderen Funktion beschäftigt und lediglich die Augen lachten verräterisch über mein Debakel.
Ich verließ im Eilschritt den Tisch, denn ich wollte, im Gegensatz zu Sophie meine Finger nicht in den Mund nehmen, da mir bereits die Frage im Kopf rumspuckte, was habe ich bereits alles in der Öffentlichkeit an dem Tag angefasst und wie viele Erreger und Vieren sich nun an meinen Händen tummelten. Die Anzahl, welche am Croissant sich befand, konnte ich noch verkraften aber die ganze Ladung direkt von der Quelle sich in den Mund zu stecken erschien mir doch sehr riskant.
Während ich damit beschäftigt war meine Hände von den süßen Überresten zu befreien, hoffte ich darauf, dass niemand sonst den Raum betreten würde, denn das Bild hätte sicherlich eine falsche Botschaft, wenn mich jemand auf der Toilette mit braun verschmierten Händen antraf. Ich machte mir zwar Nichts daraus was die Leute dachten aber die angewiderten Blicke wollte ich mir nun wirklich nicht antun. Zum Glück wurde ich von der zweiten Eskapade verschont und kehrte mit wohl duftenden Händen zurück an unseren Tisch.
„Ist dir eigentlich klar, was du soeben von dir gegeben hast?“
Sophie nickte ziemlich sicher und verputzte bereits auch schon den Teil, welchen sie mir noch vor Minuten eigentlich überlassen wollte. Somit stieg ihre Verzehrzahl auf drei.
„Meine Mutter würde mich bei solch einer Offenbarung wohl erst Recht in eine Heilanstalt stecken, damit ihre Tochter wieder gesund und hetero zurückkehrt und ihr einen erfolgreichen Schwiegersohn präsentiert und viele gesunde, heterosexuelle Kinder mit ihm zeugt.“
„So ein Quatsch. Klar wird sie womöglich erst einige Zeit brauchen und in ihren Zeitschriften nach einem Woodoozauber suchen, damit du wieder so bist wie alle.“
Sophie erhob ihre inzwischen freien und sauberen Hände und setzte zwei imaginäre Gänsefüßchen in die Luft bei den Wörtern ‚wie alle’.
„Aber irgendwann muss sie das akzeptieren. Ach und Enkelkinder kann sie ja dennoch, dann haben. Heutzutage ist doch alles möglich.“
Und schon war Sophie dabei vom eigentlichen Thema abzuschweifen, indem sie mir von einer Reportage über lesbische Familien berichtete, welche vor einigen Wochen im Fernsehen lief, ich unterbrach ihren Bericht höflich aber dennoch direkt und verwies darauf, dass ich in meiner absehbaren Zukunft noch keine Kinderwünsche planen würde und dieses Thema gerne auf Später verlegen wollte.
Auch unser Gespräch wurde auf ein schöneres Plätzchen an der Donau versetzt, nachdem Sophies Kaffee und mein Ice Tee endgültig ein neues zu Hause in unseren Bäuchen fanden. Das Ende der Diskussion war jedoch nicht so erfreulich, denn Sophie blieb bei ihrer Meinung, bezüglich dem Outing vor meiner Mutter und ich beharrte felsenfest auf meiner Sturheit und wollte es nicht einsehen, dass dies womöglich ein großer Schritt für sie und mich wäre, der uns entweder näher zueinander bringen würde oder aber den Haarfaden endgültig reißen. Die Chancen lagen genau in der Mitte und es war wirklich nicht vorherzusehen welche Reaktion von Seiten meiner Mutter zu erwarten war.
Ich konnte aber verdammt gut vorhersehen, dass solche in Gespräch sicherlich nicht in den kommenden Wochen stattfinden würde, weil mir das vom letzten Abend noch tief in den Gliedern saß und ich meiner Mama verstärkt aus dem Weg gehen wollte. Wahrscheinlich war es doch das Schuldgefühl aber ich redet mir immer wieder ein, dass es an ihr lag und nicht an mir. So kann man ja bekanntlich immer sein Gewissen etwas erleichtern.
***
Es war zwar der Vorsatz getroffen keine Konversation mit meiner Mutter zu beginnen oder diese zu vertiefen aber umso mehr ich mich vor ihr drückte und mich kaum daheim aufhielt in der darauffolgenden Woche, um so mehr versuchte sie mit mir Gespräche zu führen. Es spielte keine Rolle welche Tageszeit es war und, ob ich eine Redestimmung hatte. Sie kam auf mich zugerollt wie eine Dampfwalze und ließ mir gar keine andere Wahl übrig.
Die Dialoge waren sehr steif, denn sie erwähnte mit keinem Wort unsere Auseinandersetzung am vergangenen Freitag. Stattdessen versuchte sie eine Atmosphäre zu schaffen in der wir schon seit Jahre die bestmögliche Beziehung zu einander hatten und nun wie immer nett miteinander plauderten. Funktionierte aber nur bedingt, denn zu einem Gespräch gehören schließlich zwei Beteiligte, wenn man nicht gerade den Drang dazu hat auffällig oft mit sich selber zu Kommunizieren.
Sie sprach über das Wetter, über meine Schule und den Theaterkurs, über welchen ich nun absolut nicht reden wollte und über meinen Schuldirektor, der von einem Tag auf den anderen einfach nicht mehr da war. Keiner der Lehrer sprach das Thema an und uns wurde nur mitgeteilt, dass vorübergehend eine Vertretung für ihn da wäre. Manche munkelten er wäre im Knast. Aus anderen Ecken hörte man Gerüchte über einen misslungenen Suizidversuch. Wieder andere berichteten von Hörensagen er sei auf der Flucht, vor was oder wen auch immer. Fakt war, dass er nicht da war und alle Termine und anstehende Organisationen mit der nichtvorhandenen Ordnung und Planung ausfielen oder verschoben wurden. Genauso erging es auch unserem Theaterstück. Dieser sollte Anfang April aufgeführt werden. Dafür wurde bereits bei sämtlichen Klassen ein fast Unterrichtsfreier Vormittag angekündigt und wir freuten uns darauf endlich unser Werk der Öffentlichkeit zu präsentieren. Gut, ich freute mich nur begrenzt, weil ich bei der Aufführung in der direkten Nähe zu Amely mich befinden würde, darauf konnte ich gerne verzichten. Aber auch die Kussszene oder eher bereits der Gedanke an diese, verursachte in mir seltsame Magenkrämpfe. Ich erinnerte mich immer wieder an das stille Zurückweisen ihrerseits, als sie sich bei der Generalprobe wegdrehte. Es ist doch bekannt, dass es eine eindeutige Abfuhr ist, wenn sich die Frau wegdreht bei einem versuchten Kussangriff von ihrem Verehrer oder der Verehrerin und die, die bereits so was erlebt haben oder sich in Sicherheit bringen wollten vor den unerwünschten Lippen des Gegenübers, wissen genau was ich damit meine. Was anderes konnte ich auch nicht erwarten, nach dem ich der Frau höchstpersönlich in einem desolaten Zustand mitteilte, sie solle sich fern von mir halten. Die Erwartung, dass diese mir dennoch um den Hals fallen würde war ja mehr als absurd und unrealistisch
Das Problem war an sich auch nicht die Verschiebung der Aufführung, sondern, dass alles aus den verankerten Fugen geriet. So wurde auch der Tag der offenen Tür verschoben, was eine menge an Arbeit kostete, die Broschüren neu zu drucken und zu falten, weil die alten nach der Verschiebung das falsche Datum enthielten. Auch wir waren dabei betroffen, denn uns galten 30 Minuten, die wir für einen Ausschnitt des Stückes nutzen konnten. Diesen wollten wir jedoch erst bestimmen, nachdem wir unseren ersten vollständigen Auftritt hatten und danach die Schüler befragen wollten welche Szene den die beste wäre. Nun sah es ziemlich danach aus, dass wir zuerst am Tag der offenen Tür spielten und erst dann die vollständige Aufführung in der regulären Schulzeit präsentieren konnten. Ein totaler Käse, wenn man mich fragen würde, tat es aber keiner.
Des Weiteren rückten die Abiturprüfungen der 12. Jahrgangstufen immer näher und bald hätten die Teilnehmer der Abschlussklassen keine Zeit. Dies würde bedeuten, dass sicherlich der eine oder der andere uns im Stich lassen würde und somit wäre die komplette Planung im Eimer.
Obwohl ich, wie schon erwähnt keine Lust verspürte meiner Mutter all die Sorgen und andere Gedankengänge, die in meinem Kopf rumspuckten zu schildern, letztendlich brach aus mir doch ein Wortwasserfall heraus, als sie mich abermals mit ihrer Redesucht nervte und ich ohne Punkt und Komma drauf los redete. Sie stand nur da, nippte an ihrem Saft und guckte mich mit ihren leeren Augen an. Vielleicht waren sie auch gar nicht so leer und es kam mir nur so vor aber ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl sie dachte an etwas vollkommen anderes und war definitiv nicht bei meinem sehr heiklen Thema.
„Ich werde mal die kommende Woche in der Schule vorbeikommen und diese Sache beim stellvertretenden Direktor ansprechen. Das scheint mir wirklich eine sehr unerquickliche Situation zu sein für alle.“
Ich war wirklich baff. Erwartet hatte ich eine Floskel ihrerseits und eventuell ein Tätscheln auf den Kopf und die Sache wäre für sie erledigt aber so viel Einsatz von ihr, wirkte sehr verdächtig oder sie wollte mir wirklich helfen, weil sie den Eifer und meine Begeisterung für diese freiwillige Tätigkeit spürte und sich daran erfreute, dass ihre Tochter doch kein geistloser Zombie war, der voller Trauer und Selbstmordgedanken umherirrte.
Zwar konnte meine Mutter drei Tage später nicht viel an der gesamten chaotischen Situation ändern aber es wurde zumindest so geregelt, dass der volle Auftritt auf jeden Fall zuerst stattfinden würde, nur wann es soweit wäre, wusste noch keiner so genau und ich vermutete stark, dass sich die Angelegenheit sehr kurzfristig ergeben würde.
Zwar hatte ich keine Vorstellung darüber wie unser erstes tiefgängiges Gespräch aussehen würde, aber sicherlich nicht so. Spontaneität gehörte noch nie zu meinen Stärken und ließ sich äußerst selten in meinem Leben blicken und, wenn sie es tat, so kündigten sich kurz darauf ernsthafte Probleme an, die aus solch einer nicht gut durchdachten Aktion hervorgingen. So fühlte sich meine Mutter zum Beispiel nach unserem Gespräch viel sicherer und überzeugter von der Idee mit mir so oft es ging eine Dialogsession zu halten. Ein Bestandteil davon war auch die Liebe, welche meine Mama besonders zu interessieren schien. Da sie so oder so immer ihr Adleraugen auf jeden meiner Schritte warf, war ihr natürlich nicht entgangen, dass ich mich seit einiger Zeit verstärkt mit Michi traf, der nach wie vor mein erfundener Freund war, zwar wurden seine Dienste nicht mehr so oft gebraucht aber ich wollte trotzdem den Schein wahren. Wieso ich das tat, konnte ich mir später selber nicht mehr erklären.
Der Besuch von Michi löste natürlich eine fetzen Begeisterung bei meiner Mutter aus, denn diese rannte sofort zu ihm her und begrüßte ihn mit einer freudigen Umarmung. Sie bestand einmal auch darauf, dass er mit uns zu Abend aß, obwohl wir nie gemeinsam irgendeine Mahlzeit speisten. Ich verkroch mich mit meinen Tellern immer in mein Zimmer oder auf die Terrasse und sie hatte nie feste Esszeiten. Ich sah meine Mutter eigentlich so gut wie nie etwas essen. Manchmal fragte ich mich deswegen, ob sie nicht an Abnehmwahn litt aber ein heimlicher Blick in ihren Kleiderschrank beruhigte mich wieder, weil die Konfektionsgröße sich auch bei den aktuellsten Anschaffungen nicht verändert hatte.
Dieser Enthusiasmus in Bezug auf Michi war natürlich nur der Anfang der drohenden Katastrophe, denn meine Mutter sah sich als Dr. Sommer und bestand an einem Abend darauf, dass ich mir den Inhalt einer Einkaufstüte etwas genauer betrachtete.
Bereits bei einem flüchtigen lugen in die braune Papiertüte, streckte ich zurück und lief knallrot an.
„Jill du bist schon so erwachsen geworden, dass ich es dir schlichtweg nicht ausreden oder gar untersagen kann aber ich will, dass du zuerst deine schulische Laufbahn beendest eher ich Großmutter werde.“
Mein Mund fühlte sich plötzlich so unendlich trocken an, denn in der Tüte befanden sich Kondome, ein Buch mit dem Titel ‚Besser kommen‘ und eine weitere Verpackung, die ich jedoch nicht mehr in der kurzen Zeitspanne genauer betrachten konnte und auch nicht wollte. Während die Augen meiner Mutter mich angepeilt beobachteten, holte ich mir ein Glas Wasser und nutzte die Zeit des Trinkens, um sie möglichst liebevoll abzuwimmeln. Zu meinem Bedauern floss das Getränk mit einer Lichtgeschwindigkeit meine Kehle hinunter und in diesen wenigen Sekunden fiel mir nichts richtig Gutes an Wortkombinationen ein als ein ‚Wozu brauche ich das?’
Die Augenbrauen meiner Mutter stiegen empor, so dass ihre gesamte Stirn von unzähligen Fältchen bedeckt wurde.
„Dir ist aber der Begriff Safer Sex schon geläufig?“
Beinahe hätte ich aus Trotz ihr einen Satz entgegengeworfen in dem ich vorgab absolut keine Ahnung zu haben von was sie sprach, konnte jedoch die heraus brechenden Worte kurz vor der Flucht noch zurück in meinen Rachen drücken, schlürfte um den Tisch herum und schnappte mir die Tüte voller unnützlicher Kram. Auf dem Weg bedankte ich mich flüchtig bei meiner Mutter für ihre Hilfe und schloss die Tür hinter mir zu. Ich benutzte nur selten den Schlüssel, weil ich sicher war, dass meine Mutter nicht in mein Zimmer reinplatzen würde. Sie stand meistens einige Meter davon entfernt und schrie meine Zimmertür an, wenn sie mir irgendetwas mitteilen wollte aber an diesem Abend wollte ich auf eine Nummer sicher gehen.
Ich setzte mich auf meinen Bettrand und untersuchte den Inhalt des Präsentes etwas genauer. Neben den drei Kondompackungen mit den unterschiedlichsten Eigenschaften, wie Geschmack oder Form war ja noch das Päckchen in der erotischen Überraschungstüte enthalten. Mein Gedanke galt eher einem Sexspielzeug oder der exakten Nachbildung eines männlichen Genitales, damit ich schon mal zumindest wusste auf welches Stück ich mich zu Stürzen hatte aber in dem Päckchen war lediglich ein Nachthemd oder eher ein Nachtkleid was an sich zwar sehr schön war und sicherlich einige Männer antörnen würde aber bei mir keine berauschende Reaktion hervorrief.
Ich bevorzugte nach wie vor ein Shirt und Boxershorts zum Schlafen oder, wenn es im Sommer zu heiß war die Eva-Variante.
