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~ HexenKunst ~

 

 

Es schlief.

Nicht die Art, in der Menschen sich in ihre Träume flüchten, um dem Körper die nötige Zeit zur Regeneration zu geben.

Es war eher ein Schweben in der Nichtwelt, ein bewusstes Stillhalten.

Doch während seine Gedanken nach innen gerichtet waren und in einem ständigen Leerlauf arbeiteten, waren seine Sinne darauf eingestellt, jede Veränderung in der Außenwelt wahr zu nehmen. Und etwas kratzte am Rande seines Bewusstseins. Da gab es eine ungewohnte Regung, die ihm einen schmalen Weg wies, raus aus der Dunkelheit seiner eigenen Existenzlosigkeit.

Ein leichtes Vibrieren freudiger Erwartung fuhr durch seinen Geist. Und wie ein Lichtstrahl wanderte es durch das Vakuum ohne viel dabei zu berühren auf der Suche nach einer Erinnerung, nach etwas Greifbarem. Es drehte Spiralen, erzeugte Gedanken-Wirbel, die sich wie Wellen in der Unendlichkeit ausbreiteten.

Die innere Regung verdichtete sich zu einem Wunsch, der ihn schließlich hinein in die Materie schleudern würde, zurück in den Raum, der ihm Gefängnis und Genuss gleichermaßen war. 

Die Körperlichkeit fühlte sich ungewohnt an. Lange schon hatte es keinen Grund mehr gehabt, sich damit abzugeben. Doch nun war etwas Bedeutendes verändert, ein Hauch von köstlicher Verheißung lag in der Welt.

Langsam erwachten seine Instinkte, wie sie ihm schon seit scheinbarer Ewigkeit zu Diensten standen und all seine bisherigen Handlungen bestimmt hatten.

Es war ein Raubtier, ein Geschöpf der Nacht, das mit einer tödlichen Intelligenz und einer gefährlichen Freude an der Jagd ausgestattet wurde.

Und noch bevor es selbst die Nachwirkungen des Innehaltens richtig abgeschüttelt hatte und gänzlich in die Hülle hinein schlüpfen konnte, die man ihm geschaffen hatte, fühlte es eins ganz deutlich:

Es war hungrig.

 

 

"Wo hast du denn diesen Schinken ausgegraben?"

Mit einer argwöhnisch erhobenen Augenbraue ließ Cecilia ihren Blick über das eingestaubte Stück gleiten und versuchte unter all den Schichten etwas von dem Besonderen zu erkennen, welches ihm innewohnenden musste, um sein Erscheinen hier zu begründen.

"Ich habe so das Gefühl, dass sich hierin ein kleiner Schatz verbirgt, der nur ein bisschen Arbeit bedarf, um wieder in altem Glanz zu erstrahlen."

Ein ehrfürchtiger Finger fuhr über die reichverzierten Schnitzereien eines von abblätterndem Gold überzogenen Rahmens. Es waren die Reste von uralten Symbolen zu erkennen, deren Bedeutung zu entschlüsseln ihr zu einer Herzensangelegenheit wurde.

"Allein die Verarbeitung des Holzes lässt auf unglaublich hohes Geschick schließen und das zu einer Zeit, wo es solche Werke eigentlich noch nicht gegeben haben sollte. Es muss sich um ein ganz besonderes Gemälde handeln, dem man eine derartige Fassung geschenkt hat."

Doch Cecilia sah auf der Leinwand nichts weiter als ungemütlich dunkle Farben, die sich zu einem undefinierbaren Brei vermischt hatten. Nichts, was die Euphorie in den glänzenden Augen ihrer Kollegin rechtfertigen würde.

"Na, deine Zuversicht möchte ich haben!"

Schnaubend erhob sie sich wieder aus der Hocke und ließ das Tuch über das angebliche Schmuckstück gleiten. Sie hätte sich nie die Mühe gemacht und schmutzige Hände riskiert bei der Schatzsuche in all den verdreckten Dachböden dieser Stadt, um dann noch weitere Zeit in die mühevolle Arbeit zu investieren, die wenigen lohnenswerten Fundstücke zu restaurieren. Vermutlich fehlte ihr zusätzlich zum Ansporn auch der gewisse Instinkt, der Margarete immer wieder mit schlafwandelnder Sicherheit dazu veranlasste, das eine oder andere unscheinbare Exemplar von seinen Spinnweben zu befreien und zu einem neuen Leben in gebührendem Licht zu verhelfen.

