Sie hatte keine Angst vor dem Monster unterm Bett. Sie hatte Angst vor dem Monster, das neben ihr schlief.
Beinah schon panisch lauschte sie nach den tiefen Atemzügen, die in der Dunkelheit des Zimmers gespenstisch wider hallten.
"Bitte, wach nicht auf!"
Wie ein Mantra sagte sie diesen einen verzweifelten und zugleich hoffnungsvollen Satz im Stillen immer wieder vor sich hin. Ihr Herz schlug rasend in ihrer Brust, während sie sich innerlich auf das Furchtbarste vorbereitete.
Plötzlich veränderten sich die regelmäßigen Geräusche zu einem asynchronen Grunzen. Es war der entscheidende Moment, als er anfing zu Schnarchen, der darüber entscheiden würde, was als nächstes passierte.
Würde es von dem Lärm geweckt werden und dem Grauen damit seinen Lauf lassen? Oder würde es friedlich weiter schlafen und ihr einen Aufschub gewähren?
Die letzten Nächte waren schlimm, aber diesmal würde es schlimmer werden, das wusste sie.
Vor Anspannung hielt sie den Atem an, zog die Decke bis über ihr Kinn und wagte nicht, neben sich zu schauen.
Die Matratze begann unter den Bewegungen zu vibrieren, das Gestell ächzte.
"Oh Gott, bitte lass es weiter schlafen!"
Doch alles Beten war vergebens und ihre schrecklichsten Albträume wurden lebendig. Es wachte auf.
"Schon wieder ein Anruf wegen nächtlicher Lärmbelästigung."
"Ist ja nichts Neues."
Officer Dennis Hoover bediente sich gerade an der Maschine, um eine weitere Ration dieses abscheulichen Gebräus, das man hier Kaffee nannte, zu konsumieren. Er könnte die Nachtschicht sonst nicht überstehen.
Diese unmenschlichen Arbeitszeiten steckten ihm bereits in den Knochen und anstatt sich daran zu gewöhnen, wurde es jede Nacht anstrengender.
Am meisten machte ihm zu schaffen, wenn es nichts zu tun gab und er seinen verdienten Schlaf für sinnloses Rumsitzen oder gar nervigen Papierkram opferte.
Aber sie waren mal wieder, wie üblich in den Ferienzeiten, gefährlich unterbesetzt im Büro und so musste öfter eine Doppelschicht eingelegt werden, als ihm lieb war.
Man sollte meinen, dass es etwas Gutes wäre, wenn nur noch selten die Ordnungshüter des Nachts gerufen werden mussten, aber eigentlich freute Dennis sich darüber, endlich wieder aus diesen kahlen Wänden heraus und in die frische Nachtluft hinein zu kommen.
"Gib Maloy die Adresse durch, ich steige gleich zu ihm in den Wagen."
Mit dieser Anweisung setzte er sich bereits in Bewegung, schnappte seine Uniformjacke, die obligatorische Mütze und überprüfte die verstaute Waffe an seinem Hüftgurt.
Nur wenige Augenblicke später setzte er sich zu seinem Kollegen in den Streifenwagen mit einem Becher heißer, brauner Brühe in der Hand.
Als sie an dem Ort des Geschehens eintrafen, war bereits die halbe Nachbarschaft wach. Frauen in geblümten Morgenmänteln standen in hell erleuchteten Vorgärten und diskutierten gestenreich über Zäune hinweg. Nur ein einziges Haus war dunkel und genau jenes war ihr Ziel.
Anscheinend musste es ein höllischer Lärm gewesen sein, wenn der gemeldete Vorfall sogar bis in den Häusern drei Reihen weiter zu hören war.
Dennis gab seinem Kollegen ein Zeichen, dass dieser sich zur Vordertür begeben sollte, während er selbst erst einmal einen vorsichtigen Blick hinter das Haus werfen wollte.
Sein in vielen Jahren Dienstzeit gestählter Instinkt sagte ihm, dass es hier um mehr als nur einen Ehekrach gehen könnte.
Die Adresse war schon ein paar Mal auffällig geworden. Auf dem Revier erzählte man sich, dass der Mann seine Frau brutal misshandelte. Doch sie hatte trotz mehrfacher Krankenhausaufenthalte bisher keine Anzeige erstattet und verwehrte sich jeder Aussage, die über einen kleinen Unfall im eigenen Heim hinausging.
Das war typisch für eingeschüchterte Opfer häuslicher Gewalt. Besonders, wenn es sich an einem nach außen hin so idyllischen Ort wie dieser Vorstadt ereignete. Was die Sache aber noch um einiges schlimmer machte, war die Tatsache, dass es in der Familie zwei Kinder gab. Und aus Erfahrung wusste Officer Hoover, dass der Mann selten seine Aggressionen nur an einer Person ausließ.
Im Hinterhof war es genauso dunkel wie vorne und nur der Schein aus den Nachbarfenstern erhellte den Garten ein wenig. Die Luft war ungewöhnlich kalt, obwohl kein Wind wehte, fröstelte es ihn plötzlich.
Der Anblick des düsteren, all zu stillen Hauses mit den geschlossenen Fensterläden in einer milden Nacht wie diesen, bereitete ihm Unbehagen und er wünschte sich doch bereits, lieber am Schreibtisch vor dem verhassten Papierkram zu sitzen.
Sein Kollege klopfte nun lautstark an die Verandatür und verlangte im Namen des Gesetzes, dass man ihm aufmachen möge.
Aber es dauerte lange, bis sich im Haus etwas tat. Ein Schatten huschte die Treppe hinunter, stolperte geräuschvoll und bewegte sich zum Eingang.
Dennis ging wieder nach vorne und gesellte sich zu dem zweiten Polizisten, der leise mit einer Person hinter dem Türspalt sprach.
Noch immer brannte kein Licht und er konnte nur die Schemen einer Frau erahnen.
"Mrs. Geoffrey, würden Sie uns bitte einen Blick ins Innere ihres Hauses werfen lassen, damit wir uns selbst davon überzeugen können, dass hier keine Straftat begangen wurde?"
Die Frau schüttelte energisch den Kopf, von ihr war nicht viel mehr als das Weiß in ihren Augen zu erkennen.
"Die Nachbarn haben mehrmals einen ungewöhnlichen Lärm bei ihnen gemeldet und wir wollen nur sicher gehen, dass alles in Ordnung ist."
Sie versuchte die Tür wieder zu schließen, doch der Officer stellte einen Fuß in den Rahmen und legte seine Hand mahnend auf seinen Pistolenholster.
"Ma'am. Treten sie von der Tür zurück!"
In dringenden Tatverdachtsfällen war es ihnen erlaubt auch ohne die Zustimmung der Bewohner Ihre Häuse zu betreten und Dennis glaubte, verdächtige Spuren an ihren Händen gesehen zu haben. Nun trat sie allerdings unsicher tiefer in die Schatten, während er vorsichtig die Tür aufschob und jede weitere Bewegung im Raum beobachtete.
Er suchte nach dem Schalter für das Licht, welcher allerdings nicht funktionierte. Daraufhin schickte er den Officer Maloy schnell zum Auto, um eine Taschenlampe zu holen.
"Kommen Sie bitte mit langsamen Schritten raus, ich möchte Sie sehen."
Wie ein verängstigtes Tier hatte sich die Frau an die Wand gegenüber gekauert und den Blick nicht von ihm abgewendet. Er konnte lediglich ihren bebenden Schemen in der Dunkelheit sehen.
Doch als sie langsam nach draußen trat und das Licht von den Straßenlaternen sie traf, musste er sich zwingen, ruhig zu bleiben.
Sie hatte tatsächlich Blut an ihren bloßen Armen, das in der Nacht annähernd schwarz wirkte, allerdings nicht nur dort.
Eine Platzwunde am Kopf musste für eine starke Blutung gesorgt haben. Ihr sonst helles Haar klebte ihr in langen dunklen Strähnen im Gesicht, das völlig verschmiert war. Dies konnte trotzdem nicht davon ablenken, dass sich um ihr rechtes Auge die Reste einer älteren Prellung abzeichneten.