Ich packte vorsichtig den Inhalt zurück in die Tüte und legte mir beide Handflächen auf den Hinterkopf. Ich wollte damit keinen Sträfling imitieren, der gerade von der Polizei auf Waffen untersucht wurde aber meine Sprachlosigkeit musste irgendwie körperlich zum Ausdruck gebracht werden. Wie lange ich diese nutzlose Tüte betrachtet hatte, weis ich heute nicht mehr so genau. Definitiv zu lange, denn in der Nacht hatte ich seltsame Träume von Amely, die mich verführte aber im entscheidenden Punkt sich plötzlich zu Michi verwandelte und mich unsanft aus dem Anfangs noch schönen Traum riss. Kaum schlief ich ein, wiederholte sich die Szene erneut, lediglich mit dem feinen Unterschied, dass Amely auf einmal das schöne Nachtkleid trug und sich unter diesem ein, definitiv nicht weibliches Geschlecht befand, welches wie ein Waffe auf mich gerichtet war. Diese Nacht war seit Monaten eine der Schlimmsten und dementsprechend sah ich auch am frühen Morgen aus, als ich Sophie abholte.
„Welche Laus ist dir den über die Leber gelaufen?“
„Wohl eher ein Elefant, der sich Mama nennt.“
Sophie grinste mich erwartungsvoll an und wollte natürlich wissen, was zwischen ihr und mir wieder mal vorgefallen war.
„Wie viele Vasen insgesamt hast du nun auf dem Gewissen?“
„Keine einzige, abgesehen von der einen vom letzten Mal.“
„Jetzt rück schon raus mit der Story.“
Ein tiefer Seufzer startete meine Erzählung und Sophie hielt sich zum Schluss die Hand vor dem Mund, um nicht in einem schrillen Gelächter auszubrechen. Half aber nichts, denn ihr Prusten hinter der Hand konnte ich dennoch laut und deutlich vernehmen und sendete ihr einige giftige Blicke entgegen, damit sie sich wieder etwas beherrschte.
„Sag mal, wie willst du den die Kondome nun anwenden, bei einer Frau?“
Erneut verfiel sie in einen Lachanfall und versuchte es gar nicht mehr sich zurück zu halten.
Anschließend folgte eine Wiederholung ihrer Worte, die bereits bei dem gemeinsamen Frühstück von ihr erwähnt wurden. Sie riet mir, endlich meiner Mutter gegenüber zu erwähnen, dass diese sich keine Sorgen bezüglich des Omawerdens machen bräuchte, weil ihre Tochter lesbisch war. Es würde wohl in der Tat so einiges Erleichtern. Ich müsste dann keine weiteren Präsente dieser Art entgegennehmen und auch nicht die ständigen Erinnerung an die Pille mir anhören, die ich schon seit langer Zeit nicht mehr bei unsere Frauenärztin abholte.
Eigentlich war es eher die Ärztin meiner Mutter, zu welcher sie schon seit Jahrzehnten ging. Bereits mit 12 Jahren schleppte mich meiner Mutter zum ersten Mal zu dieser komischen Tante, denn ich wurde zwar mit einer Entwicklung, die immer zu spät dran war in der Kindheit gesegnet und auch in der Pubertät aber mein Menstruationszyklus war meinem Gehirn und Körper weit voraus und bestrafte mein junges Ich bereits im Alter von fast 13 Jahren mit dem monatlichen Verbluten. Ich denke meine Mutter rannte mit mir zur Ärztin in erster Linie, weil sie eben noch keine Großmutter werden wollte und diese Funktion, die meinem Körper nun offen stand irgendwie wieder verschließen wollte. Erst an Zweiter Stelle kam die Sorge, dass mit mir etwas nicht stimmte, da es ihrer Ansicht nach viel zu früh war. Natürlich bestätigten einige Foren und Zeitschriften ihre Angst, denn aus solchen Quellen holte meine Mama gern ihr Wissen hervor.
Seit dem musste ich meine Mutter regelmäßig begleiten bis zum Tag, als Dad von uns ging. Ab da schien es ihr wohl nicht mehr wichtig zu sein, dass ihre Tochter nicht nur geistig gesund war sondern auch körperlich. Mir war es nur Recht, weil ich diese Besuche so oder so verabscheute und ich kenne nach wie vor noch keine einzige Frau, die liebend gern zum Frauenarzt geht.
Die Besuche fielen aus aber die Teilfürsorge meiner Mutter leider nicht, denn aufgrund der guten Bekanntschaft mit der Ärztin, durfte sie meine Pille sogar mitnehmen, denn ich holte sie nicht mehr ab dem Zeitpunkt, als mir klar wurde, dass ich mich der Frauenwelt hingezogen fühlte. Meine Mutter nahm dies natürlich als Vergesslichkeit eines Teenies war und sorgte dafür, dass ich mir die Mühe machen musste, um außerhalb unseres Hauses diesen lästigen Streifen zu entsorgen. Wie man bereits sicherlich heraus kristallisieren kann, mache ich mir oft es selber schwerer als nötig aber anders ging es noch nie bei mir gut aus und somit wieso es sich einfach machen, wenn es auch schwer geht.
Den Inhalt der Geschenktüte verteilte ich wie ein tapferer Samariter an Sophie und Michi, weil zum Wegschmeißen war es mir eindeutig zu schade und das Nachtkleid fand Sophie sehr reizend und bot mir sogar schon an unsere Mütter zu wechseln, da ihre absolut keinen Geschmack für Mode hatte. Meine leider zu viel, denn das Geschenk war erst der Anfang von der Geschichte. Einige Tage später wurde ich bereits wegen meinem Aussehen kritisiert und meine Mutter meinte, dass ich mich viel zu sportlich kleidete und mir lieber ein paar schöne enge Jeans oder ein Kleid besorgen sollte.
Ich stand im Wohnzimmer und musterte mich selber von Kopf bis Fuß. Lässige Skaterschuhe zierten meine Füße. Eine meiner zahlreichen Shorts saß locker auf meiner Hüfte und ermöglichte viel Platz für meine lebensnotwendigen Sachen, die immer dabei sein mussten und ein Shirt, welches ich mir aus der Männerabteilung gekrallt hatte. Mein ganzer Kleiderschrank sah so aus und es gab eigentlich nur sehr wenige Anziehsachen, die ich mir in der Frauenabteilung holte. Was anderes weigerte ich anzuziehen und schon gar nicht ein Kleid. So was trug ich noch nie in meinem Leben und mein Dad verteidigte mich dabei immer. Er kaufte nur das was ich toll fand und so verbrachte ich im Prinzip meine ganze Kindheit in der Abteilung für Jungs. Meine Mama dagegen schleppte mich immer zu den Rosaecken der Mädchenabteilung und übte sich in der Überredungskunst, vergeblich. Hatte sie es aber mal doch geschafft mir irgendein rosa Top mit Blümchenmuster anzudrehen, kreischte ich los und wollte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Ich erinnere mich sogar daran, dass ich mich einmal an einem Regal festklammerte und nicht heimwollte ehe meine Mutter nachgab und statt einem Kleidchen ein T-Shirt mit Transformers-Motiv in mein privates Kleidungssortiment dazukam.
An demselben Tag belauschte ich meine Eltern dabei, wie sich miteinander eifrig über mich diskutierten. Mein Vater sah das Ganze sehr gelassen und sagte zum Schluss des Gespräches, dass ich eben mehr Junge wäre als ein Mädchen und es sich irgendwann ja noch ändern könnte aber bis es soweit war, sollte man mich einfach das ausleben lassen. Meine Mutter entgegnete sehr aufgebracht und wütend und warf ihm einige schiefe Bemerkungen zu. Ich glaube sie verwendete sogar in diesem Zusammenhang den Ausdruck Lesbisch. Sicher bin ich mir aber nicht dabei.
Allgemein belauschte ich meine Eltern häufig, denn ich musste immer auf dem neusten Stand der Dinge sein, falls Komplikationen auftauchten, egal um was es sich dabei handeln sollte. Alle möglichen Probleme, die im Anflug waren, wurden stets Sophie mitgeteilt und diese schmiedete Pläne, wie man meine Eltern überlisten konnte. Wenn ich heute so nachdenke, fällt mir auf, dass ich nie selbstständig war, denn das Denken übergab ich an Sophie und machte mir selber nie um etwas sorgen. Womöglich hätte ich mich vollkommen anders entwickelt, wenn ich bereits vor Jahren damit angefangen hätte selbstständig zu sein und meine Fehler selber auszubaden. So hätte ich mich auch eventuell nicht so dumm bei Amely angestellt und wäre nun mit ihr glücklich vereint. Vielleicht.
Ich versuchte mit aller Kraft die Nörgeleien meiner Mutter zu ignorieren und ihre Belehrungen an mir abprallen zu lassen wie Wassertropfen an der Glasscheibe, leider war ich weder aus Glas noch waren ihre Worte aus Wasser. Das Resultat dieser einwöchigen Terrorveranstaltung zwischen ihr und mir eskalierte schließlich am letzten Schultag vor den Osterferien und der Auslöser dafür war keine andere als Amely höchstpersönlich.
Ich wagte es nach all den Woche endlich zu ihr zu gehen und sie einfach mal ansprechen, um zu sehen wie sauer sie mir noch war. Das Gespräch dauerte nicht ein mal zwei Minuten ehe sich Amely von mir verabschiedete, weil ihre Freundin bereits vor den Toren der Schule auf sie wartete und sie heute noch für einige Tage verreisen wollten nach Berlin.
Sie klang ziemlich glücklich und strahlte bei jedem ihrer Worte. Es war auch keine Wut mir gegenüber herauszuhören. Ich war ihr schlichtweg egal. Sie interessierte sich nicht mal was ich in den Ferien vorhatte und fragte nicht großartig nach meinem Zustand oder wie es mit meinem erfundenen Freund voranging. Das traurigste an der ganzen Sache war, dass die Berlinreise schon vor ihrer Macho Tusse als Thema existierte und die Überlegung sogar da war mit einigen Leuten aus meinem Freundeskreis und ihrem gemeinsam rauf zu fahren mit zwei Autos. Da konnte man mal wieder sehen, wie schnell Pläne verworfen werden und Personen durch qualitativ schlechte Varianten ersetzbar waren. Die Betonung lag aber bei der minderwertigen Kopie.
Diese zwei Minuten ruinierten den gesamten Ferienbeginn, denn eins was um einiges schlimmer und schmerzhafter ist, als gehasst zu werden, ist die Gleichgültigkeit von der man mit Stacheldrahthandschuhen freudig empfangen wird.
Mit dieser mehr als betrübten Laune und den Vorstellungen, wie die beiden sich in Berlin vergnügen würden, katapultierte sich meine Stimmung zum Mittelpunkt der Erde. Ich wollte einfach nur meine Ruhe und Zeit für mich allein haben, weiter nichts. Empfangen wurde ich allerdings von meiner Mutter, die mir begeistert ein Kleid vor die Nase hielt eher ich noch meine Schuhe ausziehen konnte. Sie sprach von Veränderungen, die jeder Frau in ihrem Leben durchgehen sollte und letztendlich sich dann dem Bild anpassen, welches für eine Frau vorhergesehen sei.
In welchem Zeitalter lebten wir den? Ich konnte gar nicht glauben, was meine Mutter da von sich gab. Ich fühlte mich zurück in Anfang des 20. Jahrhunderts versetzt in dem die Frauen noch nicht einmal das Recht hatten ohne die Erlaubnis ihres Mannes eine Waschmaschine zu kaufen und was würde als nächstes kommen? Kochstunden, bei welchen meine Mutter mir erklärte, wie ich meinen Ehemann gesund und gut ernähren sollte, damit er rundum glücklich sein konnte?
Ich schob das grauenhafte Stück Stoff bei Seite und ging wortlos an ihr vorbei in der Hoffnung, meine Mimik würde ausreichen um ihr damit zu signalisieren, dass ich keine Unterhaltung mit ihr wünschte.
„Also Jill. Ich bemühe mich doch sehr dir etwas zu helfen aus deiner Wildfang Phase heraus zu kommen aber du gehst kein Stück auf mich ein dabei.“
„Wildfang Phase? Hör auf so viel Schrott in deinen Büchern zu lesen und widme dich deinem eigenen Leben zu. Das gehört auch generalüberholt, denn wir haben bereits bei den Jahresdaten eine 20 an erster Stelle und keine 19.“
Da war es wieder, die Wortkotze, die bis zu dem Zeitpunkt brav in mir drin blieb und keinen Schaden zufügte aber nun war es raus. Eigentlich hätte ich mich schlecht fühlen sollen aber im Nachhinein war ich sogar darüber glücklich, dass ich meinen Mund nicht halten konnte.
„Ich will dir doch nur helfen. Außerdem mag ich den Michael sehr und finde ihr passt wunderbar zusammen.“
Sie sah etwas unsicher zu mir rüber, so als wäre sie unentschlossen diese Rede vorzusetzen. Ich für meinen Teil erkannte, dass dieses Gespräch länger dauern würde und schmiss meinen Rücksack in die Ecke ehe ich es mir auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich machte. Ich wollte zu gern wissen was meine Mutter glaubte zu wissen bezüglich meines Liebeslebens.
„Nun wie soll ich sagen, weil es ja die erste richtige Beziehung bei dir ist, wollte ich dir eine Starthilfe geben.“
„Und wer sagt bitte, dass es die erste Beziehung ist?“
Ich versuchte ruhig und gelassen zu bleiben aber inzwischen fand ich die Angelegenheit mehr amüsant als ärgerlich, denn meine Mutter war nicht nur zurückgeblieben was die Zeit anging, sie ging auch noch davon aus, dass ihre Tochter Jungfrau war. Technisch gesehen war ich das zur Hälfte, denn den Liebesakt mit Phillip hatte ich nie vollendet aber ich durfte bereits mehrmals erleben was Sex bedeutet und, dass dazu absolut kein Mann notwendig war.
„Ist es nicht?“
Nun war meine Mutter diejenige, die sprachlos dastand und an dem Kleid rumzerrte und nicht wusste, was sie noch hinzufügen sollte.
„Guck mal. Genau das ist dein Problem. Hast du den jemals mich direkt drauf angesprochen, ob ich bereits einen Freund habe oder Michi mein Freund ist?“
„Was sollte er den sonst sein, wenn nicht dein Freund. Er hängt doch ständig bei dir im Zimmer rum.“
„Mam, es gibt in meinem Kreis viele männliche Freunde und diese Beziehungen verlaufen rein platonisch.“
Sie setzte sich hin und sah etwas enttäuscht auf das Kleid.
„Dir gefällt also das Kleid nicht. Ist es die Farbe?“
Ich fragte mich an dieser Stelle wirklich ernsthaft, ob meine Mutter eine gespaltene Persönlichkeit hatte und eine der beiden war offensichtlich leicht dement, denn solch ein Verhalten konnte auf keinen Fall normal sein.
„Hör zu. Ich mag mich so wie ich bin. Ich kaufe gerne diese Sachen und fühle mich wohl darin. Ich zwinge dich schließlich auch nicht mit Latzhosen hier rumzurennen, oder?“
Sie schien wirklich traurig zu sein aber ich konnte gar nicht einordnen weshalb sie es war. Nur weil Michi ein Freund war und nicht meiner?
„Magst du den Michael denn gar nicht oder seit ihr beide viel zu schüchtern und befindet euch in einer Anfangsphase?“
Am liebsten hätte ich mir wirklich mit der Hand ins Gesicht geklatscht und meiner Mutter gleich mit dazu, um sie wachzurütteln, denn so viel Mist konnte doch eine Frau mit einem Universitätsabschluss nicht von sich geben.
„Ehrlich. Ich wollte nicht dass es so raus kommt. Habe ich mir irgendwie anders vorgestellt aber, wenn ich das nicht jetzt mache, dann artet es in den kommenden Tagen vollkommen aus.“
Ich kniete mich vor meiner Mutter hin, die lustlos und geknickt vor mir saß und nahm ihre Hände in meine.