Aber genau von diesen wenigen Glücksgriffen lebte die Galerie. Mit Kunst zu handeln, die für jeden offensichtlich und zugänglich war, hätte sie nicht aus der breiten Masse heraus heben können. Allein die außergewöhnlichen Antiquitäten, welche Margarete überraschend von Zeit zu Zeit anschleppte, hatten zu dem Ruf geführt, dass es hier etwas Außergewöhnliches für Kunstliebhaber zu holen gab. Und hoffentlich würden sie bald ein weiteren Stück zu ihrer Sammlung zählen dürfen, welches ihre Auslagen bereicherte.

"Ich werde es gleich in die Werkstatt bringen und mich der Wiederbelebung widmen. Glaub mir, es versteckt sich eine kleine Perle darin. Ich kann spüren, dass es etwas Einzigartiges mit dem Bild auf sich haben muss."

Mit glühenden Augen und von Erregung geröteten Wangen griff Margarete das nicht gerade kleine Objekt ihrer Freude und trug es in die hinteren Räume. Dort warteten auch noch andere Kunstgegenstände schweigend auf die Zuwendung fachkundiger Hände, aber die würden unter ihren weißen Tüchern warten müssen. Dieses hier hatte Margaretes gesamte Aufmerksamkeit für die nächsten Tage reserviert.

 

 

Es jagte.

Die Schatten der Bäume wichen vor ihm zurück, der Boden zitterte unter seinen regelmäßigen Sprüngen. Die Luft war erfüllt von der süßen Angst seiner Beute. Es konnte sie schmecken und Geifer tropfte ihm bereits aus dem Maul, während nebelartige Schlieren sich in seinem struppigen Fell verfingen. Es konnte ebenso den rasenden Herzschlag hören, der ihm eine deutliche Spur lieferte, immer tiefer in den Wald hinein, dorthin wo es keinen Ausweg gab.

Es ließ sich Zeit und kostete den Moment bis zum Unausweichlichen. Stimmen hallten in seinem Kopf wider, von längst vergessenen Seelen, die um ihre Schwester fürchteten. Ein gequälter Aufschrei hallte durch den Wald, wurde tausendfach zurück geworfen. Sein Opfer stolperte über halb verrottete Äste, suchte Schutz in den pilzbewachsenen Stämmen umgestürzter Bäume. Sinnlos. 

Es hatte immer gefunden, was es wollte.  

 

 

Schweißgebadet schreckte Margarete aus einem Alptraum hoch. Sie sah sich mit schockgeweiteten Augen in dem dunklen Zimmer um, die Luft roch abgestanden und Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Sie konnte einen Windhauch spüren, der ihren Körper mit einer Gänsehaut überzog und unangenehme Kälte in Ihre Knochen kriechen ließ. Die Schwärze schien sich zu bewegen, waberte durch den Raum und gab ihr ein Gefühl, wie von körperlosen Augen beobachtet und von Geisterhand berührt zu werden. Sie griff nach der Lampe auf ihrem Nachttisch, auch wenn sie sie nicht sehen konnte, und schaltete mit zittrigen Fingern das Licht ein.

Die Schatten zogen sich augenblicklich in die hintersten Ecken zurück, kein unheimlicher Nebel war mehr zu sehen und Margarete schalt sich selbst für ihre Paranoia. Aber trotz des Gutzuredens blieb ein rostiger Geschmack auf ihrer Zunge und ein ungutes Gefühl in ihrem Magen. Ihr Herz brauchte lange, um sich wieder auf ein normales Tempo zu regulieren und Margarete konnte sich nicht dazu überwinden, die Lampe auszuschalten und erneut zu schlafen. 

Stattdessen stand sie auf und ging heute früher in die Galerie, um sich mit der Arbeit von dem verstörenden Erlebnis abzulenken. Es gab nichts berauschenderes, als sich ganz in die Aufgabe zu stürzen, etwas Altes neu zu entdecken.