Ihre Kleidung bestand aus einem zerfetzten Nachthemd, dessen ursprüngliche Farbe er nur raten konnte. Darunter lugten ihre Waden und nackten Füße hervor, an denen zahlreiche Kratzer verliefen, ein Zehennagel fehlte völlig.
Der Dreckskerl von Ehemann musste wie eine Bestie über sie hergefallen sein und das nicht zum ersten Mal, wie Dennis durch den Gips an ihrem rechten Handgelenk erkennen konnte.
Wenn er den jetzt in die Finger bekäme, könnte er für nichts garantieren. Diesmal würde er ihn nicht ungestraft davonkommen lassen.
Dennis ballte die Hände zu Fäusten und merkte dabei, dass er die Waffe bereits gezogen hatte. In die andere Hand bekam er eine Taschenlampe gedrückt.
Maloy hatte soeben über Funk einen Krankenwagen gerufen und versuchte die völlig apathische Frau zu ein paar Informationen zu drängen, doch sie blieb stumm.
"Gehen wir rein und holen die Kinder da raus, bevor die Verstärkung hier ist und wir dieses Monster endlich festnehmen können."
Ein paar hilfsbereite Nachbarn hatten sich in ihre Richtung bewegt und Dennis gab ihnen mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich um die zierliche, verlorene Gestalt auf dem Rasen kümmern sollten.
Die beiden Polizisten setzten sich in Bewegung und betraten zusammen das Haus, in dem es weiterhin erschreckend still war.
Stück für Stück arbeiteten sie sich von einem Zimmer zum nächsten vor. In der unteren Etage gab es nichts Auffälliges. Dann wandten sie sich der Treppe zu. Ein paar Stufen knarzten.
Als erstes wandten sich die Polizisten nach Links, weil dort gewohnheitsmäßig in dieser Art von Einfamilienhäusern die Kinderzimmer lagen. Während sie Rücken an Rücken den dunklen Flur entlang schlichen, ließ Dennis seinen Lichtkegel über Teppiche und Wände schweifen. Es waren blutige Streifen an den Tapeten zu sehen und Fußabdrücke auf dem Boden. Das ganze wirkte in dem zuckenden Licht so surreal wie in einem schlechten Horrorfilm.
Schließlich waren sie hier in einer Kleinstadt mit einer Verbrechensrate von annähernd Null. Die schwerwiegendsten Delikte waren ab und zu mal ein Diebstahl und Einbruch, während die Familie im Urlaub war.
Aber hier schien sich etwas viel Übleres abgespielt zu haben.
Das erste Zimmer war leer, ein ungemachtes Kinderbett stand an einer Seite, die Zudecke zurück geschlagen. Zum Glück keine Blutspuren. Dennis atmete tief durch, gab seinem Kollegen, der den Flur weiter im Auge behielt, ein zuversichtliches Nicken. Dann gingen sie weiter zum nächsten Zimmer. Die Spuren führten den gesamten Flur entlang, auf der Türklinke hatten sich Finger in blutigen Farben verewigt.
Dennis‘ Nackenhaare stellten sich auf und er betete zum ersten Mal im Laufe seiner Dienstzeit zu Gott. Er befürchtete das Schlimmste. Wenn dieser Mistkerl auch den Kindern etwas angetan hätte ...
Er öffnete die Tür langsam und leuchtete mit der Taschenlampe schnell das ganze Zimmer ab.
Es hatte hier auf den ersten Blick kein Kampf stattgefunden, die Möbel waren in Ordnung.
Dann fiel der Strahl genau auf die Gesichter von zwei Kindern: einem Jungen und einem Mädchen. Sie hielten sich eng umschlungen am Kopfende des Bettes. Eines davon war über und über mit Blut beschmiert, das andere zitterte erbärmlich. Ihre Augen waren beide leuchtend Blau in der Dunkelheit zu sehen, dieselben wie ihre Mutter sie hatte. Doch keines machte auch nur einen winzigen Laut.
Mit schnellen Schritten war Dennis bei ihnen und überzeugte sich davon, dass ihnen nichts fehlte. Seine Waffe hatte er wieder eingesteckt, redete leise beruhigend auf sie ein und nahm schließlich eines von ihnen auf den Arm. Er wollte sie so schnell wie möglich von hier fort schaffen, bevor er sich um den Vater kümmern konnte.
Das zweite Kind überließ er Maloy, dann stürmten sie weniger leise die Treppe wieder hinunter und rannten zum Streifenwagen.
In der Ferne war schon die Sirene des Krankenwagens zu hören. Alles würde gut werden, sie waren rechtzeitig gekommen und hatten Frau und Kinder retten können.
Als er Mrs. Geoffrey die Geschwister überreichen wollte, zuckte diese zurück. Sie stand offensichtlich unter Schock, ließ die beiden sich aber an ihre Beine klammern und streichelte mechanisch über die blonden Köpfe.
Mit Verstärkung und unter Beleuchtung von starken Scheinwerfern machte sich Officer Dennis Hoover erneut auf den Weg in das noch immer stumm vor ihnen aufragende Haus.
Die gesamte Nachbarschaft hatte sich auf der Straße davor versammelt und konnte nur mit Mühe am Näherkommen gehindert werden. Mehrere Polizeiautos blockierten mit eingeschaltetem Blaulicht den Fluchtweg. Da hatten wohl noch einige andere Beamte auf ihren Schlaf heute Nacht verzichten müssen.
Man erwartete allgemein eine filmreife Festnahme und war gespannt auf den Anblick des Monsters der Familie Geoffrey.
Doch als Dennis zusammen mit Anderen das Eltern-Schlafzimmer betrat, war wohl keiner auf das Bild des Grauens vorbereitet, das sich ihnen dort bot.
Die Tapeten waren zerkratzt, das Bett in der Mitte durchgebrochen, in der Luft hing ein Brechreiz erzeugender, süßlicher Geruch, der von dem vielen Blut verursacht wurde, das sich überall verteilte. Einige Spitzer befanden sich sogar an der Decke.
Aber als die zahlreichen Strahlen der Taschenlampen durch das Zimmer streiften, konnten sie keinen Menschen - nicht einmal dessen Überreste - ausmachen.
"Verdammt. Wir müssen eine Fahndung raus geben. Der Mann ist uns scheinbar entkommen."
Die Worte kamen von einem Polizisten, der gerade zu ihnen gestoßen war und offensichtlich die Information hatte, dass sich auch im Rest des Hauses niemand mehr befand. Nach einem Moment stockte er allerdings.
"Das sieht hier aus, als hätte es jemand definitiv nicht überlebt. Das viele Blut kann nicht alles von der Frau sein."
"Glaubst du, es war noch jemand hier?"
Dennis Blick wanderte erneut über die Zeichen der bestialischen Gewalt und musste mehrmals hart schlucken.
"Jemand oder Etwas", flüsterte er.
Dann ging er vorsichtig aus dem Zimmer, darauf bedacht möglichst wenig mit dem Blut in Berührung zu kommen. Keiner von den Officers hatte Erfahrung mit solchen Kriminalfällen. Viele haben sich instinktiv oder weil ihnen schlecht wurde, bereits zurück in den Vorgarten begeben. Ihnen allen war klar, dass sie so wenig wie möglich Beweise verwischen durften. Das Haus musste abgesperrt und von einem professionellen Team der Spurensicherung untersucht werden.
Dennis ging den Flur entlang und betrat erneut das hintere Kinderzimmer. Die Schlieren an den Wänden und auf dem Teppich führten eindeutig zu diesem Raum. Als die Deckenbeleuchtung unter Flackern endlich wieder seinen Dienst tat, sah er sich dort genauer um. Er entdeckte ein paar Zeichnungen auf dem Schreibtisch und dem Bett verstreut. Auch an den Wänden befanden sich von Kinderhand gemalte Bilder.