„Ich hoffe, dass du nicht zu sehr bestürzt bist aber ich werde nie einen Freund mit nach Hause bringen.“
„Bin ich, denn wirklich so schlimm?“
Ich musste leicht grinsen, denn ja das wäre wohl auch einer der vielen Gründe wieso ich das nicht wollte aber der gewichtigste lag wohl nach wie vor daran, dass ich Männer einfach sexuell nicht anziehend fand.
„Ich bin lesbisch. Das ist der Grund.“
Sofort riss sie ihre Hände aus meinen und öffnete ihre müde wirkenden Augen so weit es ging auf. Was darauf folgte war entsetzlich. Erst schleuderte sie mir Worte entgegen, die mich als ekelig und abnormal bezeichneten und anschließend folgte ein Monolog mit Gott, den sie fragte wofür er sie den so arg bestrafen würde. Nachdem diese Szene vorbei war, wurde die Lösungskiste aufgepackt und Aussagen wie, es geht ja eh wieder vorbei, wenn ich das erste Mal einen Mann so richtig an mich heranlassen würde. Natürlich warf ich ein ‚Hab ich schon.’ In ihre Rede hinein und zerstörte somit ihre Hoffnung wie die Vase damals aber gut, dass meine Mutter einen ganzen Schrank von den Hoffnungsgläschen besaß, denn sie plapperte weiter munter von Besuchen bei Ärzten, die sicherlich das irgendwie hinbiegen würden und dann kamen wir bei dem Sanatorium an, welches ich doch unbedingt aufsuchen sollte und das schnellstmöglich, denn dort gab es ja die Fachkräfte für jede Beschwerde auf der gesamten Welt. Nachdem auch diese Vorschläge keine Zustimmung bei mir erwirkten, kam der Höhepunkt ihrer Frechheit, als sie meinen toten Vater mit in das Gespräch hineinzog.
„Kind denke doch daran, was er sagen würde. Welche Schande es ihm bringen würde und das willst du doch nicht.“
Ab da wandelte sich diese ganze Sache zu einem schlechten Schauspiel. Ich konnte vieles ertragen und alle Beleidigungen runterschlucken aber nicht, wenn man meinen Dad mit in den Schmutz zog.
„Wage es ja nicht ihn für deine Wahnvorstellungen und die krankhafte Einstellung, die du vertrittst zu missbrauchen.“
„Ich sage dir ja nur die Wahrheit, denn er wäre absolut nicht erfreut so was zu hören.“
Meine Stimme wurde deutlich lauter und ich sah mich bereits wild in der Wohnung rumtoben und alle fragilen Gegenstände zerstören aber die Beherrschung in mir war doch noch größer als der Wahnsinn.
„Nur so zur Info. Dad wusste es und hat mich sogar unterstützt. Er meinte er liebt mich so wie ich bin und würde nie im Leben mich zu seinen Wünschen verändern wollen. Somit bist du nicht nur gestört sondern auch noch eine Lügnerin. Überleg mal genau was du in der letzten halben Stunde alles von dir gegeben hast. Meiner Meinung nach bist du eindeutig die, die unnormal ist in dieser Familie.“
Ich hatte nichts mehr dieser Frau zu sagen, zückte mein Handy und wählte Sophies Nummer, während ich rasch einige Sache zusammenpackte und mich bereits mit ihr unterhielt. Ich musste raus aus dieser Wohnung und zwar dringend. Am besten für die ganzen Ferien.
* * *
Bei Sophie fand ich vorübergehend Zuflucht von meiner durchgeknallten Mutter. Anfangs war ich noch ziemlich sauer auf sie und wollte nichts mehr von ihr wissen oder sie sehen aber bereits am späten Abend setzte die Wirkung ihrer Wörter endgültig ein und ich brach in Sophies Armen in Tränen aus, weil mir es einfach sehr wehtat, was meine eigene Mutter zu mir sagte. Sie hielt mich ganz offensichtlich für ein Monster und würde mich so lange therapieren bis ich endlich so bin wie sie mich gerne hätte. Sollte das etwas mein Schicksal sein. Mich den Vorstellungen andere unterwerfen und somit mich selber aufgeben oder den Kontakt zu meiner Mutter abbrechen und mich als eine komplette Waise betrachten. Ich fragte mich mehrmals in dieser Nacht, ob Amelys Mutter von der Liebesorientierung ihrer Tochter wusste und wie sie drauf reagierte oder, ob Jenny ihren Eltern es bereits mitgeteilt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen dass die meisten Menschen so negativ auf eine eigentlich kaum beachtenswerte Sache reagierten, den schwule und lesbische Personen begegneten uns täglich, angefangen im realen Leben auf den Straßen oder in der Politik. Moderatoren und andere Medienpersonen bekannten sich in den letzten Jahren ganz öffentlich dazu und es gab inzwischen kaum noch eine TV-Serie in der nicht ein schwules oder lesbisches Quotenpärchen vorkam als Nebenhandlung. Wie schrecklich konnte also diese Sache sein, wenn sie uns umgab und wir in der Welt mit ihr lebten?
Ich verbrachte bereits fünf Tage bei Sophie und weihte auch ihre Mutter in meine Situation ein. Am Anfang wollte ich gar nicht, weil ich befürchtete ein weiteres Dach über dem Kopf zu verlieren aber Sophie bestand darauf und ich war erstaun wie locker und freundlich diese Frau damit umging. Womöglich lag der Schlüssel des Rätsels darin, dass ich nicht ihr eigenes Kind war, auch wenn wir uns schon seit Jahren kannten und ich praktisch zur Familie dazugehörte und immer willkommen war. Dennoch reagiert man bei solchen Geschichten sicherlich immer viel lockerer, wenn diese einen selbst nicht betreffen und sagt sich noch innerlich ‚Gut, dass es nicht meine Kinder sind.’
Am Abend des fünften Tages stand unerwartet meine Mutter vor Sophies Haustüre und bestand darauf mich wieder mit Heim zu nehmen. Anstelle der Herausgabe des Monsters wurde meine Mutter auf ein ernstes Wort in die Küche zitiert. Die Türen wurden verschlossen und wir konnten nur schwer etwas belauschen, da Sophies Türen wahnsinnig dick waren.
Wir konnten uns aber schon denken um was es ging. Margrit versuchte meiner Mutter ins Gewissen zu reden und ihr klar zu machen, dass es nicht das Ende der Welt war. Was genau sie ihr geraten hatte weis ich nicht und ich erfuhr es auch nie von meiner Mama aber diese ging schweigend wieder weg, ohne mich mit zu nehmen. Ich machte mir anfangs ziemliche Sorgen, weil ich mich nun wirklich als eine Verstoßene fühlte und in meinen Visionen mich schon unter der Brücke schlafen sah, da ich ja nicht für immer bei Sophie einziehen konnte. Sie hätte es gewiss nicht gestört, weil wir so oder so die meiste Zeit miteinander verbrachten und so zu sagen wie Schwestern waren, ihre Mutter wäre aber davon sicherlich weniger begeistert.
Am Abend nach dem Gespräch erklärte Margrit, dass ich die ganzen Ferien über bei Sophie bleiben würde und erst danach wieder heim sollte. Wieso genau, dies so geregelt wurde, wollte sie mir nicht sagen. Sie meinte nur, dass meine Mutter jetzt etwas Zeit brauchen würde, um ihre Fehler einzusehen.
Das klang nach einem Misserfolg bei dem Gespräch und ich glaubte an eine weitere Beschuldigungsrunde, wenn ich das Haus, welches eigentlich mein Zuhause war, betreten sollte.
Am ersten Schultag nach Unterrichtschluss hatte ich wirklich schiss nach Hause zu gehen. Ich wusste nicht, wie meine Mutter reagieren würde und ich konnte nicht einschätzen, ob ich mich vorher aufwärmen sollte, damit ich rennbereit war, wenn ich aus dem Haus so schnell es ging fliehen musste oder mich eine Frau erwartete die vorspielte alles wäre wieder gut und sie hätte nie ein schlimmes Wort mir gegenüber erwähnt. Die Möglichkeit, dass sie einen Exorzisten mit ins Haus angeschlappt hatte, hielt ich ebenfalls im Hintergrund aber dieser war so ziemlich in der hintersten Ecke der Wahrscheinlichkeiten, denn so verrückt schätzte ich meine Mama doch nicht ein.
Es machte mich auch etwas unruhig, dass Amely sich überhaupt nicht blicken lies an dem Tag. Ich suchte sogar im Schulgebäude nach ihr, um sie wenigstens einmal zu sehen aber von ihr fehlte jede Spur.
Als ich die Tür öffnete und vorsichtig hereinkam, war im Haus alles still. Ganz leise machte ich die Tür hinter mir zu und hatte den Plan mich fast unsichtbar in mein Zimmer zu schleichen. Das Problem war aber, dass meine Mutter am Tisch saß, in der Küche. Da unser Esszimmer und die Küche aber miteinander durch eine Schiebetür verbunden waren, hatte man einen perfekten Ausblick zum Eingang. Leider waren diese besagte Trenntüre an dem Tag offen und ich somit vollkommen im Bild, wie ein Mohrhun, bereit zum Abschuss.
Die Szene kam mir bestens bekannt vor, den sie saß wieder mal mit ihrem Glass Wasser und den Armen, die auf dem Tisch vor ihr lagen, wie ein braves Schulmädchen und wartete, bis ich zu ihr kam.
Ehe sie etwas sagen wollte ergriff ich jedoch das Wort.
„Ich habe mir überlegt, ob es nicht besser wäre ich würde hier ausziehen. So zerstöre ich nicht deine perfekte Bilderbuchfamilie und ich muss mir nicht länger deine Predigten über deine Vermutungen anhören. Aus dieser Lösung zieht jeder seinen Vorteil raus, findest du nicht?“
Sie rührte sich kein Stück. Keine Mimikveränderung und kein Augenblinzeln. Sie sah einfach durch mich durch und schwieg vor sich hin.
„Gut, wenn du eine Antwort parat hast, dann bin ich in meinem Zimmer.“
Ich war gerade dabei mich in Richtung meiner eigenen vier Wände zu begeben als von der leblosen Statue meiner Mutter doch noch ein Lebenszeigen kam.
„Ich will nicht, dass du gehst.“
Nach einer kurzen Pause setzte sie fort.
„Das wollte ich noch nie.“
„Was soll ich dann tun deiner Meinung nach? Ehrlich gesagt habe ich es satt mir ständig deine Gespräch anzutun. Sie sind alle so dumm.“
An meiner Wortwahl sollte ich unbedingt arbeiten, denn irgendwie traf ich immer ins Schwarze damit aber mir kam einfach kein anderes Wort in den Sinn, denn ich war ziemlich nervös und versuchte mit voller Kraft meine Stimme unter Kontrolle zu halten, weil ich ihr nicht zeigen wollte, dass ich mit voller Kraft die Tränen zurückhielt und eigentlich vollkommen kaputt und traurig deswegen war. Auch der Auszug war lediglich nur so dahergesagt aber in Wirklichkeit war ich noch lange nicht bereit dieses Haus hinter mir zu lassen. Ich wusste ja nicht einmal was ich nach der Schule in einem Jahr machen sollte.
„Es tut mir Leid.“
Ich stoppte alle meine Gedankenflüsse und fragte sie, was sie da eben gesagt hatte, denn ich glaubte meinen eigenen Ohren nicht.
„Jill, es tut mir wirklich Leid. Ich weis, dass ich eine sehr schlechte Mutter für dich war. Ich habe mich bemüht aber ich konnte einfach nicht die Liebe aufbringen, die ich hätte haben sollen. Ich war wirklich erleichtert, dass du dich so sehr an deinen Vater geheftet hast all die Jahre. Damit hatte ich immer irgendwie meine Freiheit und dennoch waren wir eine Familie.“
Ich verstand gar nicht, was meine Mutter mir da eben versuchte mitzuteilen, nahm aber ihr gegenüber auf dem Stuhl platz und schnappte jedes ihrer Wörter auf wie ein Diktiergerät.
„Ich wollte keine Kinder haben, denn ich hatte selber keine schöne Kindheit und meine Familie war alles andere als toll. Ich wusste, dass ich nie diese Rolle so vervollständigen könnte. Aber dann geschah etwas, was keiner erwartete. Dein Vater und ich waren vor deiner Geburt eine Zeit lang getrennt und jede lebte sein eigenes Leben. Der Grund dafür waren die unzähligen Streitereien bezüglich des Kinderwunsches. Zu meiner negativen Einstellung erwies sich dein Vater als praktisch unzeugungsfähig und mehrere Versuche der künstlichen Befruchtung schlugen fehl. Zweimal hatten wir fast Glück aber leider endeten die Schwangerschaften als Fehlgeburt. Ich liebte ihn aber irgendwann war einfach auch meine Toleranz und Hoffnung erschöpft.“
Sie stoppte erneut und trank einen Schluck. Mein Wunsch war es jedoch, dass sie endlich weiter sprach, denn es ging um meinen Dad. Da war jedes einzelne Wort wichtig. Aber es erschütterte mich gewaltig welche Einzelheiten meine Mutter da preisgab, denn mir wurde nie berichtet, dass ich eigentlich noch zwei andere potentielle Jills existierten, oder besser gesagt existiert hätten.
„In der Trennung wohnten wir dennoch nach wie vor zusammen und es kam auch in einigen Nächten dazu, dass wir intimer wurden, wenn du verstehst was ich meine.“
Natürlich verstand ich es, ich lebte ja schließlich nicht hinter dem Mond.
„Zu dieser Zeit gab es jedoch auch andere Männer in meinem Leben. Einige Wochen danach erfuhr ich, dass ich schwanger war.“
Jetzt machte mein Herz einen kleinen Hüpfer, denn ich zählte im Kopf eins und eins zusammen und es ergab ganz offensichtlich etwas Schlimmes, was ich aber einfach noch nicht wahrhaben wollte.
„Dein Vater war wahnsinnig glücklich, als ich mit ihm darüber sprach und ihn kümmerte die Tatsache nicht, dass es womöglich nicht sein Kind wäre. Er wollte auch nie einen Vaterschaftstest durchführen. Eigentlich untersagte er es mir und ich gab mich damit ab. Du, Jill hast uns wieder zusammengebracht und ich habe wieder den Mann an meiner Seite gehabt, den ich vor Jahren kennen und lieben gelernt hatte. Aber was dich betraf, so war da einfach nie genug da.“
Sie setzte erneut aus und schien ihre Wortwahl zu überdenken.
„Nicht genug da an Liebe, weil meine Angst um dich immer großer war.“
Sie sah wohl die unzähligen Fragezeichen in meinem Gesicht und lieferte mir eine erstaunliche Offenbarung.
„Du kamst nicht nur zu früh, sondern schwebtest die ersten Jahre ständig in Lebensgefahr. Wir verbrachten viel zu viel Zeit im Krankenhaus, da du ständig Probleme mit deiner Atmung hattest und viel zu oft krank wurdest.“
Ich verstand absolut nichts, denn ich konnte mich nie daran erinnern, dass ich so krank war oder in Krankenhäusern meine Zeit verbrachte.
„Du warst noch so klein und erinnerst dich sicherlich nicht mehr daran aber ich habe immer bei dir gesessen, Tag und Nacht habe ich auf dich aufgepasst, damit du auch am nächsten Morgen noch da liegst und ruhig vor dich hin atmest.“
Jetzt sah ich die einzelnen Tränchen über die Wangen meiner Mutter kullern, die sie weder mit einem Tempo noch mit ihrem Ärmel wegwischen wollte.
