Dem Leben wohnt eine eigene Symphonie inne. Man kann sie hören.
Wenn man beispielsweise im Wald steht und der üblichen Akustik lauscht, wenn man ganz genau hin hört auf das Rascheln der Wipfel im Wind, auf das Summen und Wuseln der Insekten, auf das vielstimmige Trällern der Vögel und vielleicht im Hintergrund noch die Ausläufer der Zivilisation durch Flugzeuge in den Wolken oder einer Kettensäge irgendwo zwischen den Bäumen entdeckt.
Wenn man all diese Geräusche ganz genau wahr nimmt, dann kann man den Zauber darin erkennen und eine Verheißung, die dort wartet.
Danielle konnte nicht hören, seit der Geburt war sie taub. Und genauso lange schon liebte sie die verborgene Musik hinter den Dingen, die alles mit ihrem subtilen doch allumfassenden Klang miteinander verband.
An eine stille Welt gewöhnt, verfügte sie über die nötige Ruhe, um auf das Wesentliche zu lauschen. Sie fühlte das harmonische Vibrieren des Lebens mal als zarten Pulsschlag, mal als tiefe Bässe, die durch ihren ganzen Körper fuhren und in ihrem Herzen einen seufzenden Widerhall fand.
Sie verfügte über ein sensibles Feingefühl, welches über die normalen Sinne eines hörenden Menschen weit hinaus ging und bemerkte in dem sie stets umgebenden Schweigen eine Präsenz, die sonst niemandem aufzufallen schien.
"Mami, wo kommen eigentlich die Träume her?"
Wie jeden Abend, versuchte Danielle den Moment des Schlafens hinaus zu zögern, indem sie ihre Mutter in ein Gespräch verwickelte. Nicht selten stellte sie zu diesem Zweck gern komplizierte Fragen zum Beispiel nach dem Sinn der Zeit oder wie sich Stimmen anhörten.
Doch wie erklärte man einem Mädchen, das bereits taub zur Welt gekommen war, was es mit Geräuschen auf sich hatte.
Liebevoll strich die Frau ihrer Tochter die Locken aus dem Gesicht, die es sich bereits in Erwartung einer längeren Erklärung im Bett bequem gemacht hatte und nun gespannt die Bewegungen ihrer Arme verfolgte.
Sie ließ sich einen Moment, um das geliebte Kind zu beobachten und machte mit einem nachsichtigen Lächeln der Neugierde Platz. Sie setzte sich auf den Bettrand und begann eine Geschichte zu erzählen, dabei formte sie mit den Händen Wörter und unterstrich das Gesagte mit ihrer Mimik.
"Weißt du noch, was ich dir über Musik erzählt habe, Dani?" Sie legte eine Hand auf das Herz ihrer Tochter und wartete auf ein bestätigendes Nicken, bevor sie sie wieder weg zog, um weiter zu erklären. "Dass du sie hier drin in deinem Herzen hören kannst wie ein rhythmisches Fließen und dass die Menschen sich von dieser Energie dazu animiert fühlen, sie im Tanze auszudrücken.
Es gibt auch noch eine andere Musik, die nicht von Menschen gemacht wird und nicht im Radio läuft. Das ist die Melodie der Natur, die alles durchzieht und den Lebewesen ihre Lebendigkeit mit stetem Puls eingibt. Alles im Universum hat seine eigene Frequenz, seine eigene Musik.
Und da wo du hingehst, wenn du schläfst, bist du der Quelle dieser Energie ganz nah. So als würdest du einen Vorhang beiseite schieben und von der Bühne abgehen hinter die Kulisse dieser Welt.
Dort befindet sich auch das Orchester, welches die vielen Musikstücke für unser Leben spielt und uns in jeder Lebenslage mit einem passenden Werk begleitet.
Eins dieser Instrumente spielt die Melodie der Träume und lässt die Bilder in unseren Köpfen durch ihre Klänge entstehen."
Die Augen des Mädchens leuchteten begeistert auf, sie stellte sich diese Beschreibung bildhaft vor und konnte in ihrer Fantasie den Orchestergraben sehen, wo die Musiker vor ihren Notenblättern sitzen, die das Stück des Lebens beschreiben.
"Was für ein Instrument macht denn die Träume, Mama?"
"Das ist natürlich eine Harfe. Weil kein anderes Instrument, so viele wunderschöne Töne erzeugen kann, die dann zu bunten Gemälden werden. Sie kann mit ihren Klängen ein ganzes Gewitter malen oder einen Regenbogen und eine Sommerwiese."
Die Kleine nickte verstehend, auch wenn sie noch nie die Töne von einer Harfe gefühlt hat.
"Ich möchte auch gern Harfe spielen und Träume malen!"
"Das kannst du. Und wenn du heute Nacht schläfst, dann versuche doch einmal auf die Musik dabei zu lauschen. Vielleicht kannst du sie spüren."
Danielle erinnerte sich an dieses Gespräch mit ihrer Mutter und auch wenn sie es jetzt als Erwachsene nicht zugeben würde, so hatte sie diese romantische Vorstellung nie ganz aus ihrem Kopf verbannen können.
Jedes Mal wenn sie auf der Bühne an den Saiten zupfte und den Schwingungen in ihrem Körper nachfühlte, sich die Härchen dabei aufstellten und eine Gänsehaut über die Arme kroch, dann stellte sie sich vor, wie mit jedem Ton ein Traum gewoben würde.
Sie ließ die Finger über das Instrument fliegen und in ihrem Geist entstanden dabei augenblicklich Bilder von der Natur: einem Bachlauf mit hüpfendem Wasser über glatte Steine; einem Strand auf dessen steten Wellen das Mondlicht glitzert; ein moosbewachsener Tümpel tief verborgen im Wald.
Und die Menschen im Publikum schienen diese ausgesandten Träume zu empfangen, die wie Sphrärenklänge von Jenseits dieser Welt herüber wehten und eine Magie mit sich brachten. Mit immer größerem Staunen lauschten sie der himmlischen Musik, die Danielle für sie erzeugte, und spürten der vibrierenden Stille zwischen den Tönen nach. In ihren Augen entstand ein lebendiger Glanz, als würden ihre Seelen im Rhythmus dazu tanzen.
In einem Interview wurde sie mal gefragt, warum Danielle sich ausgerechnet als taube Musikerin die Harfe ausgesucht hatte und ihre spontane Antwort, auf die es keine Erwiderung mehr gab, lautete: "Ich wollte den Menschen dabei helfen, ihre Träume zu sehen."
Sie war eine der wenigen Künstler, die sich von ihrem angeborenen Handicap nicht beeinträchtigen ließen und schon dadurch den Menschen bewies, dass man durchaus auch in der heutigen Zeit noch seinen Träumen nachgehen konnte. Auch wenn die Menschen mit ihren Gedanken und Ohren durch viele andere Geräusche beschäftigt waren, so fehlte ihnen doch lediglich die Konzentration, lange genug inne zu halten ohne sich ablenken zu lassen von Oberflächlichkeiten. Man musste nur lauschen und sich trauen, die Melodie unter den vielen Stimmen der lauten Welt wahr zu nehmen.
Denn sie ist immer da, wartet hinter all dem Lärm auf den Moment der Stille, um darin zu erklingen und ein Herz zum träumen zu bringen.
Bildmaterialien: Cover @Adryanah
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Jenen Menschen gewidmet, die ihre Individualität nicht als Behinderung sondern als besondere Qualifikation ansehen und Andere dadurch zum Staunen bringen.