Ein genauerer Blick darauf, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln.
Sie alle zeigten mit kindlichen Strichen skizziert ein wirkliches Monster, wie es mit blutigen Zähnen und scharfen Krallen einen Menschen zerfleischte. Und es hatte blaue Augen.
"Wir möchten sie wenigstens eine Weile zur Beobachtung hier behalten. Sie wirkt stabil, aber es steht noch das Gutachten eines Psychologen aus, der die Frage nach dem Sorgerecht für die Kinder klären wird."
"Sie hat bisher noch nicht geredet?"
"Nein. Steht sie denn unter Verdacht, an einem Verbrechen beteiligt zu sein?"
Die Frage des diensthabenden Arztes wurde mit Blick auf den Polizisten vor dem Krankenzimmer gestellt, der sich dort für einen längeren Aufenthalt einrichtete.
"Sie ist zumindest irgendwie darin verwickelt, ob bloß als das unschuldige Opfer oder auch als Mittäter müssen wir noch herausfinden. Von ihrem Mann fehlt bisher jede Spur, deswegen allein schon sind wir zu einem Personenschutz angehalten."
Wobei man das so eigentlich nicht sagen konnte. In dem Haus fanden sich jede Menge Spuren von Thomas Geoffrey, nur sein Verbleib war völlig ungeklärt.
Das meiste Blut im Schlafzimmer, sowie Hautfetzen und Haare waren augenscheinlich von ihm, abgesehen von den wenigen Spritzern durch die Kopfverletzung seiner Frau. Neben den eindeutigen Kampfspuren gab es bisher keinen Beweis, dass weitere Personen involviert waren.
Welcher Mensch wäre überhaupt zu solch einer rohen Gewalt fähig und welcher Mensch hätte das überleben können? Das fragte sich Dennis nicht zum ersten Mal.
Und wie hatte Mrs. Geoffrey sich, selbst wenn es in Notwehr geschehen ist - und das würden ihr alle Geschworenen bei der Vorgeschichte abnehmen - des Leichnams entledigen können? Zumal die Polizei-Streife nicht viel Zeit hatte verstreichen lassen, bis sie nach den Anrufen vor ihrer Haustür stand. Er selbst hatte die Mülltonnen im Garten akribisch auseinander genommen.
Also wo hat sich der Dreckssack hin verkrochen, nachdem er anscheinend zum ersten Mal auf genügend Widerstand bei seinem Opfer gestoßen war? Die Nachbarn sind von dem Lärm fast alle wach gewesen und man hätte einen flüchtenden, blutüberströmten Menschen auf der Straße sehen müssen. Aber er konnte sicherlich nicht einfach verschwunden sein. Blieb also nur die Möglichkeit, dass er irgendwie über den Hinterhof entkommen konnte, mit oder ohne Hilfe. Was bedeutete, dass er noch irgendwo da draußen war.
Officer Dennis Hoover schaute durch das Fenster in das hell erleuchtete Krankenzimmer. Der Anblick, welcher sich ihm bot, rührte auf unbekannte Art an seinem Herzen.
Da war die blasse, zusammen gesunkene Gestalt einer ausgemergelten Frau in dem weiten Krankenhaushemd. Farbige Prellungen leuchteten auf ihrer hellen Haut, die Augen waren von dunklen Schatten umrahmt, auf der Stirn die frische Naht einer Platzwunde zu erkennen.
Und in ihren Armen jeweils eins rechts und eins links, lagen die schlafenden kleinen Körper von den blonden Geschwistern. Sie klammerten sich verzweifelt an die Mutter, welche ihrerseits mit einem leeren Blick auf die Wand schaute.
Auch als er sich zu ihr gesellte, schien sie die Umgebung nicht wahr zu nehmen.
Das Bild mit der Kinderzeichnung fiel ihm wieder ein. Es war der kindliche Versuch, den täglichen Albtraum zu überstehen, den es im eigenen Heim erleben musste. Gerade dort, wo ein Kind eigentlich am sichersten hätte sein sollen: bei seinen Eltern.
Vielleicht hatte es sich gewünscht, dass die Mutter mit den blauen Augen endlich selbst zum Monster wurde und sich gegen die Übergriffe durch den Ehemann zur Wehr setzte.
Für das Kind wäre dies wohl so eine Art ausgleichende Gerechtigkeit und vielleicht hatte sie es getan, um den Rest ihrer Familie zu beschützen.
Warum hatte sie sich auch keine Hilfe von außen geholt, bevor es so weit kommen musste? Welche dunklen Geheimnisse mochten noch auf ihrer Seele lasten?
Dennis fühlte die schwere Woge von Mitleid in sich branden. Er hatte den Beruf des Polizisten gewählt, weil er Menschen helfen wollte und nicht, um mit anzusehen, wie sie am Leben zerbrachen.
"Ma'am?"
Sie zuckte zusammen und ihre erste Reaktion galt ihren Kindern, um sicher zu gehen, dass diese nicht aufwachten. Dann suchte sie den Blickkontakt zum Officer und gab ihm mit einem stummen, flehendem Kopfschütteln zu verstehen, dass sie jetzt nicht mit ihm reden würde.
Zumindest war sie sich ihrer Lage bewusst. Vielleicht könnte er später doch ihre Aussage aufnehmen.
"Es wird die ganze Zeit jemand auf dem Flur sein und aufpassen. Ich komme morgen wieder und erwarte dann, mit ihnen zu reden über die letzte Nacht."
Die geflüsterten Worte klangen bestimmt und sollten ihr verdeutlichen, dass er sich nicht ewig abwimmeln lassen würde.
Tatsächlich fühlte Dennis sich hundemüde, seine eigentliche Schicht war bereits zu Ende und er wollte sich nur noch einmal persönlich von ihrem Zustand überzeugen, bevor er endlich nach Hause in sein Bett fallen und den ganzen Tag verschlafen würde.
Er bekam keine Antwort von ihr, wie zu erwarten und verabschiedete sich mit einem Nicken, aber sie starrte bereits wieder ins Nichts.
Von dem Kollegen draußen ließ er sich noch einmal bestätigen, dass dieser Bescheid wusste und dass man Dennis unverzüglich über Neuigkeiten informieren würde.
Er ging durch kahle Flure, von kaltem Neonlicht beleuchtet. Seine Schritte hallten gespenstisch in dem Korridor. Er konnte einen röchelnden Atem hören und war sich nicht sicher, ob es das Echo seiner eigenen Lungen war.
Verschlossene Türen reihten sich rechts und links an den Wänden entlang, sie alle hatten ein Glasfenster, welches nur Schwärze zeigte. In den Räumen dahinter war das Nichts. Er fühlte sich davon beobachtet.
Der Gang zog sich endlos, er konnte weder vor sich noch hinter sich etwas Anderes ausmachen als Türen, die das Schwarz vor ihm verborgen hielten.
Doch plötzlich flackerten die Röhren an den Decken und das Licht tauchte den langen Raum abwechselnd in gleißendes Weiß und ließ es dann wieder in Dunkelheit versinken.
"Hallo? Ist hier jemand?"
Er wollte hier weg. Instinktiv spürte er, dass der Ort gefährlich für ihn war, auch wenn er nicht wusste, wo er sich überhaupt befand.
Das Sterile von Boden und Wänden ließ ihn an ein Ärztehaus denken.
Dann fiel das Licht gänzlich aus. Für einen schrecklichen Moment fühlte er sich blind.
Mit offenem Mund sog er die kalte Luft in tiefen Atemzügen ein, versuchte die Panik zu unterdrücken. Von irgendwoher hatte er eine Taschenlampe und schaltete sie ein.
Mit dem kleinen Radius des Lichtkegels leuchtete er den Flur vor sich ab. An den zuvor noch nackten Wänden waren jetzt die roten Striemen von Blutspuren zu sehen. Als wäre jemand mit mehreren Fingern daran entlang gefahren.
Er hatte ein Déjà-vu Erlebnis, dieses Szenario kam ihm erschreckend vertraut vor.