„Auch wenn ich Anfangs gegen ein Kind war, so änderte sich meine Einstellen als du endlich da warst und uns beide immer gebraucht hast. Du kannst dir nicht vorstellen wie viele schlaflose Nächte ich verbracht habe bis zu seinem 4. Lebensjahr. Auch heute noch schaue ich ganz selten nachts in dein Zimmer um mich zu vergewissern, das du atmest.“
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, so als würde man mit einem Auto über eine unerwartete Straßenlücke Hopsen. Ich hatte seit Jahren diese Einbildung, dass nachts meine Türe leise quietschte aber ich hielt das immer für eine Wahnvorstellung oder einen bösen Traum. Nun ergab das alles einen Sinn.
„Jill, es tut mir wirklich leid, dass ich so bin wie ich bin. Ich verfalle oftmals in Panik und weis keinen Rat mehr, denn sonst war da immer dein Vater, der mich beruhigte und wieder in die richtige Richtung lenkte. Er war es auch, der dafür sorgte, dass ich meinen Beschützerinstinkt auf ein Minimum zurückschraubte und dich einfach deine Erfahrungen machen lies. Seit er nicht mehr da ist fehlt mir einfach jemand, der mich leitet.
Ihre letzten Worte verstummten in einem Flüsterton und ihre Augen füllten sich noch mehr mit der salzigen Flüssigkeit. Erst jetzt sah ich, wie kaputt und hilflos meine Mutter in Wirklichkeit war, denn sie hatte nicht nur ihren Mann verloren sondern eine „Sophie“, die ihr immer aus der Patsche half.
An so was hatte ich nie gedacht in all den Jahren, dass meine Mutter so wie ich war.
Nein, ich war so wie meine Mutter. Unerwartet stieß ich ein quietschendes Geräusch aus mir hervor, denn nie vermochte ich mich mit meiner Mama zu vergleichen. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie so ziemlich das Gegenteil von mir war und ich auf jeden Fall in die Fußstapfen meines Vaters treten würden und nun konnte es durchaus sein, dass diese Stapfen gar nicht ihm gehörten.
„Liebes?“
Sie heulte immer noch wie ein kleines Mädchen aber schaffte es tatsächlich während ihrer Wasserfallvorführung mir weitere Geständnisse vorzulegen.
„Ich bin auch nicht sauer oder angewidert von deiner Neigung. Es ist mir ehrlich gesagt vollkommen egal wen du mit nach Hause bringst, solange diese Person einigermaßen vernünftige Lebensziele anstrebt. Es war einfach eine Panikreaktion. Ich will einfach nicht, dass du irgendwann was Dummes machst.“
Nach einer kurzen Schnäuzpause setzte sie fort.
„Ich hatte einen Bruder.“
Bereits mit diesen vier Wörtern haute sie mich aus den Socken. Von einem Bruder wusste ich absolut nichts und keiner hatte mir bis dahin erzählt, dass ich einen Onkel hatte.
„Mein Vater hatte ihn damals am Sportplatz mit einem anderen Jungen erwischt, wie sie sich geküsst hatten. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie er ihn windelweich geprügelt hatte und anschließend einen 16 Jährigen aus dem Haus schmiss. Ich hatte weiterhin heimlich Kontakt mit ihm aber auch ich bekam dann meine tracht Prügel und mein Vater verbot es mir.“
Erneut flossen zwei Ströme aus den Augen meiner Mutter. Ihr Mund zitterte und ich sah sie noch nie so ungepflegt vor mir sitzen. Das Haar war zerzaust und stand in sämtliche Richtungen aus dem Pferdeschwanz ab. Sonst hatte sie es immer sehr sorgfältig gemacht und kein einziges Härchen schaute raus. Auch ihre Kleidung war an dem Tag alles andere als schön. Der rosa Trainingsanzug hang schon seit Dads Ableben regungslos im Schrank, denn alleine Joggen wollte meine Mutter nicht.
„Hätte ich ihm damals geholfen und mich gegen meinen Vater durchgesetzt, so hättest du heute einen wirklich wunderbaren und tollen Onkel.“
Die Neugier und das Jauchzen dieser Frau löste in mir solch eine Neugier und zugleich Trauer aus, dass auch mir die ersten Tränen aus den Augen quollen.
„Was ist mit ihm passiert?“
Meine Stimme war so leise, dass ich befürchtete meine Mutter hätte die Frage gar nicht wahrgenommen.
„Er ist an einer Überdosis gestorben. Ich weis bis heute nicht, ob er der Drogensucht verfallen war nach dem Rausschmiss oder, ob er es einfach nicht mehr ausgehalten hatte.“
Meine Familie schien so viel von mir geheim zu halten, denn nie erzählte meine Oma über Opa und wollte auch nicht den Grund der Trennung nennen. Nun verstand ich so einiges. Jeder in meiner Familie hatte einen Verlust erlitten und trug diesen seit Jahren mit sich rum.
Und ich wurde von diesen Ereignisse in wenigen Minuten fast erschlagen, denn so viele Sachen auf einmal konnte eine Jill Sanderson einfach nicht verkraften.
Als wäre das nicht bereits in meinem Gesicht zu sehen gewesen, schob meine Mutter auf einmal einen Umschlag auf meine Tischseite.
„Was ist das?“
Ich hätte mir diese Frage ersparen können, denn auf dem Umschlag stand in einer Schwungvollen Schrift „Für meinen Sonnenschein“. Es war von meinem Vater. Ohne Zweifel war dies seine Schrift und er war es, der mich immer so nannte.
„Dein Vater hatte irgendwann heimlich einen Vaterschaftstest machen lassen und fügte das Ergebnis seinem Testament hinzu.“
„Wusste er die Antwort?“
Meine Mutter schüttelte mit dem Kopf.
„Er wollte es nie wissen aber er dachte, dass du einmal die Wahrheit erfahren magst und keiner wollte dich dazu zwingen mit einer möglichen Lüge zu leben.“
„Und du? Du weist es doch sicherlich oder?“
Zu dem Haufen, der mich unter sich begrub, kam auch eine Welle der Wut, denn mein Vater starb, ohne es zu wissen, ob ich sein Kind war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ihn komplett locker lies und er nicht daran dachte.
„Frauen könne das doch irgendwie abschätzen und berechnen wann das passiert sein könnte.“
Meine Mutter schüttelte erneut nur mit dem Kopf und schnäuzte sich zum zweiten Mal. So langsam schraubte sie ihre Tränenventile wieder zu und schaute mich mit einem erleichterten und doch irgendwie traurigen Blick an.
„Schätzchen, es spielt keine Rolle, denn du und ich wissen ganz genau, dass er dein Vater war. Er hat dich seit dem ersten Tag großgezogen und abgöttisch geliebt. Kein anderer Mensch auf der Welt hätte es besser machen können.“
Da hatte sie allerdings recht, denn dieser Mann war wirklich ein Vorzeigevater. Er half mir, er nahm sich Zeit für mich und er war streng, wenn es sein musste. Auch wenn er es nicht immer schaffte meine Aufführungen oder Spiele anzugucken, so wusste ich genau, dass wir spätestens am Wochenende alle zusammen im Wohnzimmer saßen und uns die Aufzeichnungen ansahen, die meine Mutter mit ihrem Camcorder anfertigte. Das war immer viel schöner, fand ich, denn dabei konnten wir alle drei rumtollen und uns über die anderen Kinder lustig machen. Ja, es war nicht ganz fair und nett aber alle mal witzgeladen.
Jetzt erinnerte ich mich auch an zahlreiche verschwommene Erinnerungen, in welchen meine Mutter da war. Ja sie war es, die mir immer hinterherlief zum Schulbus im Morgenmantel um mir meine Jacke zuzuknöpfen, sowie Mütze und Schal an meinem Kopf und Hals zu befestigen.
Wie aus einem Zauberloch holte sie nun auch noch eine Schachtel hervor. Diese war sehr schön verzieht mit vielen Glitzersteinchen und viel Farbe. Ganz schwach hatte ich es in Erinnerung, wie ich diese Kiste mit meiner Mama bemalt hatte.
„Das ist unsere Schatzkiste!“
Wir sagten es beide gleichzeitig und schauten uns überrascht an. Ich sah meine Mutter noch nie wirklich echt lächeln und fragte mich sogar einige Male, ob sie sich eventuell Botox spritzen lies. Aber da war es endlich ein herzhaftes Lächeln, welches ihr Gesicht in unzählige kleine Falten warf. Der Beweis dafür, dass an ihr noch alles echt war.
„Du erinnerst dich also noch daran. Im Krankenhaus hast du sehr viel für mich gemalt. Ich habe alles aufgehoben und später haben wir diese Kiste gemacht, damit nichts verloren gehen konnte.“
Sie schob die ehemalige Schuhschachte ebenfalls zu mir aber ich konnte es nicht übers Herz bringen diese zu öffnen. Zu viele Erinnerungen platzten plötzlich in mein Gedächtnis und auch sogar die Krankenhausausstattung tauchte irgendwann mal auf. Ich erinnerte mich plötzlich an die vielen Momente, als ich geweint hatte und meinen kleinen Körper fest an den meine Mutter presste.
Ich hatte all das verdrängt, weil sie es war, die mit mir die schlimmsten und schmerzhaftesten Momente in meinem Leben durchmachen musste. So einfach war das also mit dem Verstand. Es löschte das unschöne aus und versteckte es ebenfalls in einer Kiste, die nicht wieder geöffnet werden sollte.
Und die Frau, die immer mitgelitten hatte und mich getröstet hatte legte ihre Schutzfunktion ab, damit ich selber alles erlernen und erfahren konnte. So was stellte ich mir wahnsinnig schwer vor, denn wenn man etwas beschützt, kann man es nicht einfach so allein lassen.
Das musste also das Geheimnis sein, wieso meine Mutter so distanziert zu mir war und wieso sie sich so oft mit meinem Vater nachts gestritten hatte.
Nein eigentlich waren es nicht wirklich Streitereien aber sie beschwerte sich über etwas und ab uns zu hörte ich sie weinen. Damals verstand ich nie wieso sie weinte oder laut wurde aber nun ergab das alles einen Sinn. Immer wenn ich mir wehtat oder mit mir etwas passiert war, klingelten bei ihr alle Alarmglocken und mein Vater hielt sie zurück mich in Tonnen von Klopapier oder Luftpolsterfolie einzuwickeln, damit ich mir nie wieder etwas Brechen oder Prellen konnte. Aber ich verstand immer alles falsch und legte es später mit Sophie so aus, als wäre sie immer sauer auf mich gewesen und würde über mich schimpfen.
Ich hatte von Anfang an meine Mama komplett falsch verstanden.
Sie hatte mich doch sehr lieb. Wahrscheinlich genauso sehr lieb wie Dad.
Obwohl das alles eigentlich gar nicht so tragisch war und auch eine Basisstufe zwischen meiner Mama und mir bildete, so wurde es an dem Abend einfach zu viel für mich.
Es war so, als hätte ich zu schnell gegessen und die Folge dessen war ein fieser Schluckauf. In meinem Fall war es eine unüberlegte Spontanaktion. Eine Flucht.
Ich sah noch hinter mir meinen Stuhl umkippen und stürmte hinaus der dämmernden Sonne hinterher. Die Tränen liefen mir die Wangen entlang und wurden vom entgegenkommenden Wind zu beiden Seiten gedrängt. Einige davon verfingen sich in meinen Locken, andere spürte ich sogar auf meinen Ohren. Immer wieder wischte ich mit dem Ärmel diese weg und lief weiter und weiter ohne ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben, da ich auch kaum was sehen konnte vor lauter Tränen. Ich war sauer auf meine Eltern, die vor mir Geheimnisse hatten und ich war auch sauer auf meine Mutter, die so lange brauchte, um endlich das alles zu erzählen. Auch war ich wütend auf mich selber, denn ich hatte der einzigen Person, die sich in der schlimmsten Zeit so sehr um mich gekümmert hatte, ziemlich wehgetan, seit Dad nicht mehr da war und sie nicht mehr trösten konnte.
Ich denke ihr ging es ohne ihn wirklich sehr schlecht. Ich weis bis heut nicht wie sehr sie sich geliebt hatten aber, wenn sie schon davon sprach, dass keiner mehr da ist, der sie auf dem rechten Weg hielt, so musste das eine Menge aussagen.
Seit ich mit Amely keinen richtigen Kontakt hatte, fühlte ich mich ebenfalls hilflos und irgendwie unvollkommen.
Erst jetzt begriff ich, wo mein Herz mich gefühlt hatte. Ich stand nur wenige Schritte vor ihrer Haustüre entfernt und sah in ihrem Zimmer sogar noch Licht brennen. Ohne zu überlegen ging ich weiter zielgerichtet auf die Türe, blieb aber kurz vor ihr stehen.
Was machte ich eigentlich hier? Währen ich mich das fragte, sah ich meinen Zeigefinger bereits zu dem Klingelkopf schweben und kurz vor der Berührung mit dem Plastikknopf hielt ich inne. Ich schaute kurz auf meine Uhr und erschrak, denn es war bereits nach 22 Uhr. Was hatte ich 2 Stunden draußen getrieben?
Langsam drehte ich mich um und wollte gerade losrennen, als ein Lichtstrahl meinen Lockenkopf traf. Zugleich spürte ich die leichte Regentropfen auf meinem Gesicht und wischte sogleich mit dem Ärmel drüber, um auch die Tränen zu verbergen. Erst dann traute ich mich einen kurzen Blick nach hinten zu werfen.
Da stand sie in einer Jogginghose und einem Pulli mit einem Hasen als Applikation drauf. Erinnerte mich sehr stark an den aus „Bambi“.
Ich sah, wie sie leicht zur Seite schritt und die Tür weiter aufmachte. Eigentlich hätte ich mich darüber wundern sollen oder zigmal diese Aktion nachdenken, was es zu bedeuten hätte aber meine Denkkraft war einfach erschöpft für diesen Tag. Ich folgte ihr schweigend in ihr Zimmer, sie blieb jedoch nicht, sondern ging erneut raus.
Ich weis nicht wie lange ich auf dem Schreibtischstuhl saß und an meinen Kaputzenschnürren rumzerrte aber endlich ging die Türe wieder auf und Amely schritt mit zwei Tassen in den Händen ins Zimmer. Eine wurde schweigend an mich überreicht und Amy nahm mir gegenüber Platz.
Eigentlich wusste ich gar nicht was ich hier tat und wieso ich hier saß aber draußen im Regen zu stehen wäre auch nicht die beste Option gewesen.
Trotzdem schaffte ich es nicht sie anzusehen oder gar meinen Mund aufzubekommen und all das rauszulassen, was die letzten Stunden mich innerlich zerfressen hatte.
Immer wieder schniefte ich, versuchte dies aber so leise wie möglich zu gestalten, denn ich wollte nicht wie ein Schwächling vor der Frau meiner geheimen Träume wirken. Wer schon einmal versucht hat unauffällig die Rotze wieder die Nasengänge hochzujagen und dies möglichst unauffällig weis genau wie schwer, beziehungsweise unmöglich dieser Akt ist, denn um die besagten Gänge frei zu bekommen bedarf es eine bestimmte Geschwindigkeit mit der die störende schleimige Substanz sich fortbewegen muss und ich war nicht gerade in der besten Position dafür, denn mein Kopf war gesenkt und die Augen starrten die warme Tasse mit dem milchigen Getränk an, welches bei jeder Bewegung sofort kleine Wellen in der Tasse bildete. Ich befürchtete mehrmals, dass mir ein Tropfen entwischen würde und direkt in die Tasse fallen könnte. Sogleich bildeten sich natürlich die kuriosesten Szenarien, wie Amely darauf reagieren würde. Ehe eines davon Wirklichkeit werden konnte, sah ich unerwartete ein weißes rechteckiges Stück Papier vor meiner Tasse flattern. Amy hatte sich zwar kein Zentimeter gerührt aber streckte sich komplett zu mir durch und wartete darauf, dass ich das Tempo annahm. So viel zum Thema Undercoverschniefen.