Bereits am Tag zuvor hatte sie mit vorsichtigen Schritten den schweren Rahmen von der Rückwand des Gemäldes gelöst, welches ihre neueste Errungenschaft war.

Wie schon viele Male zuvor, hatte sie die Todesannoncen in der hiesigen Zeitung verfolgt und die Angehörigen reicher alter Leute kontaktiert, um sich als Gutachter für den Nachlass anzubieten. Selten genug gab es wertvolle Hinterlassenschaften, aber fast jeder Erbe hoffte darauf, dass sie als Experte irgendetwas in dem ganzen angesammelten Plunder der verstorbenen Verwandten entdeckte, bevor schließlich alles entrümpelt wurde und auf ewig verloren wäre. Es war eine zeitaufwendige und anstrengende Angelegenheit. Aber ab und zu wurde die Mühe damit belohnt, dass sie ein wertvolles Stück retten konnte, wie anscheinend auch diesmal.

Mit einem besonderen Scanner versuchte sie die verschiedenen Schichten der Ölfarbe auf den Computer zu übertragen und die im Laufe der Zeit eingetretene Verfärbung in einer Simulation rückgängig zu machen. Wenn sie erstmal erkennen konnte, was sich unter der dunklen Oberfläche versteckte, könnte sie damit beginnen, das Bild mit den ursprünglichen Farben zu rekonstruieren. 

Leider konnte sie keine Signatur des Malers entdecken und dementsprechend nicht nach ähnlichen Gemälden in den Archiven stöbern, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie seine individuelle Maltechnik aussah. Sie konnte allerdings eine Altersbestimmung durchführen, indem sie die Bestandteile der verwendeten Farben analysierte. Dafür hatte sie einen kleinen Teil ganz am unteren Rand abgekratzt und bereits bei dieser Tätigkeit festgestellt, dass es mindestens zehn Lagen geben musste. 

Das war nichts Ungewöhnliches. Da eine Leinwand teuer war und die meisten Künstler zu Lebzeiten kaum etwas mit ihrem Talent verdienten, nutzen sie alte Gemälde und übermalten diese solange bis das neugeschaffene Werk ihren Ansprüchen genügte. Ihr kam allerdings seltsam vor, dass sich nach einer ersten Betrachtung die verschiedenen Bilder, die übereinander lagerten, kaum voneinander zu unterscheiden schienen. Selbst in der Tiefe von mehreren Millimetern war der Großteil zu dunkel, um die Konturen einzelner Figuren erkennen zu lassen. 

Margarete kam das Gemälde wie ein einziger großer Schatten vor, was ihre Neugier noch weiter anstachelte. Zweifellos handelte es sich hierbei um ein Rätsel, das von ihr gelöst werden wollte.

 

"Hey Maggi, du bist ja schon hier. Hat dich mal wieder der Arbeitseifer gepackt?"

Blinzelnd löste sich Margarete aus ihrer Starre, in die sie bei der Betrachtung der Spektralanalyse verfallen war und musste sich einen Moment orientieren, bevor sie Cecilia in der Tür richtig wahrnahm. Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, hatte ihr die Freundin eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch gestellt und plauderte munter weiter.

Sie erzählte ihr von den neuesten Geschehnissen in der Kunstszene, von der sich Margarete immer bewusst abgrenzte. Sie sah sich selbst nicht als Künstler sondern viel eher als ein Historiker, der sich auf den Spuren echter Ikonen bewegte. 

Oft lag es in ihrer Macht, den bereits vor langer Zeit erschaffenen Kunstwerken zu ihrem verdienten Ruhm zu verhelfen. Es hatte allerdings etwas ironisches, dass der eigentliche Schöpfer diesen nicht mehr genießen konnte und sich stattdessen die heutigen Sammler in dem Wert ihrer Besitztümer badeten. 

Margarete war der Meinung, man musste das Bild für sich sprechen lassen und ihm keine Bedeutung aufzwingen. Aber im Moment hatte sie es mit einer unverständlichen Sprache zu tun und schweifte mit ihrem Blick erneut zu den Grafiken auf dem Bildschirm.

"Bist du schon zu ersten Erkenntnissen gekommen?"