Auch auf dem Boden fand er die vermuteten, blutigen Fußspuren. Sie waren klein, wie von einem Kind und sie führten den gesamten Gang entlang.
Er folgte ihnen, konnte sich dem Zwang nicht erwehren. Obwohl eine innere Stimme ihn davon abzuhalten versuchte.
Die Luft summte, wie elektrisiert.
Zahlreiche Türen passierte er, alle mit einem Fenster, in das er nicht hinein sehen konnte.
Dann steigerte sich das Kribbeln in seinem Nacken, die Härchen an seinen Armen richteten sich auf.
Ein fernes Donnern war zu hören, es klang rhythmisch und näherte sich schnell. Was auch immer es auslöste, war außerhalb seines schwankenden Lichtstrahls. Er konnte die Taschenlampe nicht ruhig halten.
Plötzlich erkannte er, dass die Türen entlang des Korridors nach und nach mit lautem Knall gegen die Wand aufschlugen.
Die Schwärze dahinter war nicht länger gefangen. Sie kam auf ihn zu...
Ein schrilles Klingeln des Telefons weckte ihn. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr war er sofort hellwach.
"Hoover hier."
"Dennis, wir haben ein Problem. Der Polizist ist verschwunden!"
Allein die persönliche Anrede hätte ihm deutlich gemacht, dass etwas Ungewöhnliches passiert sein musste. Normalerweise erlaubten sie sich keine Intimitäten, wenn es um berufliche Gespräche ging. Doch die Panik in der Stimme machte dies noch viel deutlicher.
"Was meinst du damit: verschwunden? Aus dem Krankenhaus? Wo ist die Familie jetzt? Die Frau und die Kinder?"
Ihm war sofort klar, um welchen Polizisten es gehen musste. Sie hatten hier schließlich nicht allzu viele Fälle, bei der ein Posten abgestellt war.
"Du musst sofort hin fahren."
Dann war die Verbindung auch schon unterbrochen.
Noch bevor er sich komplett angezogen hatte, klopfte es bereits an seiner Tür und ein Kollege mit Streifenwagen wartet auf ihn.
Auf dem Weg zum Krankenhaus ließ er sich die wenigen Informationen geben, die man bereits hatte.
"Als die Ablösung dort eintraf, war von Roggers nichts zu sehen. Die Frau hat sich zusammen mit den Kindern in ihrem Zimmer eingesperrt und lässt niemanden an sich ran."
Zu dem Zeitpunkt, als sie endlich vor dem kleinen Hospital in der Nachbarstadt anhielten, ging gerade die Sonne unter. Ein paar letzte Strahlen trafen die Fenster im oberen Stockwerk und ließen sie schimmern in Blutrot. Ein schlechtes Omen, wie Dennis fand.
Die untere Etage war in normale Geschäftigkeit getaucht. Patienten mit kleineren Wunden warteten im Aufnahmebereich, während Schwestern und Ärzte herum rannten.
Ein Gemisch aus Babygeschrei, läutenden Telefonen und Durchrufen über die Sprechanlage sorgten für einen gehörigen Lärm.
Dennis eilte mit seinem Partner an der Notaufnahme vorbei zur Treppe und sprintete in die dritte Ebene, wo sich die Einzelzimmer für Patienten befanden.
Hier war es überraschend ruhig und die Stille rauschte unangenehm in seinen Ohren. Er sah sofort, dass der Stuhl für den Polizisten zur Beaufsichtigung von Frau Geoffrey leer war. Daneben standen eine Schwester und der zur Nachtschicht eingeteilte Officer mit ratlosen Gesichtern.
"Was ist passiert?"
Die beiden tauschten einen kurzen Blick und der Polizist, der laut seiner Uniform Lincoln hieß, deutete auf das große Fenster neben der verschlossenen Tür zum Patientenraum.
Dahinter war es dunkel. Dennis konnte nicht einmal die geschlossenen Jalousien sehen.
"Ich bin pünktlich zu meinem Dienstantritt hier erschienen und habe bisher weder von Officer Roggers noch von den zu observierenden Zielpersonen jemanden gesehen."
Er wirkte nervös, als würde er sich rechtfertigen müssen. Vermutlich war er ein wenig spät dran gewesen und befürchtete nun, man würde ihm die Schuld an dem geben, was auch immer hier passiert sein mochte.
Dennis warf einen fragenden Blick auf die Frau mit dem Schwesternkittel. Sie hatte auch gestern Nacht, als die Drei eingeliefert wurden, hier ihren Dienst getan und bei der Erstuntersuchung geholfen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie sich um den Jungen gekümmert.
"Ist irgendetwas Seltsames vorher geschehen? Hat man verdächtige Personen herauf kommen sehen oder Lärm gehört?"
Die Frau ruckte ihren Kopf mit den braunen Locken beleidigt herum. Ihr Mund nahm einen verkniffenen Zug an.
"Wie Sie unten vielleicht gesehen haben, sind wir hier ständig sehr beschäftigt. Das Krankenhauspersonal ist nicht dafür zuständig, auf Leute aufzupassen oder Besucher zu kontrollieren. Dafür sind Sie ja da!"
Bei den Worten wippte sie demonstrativ mit dem Fuß und es war offensichtlich, dass sie auch noch etwas Anderes zu tun hatte. Wahrscheinlich war sie bei ihrem Kontrollgang durch die Zimmer aufgehalten worden.
Dennis stellte sich an die verschlossene Tür und klopfte lautstark.
"Mrs. Geoffrey, sind sie da drinnen? Hier ist Officer Hoover. Ich habe sie gestern Nacht zusammen mit ihren Kindern aus dem Haus geholt und ins Krankenhaus gebracht. Erinnern Sie sich an mich? Könnten Sie bitte die Tür öffnen, dann würde ich ihnen auch heute gern wieder helfen."
Er meinte es tatsächlich so wie er es sagte. Er fühlte sich für die zerrüttete Familie verantwortlich und wollte der Frau mit ihren Kindern zu einem neuen Start verhelfen.
"Gehen sie weg!"
Ein unterdrücktes Schluchzen war aus dem Raum zu hören und die Worte waren mit zittriger Stimme gerufen worden, die er nur undeutlich verstand.
"Bitte machen Sie auf. Dann wird alles wieder gut."
Jetzt konnte er eindeutig jemanden Heulen hören.
"Nichts wird jemals gut. Es war meine Schuld. Wegen mir musste er sterben."
Das Bild von dem verwüsteten Schlafzimmer kam ihm wieder zu Bewusstsein und er konnte sich partout nicht vorstellen, wie eine zierliche Frau diese Zerstörung hätte verursachen können.
"Das glaube ich nicht. Was auch immer dort passiert ist, das waren nicht Sie!"
Nebenbei hatte Dennis seinen Kollegen angewiesen, einen Hausmeister oder Spezialisten zu finden, der das Schloss öffnen könnte. Natürlich wäre es für alle Beteiligten von Vorteil, wenn die hysterische Frau selbst dazu überredet werden würde.
"Nein, das war nicht ich." Jetzt klang die Stimme schon viel fester. "Aber ich habe es nicht verhindert."
Kopfschüttelnd ließ Dennis sich die Worte durch den Kopf gehen. Es war die typische Ansicht eines Opfers, welches sich dafür schämte, misshandelt worden zu sein. Die Angst, von Anderen verurteilt zu werden war oft so groß, dass sie lieber schwiegen.
"Nicht Sie sind hier das Monster und Sie brauchen sich nicht dafür schämen, was man Ihnen angetan hat. Wir können gerne von Angesicht zu Angesicht darüber reden und Sie erzählen mir, was genau geschehen ist."
Er konnte keinerlei Geräusche hören, bis auf das gelegentliche Schniefen der Frau.
Endlich kam jemand vom Sicherheitsdienst und Dennis machte ihm genügend Platz, damit er die Tür aufbrechen konnte.
Da immer noch nicht klar war, ob es einen Komplizen gab und was mit dem Wachmann passiert war, positionierte er sich mit gezogener Waffe.