Nachdem meine Atemwegen wieder vollkommen frei waren und Stille in das Zimmer kehrte, dachte ich wieder an das Gespräch mit meiner Mutter und ich verstand absolut nicht, weshalb ich ausgerechnet nun bei Amely im Zimmer war und nicht bei Sophie, wie es eigentlich der Fall hätte sein müssen.
„Also du kannst zwar gern weiterhin deinen Kakao anstarren und dich bei mir ausschweigen, mir macht es nichts aus.“
Das Mädchen mit den Violetten Strähnchen zog ihre Beine noch enger an ihren Körper und sah mich dabei aufmerksam und musternd an.
„Oder du erzählst mir was passiert ist, denn das sieht nach einer Mords Story aus.“
Dabei bildete sie mit ihrem Zeigefinger einen Oval in der Luft, der meine Wenigkeit fast ganz einschloss und es musste keine Erklärung folgen, was sie mit DAS gemeint haben könnte. Zur Sicherheit wischte ich erneut mit meinem Ärmel über mein Gesicht, weil ich befürchtete, dass einige verräterische Tränchen sich immer noch auf meiner Haut verschanzt hätten und belustigend vor sich hin funkelten.
Nach einigen Seufzern wagte ich es eine Blick auf sie zu werfen. Amely saß ganz locker da und musterte mich ziemlich eindringlich. Vielleicht wollte sie so im Vorfeld die Geschichte aus mir entlocken. Die Andere, eher unglaubwürdigere Variante war, dass sie Gedanken lesen konnte. Sie wirkte aber weder Sauer noch schlecht gelaunt. Welche Stimmung sich aber wirklich hinter ihrem dezenten Lächeln verbarg, konnte ich absolut nicht deuten.
Unsere Blicke trafen sich und ich zog abrupt meinen Blick wieder in Bodenrichtung, denn hier fühlte ich mich sicherer. Keine wunderschönen Augen, die mir entgegenblickten und meinen Körper mit jedem Augenblinzeln durchbohrten. Keine zarten Lippen, die in mir ein unersättliches Verlangen auslösten diese zu berühren, zu küssen.
Der Boden bat mir keines dieser Verlockungen an. Zum Glück.
Mit schweren langsamen Wörtern begann ich meine Erzählung, die ich ausschließlich diesem unattraktiven Bodenbelag widmete und steigerte mich selber immer weiter und weiter in die einzelnen Episoden, die sich in mein Auge einbrannten und einen Abdruck für immer hinterließen.
Zwischen diesen Kopfdias tauchten auch neue auf. Es waren nicht wirklich neue Bilder aber die, die ich mit Erfolg so viele Jahre aus meinem Kopf verbannt hatte. So sah ich mich wieder und meinen Dad. Auch meine Mutter tauchte immer öfters auf und erschütterte mein Gewissen immer wieder aufs Neue. Wir waren wirklich glücklich. Einst.
Bevor ich mit den letzten Kopfbildern durchwar, sah ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung, die immer Näher auf mich eilte und schließlich eine warme Handfläche auf meinem Rücken landete. Ihr gesamter Oberkörper positionierte sich direkt vor meinem Kopf und beide Arme umschlossen mich wie eine schützende Schicht.
Vor meinen Augen sah ich eine imaginäre Rose, denn genau so ist es bei dieser zarten Pflanze auch. Die äußeren Blüten sind meistens nicht mehr so kräftig rot und haben oftmals kleine Falten, Risse oder andere Makel, aber indem sie da sind schützen sie die zarten inneren Blätter und lassen diese Blume später in vollem Glanz erstrahlen und ihren magischen Duft verbreiten.
Amely war zwar weder rissig, noch hatte sie eine falsche Farbe aber dennoch fühlte ich mich in diesem Augenblich ebenso behütet wie das Innere eine roten Rose.
Sie sagte kein einziges Wort an diesem Abend. Sie stand nur da und hielt mich fest umschlossen und die einzigen Wörter, die ich zu hören bekam war ein Angebot bei ihr zu bleiben, falls ich nicht zu Hause übernachten wollen würde.
In der Tat war es schon längst nach Mitternacht und zu Sophie konnte ich auch nicht mehr. Diese wäre sicherlich wie eine Furie auf mich gestürzt, anstatt mir zuzuhören und mich zu trösten. Hier bleiben konnte ich aber auch nicht. Ich hatte für den Tag wirklich mehr als genug erlebt und wollte schlichtweg einfach meine Ruhe haben. In der Nähe dieser irdischen Götten verspürte ich diese sicherlich nicht. Mit einer leicht betrübten Stimmung löste ich mich aus ihrer Umarmung und huschte wie ein Schatten ins Bad.
Sie sah mich mit ihren müden und roten Augen an. Die junge Frau auf der anderen Seite und ihre Locken schwankten leicht hin und her, obwohl sie ganz ruhig zu sein schien. Durch das zahlreiche Reiben des Gesichts mit den Ärmeln ihres Pullovers wurden nun die kleinen wenigen Sommersprossen erst so richtig zum leuchten gebracht und zierten den ganzen Nasenrücken und Wangen. Sie sah wirklich sehr kaputt aus und brauchte eine lange ruhige Nacht, um wieder eine Tageslichttaugliche Gestalt anzunehmen.
Ich wendete den Blick wieder ab vom Spiegel, denn ich hatte genug von DAS gesehen und wusste nun bescheid, was gemeint war. Mit dem etwas frischerem Gesicht nach einer kalten Wasserkur, schlenderte ich wieder in das kleine Reich meiner traumhaft schönen Prinzessin und fand abgesehen von ihr eine weitere Person vor.
„Ach du musst Jill sein.“
Kaum war dieser Satz zu mir vorgedrungen, schon spürte ich eine feste Umarmung und die ältere Dame quetschte bereits all meine Knochen mit einem herzhaften Lächeln im Gesicht.
„Amely hat mir schon so einiges von dir erzählt und ich freue mich schon so sehr auf euer Theaterstück. Das wird grandios.“
Ich sah hinter der Frau wie sich Amys Kopf etwas senkte und sie ihre Arme im rechten Winkel ineinander verschlungen fest an sich presste. Anschließend hob sie einen doch wieder empor und stützte leicht ihre Stirn auf einigen Finger ab. Dabei bildeten sich zahlreiche Falten auf ihrer Haut und diese kamen nicht nur von der stützenden Bewegung. Es war ihr sichtlich unangenehm, dass die andre Dame so viel ausplauderte.
„Maaaaaaam, ist schon gut. Du musst ja nicht gleich so übertreiben.“
Es folgte eine kurze Pause in der ein leiser zischender Laut die weichen Lippen meiner Angebeteten verließen, während ich endlich wieder nach Luft schnappen konnte.
„So oft habe ich von ihr nun auch wieder nicht geredet.“
Die andere Dame, die offensichtlich Amelys Mutter war, warf ihrer Tochter ein seltsames Lächeln entgegen und klopfte ihr leicht auf die Schulter. Anschließend wendete sie sich wieder zu mir und ein Wasserfall an Worten überflutete meine Gehörgänge aufs Neue.
In dieser kurzen Zeit wurde alles in wenigen Sätzen verkündet und halb entschieden. Es ging um die Übernachtung, die bereits Amy einigen Minuten vor der Ankunft ihrer Mutter mir angeboten hatte. Nun war es aber ihre Mama selber die leicht hysterisch darauf bestand, dass ich in diesem Haus bleiben sollte, denn draußen war es schon viel zu düster und stürmisch.
Das war mir egal, denn kein Sturm der Welt war vergleichbar mit dem Tornado, der durch meinen Körper wütete, wenn Amely mich auch nur mit dem kleinen Finger berührte.
Ehrlich gesagt war ich inzwischen mehr als erregt, allein durch ihre Umarmung von vorhin und verspürte ein brennendes Bedürfnis diesen Druck aus mir herauszustöhnen und je mehr ich daran dachte neben Amely einzuschlafen, desto versauter wurden die zwischen Einblendungen in welchen ich diese Schönheit von Kopf bis Fuß mit meinen Küssen überhäufte. Es gab nur eine einzige vernünftige Möglichkeit. Die Flucht.
Den ganzen Weg über versuchte ich an das Gespräch zwischen mir und meiner Mutter zu denken aber es war vergebens, denn das einzige was mein Gehirn zu dieser spätern Stunden noch fabrizieren konnte, waren sexvolle Gedanken an meine Zuhörerin. Ich kam mir vor wie ein primitives Wesen, das kurz davor war einen Busch oder den nächsten Hydranten anzurammeln. Solche Seiten kannte ich an mir gar nicht, zumindest nicht in solch einem Ausmaß.
Die einzige Abkühlung, die mein Kopf abbekam, waren die mittelgroßen Regentropfen, die mich komplett durchnässt hatten, als ich daheim angekommen war und das obwohl mir Amelys Mama extra einen großen Regenschirm mitgegeben hatte. Dieser blieb aber den ganzen Weg über verschlossen, denn ich empfand die Tropfen sehr angenehm auf meiner Haut.
***
Gleich am nächsten Morgen rannte ich zu meinem Therapeuten. Ich war absolut nicht in der Laune einer weiteren Person von meinem Kummer und Leid zu erzählen aber ich wollte einfach keine Menschenseele sehen und schon gar nicht Amely. Die halbe Nacht verbrachte ich damit meinen Geilcheitspegel wieder runterzuschrauben und die andere Hälfte träumte ich davon wie Amy dies bei mir tat und Folge dessen war, dass ich wieder mit einem Kopf voller schmutziger Gedanken wach wurde und diese mich durch mein gesamtes morgendliches Ritual verfolgten.
Für die restliche Woche konnte ich mir eine Entschuldigung ergattern und war sehr froh darüber, denn so hatte ich einfach nur Zeit, um etwas abzuschalten. Keine Amy, keine Schule und keine Freunde, die mich darauf ansprechen würden was mir mit los sei.
Die einzige der ich mich anvertrauen wollte war natürlich Sophie. Deswegen wartete ich nach Schulschluss in der Nähe ihres Hauses auf sie. In ihrem Haus hätte ich auch warten können aber ich war mir sicher, dass Birgit mir zahlreichen Fragen stellen würde und ihre Dialoge endete meistens erst nach stunden des Zuhörens.
„Hey du Dummkopf, wieso hast du mir den nichts gesagt, dass du nicht in die Schule kommst?“
Genau so erwartet man doch eine liebevolle Begrüßung einer guten Freundin, oder?
Ich grinste unschuldig vor mich hin, denn in der Tat hatte ich Sophie keine Sms gesendet und war mir sicher, dass sie Träumsuse sicherlich verschlafen hatte.
„Nein ich habe nicht verschlafen aber war dennoch zu spät, weil ich zu lange auf dich gewartet habe.“
Mit dem nach wie vor übertriebenem Grinsen, streckte ich ihr einen Milchshake entgegen, der auf dem Weg besorgt wurde und hackte mich an ihrer linken Seite ein. Das war immer unser Ding. Wir hielten Händchen, Hackten uns beieinander ein oder Umarmten uns. Man könnte eigentlich sagen, dass es eine Fast-Beziehung war, nur eben ohne Sex.
An diesem Tag erzählte ich dann schon zum dritten Mal laut meine Geschichte und hatte sie bis zu dem Zeitpunkt sicherlich mir selber um die 20-mal vorgespielt. Trotzdem behielt ich nichts für mich und schilderte alles Haargenau, nur den Teil mit Amely ließ ich dezent aus und machte aus dem Besuch einen langen Spaziergang. Ich befürchtete, dass Sophie mir sauer sein oder es falsch aufnehmen könnte, denn für sie war die Situation mit Amely schon lange eine Riesenbedrohung.
Ich kannte meine heimliche Liebe gerade mal fast ein Jahr und sie konnte mich bereits jetzt schon ebenso gut durchschauen wie meine beste Freundin, die einige Jahre mehr im Genuss meiner Freundschaft schwelgte.
Wenn man Neun Monate zurück dachte, so wäre mir nie in den Sinn gekommen etwas auszulassen zu meinen Gunsten oder allgemein mit solch einer List vorzugehen. Es mag ja sein, dass es nicht gerade eine überaus gute Eigenschaft ist aber die Tatsache, dass ich diese besaß und nicht mehr blind wie ein Lemming die Wahrheitsklippe hinuntersauste war ein total wichtiger Entwicklungsschritt für mich selber.
An diesem Tag redeten wir noch einige Stunden darüber und dann war diese Geschichte passé und wurde auch nicht erneut hervorgekramt, bis zum heutigen Tag.
Am nächsten Tag entschloss ich mich dazu eine weitere wichtige Person zu besuchen. Das Hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr getan. Einerseits wollte ich nicht den Ort der Traurigkeit betreten und andererseits hielt ich es immer für eine total bescheuerte Idee jemanden zu besuchen, der schon lange tot war. An diesem Tag war es aber anders. Ich wollte so gerne meinem Dad alles erzählen, was in meinem Leben in den letzten Monaten vorgefallen war. Der Tag war fantastisch, denn die Sonne schien, als gäbe es kein Morgen mehr und nur wenige hauchdünne Wolkenteppiche zogen langsam vorüber.
Als ich am Grab ankam sah ich natürlich frische Blumen auf der Erde liegen. Meine Mutter war anscheinend in der Früh hier, vor der Arbeit.
Ich lehnte mich an der Seite des großen Marmorblockes an und sah durch die stark verästelte Linde, den wenigen Sonnenstrahlen entgegen, die mein Gesicht berührten.
„Ziemlich guter Platz hier bei dir. So holt man sich definitiv keinen Sonnenbrand beim Liegen.“
In dem Augenblick stellte ich mir vor wie Dad lachte oder eine etwas ernstere Mine zog aber dennoch ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln hatte, so wie immer, wenn das Gesagte eine Witznote besaß aber es unangebracht war über die Wörter zu lachen.
„Weist du, es ist echt viel passiert in meinem Leben. Du würdest sicherlich echt lachen und Tränen dabei vergießen Literweise, wie Dumm deine Tochter ist, die angeblich einen überdurchschnittlichen IQ-Wert hat.“
Ich machte eine kurze Pause und zog mein Tagebuch aus meinem Rucksack heraus. Ich zog meine Beine an mich und verwandelte diese zu einer Buchstütze und legte die mir inzwischen sehr wichtige „Schreibsammlung“ auf meine Oberschenkel.
„Ich habe eine wunderbare Frau kennengelernt. Dad, sie hätte dir sicherlich gefallen. Sie ist wahnsinnig Klug und sozial engagiert. Ihr Leben ist bereits für die nächsten 10 Jahre durchgeplant. Das hätte dich sicherlich beeindruckt, denn du warst immer ein Planfanatiker. Wenn sie mit der Schule fertig ist, will sie erst mal eine Weltreise machen. Davon hast du mir sehr oft erzählt, dass ich irgendwann groß und stark bin und in der Lage sein werde alle wunderbaren Dinge zu sehen, die diese Welt für mich erschaffen hat. Ist schon ein Weilchen her, als du mir das erzählt hast aber das weist du ja selber.“
Ich machte eine kleine Monologpause und dachte an den Krankenhausauenthalt und an meinen Vater, der neben mir saß und trotz mehrere Schläuche an die ich angeschlossen war, sprach er fest davon überzeugt, dass ich einmal die ganze Welt bereisen würde. Mein Alter weiß ich nicht mehr, nur an den Blick meiner Mutter konnte ich mich seit dem Aufklärenden Dialog erinnern. Sie hatte viele Tränen in den Augen und schüttelte immer wieder leicht mit dem Kopf. Später, als beide aus dem Zimmer waren, stritten sie.