Dann gab er ein knappes Zeichen und die Tür sprang einen kleinen Spalt nach innen auf.
Dicke, dunkle Nebelschwaden drangen durch die Öffnung und verflüchtigten sich schnell auf dem hell erleuchteten Flur.
Inzwischen standen vier Männer kampfbereit davor und hielten den Atem an.
Wie in Zeitlupe drückte Dennis die Tür weiter auf und versuchte etwas im Inneren des Krankenzimmers zu erkennen.
Erneut musste er an die verstörenden Skizzen von einem schwarzen Ungeheuer denken.
Das Erste, was er sah, war ein Paar leuchtend blauer Augen, weit aufgerissen, in einem tränenverschmierten Gesicht. Sie hockte in einer Ecke des Zimmers auf dem Boden, die Brust vibrierte von unterdrückten Schluchzern.
Die Situation kam ihm viel zu vertraut vor. Der süßliche Geruch von Blut stach ihm in die Nase, hinzu kam eine beißende Note aus Angstschweiß.
Dennis schlich sich ins Zimmer, mit ihm drang ein schmaler Lichtstreifen herein.
Officer Lincoln versuchte die Lampe einzuschalten, doch vergebens. Stattdessen öffnete er die Blende vor dem Fenster, aber es dauerte lange, bis sich die Schwärze aus dem kleinen Raum zurück zog.
Der Boden hatte sich komplett in eine Lake aus zähflüssigem Blut verwandelt und Dennis' Schuhe schmatzten bei jedem Schritt. Seine Augen zuckten durch den Raum, auf der Suche nach einem Gegner. Doch alles was er sah, war die Frau an der Wand und auf ihrem Schoß hielt sie den Körper eines Kindes.
Unter dunklen Blutkrusten konnte er den Ansatz blonden Haares ausmachen, die Augen blickten leblos an die Decke, während der Rumpf in einer ungewöhnlichen Haltung verharrte. Offensichtlich war sein Genick gebrochen.
Weitere Tränen tropften dem Jungen ins Gesicht.
"Ich wollte es aufhalten", kam über die bebenden Lippen der Mutter.
Dennis nahm ihr das tote Kind aus dem Arm, sie leistete keinen Widerstand und starrte ihn nur weiterhin mit riesigen Augen an.
Er reichte den Körper stumm seinem Kollegen, dann näherte er sich ihr erneut vorsichtig und mit beruhigend erhobenen Händen.
"Es wird alles gut. Ich bringe Sie jetzt hier raus."
Doch seine Worte klangen selbst für ihn lächerlich. Wie sollte das jemals wieder gut werden. Er konnte sich noch immer keinen Reim darauf machen. Aber sie war eindeutig gewalttätig und mindestens verwirrt, wenn nicht gar psychisch krank.
Nachdem er auch sie endlich aus der dunklen Kammer des Schreckens heraus bekommen hatte, sah er sich noch einmal um und fluchte verhalten.
Das ganze Blut gehörte höchst wahrscheinlich dem Polizisten, von dem sie genauso wie bei ihrem Ehemann keine weitere Spur von dem restlichen Körper finden würden.
In Gedanken versunken und mit einem starken Würgereiz kämpfend, fiel sein Blick auf das zerfetzte Krankenbett.
Dennis glaubte, eine Bewegung in den Augenwinkeln wahrgenommen zu haben und bückte sich.
Darunter hatte sich das kleine Mädchen versteckt und war in dem sie umgebenden roten See kaum mehr als ein Schatten.
Er sah direkt in Ihre blauen Augen.
„Melanie, Sie haben Besuch!“
Wie auch in den Tagen zuvor, saß die junge Frau schweigsam auf ihrem Platz am vergitterten Fenster und starrte hinaus. Ihr Blick war allerdings auf außerhalb dieser Zeit gerichtet. Sie versuchte etwas zu begreifen, das so unvorstellbar war, dass sie es kaum hatte in Worte fassen können.
Aber mit jedem Verhör und jeder Sitzung, in der man ihr einreden wollte, dass sie einem Trugbild erlegen war und ihre Fantasie sich mit der Realität vermischt hatte, wurde sie in ihrer Ansicht bestärkt, dass sie das einzig Richtige getan hatte. So konnten wenigstens diese Menschen in ihrem falschen Gefühl von Normalität weiter leben.
Sie seufzte.
Trügerische Sicherheit, das gab es für sie nicht mehr. Selbst in diesem Gebäude, wo man die Verrückten vor der normalen Welt zu verbergen versuchte, war man durch die Gitterstäbe, die Wachen und all die Sicherheitsvorkehrungen nicht geschützt, wenn das Böse sich so einfach verstecken konnte.
Niemand war je sicher.
Sie wurde in einen Besucherraum geführt.
Dort saß ein Mann in Polizeiuniform, die Mütze zwischen seinen flach auf dem Tisch liegenden Händen.
Sie kannte ihn. Das scharf geschnittene Gesicht zeigte einen erfahrenen Menschen Mitte Vierzig, der zuvor in seinem Leben trotz des Berufs vermutlich noch nie mit dem echten Grauen in Berührung gekommen war und nun in einer Woche um Jahre gealtert schien.
Ironischerweise machten gerade die Medikamente es Melanie schwer, sich konkret an ihn zu erinnern. Doch dann übernahm er bereits die Begrüßung.
"Hallo Mrs. Geoffrey. Wie geht es ihnen?"
Die Floskel wirkte an ihm aufrichtig. Ein besorgter Blick seiner dunklen Augen musterte sie unauffällig, doch eindringlich.
"Sie sind der Officer, der... , der... "
"Wissen Sie nicht mehr? Wir haben uns bereits ein paar Mal gesehen. Bei den ... besonderen ... Vorkommnissen. Als wir, also ich und mein Partner, Sie und ihre Kinder aus dem Haus geholt hatten. Und dann noch einmal im Krankenhaus."
Bei seinen Worten war sie mehrfach zusammen gezuckt. Am deutlichsten war dies, als er die Kinder erwähnte.
"Wo ist sie jetzt?"
Ihre blauen Augen schienen ihn förmlich zu durchbohren. Obwohl diese etwas verschleiert wirkten und nicht annähernd so stark leuchteten, wie er es aus der Dunkelheit der vergangenen Horror-Szenen kannte, verursachten sie ihm doch eine Gänsehaut. Es waren die Augen von Jemandem, der zu viel gesehen hatte. Vielleicht immer noch zu viel sah, von dem, was gar nicht da war, nicht da sein durfte.
"Sie meinen das Mädchen? Luise, ihre Tochter?"
Wie unter Peitschenhieben, krümmte sich die Frau zusammen und konnte dem Blick des Polizisten nicht länger standhalten.
"Ja, meine Tochter. Sie ist mein Kind. So wie er mein Kind ist... war."
Waren das Schuldgefühle, die er bei ihr erkennen konnte?
Dennis Hoover reichte Melanie Geoffrey in einer freundlichen Geste die Hand und bat sie dann, sich zu ihm an den Plastiktisch zu setzen.
Er hatte sich ein paar Tage beurlauben lassen und erst danach bei der Polizei erfahren, wie in dem merkwürdigen Fall der beiden verschwundenen Personen weiter ermittelt wurde.
Man hatte tatsächlich die Frau mit keinem der vermuteten Morde belasten können. Es gab weder eine Tatwaffe, noch einen Leichnam und im Falle des Officers auch kein erkennbares Motiv.
Ihre wenigen Erklärungen hatten allerdings ausgereicht, um als Geständnis für die Tötung ihres Sohnes zu gelten. Dabei war gar nicht erst eine psychologische Untersuchung nötig, um zu wissen, dass sie zu dem Zeitpunkt nicht zurechnungsfähig gewesen sein konnte. So dass man sie bereits in diese geschlossene Anstalt mit mittlerer Sicherheitsstufe eingewiesen hatte, wo sie nun mit Hilfe von Medikamenten und Therapien wieder zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft rehabilitiert werden sollte. Im besten Fall könnte sie sogar wieder für ihre Tochter sorgen und einen Neustart unter strengen ärztlichen Auflagen wagen.