„Mama hat mir alles erzählt. Von ihr, von euch, von meinem schwulen Onkel, der leider nicht mehr am Leben ist und auch von dem Brief.“
Langsam zog ich den immer noch verschlossenen Brief aus dem Tagebuch hervor und betrachtete die geschwungene Schrift auf dem Umschlag.
„Ich weiß zwar, dass du mir das hier hinterlassen hast, damit ich nicht mit einem Geheimnis leben muss aber ich bin mir noch nicht ganz sicher ob ich dein Geheimnis auflösen will.“
Ich steckte den Umschlag vorsichtig wieder zwischen zwei Seiten in das Buch und machte dieses wieder zu.
„Geteiltes Leid ist halbes Leid. So sagt man ja. Ich würde dir aber gern etwas anderes Vorlesen. Das wird dich sicherlich viel mehr erfreuen. Es ist so zu sagen mein Gedankenfluss der letzten Monate. Ich hab jetzt nämlich ein Tagebuch, welches ich mit Songtexten, Gedichten und anderen Wortfetzen fülle.“
Ich blätterte etwas nervös durch die Seiten des Büchleins und war mir nicht sicher welche Seite ich nun vorlesen sollte. Eigentlich hatte ich nie vor diese Gedanken jemanden zu offenbaren.
Auf einer der ersten Seiten blieb ich schließlich stehen und musste über die Worte schmunzeln, die meine Augen rasch überflogen.
„Diese hier ist denk ich mal ziemlich gut. Es geht um die Frau, die ich liebe. Damals habe ich sie noch nicht lange gekannt.“
Ich räusperte mich mehrmals theatralisch und begann die Zeilen vorzutragen.
Ein Moment, so nah
Ein Hauch, so zart
Der Blick, unheimlich klar
Ein Gedanke, so weit
Eine Prise, so kalt
Der Halt, ewige Zweisamkeit
Ich hielt kurz inne und fragte mich in diesem Moment selber, ob diese Zeilen lächerlich klangen oder für außenstehende überhaupt einen Sinn ergaben. Vielleicht trugen sie aber auch einen Hauch Verzweiflung in sich. Die Verzweiflung, die mich damals und auch heute noch begleitet. Letztes Jahr konnte ich allerdings mit dieser Verzweiflung nicht umgehen und dabei ging es nicht einmal um Amely, sondern um mich selber. Sie war lediglich die rote, perfekt aussehende Kirsche auf der Riesentorte.
Über den Geschmack dieser, meist konservierten Frucht konnte man allerdings streiten. Die Einen mögen sie und die Anderen nicht. So ist das eben.
Auch ich wusste jetzt nicht mehr, ob ich nun wirklich Amely mochte oder wurde die Verzweiflung mit der Zeit zu einem alltäglichen Begleiter, der mir mit jedem verstrichenen Tag sympathisch wurde. In der Zeitspanne von nun knapp über einem Jahr lag, habe ich sehr viel erfahren und erlebt und nun kam ich mir vor wie ein „Hintermöndler“. Eine selbstkreierte Zusammensetzung aus dem Begriff „Hinterwäldler“ und der Redewendung „Hinter dem Mond leben.“ Dies übertraf in dem Sinn also beides und genauso fühlte ich mich auch. Ich fragte mich nun immer öfter, warum ich so sorglos und naiv durch die Welt schritt. Wieso ich nach Dad’s Tod den Wunsch aufgab zu leben und größere Ziele anzustreben, denn das Wichtigste war schließlich, dass er in meinen Erinnerungen weiter existierte und dies sollten so viele Menschen wie möglich erfahren.
Mein Vater war mein Vorbild und für mich einer der besten Menschen auf der Welt.
Ich verbrachte noch einige Stunden auf diesem einsamen Fleck und ließ mich von meinen Gedanken und Erinnerungen heimsuchen, während ich meinen stillen Zuhörern weitere Zeilen aus dem kleinen Büchlein preisgab.
Als Die Sonne bereits die meisten Baumkronen berührte und ihre letzten rötlichen Strahlen entsendete, verließ ich Dad aber dieses Mal fühlte ich mich nicht schwer oder traurig, denn ich hatte mir den ganzen Tag die Seele aus dem Leib gequatscht. Alles was mir so einfiel verließ unbedacht meine Lippen und es tat einfach unendlich gut.
Aber nun war ich wieder in der Zivilisation angekommen und alles setzte sich plötzlich wieder in Bewegung. Ich hörte die zahlreichen Vogelgesänge, die sich gegenseitig überschlugen. Autos rauschten an mir vorbei und die Kinder spielten auf den Straßen.
Auf dem Friedhof war nichts davon vorhanden. Ja sogar die Vögel verhielten sich an dem Ort stiller.
Ich wusste nicht einmal genau wie spät es war und wagte nun endlich einen Blick auf mein Handy, welches den ganzen Tag unberührt in meiner Hosentasche verweilte.
6 verpasste Anrufe!
Ich schien weitaus begehrter zu sein, als ich dachte. Die Anrufe waren allerdings alle von derselben Person gewesen. Naomi, unsere Kostümschneiderin vom Theaterstück. Diese hatte auch eine Organisatorische Ader mit der sie mich nun 6-mal in den vergangenen Stunden belästigt hatte. Leicht zögerlich drückte ich auf die Rückruftaste und lauschte dem monotonen „Tut“ welches allerdings ausblieb, denn Naomi ließ meinen technischen Kommunikationsbegleiter nicht zu Wort kommen.
„Jill? Jill bist du das?“
„Nein hier spricht ihr Kidnapper. Ich fordere als Lösegeld 3 Knoppers!“
Ein leises Kichern, welches aber abrupt unterbrochen wurde
„Wir haben einen Notfall!“
Ich kramte mit meiner freien Hand mein Headset aus meinem Rucksack hervor und verband dieses mit meinem Telefon, denn ich wusste, dass Naomis Erzählungen sehr ausschweifend wurden und da sie in diesem Fall von einem Notfall sprach, konnte es sich nur noch um Stunden handeln, bis alles geklärt war.
„Hörst du mir zu? Jill?“
„Na klar.“
Naomi war echt eine nette Person. Etwas zu überperfektionistisch veranlagt und viel zu motiviert. Sie hatte zahlreiche Hobbys, die sie in der Schulzeit betrieb und noch mehr, die sie in der Freizeit ausübte. Da war das Nähen der Kostüme nur eine Kleinigkeit für sie. Abgesehen davon hatte Naomi nur die besten Noten. Und ihre Eltern hatten da absolut keinen Einfluss drauf. Soweit ich das wusste, waren die familiären Verhältnisse eher unheimlich und ziemlich heruntergekommen. Vielleicht war sie deswegen früher oft bei Freunden übernachten, auch bei mir. Nachdem wir aber beides auf dasselbe Gymnasium kamen, veränderte sich etwas bei ihr. Sie verfiel regelrecht in das Streberdasein und auch in sämtliche Sportkursbelegungen. Ich nahm an, dass sie einfach ihrem Alltag und besonders ihrer Familie entfliehen wollte. Ihre Eltern waren der Überzeugung, dass ihre Tochter nichts bei den Klugscheißern verloren hätte und genauso gut auch im Supermarkt um die Ecke ihre Ausbildung anstreben könnte.
„Versprichst du mir, dass du da bist?“
„Natürlich Naomi, wie könnte ich es verpassen mein Romäo-outfit dem öffentlichen Pöbel vorzuführen.“
„Scherze nicht, es hat Simone und mich echt viel Mühe gekostet die Reststoffe kostenlos zu ergattern und dann auch noch die Schnittmuster. Ich bin zahlreiche Nächte daran verzweifelt.
Damit meinte sie gewiss nicht das fehlende Verständnis diese richtig abzulesen, nein Naomi erstellte alle Schnittmuster selber anhand der abgenommenen Maße von uns allen. Erst vor wenigen Monaten erzählte sie mir, dass sie später genau diesen Weg gehen wollte und irgendwann ihre Nähkünste auch im Beruf einsetzen würde. Das restliche Engagement war nur Zeitvertreib. Ich sah das deutliche vor meinem inneren Auge, wie irgendwann dürre, halb verhungerte „Next Germanys Topmodels“ und internationale langbeinige, laufende Kleiderbügel in ihren Kleidern auf den wichtigsten Laufstegen der Welt herumschwankten.
„Ich werde da sein, versprochen.“
„Gut, dann bin ich beruhigt. Nun fehlt nur noch Amely, die konnte ich ebenfalls noch nicht erreichen.“
Ich schluckte, denn sofort erinnerte ich mich an unsere Rollen und die innige und doch sehr leidenschaftliche Verbundenheit dieser Charaktere. Und dabei wollte ich doch nur eine ruhige Amely-freie Woche haben. Für diese hatte ich mich sogar bei meinem Seelenklempner freiwillig, ja ich betone noch mal freiwillig, ausgeheult, um die freie Woche zu ergattern und nun war alles für die Katz.
Ich verabschiedete mich von Naomi und legte mit einem tiefen Seufzer auf.
Am kommenden Donnerstag war die Generalprobe, um nochmal alle Texte und Bewegungen aufzufrischen, denn es lagen doch einige Wochen her, seit wir das Stück durchgespielt hatten. Diese plötzliche Genehmigung war zwar sehr positiv, wenn man es im Ganzen betrachtete, den wir hatten die Hauptaufführung vor dem Tag der offenen Türe. Für unsere Theatergruppe war das allerdings ein reines Chaos. Naomi musste noch einige Kostüme wieder reparieren, den nicht alle schätzten diese Nähkünste so sehr, dass sie behutsam aus den Kleidern herausschlüpften nach den Proben. Einige hatten bereits ihre Texte fast vergessen und andere hatten schon längst keine Lust mehr auf das ganze Stücke.
Wie auch immer die Situation war, schaffte es Naomi alle herbeizurufen bis auf Amely, die zu der Generalprobe nicht erschien. Der Grund dafür wurde mir leider nicht genannt. Naomi erwies sich als eine Antitratschtante was aber zu ihrem Streberdasein ziemlich gut passte. Sie war es auch, die die Rolle der Juley übernahm und mithilfe eines Textes sehr überzeugend rüberbrachte. Ich wollte schon fast erwähnen, dass sie Rolle der zweiten Hauptperson doch besser ausgetauscht werden sollte aber dies hätte sicherlich wenig Anklang gefunden und am Ende hätte es wieder schlimme Gerüchte an der Schule gegeben, dass ich Amely „mobbe“. Bei der Kussszene wollte ich dies nur theoretisch durchgehen und zum weitern verlauf überspringen, wurde aber von Naomi mit strengem Blick dazu gebracht auch diese Szene durchzuspielen und presse meine Lippen auf ihre. Bei ihr hatte ich keine Hemmungen und dachte nicht mal nur annähernd daran, dass hier irgendwie etwas missverstanden werden könnte. Kein Herzpochen kein Funken. Nichts.
Aber genau dieses Nichts wurde von Simone, die als eine der „fake“-Zuschauer in der ersten Reihe saß sofort bemängelt und es wurde mehr Romantik und Leidenschaft verlangt.
„Also mit Amely klappte es wesentlich besser. Streng dich mehr an Jill, auch wenn das nur eine Probe ist.“
Ich wollte schon laut sagen, dass es womöglich ja nicht an mir lag sondern an Amely, die nicht da war, verkniff es mir jedoch im letzten Moment zu meinem Vorteil.
Nach der Probe warf ich einen Blick auf mein Handy, welches mitten im Vorsprechen einen vibrierenden Ton von sich gab. Ich wollte wissen, wem ich meinen Hänger zu verdanken hatte.
„Hey Kleine! Tut mir Leid. Das Alibi ist nun geplatzt. Glaube es ist Zeit…“
Mir blieb der Atem weg. Einen Tag vor der Aufführung. Ich war erledigt.
AMELY
Mein Leben verlief nicht so wie es eigentlich ursprünglich geplant war. Meiner Familie wurde viel zu früh ein wichtiger Teil genommen und das Familienpuzzle war von dem Tag an unvollständig. Jeder wusste zwar, dass der Tag kommen würde aber auf den Abschied war dennoch niemand wirklich vorbereitet, am wenigsten ich selber. Der Darauffolgende Umzug und somit ein Neuanfang sollte meiner Mutter und mir wieder Hoffnung machen und alles zum Bessere wenden. So dachte ich jedenfalls, bis mir diese eine besondere Person begegnete. Ihr Schicksal glich meinem und dennoch waren wir so unterschiedlich wie es nur Personen sein konnten. Ich, die offene, direkte, leicht angriffslustige und vor mir das verschlossene Buch mit 20 Siegeln. Jill Sanderson stellte mein frisch aufpoliertes neues Leben auf den Kopf.
Ich durchschaute die meisten Personen nach wenigen Treffen. Bei einigen reichten auch wenige Blickkontakte aber nichts traf auf Jill zu. Es gelang mir nie hinter die Fassade dieser atemberaubenden Frau zu blicken und je weiter ich fortschritt, desto verwirrender wurde die Situation. Viele Male fasste ich meinen gesamten Mut zusammen und wollte einfach direkt gestehen was ich empfand und schaffte es nie. Es lag nicht an meinem Versagen, sondern an den ungeahnten Wendungen, die unsere Beziehung veränderten und mich verunsicherten.
Ich dachte, nein ich war felsenfest davon überzeugt, dass mich nie wieder etwas so sehr bewegen würde, wie die letzten Monate mit meinem Vater und doch saß ich nun da, in meinem Zimmer und atmete tiefer als gewöhnlich ein, um ihren Duft, denn sie in meinem Raum zurückließ, zu inhalieren. Ich fühlte mich so nutzlos und dachte an die letzten Stunden. Wie diese wunderbare Frau beinahe in meinen Armen all ihren Kummer vor mir ausbreitete und offensichtlich nach Trost und ein paar guten Argumenten suchte. Diese zwei einfachen Punkte konnte ich ihr nicht geben. Ich hatte versagt. Das einzige was mein Verstand erbringen konnte war eine lange Umarmung. Ich stand auf und hielt sie einfach nur in meinem Armen und ich war mir mehr als sicher, dass mein Unterbewusstsein dies in erster Linie aufgrund der Gefühle eingefädelt hatte und erst dann kam die tröstende Initiative.
Aber nun war sie fort und ich konnte kein Auge zumachen. Ununterbrochen musste ich an sie denken und dies noch mehr als sonst. Ich fragte mich schon so oft, ob Jill wirklich glücklich in ihrer Männerwelt war oder gab sie sich einfach nur damit ab und ahnte eventuell nicht, dass ihr Herz in Wahrheit der Frauenwelt gehörte? Ich, oder bessergesagt mein Herz irrte sich nie, was die Frauenwahl anging. Ich hatte mich noch nie in die falsche Frau verliebt. Wohl eher in die weniger richtigen aber sie waren zumindest immer zum gleichen Geschlecht zugeneigt und nun versagte meine Spürnase. Das Schlimmste an der Situation waren aber die Momente, die wieder Hoffnung gaben. Oder ich verlieh einfachen Momenten einen Hauch Hoffnung, denn wenn man gewisse Worte oder Taten oft genug herumdreht und wirbelt, kann man daraus einen anderen Kontext definieren. So war es auch sicherlich an diesem Abend. Jill kam als eine gute Freundin zu mir und ich reimte mir mehrmals zusammen, dass sie womöglich ihrem Herzen gefolgt wäre.
So ein Blödsinn!
Am nächsten Morgen ließ ich mich von meiner Mutter in der Schule Krankmelden. Ich hätte es auch selber tun können aber, wenn sie dies tat, klang es doch glaubwürdiger. In meiner Familie wurde auch nicht ausgefragt, wieso, weshalb, warum. Man vertraute sich gegenseitig. Es sollte auch nur ein freier Tag werden, der den Gefühlsnebel aus meinem Kopf vertreiben sollte, leider erwischte ich zu meinem Pech wohl nicht mehr die frischesten essbaren Sachen im Kühlschrank und verbrachte die zweite Nacht ebenfalls schlaflos im Bad. Vielleicht habe ich aber auch einfach meine Gefühle und all den Kummer versucht auszukotzen. Ohne Erfolg.
In meiner Familie war es auch immer Üblich, dass man miteinander redete, wenn man den Verdacht hatte, dass es einem Mitglied nicht gut ging. Das Adlerauge hatte ich demnach von meiner Mutter geerbt, denn diese besuchte mich an meinem ungeplanten zweiten freien Tag in meinem Zimmer um zu reden und aus zwei Schulfreien Tagen wurde spontan eine ganze Woche. Meine Mama tröstete auf ihre Art und Weise, in dem sie mir eine Packung Eiscreme mitbrachte und mehrere Horrorfilme, die gemeinsam bei einer ungesunden Riesenportion Eis angeschaut wurden. Schnulzige Filme kamen da nicht in Frage. Diese verursachte nur noch mehr Kummer aber bei einzelnen Körperteilen, die blutig in der Gegend flogen war das Gehirn mit ganz anderen Dingen beschäftigt als dem Herz ein Kummersignal zuzusenden.
Es hätte in der Tat eine wahnsinnig tolle Woche werden können, in der ich einige Kilos an Eiscreme zulegen würde, wäre da nicht der Anruf von Naomi gewesen, der alles verdarb. Die Theateraufführung. Romäo. Jill. Kuss.
Ab dem Augenblick halfen kein Eis mehr und auch nicht der schrecklichste Gemetzel-Film der Welt. Vor der Generalprobe konnte ich mich mit einer Notlüge ausreden aber am Freitag konnte ich die anderen einfach nicht im Sich lassen, nur weil meine Gefühle gerade mal Achterbahn fuhren.
So ergab sich also eine noch deprimierende Stimmung als zuvor. Einige Freundinne von mir, die Bescheid wussten, beschlossen deshalb die trübe und lustlose Amely etwas aufzuheitern, indem sie bei dieser unerwartet auftauchten, ihr befielen sich herzurichten und anschließend in die Stadt entführten.
„Etwas mehr Leben um dich herum tut dir sicher gut, Zombie!“
„Vielen Dank für das Kompliment.“
„Deinen Sarkasmus kann man trotz der monotonen Sprechweise heraushören.“
„Ich wollte gar nicht raus und hier unter den Lebenden rumzulaufen.“
„Amely, du hast dich seit Tagen daheim verschanzt, hast deinen Mageninhalt schon zweimal wiederentdeckt und du willst uns weismachen, dass es dir gut geht?“
Ich schwieg und dachte an die Zeit nach dem Tod meines Vaters. Damals ging es mir genauso schlecht und nichts mehr hatte eine Bedeutung. Keiner war aber wirklich da, um zu Helfen. Niemand, der einen dazu zwang sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Alle waren der Ansicht, dass man die beiden Frauen einfach trauern lassen sollte. Es ginge schon von selbst vorbei.
„Mädels. Danke. Diesen Arschtritt hatte ich wohl echt nötig und Hunger habe ich auch wie verrückt.“
Ich diesem Augenblick sah ich vor mir ein Pärchen aus dem Kino kommen. Michi konnte ich sofort erkennen aber die Frau neben ihm, die er sehr leidenschaftlich umarmte, hatte absolut keine Ähnlichkeit mit Jill. In mir stieg eine plötzliche Wut auf und ich konnte nicht fassen, dass dieser Typ eine so tolle Frau hinterging. Wie konnte er es nur wagen?
Ohne zu überlegen beschleunigte ich meinen Gang und krempelte in Gedanken meine Ärmel hoch. Ich war geladen wie eine nagelneue Batterie und hätte mich auch nicht gescheut ihm eine zu verpassen. Es ging schließlich um diese eine ganz besondere Frau. Kurz bevor meine Finger seine Schulter antippten, beruhigte ich mich wieder und stellte meine Adleraugen auf scharf, um den Casanova auf frischer Tat zu ertappen.
„Oh Amely. Welch ein Zufall.“
Er war sichtlich überrascht und nicht gerade sehr positiv. Mehrmals blickte er zu der Dame neben ihm und rang um die richtigen Worte.
Nun war er fällig!
„Und wie geht es Jill so?“
„Gut Gut, denke ich.“
„Du denkst? Was hat das zu bedeuten?“
Nun war ich hellhörig geworden. Hatten sie sich etwa getrennt? Michi schaute unsicher von einer Seite auf die andere und fuhr sich mehrmals mit den Fingern durch die Haare.
„Hör zu…“
„Habt ihr euch getrennt?“
Ich wollte mir nicht sein Gelabber anhören, sondern nur die Kernaussage.
Er lächelte und kickte einen unsichtbaren Stein mit seinen schwarzen, glänzenden, ledernen Schuhen.
„Du und Jill? Habe ich da etwas nicht mitbekommen oder wollte sie mal die Seite wechseln?“
Die mir fremde Frau schien das mit viel Humor zu nehmen und war auch kein Bisschen besorgt. Das verwirrte mich nun noch mehr. Normalerweise scheuerten doch die Frauen ihrem Prinzen erst mal eine, wenn der Name einer Fremden mit dem des Angebeteten in einem Satz fiel.
„Laura darf ich dir vorstellen, das ist Amely. Amely, Laura.“
Sofort verschwand das Lächeln aus Lauras Gesicht und diese schien das Weite suchen zu wollen.
„Was geht hier bitte ab. Ich versteh grad Garnichts mehr. Betrügst du sie?“
„Nein so kann man das nicht nennen.“
„Wieso grinst du noch dabei. Hey wehe du tust Jill weh. Diese tolle Frau hat das nicht verdient.“
„Würdest du ihr den wehtun?“
Das Gespräch verselbstständigte sich und nahm eine neue, unerwartete Wendung.
„Auf was willst du hinaus Michi? Soll ich dich decken? Niemals!“
„Hör zu. Wenn dir an ihr was liegt und da mehr als Freundschaft dahinter stecken sollte, so sprich sie einfach drauf an. So oder so, glaub mir es wird gut ausgehen.“
Beide wendeten sich gleichzeitig um und gingen. Sie ließen mich einfach so mit dieser unklaren Aussage zurück und ich verstand nichts. Woher wusste Michi von den Gefühlen, die ich für Jill empfand. Von Welcher Seite sprach diese Laura und wieso ermutigte er mich sogar mit Jill zu reden?
Nach einigen Minuten des Grübelns war plötzlich alles glasklar.
Sie hat gelogen!
JILL
Der Unterricht wollte einfach kein Ende nehmen und meine Gedanken schweiften alle paar Sekunden ab. Mir ging die Nachricht von Michi einfach nicht mehr aus dem Kopf. Sie wusste es. Wahrscheinlich wusste sie bereits alles und war deswegen nicht in der Schule aufgetaucht. Ich fragte mich, ob die Aufführung mit einer Neubesetzung stattfinden würde aber immerhin blieben noch ganze 90 Minuten übrig, um rechtzeitig aufzutauchen.
Wenn ich aber so recht überlegte, wusste ich nicht was mir lieber war. Ein Auftritt mit der wütenden Amely, die mir womöglich aus Rache die Lippe abbeißen könnte im letzten Auszug. Oder gar keine Amely und dafür Naomi als ihre Zweitbesetzung. Beides klang nicht sehr berauschend.
Die restliche Zeit versuchte ich halbwegs dem Unterrichtverlauf zu folgen, nachdem ich mehrmals aufgerufen wurde und nicht mal wusste welches Fach gerade im Stundenplan aufgeführt war.
Und dann war es endlich soweit. Die letzten beiden Stunden hatten alle Klassen frei, die keine Klausur oder andere wichtige Leistungsnachweise ableisteten. Die Theater AG verzog sich hinter die Bühne in der Aula und schlüpfte in ihre Kostüme, holten die nötigen Requisiten und überflogen noch einmal als Sicherheitsmaßnahme einige Textstellen.
Naomi stand neben mir, sah im Sekundentakt auf ihre Uhr und zupfte mehrmals an meinem Outfit rum.
„Jill, ich glaube sie kommt nicht.“
„Ganz bestimmt. Wir haben schließlich noch 10 Minuten.“
„Ich hoffe es sehr. Sie hat es mir versprochen.“
Genau in diesem Moment ging die hintere Türe auf, die eigentlich nur als Notausgang fungierte aber gerne von Lehrkräften und Schülern als Abkürzung zu der inoffiziellen Raucherecke genutzt wurde und Amely eilte mit schnellen Schritten herbei.
„Naomi, tut mir schrecklich Leid. Bei meinem Fahrrad ist die Kette mitten auf der Strecke rausgesprungen und ich musste hierher laufen.“
Sie verbeugte sich mit gefalteten Händen vor der Organisatorin und setzte sich sogleich in Bewegung, um in ihr Kostüm zu schlüpfen.
„Romäo?“
Ich meldete mich prompt mit meinem typischen langgezogenem ‚Ja‘ und sah zu ihr auf.
„Aufgeregt?“
„Keineswegs!“
„Gut, ich nämlich schon!“
Sie ging und ich fragte mich innerlich wie ich diese Unterhaltung deuten sollte. Sie machte keinen wütenden Eindruck auf mich und wollte mir nicht an den Kragen. Noch nicht. Für wenige Sekunden huschte mir sogar der Gedanke, dass das Gift womöglich vertauscht wurde und ich auf der Bühne meine beste theatralische Darbietung geben würde, einmalig allerdings.
Egal wie die Situation genau aussah, es gab kein Zurück. Naomi trat bereits auf die Bühne und verkündete allen Anwesenden, dass es in wenigen Minuten losgehen würde.
Nun war es soweit.
Wir spielten fantastisch. Die Lichtsteuerung funktionierte ohne Probleme, Musik und Spezialeffekte, wie Rauch wurden umgesetzt und wir ernteten einen lauten Beifall für den Auszug. Die zwei liebenden fanden sich und mussten gehen, trafen sich erneut und erlebten die verbotene Zweisamkeit. Es gab kein einziges Mal ein Anzeichen, dass Amely sauer war, denn das hätte ich sicherlich bemerkt. Die Frau war nicht fähig ihren Frust geheim zu halten oder einfach mal für einige Stunden aufzuschieben.
Und eher ich es versah, waren wir bereits am Ende des Stückes angekommen. Die letzte Szene. Aus unerklärlichen Gründen ergriff mich eine Panik. Angst und Unsicherheit. Sie wusste doch Bescheid? Warum also spielte die doppeltes Theater?
Meine Denkfabrik musste an dieser Stelle Pause machen und ich schritt auf die schnell umgebaute Bühne zu meiner scheintoten Geliebten in die Gruft. Ich kniete mich nieder und sah leicht zum Publikum, ohne jemanden bestimmten im Visier zu haben und sprach mit einer entsprechenden Mimik meine Worte. Anschließend berührte ich die große Liebe meines Lebens.
Die letzte Berührung eurer weichen Haut, wie kalt und fort ihr doch seid, meine Geliebte.
In Wirklichkeit war sie warm und so nah!
Ich beugte mich leicht über sie, so dass der Kuss nicht direkt vom Publikum betrachtet werden konnte. Nur einige, die einen entsprechenden Platz hatten, konnten diesen Moment wirklich erleben. Dies war so geplant gewesen, denn Naomis Meinung nach, hätte eine zu öffentliche Präsentation womöglich später von der Seite der Eltern negativ ausgelegt werden können. Und durch Mundpropaganda wird sehr gern das eine oder andere dazu addiert und der Wahrheitsgehalt subtrahiert.
Mit diesem Kusse werde auch ich meine Lieder für die Ewigkeit des Lebens schließen,
Ich kam ihr näher und zögerte erneut, wie bei der allerersten Probe. Die Leblose bewegte sie aber kein Stück.
„Küss mich endlich, du Dummkopf!“
Ich konnte ihre Worte kaum verstehen, so leise flüsterte sie. Es reichte aber dennoch aus, um ihre warmen Lippen zu kosten, die unerwartet meinen Kuss erwiderten. Es war nicht zu vergleichen mit den Proben, als unsere Lippen sich flüchtig berührten. Dieses Mal war es ein echter richtiger Kuss voller Leidenschaft und Verlangen.
Mit gemischten Gefühlen löste ich mich wieder von meiner auf ewig schlafender Geliebten, die Handflächen fest an meine Brust gepresst, mit Stimme voller Trauer fuhr ich fort.
um so euch wieder an meiner Seite wissen.
Während ich weiter Sprach und mein Gift zu mir nahm, hörte ich hinter der Bühne Naomi leise jubeln und eine Bestätigung von Simone, dass es die gefühlvollste Szene war, von allen bisherigen Proben.
Also hatte ich in gewisser Weise wirklich Recht behalten mit einer grandiosen Darbietung. Es fragte sich allerdings, ob diese einmalig blieb.
Ich fiel zu Boden und Meine Schönheit übernahm ihren Part. Erneut berührten sich unsere Lippen mit mehr als nur gespielter Leidenschaft.
Sie ergriff den Dolch, rief laut auf der Bühne, um ihren Kummer kund zu geben und stach zu. Mit letzten Kräften, ergriff die nun wirklich sterbende die Hand ihres Geliebten und schloss die Augen für immer.
Hier endete unsere Aufführung. Die Vorhänge gingen zu und alle versammelten sich rasch auf der Bühne, um sich zu verbeugen. Alle Klatschten draußen und Pfiffen, was die Kehle hergab. Ich konnte winzige Tränen in den Augen von Naomi erkennen und freute mich, dass es sie so ergriff. Sie, Naomi Evelyn Graumann hatte auch wirklich Recht dazu stolz zu sein.
Nachdem der Trubel vorüber war und wir wieder hinter der Bühne waren, ergriff ich wiedermal instinktartig die Flucht. Ich hatte mich in meinem Leben noch nie so schnell umgezogen, allen Anwesenden flüchtig tschüss gesagt und irgendwas von einem telefonischen Notfall gefaselt und weg war ich. Ich hatte bereits meinen Zweirad Gefährten bestiegen und wollte los düsen als eine kräftige Stimme mich für einen Moment inne halten ließ.
„Jill Sanderson, bleib sofort stehen!“
Ich setzte mich dennoch auf und trat einige Male in die Pedale, ohne die Worte zu erwidern.
„Willst du wirklich, dass ich dir nachlaufe?“
Mein Blick wendete sich leicht nach hinten.
„Amely, ich will nicht reden.“
„Das wirst du aber tun müssen, wenn dir etwas an mir liegt.“
Die Bremsen quietschten und ich sprang zur Seite. Ich hörte, wie sie einige Schritte auf mich zuging aber immer noch nicht in meiner absoluten Reichweiter stehen blieb.
„Was genau willst du von mir hören, Amely?“
Ich ließ mein Rucksack neben mir fallen und zuckte mit meinen Schultern. Mit den Händen in den Hosentaschen stand ich da und schaute sie an. Sie sagte kein Wort, schüttelte nur leicht mit dem Kopf und fasste sich mehrmals an die Stirn. Ich glaubte sie etwas flüstern zu hören, verstand aber kein Wort.