Der Weg dorthin war allerdings lang und steinig. Als erstes müsste sie mit den Geschehnissen abschließen und dafür war es wichtig, die Realität der vergangenen Ereignisse anzuerkennen. Dies war die Aufgabe der Psychotherapeuten.
Er war hier, um so behutsam wie es einem Polizisten eben möglich war, die wenigen Fakten zusammen zu sammeln, die den Ermittlungen helfen könnten. Und zusätzlich aus weit persönlicherem Interesse an ihrer Person, für die er eine gewisse Verantwortung spürte.
"Luise ist gut bei einer Pflegefamilie untergebracht. Mrs Geoffrey, Ich weiß es muss schwer für Sie sein und man hat Sie sicher auch schon ein Dutzend Mal befragt. Aber würden Sie mir noch einmal erzählen, was ihrer Meinung nach vorgefallen ist?"
Er konnte sofort ihre Ablehnung spüren, das Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an, der so viel sagen sollte, wie: Du kannst die Wahrheit doch gar nicht ertragen und würdest mir kein Wort glauben.
"Es ist mir egal, wie verrückt es für Andere klingen mag. Ich möchte Ihre Meinung zu dem Ganzen hören."
Profis hatten sich tatsächlich schon eine Meinung über sie gebildet und dies recht deutlich in den Fallakten notiert. Aber eine psychische Störung, sowie Wahnvorstellungen, kamen nicht von ungefähr. Es musste eine Verbindung zwischen den fantasierten Geschehnissen und der Wirklichkeit geben. Das eine war nur die Abstraktion des Anderen.
Noch immer zögerte Melanie und ihr unsteter Blick suchte nach einer Eingebung im karg möblierten Zimmer.
"Fangen wir mit ihrem Ehemann an: Carl. Wie hat er Sie und ihre Kinder behandelt?"
Nun blickten die blauen Augen wieder direkt in seine und ein böses Funkeln spiegelte sich darin.
"Warum glauben alle, dass Carl ein schlechter Mensch war? Wer ihn kannte, der wusste, was für ein netter Kerl und liebevoller Vater er war. Er hätte keinem von uns je was angetan!"
"War das auch so, wenn er getrunken hatte? Oder wenn er wütend wurde?"
Dennis hätte sich gern seine Notizen durchgelesen und weitere Überlegungen nieder geschrieben, doch er wollte der Frau nicht das Gefühl geben, bei einem Verhör zu sein. Obwohl es im Grunde so war. Er befand sich hier in einer offiziellen Angelegenheit während seines Dienstes, obgleich er wünschte, dass es nicht so wäre. Er hätte sich gern etwas privater mit ihr Unterhalten.
"Nein, Carl hat nicht getrunken. Früher mal, wenn wir weg gegangen sind. Bevor die Kinder da waren."
Sie winkte ab, als wäre dieses Thema völlig irrelevante.
"Ich weiß, dass Sie häufiger Verletzungen hatten, als es in einem normalen Haushalt mit Unfällen passieren würde."
Damit spielte er auf das gebrochene Handgelenk und das halb verblasste Veilchen an, welche er persönlich an ihr gesehen hatte. Aber auch davor schon war sie laut Unterlagen regelmäßig beim Arzt mit kleineren und größeren Wunden in Behandlung gewesen.
"Ja. Es war kein normaler Haushalt. Ich war eine schlechte Mutter."
Jetzt blickte sie wieder in die Ferne, wo die Erinnerungen lagen. Dennis gab ihr Zeit, den Gedanken nachzuhängen.
"Und das Böse hat seinen Weg in unsere Familie gefunden."
Mit hoch gezogenen Augenbrauen musterte er die zierliche Frau ihm gegenüber. Dann holte er aus seiner Aktentasche ein paar Blätter Papier und breitete sie auf dem Tisch aus. Melanies Aufmerksamkeit sank langsam darauf, dann schaute sie beim Erkennen plötzlich erschrocken hoch und sprang vom Stuhl, als würde sie sich vor ihnen in Sicherheit bringen müssen.
"Wer ist dieses Monster?"
Der Officer tippte mit seinem Finger energisch auf die Kinderzeichnungen, die ein schwarzes Ungetüm mit blauen Augen zeigte, welches angedeutet in seinem blutigen Maul einen Menschen hielt.
"ES IST TOT!", schrie sie ihm entgegen und riss die Augen panisch auf, wie um eine Bestätigung von ihm zu fordern.
"Es ist tot!", sagte sie noch einmal leiser und ließ sich die Wand hinab gleiten, als Dennis mit ruhigen Schritten auf sie zukam. Er kniete sich vor Sie und legte eine Hand beschwörend und beruhigend zugleich auf ihre zitternde Schulter, versuchte ihren Blick einzufangen.
"Sind Sie dieses Monster?"
"NEIN!" Erneut schrie sie ihn an, stieß seine Hand empört weg und stürzte sich auf die Bilder, um sie in einem Anflug von Raserei zu zerreißen.
Einzelne Papierfetzten flogen durch die Luft. Das Gesicht von Melanie hatte sich zu einer Grimasse verzerrt und immer wieder schrie sie: NEIN! ES IST TOT! NEIN!
Dennis fühlte sich völlig hilflos. Er wusste nicht, was er in solch einer Situation tun sollte und atmete innerlich auf, als endlich ein paar Pfleger mit einer Beruhigungsspitze herein kamen. Sie führten die immer noch stammelnde Frau, mit den inzwischen wirren Haaren und umnachteten Augen aus dem Sprechzimmer. Vermutlich würde sie in ihrem Zimmer die nächsten Stunden im Delirium verbringen.
Das Treffen hatte ihm keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er war nun noch eher dazu bereit, den vielen Stimmen zu glauben, die Mrs. Geoffrey als die Verbrecherin bezeichneten, weil sie dem Wahnsinn verfallen war.
Eine drückende Dunkelheit breitete sich in dem winzigen Raum aus.
Melanie konnte ihren Blick nicht scharf stellen, selbst ihre Gedanken schienen verschwommen.
Mit kraftlosen Bewegungen versuchte sie ihre Arme und Beine von den Lederriemen zu befreien, die sie zu einem hilflosen Wesen im Bett verdammten.
Ihre Zunge klebte geschwollen am Gaumen, das Schlucken fiel ihr schwer. Die Luft schien auf einmal dick wie Sirup.
Während sie noch gedanklich auf diese Idioten fluchte, bemächtigte sich allmählich ein vertrautes Gefühl ihres Körpers.
Es begann mit einem undefinierten Kribbeln in den Füßen, wanderte dann mit kalten Fingern ihre Beine hinauf und hinterließ an jedem Stück Haut eine betäubende Starre.
Kälte kroch in sie hinein und ballte sich zu einem harten Klumpen in ihren Eingeweiden.
Sie spürte die Panik sich dort sammeln.
Mit angehaltenem Atem lauschte sie in den Raum. Doch die Schwärze hatte jedes Geräusch von Außerhalb geschluckt.
Plötzlich war ihr Kopf wie leer gefegt. Sie befand sich in einem Gefängnis für den Geist, und das Einzige, was sich klar abzeichnete, war der Befehl: Flieh!
In wilder Verzweiflung wollte sie sich aufbäumen, aber Widerstand hielt sie fest, zwang sie dazu, zum Opfer zu werden, wieder und immer wieder.
Etwas befand sich zusammen mit ihr in dem Zimmer.
Seine stummen Hiebe trafen sie im Gesicht, an den Armen und Beinen. Ihre Wunden brannten wie Feuer. Unter der Wucht jedes Aufschlags bebte ihr ganzer Körper.
Sie wollte schreien, doch kein Laut kam aus ihrer bereits rauhen Kehle.
Sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen, versuchte den Qualen auszuweichen. Doch diese fraßen sich unbarmherzig einen Weg durch Ihre empfindlichen Nervenbahnen.
Zahllose Schläge landeten auf ihrem Unterleib, ließen ihre Bauchmuskeln krampfen.
Sie ballte die Hände zu Fäusten und ihre Zehen zu Klauen.
Das Gefühl von brechenden Knochen durchzuckte sie.
Dann spürte sie ihren eigenen Puls, wie eine stete Welle durch die Glieder jagen.
Hitze erfüllte sie, raste durch ihre Adern und entzündete sich an ihrem Fleisch zu gleißendem Schmerz.
Die Augen weit aufgerissen in der Dunkelheit, verhalte ihr angsterfülltes Flehen ungehört.
Sie war ganz allein ihren Erinnerungen ausgeliefert, die sie erneut quälten bis aufs Blut.
Nicht einmal der Schlaf blieb ihr zur Erlösung. Die Träume wurden ihr unbarmherzig vorenthalten.
Innerlich fühlte sie sich bereits tot. Körperlich war es ihr nicht erlaubt, zu sterben.
Noch nicht.
"Hören Sie mich, Mrs. Geoffrey?"
Als Dennis sie das nächste Mal besuchte, fand er nur noch die Hülle der Frau wieder, die sie einmal gewesen war.
Wie in die Enge getrieben hatte sie sich auf ihrem Stuhl zusammen gekauert, die Beine angezogen und mit den Armen schützend umschlossen. Ihre Augen suchten die Umgebung nach etwas ab, das er nicht erkennen konnte. Doch den Ausdruck darin kannte er gut: es war pure Angst.
Diesmal kam er in Zivil und er hatte jemanden mitgebracht, in der Hoffnung, dass es Melanie bei ihrem Genesungsprozess helfen würde.
Allerdings bezweifelte er seine Idee nun, denn ganz offensichtlich ging es ihr bereits sehr viel schlechter und er wusste nicht, was die bevorstehende Begegnung bei ihr auslösen könnte.
"Was haben sie mit Ihr gemacht?"
Verstört wandte er sich an die Pflegerin, die sich im Hintergrund hielt, um die Patientin zu beobachten, nachdem diese überhaupt nicht auf seine Worte reagierte.
"Nichts. Seit dem letzten Anfall als Sie, Officer, hier zu einem Gespräch waren und wir sie sedieren mussten, ist Melanie nicht mehr ansprechbar. Sie hat sich in ihre eigene Fantasie zurückgezogen. Wir haben viele solcher lebenden Toten in unserer Klinik. Und dabei ist ihre Medikamentendosis deutlich herab gesetzt worden. Genaueres müssen Sie bei den behandelnden Ärzten nachfragen."
Mit einem Schulterzucken tat sie das ungewöhnliche Verhalten ab, als müsste man es eben hinnehmen. Aber er wollte seinen Besuch nicht ganz umsonst sein lassen und ging hinaus, um das Mädchen von der Sozialarbeiterin zu holen, welche es offensichtlich nicht für angemessen hielt, die Kleine mit ihrer labilen Mutter zusammen zu bringen.
Als er Luise vorsichtig in die Nähe von Melanie schob, beobachtete er jede ihrer Reaktionen mit äußerster Anspannung, um im Notfall schnell eingreifen zu können.
Ihre Augen richteten sich sofort auf das Kind und Erkennen spiegelte sich abwechselnd mit Zweifel, Angst und Freude in ihrem Gesicht.
Sie streckte die Arme nach ihrer Tochter aus und eine einzelne Träne rann ihr bereits über die Wange.
Dennis ging langsam näher mit dem Mädchen, bis sie dicht vor der Mutter standen. Diese bewegte sich nicht von ihrem Platz, schaute nur mit großen Augen fragend auf das kindliche Gesicht. Was versuchte sie dort zu ergründen?
Schlagartig veränderte sich ihre Mimik und der Ausdruck wandelte sich in blanke Wut.
"Diese Augen!", hauchte sie. Dann stolperte sie rückwärts über den Stuhl, wollte dem Blick ihrer Tochter entkommen.
"Es sind die Augen! Es hat diese Augen!" Mit ausgestrecktem Finger zeigte Melanie anklagend auf das reglose Kind. "Und nun hat sie es her gebracht, um das mit mir zu beenden, um mich zu HOLEN!"
Ihre Stimme wurde mit jedem Wort schriller bis sie in einem hysterischen Schrei brach.
Mit der Macht des Wahnsinns rannte sie plötzlich brüllend durch den Raum und zerkratzte sich dabei das eigene Gesicht.
Dennis zerrte Luise erschrocken zur Tür und wartete dort erneut auf den Einsatz der Pflegekräfte.
"ES SIND DIE AUGEN!"
Sie schrie und versuchte, sie sich wie wild aus dem Kopf zu kratzen. Blutige Striemen zogen sich über ihre Haut, bis endlich die hereinstürzenden Sicherheitskräfte die Arme der Verrückten in ihrem festen Griff hielten und man ihr wieder eine Spritze in den Oberarm jagen konnte.
Dann brachte man die wimmernde Gestalt zurück in ihre ganz persönliche Zelle der Angst.
Mit einem entschuldigenden Ausdruck übergab Dennis das schweigsame Mädchen wieder in die Obhut der Pflegeeltern. Er hatte sich das Zusammentreffen definitiv anders vorgestellt und bereute seine vielleicht etwas zu voreilige Handlung. Er fühlte sich völlig erschlagen.
Das Einzige, was ihn noch mehr verstörte, war das merkwürdige Lächeln auf dem engelsgleichen Gesicht des Kindes, als es noch einmal zu ihm zurück blickte bevor die Familie im Ausgang verschwand.
Einige Tage später:
Officer Hoover hatte wie gewohnt die Nachtschicht auf dem Revier übernommen und stellte sich auf langweilige Stunden mit jeder Menge Kaffee ein, als er wie schon so häufig zuvor die Unterlagen zu dem seltsamen Fall durchging. Irgendetwas mussten sie übersehen haben, aber er kam einfach nicht darauf, was es sein könnte.
Die Ärzte in der Klinik waren mit der Behandlung von Melanie nicht wirklich voran gekommen. Da sie kaum noch mit jemandem sprach, hatte man sie dazu angehalten, ihren Gefühlen durch Malen und Schreiben Ausdruck zu verleihen. Eines der Gedichte lag nun als Kopie einer zittrigen Handschrift vor ihm:
Die Erinnerungen sterben einfach nicht.
Sie quälen mich still und unbarmherzig,
lassen ihre Krallen nicht von mir ab.
Die Zeit heilt keine Wunden der Seele.
Sie rinnt stattdessen unaufhaltsam
durch die Löcher meines Schutzwalls.
Das Herz einer Mutter vergisst keine Niederlage.
Es schlägt schonungslos weiter
im ewig falschen Rhythmus.
Die Vergangenheit liegt stets auf der Lauer.
Sie wartet nur auf die nächste Nacht,
in der sie über mich herfallen kann.
Das Feuer der Sühne entflammt das Blut.
Es verbrennt meinen Leib mit all seiner Schuld,
doch die Narben bleiben unsichtbar.
Die Hoffnung auf ein Ende lässt mich ertrinken.
Sie füllt meine Lungen mit süßem Schmerz
bei jedem gierigen Atemzug.
Das Leben will mich nicht aufgeben.
Es flüstert mir falsche Versprechungen
von besseren Tagen ins Ohr.
Der Tod zerfließt vor meinen Augen.
Er entzieht sich mir beständig,
verlangt einen zu hohen Preis.
Die Verzweiflung ist mein einziger Freund.
Irgendwann wird sie groß genug sein,
um mich dem Monster endlich zu stellen.
Das Läuten des Telefons nahm Dennis nur im Hintergrund wahr. Plötzlich kam ihm ein Gedanke zu einem winzigen Detail, dem er sich bisher nicht gewidmet hatte.
Wer von den Kindern hatte die Bilder eigentlich gemalt? In wessen Zimmer hatte er sie doch gleich gefunden?
Von einer inneren Unruhe getrieben, blätterte er hastig in den Dokumenten. Er fand eine Abbildung von dem Grundriss des Hauses der Familie Geoffrey.
Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linien und die Randbemerkungen nach.
Dort war das Schlafzimmer, der eigentliche Tatort. Den Flur entlang mit Blutspuren war er bis zum Ende gefolgt. Das erste Zimmer war leer, es gehörte dem Mädchen.
Im hinteren Kinderzimmer hatte er die Geschwister und die Zeichnungen gefunden, es gehörte dem Jungen. Er hatte schon zuvor viele Male die Übergriffe von einem Monster gesehen und sie auf Papier gebannt.
Die Kollegin am Apparat der Notfallnummer wechselte ein paar routinierte Worte mit dem Anrufer und drehte sich dann zu Dennis.
Dieser stellte gerade noch eine weitere Überlegung an: Wer von den beiden war eigentlich das jüngere Kind? Von der Größe her waren sie etwa gleich.
Er schlug eine andere Seite im Ordner nach, wo die Personendaten vermerkt waren.
Wie aus weiter Ferne vernahm er die Stimme der Polizistin: "Nächtliche Ruhestörung in der Vorstadt."
Er ließ sich die notierte Adresse für die Meldung in seine schweißnasse Hand geben und sein Blick verschwamm. Erst nach mehrmaligem Blinzeln konnte er sich Gewissheit verschaffen.
Es handelte sich um das Haus der Pflegefamilie von Luise Geoffrey, dem jüngsten Kind, dem Mädchen mit den blauen Augen.
Am Abend vor der ersten Meldung:
"Mami, ich will wieder bei dir im Bett schlafen!" Die kleinen kindlichen Finger schlossen sich besitzergreifend um das gesunde Handgelenk von Melanie.
Sie versuchte nicht, sich aus dem überraschend festen Griff zu befreien. Noch allzu deutlich hatte sie den Schmerz beim letzten Mal vor Augen, das von einem hässlich knackenden Geräusch begleitet wurde.
"Natürlich mein Spatz. Deine Mami kommt gleich, sie muss nur noch mal kurz ins Bad."
Erleichtert stellte sie fest, dass die so strahlend blauen Augen ihres Kindes einen verständnisvollen Blick annahmen. Mit einem zustimmenden Nicken entließ es sie.
Melanie eilte in das Badezimmer am anderen Ende des Flurs und drehte vorsichtshalber den Schlüssel.
Sie stützte sich auf den Rand des Waschbeckens und blickte auf das müde und von Qualen gezeichnete Gesicht im Spiegel. Ein fast abgeklungenes Veilchen prangte dort neben einigen kleineren Schnittwunden und in ihren Augen sah sie Angst.
Wie hatte es soweit kommen können?
Dies war doch ihr eigen Fleisch und Blut, ein Wunschkind und es verlangte nichts anderes als die Zuneigung seiner Mutter.
Ja, es holte sich das Gewünschte auf eine rücksichtslose Art. Aber wie könnte sie es ihm auch verwehren? War sie nicht dazu da, ihre Kinder zufrieden zu stellen um jeden Preis? Wie viel war sie bereit noch dafür zu opfern?
Die Haut unter ihrem Gips juckte und sie fühlte ein vertrautes Kribbeln auf ihrer Kopfhaut.
"MAAMII!"
Es gab keine Möglichkeit, ihrer Aufgabe zu entrinnen. Sie war keine von diesen furchtbaren Müttern, die ihre Kinder auch nur für wenige Stunden hätten abgeben können. Schließlich hatte sie bereits während ihrer ersten Schwangerschaft den Beruf zugunsten ihrer häuslichen Verpflichtungen an den Nagel gehängt.
Als sie das erste Mal in diese wunderbaren, blauen Augen geblickt hatte, war das der schönste Moment in ihrem Leben gewesen. Ihre kleine Familie war so glücklich wie nie. Und dann sollte das nächste Kind ihr Glück perfekt machen.
Doch als sie der ebenfalls blauen Augen ihres zweiten Babys gewahr wurde, da war sie nicht mit mütterlichen Gefühlen überschwemmt worden und hatte stattdessen einen ersten Anflug von Panik gespürt. Sie hatte die natürliche Verbindung zu ihrem Kind vermisst, hatte sich selbst dafür gehasst, als sie es nicht an ihren vollen Milchbrüsten ertragen konnte.
Sie war eine schlechte Mutter, trotz all ihres Bemühens und nun zahlte sie dafür. Das war nur gerecht, oder?
Sie verabscheute sich dafür, dass sie nicht empfinden konnte, was sie hätte empfinden sollen und jetzt fing sie an, dieses Kind dafür zu hassen, dass es ihr Angst machte.
"Ich komme gleich, Liebling!"
Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Diese Nacht würde es enden, auf die ein oder andere Art. Sie hielt diesem Druck nicht mehr stand.
Die Nachbarn tuschelten bereits nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand, sondern musterten sie jedes Mal verständnisvoll und mitleidig. An der Kasse vom Supermarkt hatte sie einen Zettel mit der Adresse für eine Frauen-Selbsthilfegruppe zugesteckt bekommen, als ihr Liebling mal wieder eine öffentliche Szene gemacht hatte und sie ihm in Panik all seine gewünschten Süßigkeiten kaufte.
Natürlich hielt man ihren Mann für den Übeltäter, den noch viel hilfloseren Carl. Er hielt sich so gut es ging aus der Sache raus. Er wollte ihr glauben, dass sie nur etwas tollpatschig war und sich ständig im Haus selbst verletzte. Wie hätte er auch verstehen können, was hier vor sich ging, wenn sie es selbst kaum begriff. Aber auch er wurde zusehends misstrauischer, blieb so lange wie möglich auf Arbeit und betrat das Kinderzimmer nur noch in Ausnahmefällen. Dabei war er das Einzige, was ihr Kind bisher einigermaßen beruhigen konnte, in seiner Gegenwart hatte es meist von ihr abgelassen und die Dunkelheit zurück hinter die blauen Seelenfenster gebannt.
Sie wünschte sich einen Mann an ihre Seite, der stark genug gewesen wäre, ihr wenigstens mental beizustehen.
Aber die Brutalität der Übergriffe steigerte sich von Mal zu Mal und sie war tagsüber alleine mit dem jüngeren Geschwisterkind. Was sollte passieren, wenn es älter wurde und die Macht in ihm größer, zerstörerischer. Die Umarmungen waren jetzt schon kaum noch ohne Schmerzenslaute zu erdulden. Und Nachts wurde es besonders schlimm, wenn sich die Schwärze nicht verstecken musste, dann kam es hervor um sich auszutoben.
Immerhin war sie bisher das einzige Opfer der bestialischen Gewalt und ihr älterer Spross schaute höchstens mit traurigen Augen zu, die ihr stumme Vorwürfe machten, weil sie dieses Monster zur Welt gebracht hatte und ihm keinen Einhalt gebieten konnte.
Sie fürchtete nicht so sehr wie den Moment, wenn es gänzlich die Kontrolle über sich verlor.
Melanie öffnete entschlossen den Spiegelschrank und nahm mit zitternder Hand eine Pillendose heraus. Ihr Hausarzt hatte ihr ein mildes Schlafmittel verschrieben, weil sie sich bei ihm über Albträume beschwert hatte und die verstärkten Unfälle mit Übermüdung rechtfertigte. Mehrere Tabletten davon würde sie heute in der warmen Milch auflösen, die sie ihren Kindern jeden Abend ans Bett brachte.
Dann atmete sie tief durch, straffte die Schultern und öffnete die Tür. Erschrocken machte sie einen Schritt rückwärts ins Bad zurück. Wie ein blonder Engel stand das Kind vor ihr im Flur und schaute sie eindringlich mit schräg gelegtem Kopf an.
"Was hast du da, Mami?"
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2017
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