„Hast du mir den Garnichts zu sagen, irgendwas Wichtiges?“
Man könnte denken, dass so ein Augenblick der richtige wäre, um all seine Lügen zu offenbaren aber als Unbeteiligter denkt man nie daran, dass derjenige, der gelogen hat nun auf einmal von seiner ganzen Last buchstäblich überrollt wird und das Gewissen hämmert auch heftig an die Tür. Dazu kommt noch der Blick der Person, die belogen wurde und dieses spricht meistens keine Bände, sondern besitzt den Ausdruck einer ganzen Bücherei.
Das alles bewirkte bei mir zumindest ein Schweigen. Endlose Stille in der Amely vor mir stand und auf Worte wartete, die ich nicht rausbekam.
Wie sollte man auch eine Erklärung in meinem Fall starten.
‚Tut mir Leid, dass ich dich ein Jahr belogen habe.‘
oder vielleicht ‚Also eigentlich war jeder zehnte Satz, seit wir uns kennen, gelogen.‘
Ich konnte einfach nicht noch mehr Schmerz dieser Frau zufügen und mein abscheuliches Verhalten rechtfertigen. Das würde so oder so keiner glauben, denn für derartige Aktion müsste man selten dämlich sein und das war ich wohl demnach.
„Jill, wieso schweigst du verdammt nochmal?“
Sie Stampfte leicht mit ihrem Fuß und da war sie die erste Träne, die ihre Wange hinunter sauste. Zwischen ihren Augenbrauen bildeten sich mehrere Fältchen und sie hielt sich die Hand vors Gesicht.
„Ich kann es echt nicht glauben, dass du mich die ganze Zeit nur verarscht hast. Was ist das für ein Spiel, was du da treibst?“
Sie machte eine kleine Pause, um nach Luft zu schnappen.
„Gehst du mit allen Frauen so um oder hast du dir mich als Opfer ausgesucht, weil ich in der Gegend neu war und deine Tour nicht kannte?“
Nun schnappte ich nach Luft und starrte sie entsetzt an. Dachte sie etwa ich hätte mit ihren Gefühlen gespielt? Hielt sie mich wirklich für so kalt und herzlos?
„Mal sehen wie lange die dumme Lesbe das mitmacht um sich schließlich zu verlieben. Du bist so ein Arsch wirklich. Ich hoffte du würdest mir alles erklären, wenn ich dich küsse. Ich war wirklich so dumm zu glauben da wäre eine einfach banale Erklärung dahinter. Ich hab mich wohl echt blenden lassen, nicht wahr?“
„Nein das ist doch totaler Blödsinn.“
„Ach Blödsinn nennst du das also? Blödsinn mich zum Narren zu halten und zu behaupten du hättest einen Freund und dann auch wirklich mit einem auftauchen und mir Geschichten erzählen. Ja Jill, das kannst du wirklich fantastisch. Etwas erfinden!“
Ab dem Moment hätte ich selber losheulen können. Ich fand nicht die richtigen Worte, um die Anschuldigungen von mir zu wenden, war vollkommen verwirrt und verzweifelt, da ich noch nie in meinem Leben in so einer heiklen Situation war. Ich hatte auch noch nie so eine Verursacht und hatte also mir nie Gedanken drüber gemacht, wie ich reagieren oder was ich antworten würde. Natürlich dachte ich daran, dass es einen Tag geben wird in nahegelegener Zukunft, an dem ich Amely die Wahrheit sagen müsste. Ich stellte mir diesen Augenblick aber irgendwie viel fröhlicher und romantischer vor. Keine weinende Amely, die gerade dabei war an mir vorbeizurennen. Ihr Makeup war verschmiert und Tränen bedeckten ihr ganzes Gesicht.
„Amy warte!“
Amely dachte aber nicht daran mir weiter zuzuhören. Sie hatte genug von meiner Schweigsamen Demonstration sich angetan und wollte fliehen vor dem schrecklichen Mensch in den sie sich verliebt hatte.
Moment Mal! Sagte sie eben, dass sie sich verliebt hatte? In mich?
Diese Frau hegte wirklich Gefühle für das Monster, welches sie nun in mir sah?
Ich schnappte meine Sachen und radelte hinter ihr her. Sie hatte verdammt lange Beine und war schnell unterwegs. Womöglich lag es aber auch daran, dass keine Frau gern mit zerlaufener Wimperntusche durch die Gegend spaziert.
„Amely, warte bitte!“
„Ich will dich nie wieder sehen. Verschwinde einfach aus meinem Leben. Du hast genug von meiner Zeit gestohlen.“
Ich sprang von meinem Fortbewegungsmittel, überholte die Flüchtige und versperrte ihr den Weg.
„Ich lass dich nicht gehen, bis du mir zugehört hast.“
„Hast du etwa noch nicht lange genug geschwiegen und willst mich weiter mit der Stille foltern.“
„Das wollte ich nie. Ich habs einfach nicht so mit Reden und Gefühlen. Das alles sollte doch nie so verlaufen.“
Wir waren inzwischen in ein eher ruhiges Gasse angelangt, die es erlaubte ein etwas diskreteres Gespräch zu führen. Aber ich war nicht im Stande meine lächerliche Situation aufzuklären und rang vergebens nach Worten, die mein Gehirn mir verweigerte. Ich wusste einfach nicht was ich tun sollte. Sie würde gehen und dann wäre es gewesen. Für immer. Das konnte ich aber nicht mehr zulassen. Nicht seit ich die Worte von ihr persönlich vernahm. Die Bestätigung dafür, dass meine Liebe nicht durch eine Einbahnstraße raste.
Ich packte sie an den Schultern und fühlte sogleich, wie sie leicht zusammen zuckte. Hatte sie wirklich Angst vor mir?
Mit kleinen Schritten näherte ich mich ihr, um ganz nah Amely gegenüberzustehen. Wenn schon meine Worte versagten und ich in dieser Situation die Geschichte von Anfang an nicht erklären konnte, so sollten meine Taten dafür sprechen was ich empfand. Ich spürte, wie sie mir entwich. Mit langsamen Bewegungen ging sie rückwärts der Hausfassade entgegen. Ich hatte keine Wahl als ihr zu folgen, die Hände immer noch auf ihren Schultern verharrend. Bei den letzten Zentimeter drückten meine Arme sie gegen das flächige Gestein und meine Lippen berührten sogleich die ihre. Es kam keine Reaktion. Nur ein leichtes Zittern durchströmte ihren Mund.
„Amely. Ich liebe dich. Das tat ich schon, bevor wir uns das erste Mal begegnet sind.“
Mein Kopf versank zwischen Ihrem Hals und der Wand, leicht bedeckt von ihren dunklen Haaren.
„Stoße mich bitte nicht weg, denn ich kann keine Worte dir entgegnen, wenn ich den Schmerz und die Enttäuschung in deinen Augen sehe, welche ich verursacht habe. Hör bitte einfach an, was ich zu sagen habe und dann werde ich gehen.“
Es war nach wie vor still und kein Wort erreichte meine Ohren. Ihr Atmen verlangsamte sich und ich spürte eine kleine Entspannung in ihrem Körper. Sie lehnte sich etwas bequemer gegen die Wand an und wartete.
„Es war alles einfach ein Missverständnis. Ein Satz den ich unbedacht von mir gab. Damals auf der Ferienreise. Das war das Sandkorn, welches für die Lügenlawine verantwortlich ist. Ich wollte so oft es dir erklären. Alles wieder richtig stellen aber ich traute mich nie oder verschlimmerte mit dem Versuch die Situation. Irgendwann war einfach zu viel Zeit vergangen und ich konnte dir nicht mehr gegenübertreten. Die Freundschaft mit dir stand ab dem Zeitpunkt im Vordergrund und ich hatte zu viel Angst nach einem Gespräch beides zu verlieren. Die Person, die ich über alles liebte und eine wichtige Freundin, die ich brauchte. Ich kann es nicht rückgängig machen, obwohl die ganze Situation so banal klingt. Für mich war es bis jetzt die größte Last, die auf meinem Herzen lag. Es tut mir Leid.“
Ich richtete mich auf, den Kopf nach wie vor gesenkt. Ihr jetzt in die Augen zu schauen, hätte mir mein Herz endgültig aus der Brust gerissen. Mit einigen Schritten entfernte ich mich von ihr und war bereit zu gehen. Mein Körper hatte sich schon gewendet und ich wollte gerade losrennen, denn desto schneller ich von ihr wich, desto besser würde es ihr gehen, nahm ich an. Aber in dem Augenblick wurde ich von einer fremden Kraft wieder nach hinten gezogen. In ihre Arme. Mein Rücken lehnte sich nicht ganz sanft an ihrer Brust an. Ihre Arme fest um mich geschlungen. Ein warmer Luftstoß erreichte meinen Nacken und jagte mir eine Gänsehaut die Wirbelsäule hinunter.
„Du bist so wahnsinnig unnormal und umständlich, weiß du das?“
Der versuch mich zu drehen scheiterte sogleich, denn ihr Griff, mit dem sie mich umarmte wurde fester und signalisierte mir, dass auch sie nicht Angesicht zu Angesicht sprechen wollte.
„Wenn du nur wüsstest wie viele schlaflose Nächte du mir bereitet hast. Wie oft ich verzweifelt bin, weil ich deine Taten nicht verstand. Du hast mich komplett verwirrt, verunsichert und aus dem Konzept gebracht.“
Ihre Lippen berührten ganz zärtlich meinen Nacken.
„Wenn ich doch bloß gewusst hätte, dass du so handelst, weil du verliebt bist.“
Ein leises Lachen umschloss meine Gehörgänge, welches von Sekunde zu Sekunde an Laustärke zunahm. Sie löste ihre Arme, hielt mich aber nach wie vor an meinen Sachen fest. Hatte sie vielleicht die Befürchtung, dass ich immer noch Reißaus nehmen wollte?
Um ihr diese mögliche Angst zu nehmen, ergriff ich nun ihre Hände und wanderte mit meinen Augen langsam ihren Körper entlang, bis sich unsere geröteten, verschmierten Gesichter gegenseitig sehen konnten. Wir mussten beide lachen. Über unser Aussehen, die Situation und die dämliche Ironie, die hinter der ganzen Geschichte steckte.
Wir hatten beide Angst zu sagen was wir fühlten, weil wir einander nicht verlieren wollten.
Nun war aber keine unsichtbare Angstmauer mehr zwischen uns und ich konnte mein Verlangen nicht mehr zügeln. So lange träumte ich von dieser Schönheit und nun berührten meine Hände sanft ihr warmes Antlitz. Behutsam wischte ich die nassen Spuren und etwas von der zerlaufenen Wimperntusche. Ihre Hände umarmten meinen Körper und wir beide mussten nach wie vor lächeln. Vor Glück und auch aufgrund der Erleichterung. Die Frau meiner Träume lehnte sich erneut an die Fassade und zog meinen Körper hinterher. Ihr Gesicht näherte sich mir und alles was ich sehen konnte war dieses zarte Lächeln auf ihren Lippen und die Augen, die meinen Mund fixierten. Erneut küsste Romäo seine Liebste und hoffte, dass es in dieser Fassung kein Abschiedskuss war.
Nun eigentlich endet hier meine Geschichte. Es sind inzwischen einige Monate vergangen und es gab viele weitere Veränderungen in meinem Leben. Sophie hat seit kurzem einen festen Freund und ist oft mit ihm unterwegs und Michi ist nach wie vor glücklich mit Laura. Auch die Einstellung gegenüber Amely hat sich nach uns nach geändert. Am Ende wurde aus dieser Lappalie eine sehr lustige und witzige Geschichte. Unsere Clique hat sich also ziemlich vergrößert und verändert aber wir unternehmen weiterhin viel gemeinsam. Seit einigen Wochen besuche ich auch wieder regelmäßig die Trainingsstunden beim Basketballteam. Bei den Spielen durfte ich allerdings noch nicht teilnehmen. Ich denke, dass ist immer noch meine Quittung dafür, dass ich damals das Team von heute auf Morgen verlassen hatte. Meine Musikband konnte ich nicht wieder zusammenbekommen. Die meisten hatten Platz in anderen Bands gefunden. Man kann eben nicht überall Glück haben.
Amely und ich verbringen viel Zeit miteinander und genießen jede Sekunden, wir haben ja auch echt viel nachzuholen. Ihr Abitur hat sie seit kurzen mit Bravour bestanden und hat einen Studienplatz in unserer Stadt ergriffen. Das Verhältnis zu meiner Mutter wurde zwar nicht schlagartig perfekt aber wir geben uns beide mehr Mühe, um es aufzubessern.
So Betrachtet hatte ich ein sehr spannendes Jahr hinter mir und bin über meine Grenzen gewachsen. Es blieb nur eine einzige Sache, die ich bis zum heutigen Tag aufschob.
Vor dem Grab meines Vaters kniete ich nieder und stellte frische Blumen in die Vase. Wie immer war meine Mama bereits an dem Tag hier aber ein paar Blumen mehr schadeten sicherlich nicht.
„Hey Dad! Es gibt da etwas was ich dir gern mitteilen würde.“
Ich schaute kurz zu Amely rüber, die etwas abseits stand und mir die Privatsphäre gönnte.
„Ich weiß zwar, dass es dein Wunsch war mich aufzuklären.“
In meinen Händen hielt ich seinen Brief, der nach wie vor verschlossen war.
„Aber weißt du, ich denke nicht, dass ich es wissen will. Es ist mir egal, ob wir auch genetisch verwandt sind oder nicht. Du warst immer für mich da und hast mir immer wieder geholfen. Das reicht für mich.“
Mit einem Handsignal winkte ich Amely zu mir. Sie hatte zwar gemeint, dass ich diese Sache ruhig allein durchziehen sollte aber ich wollte meine Freundin an meiner Seite wissen in diesem Moment. Als Amy zu mir kam und ihren Arm um mich legte, zückte ich ein Feuerzeug aus meiner Tasche und drückte mit meinem Daumen auf den Auslöser. Langsam hielt ich eine Ecke des Briefes über die gelbe Flamme und sah, wie das Papier innerhalb von Sekunden erst braun und dann dunkler wurde. Es dauerte keine Minute bis auf Dads Grab nur noch ein Aschehaufen übrig blieb mit einigen kleinen verkohlten Papierstückchen.
„Bis zum nächsten Mal Paps. Ich komm dich bald wieder besuchen, versprochen.“
Amely ergriff meine Hand und wir schritten gemeinsam zum Ausgang. Kurz bevor wir aus der Sichtweite von Dads Platz waren, warf ich noch einen letzten Blick zurück und sah, dass die Asche davonwehte. Ich war mir sicher, dass kein Wind in diesem Augenblick wehte. Den ganzen Tag schon gab es keinen Windhauch. Für mich war es eindeutig ein Zeichen. Eins welches mir sagte, dass mein Vater auch nicht wissen wollte was auf dem Papier stand. Wir brauchten einfach keine Beweise.
„Mir ist letztens ein ganz interessanter Gedanke durch den Kopf gegangen.“
„Ach tatsächlich? Welcher den?“
Ich sah zu der Frau, die mir einst mein Herz geraubt hatte und nach wie vor es in ihren Händen hütete.
„Kennst du den Spruch. Liebe trägt die Farbe Rot?“
Amelys Blick wanderte zu mir rüber und ich konnte genau erkennen, dass sie sich fragte worauf ich hinaus will.
„Ja, hab ich schon paar Mal gehört.“
„Nun. Das stimmt nicht ganz, denn meine Liebe trägt die Farbe Violett.“
Und da war es wieder. Das bezaubernde Lächeln von meiner Freundin.
September 2013
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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Alex danke, dass du mir immer wieder hilfst und für mich da bist.
"Deine" Jill darf nun endlich aus der staubigen Sammlung hervortreten.
Ich hab dich lieb!