Cecilia schaute ebenfalls neugierig zum Computer, konnte mit den Daten aber noch weniger anfangen und wandte ihr Augenmerk zu der Frau davor, die nicht viel mehr als ein Brummen von sich gab.

"Vielleicht sollte ich dich nicht weiter davon ablenken. Aber vergiss nicht die Vernissage heute Abend. Du solltest dich auch mal wieder blicken lassen und es könnte übrigens nicht schaden, wenn du dir um dein eigenes Erscheinungsbild die selbe Mühe machen würdest, wie um die deiner Arbeiten."

Mit einem ihrer manikürten Finger wischte Cecilia eine Schmutzspur von Margaretes Wange, deren eigene Finger waren hingegen höchst unansehnlich. Wenn nicht gerade die Überreste von Farbe unter den Nägeln klebte, dann waren sie wie jetzt rissig und gerötet von der milden Säure, mit der sie die Oberfläche des Gemäldes behandelt hatte, um einen Hauch der obersten Schicht abzutragen. Alles was es allerdings genützt hatte, war eine minimale Aufhellung an manchen Stellen des Bildes, so als wäre ein schwacher Lichtstrahl durch ein dichtes Blätterdach gefallen, aber noch lange nicht genug, um die Dunkelheit zu vertreiben und Umrisse hervor zu heben.

Sie seufzte und nickte mit einem dünnen Lächeln, denn ihr wurde bewusst, dass ihre Anwesenheit obligatorisch war. Man würde sich zwar kaum mit ihr unterhalten, aber sie zumindest zur Kenntnis nehmen als diejenige, der man viele der neuesten Errungenschaften zu verdanken hatte.

 

Am Abend hatte sich eine beachtliche Menge in die beengten Räumlichkeiten ihrer kleinen Galerie eingefunden. Man stand in Gruppen um die Kunstobjekte verteilt, ergab sich in wortgewandten Diskussionen, deren Bedeutsamkeit durch minimalistische Gesten unterstrichen wurde. Im Hintergrund schwebte die Musik einer eigens engagierten Cellistin für diesen Anlass. Cecilia unterhielt die Leute zusätzlich mit lebhaften Anekdoten und kreativen Schmeicheleien. 

Es war eine typische Ausstellungseröffnung, wie schon viele andere zuvor und Margarete fühlte sich äußerst unbehaglich. Sie hätte ihre Zeit gern mit etwas Konstruktiverem verbracht, als sich einen Muskelkater im Gesicht zu holen bei dem Versuch, freundlich und interessiert zu lächeln. 

Die meisten Menschen trugen Unikate am Leib, die gleichzeitig möglichst lässig und möglichst teuer aussahen. Auch Margarete hatte sich ausnahmsweise ein Designer-Kleid angezogen, welches allerdings nur gemietet war, da sie es ein einziges Mal tragen würde. 

Zwischen all den herausgeputzten Gästen fiel eine Person ganz besonders aus dem Rahmen und diese Frau sah sich all die Ausstellungsstücke sehr eindringlich an, ohne von jemandem in ein Gespräch verwickelt zu werden. Margarete beobachtete die zarte Gestalt, die mit jedem Schritt ein deutliches Klimpern verursachte, da sie mit zahlreichen Ketten, Armreifen und Fußkettchen behangen war. Selbst in ihren Locken waren Bänder eingearbeitet, an denen winzige Glöckchen zu hängen schienen. 

Die Frau hatte sie zuvor noch nie in der Galerie gesehen, da war sie sich sicher, denn eine solche Erscheinung könnte man schlecht vergessen. Margarete gesellte sich neben die Dame, deren Alter unmöglich zu erraten war und versuchte ein unbefangenes, nicht allzu neugieriges Gesicht aufzusetzen.

"Suchen Sie nach etwas Bestimmtem? Ich kann ihnen gern die Höhepunkte dieser Veranstaltung präsentieren. Mein Name ist übrigens Margarete Grün, ich leite den Einkauf und die Restaurierung beschädigter Ware."

Ein kurzes Funkeln trat in die Augen der Angesprochenen, bevor sie das Lächeln erwiderte und die Einladung zur Konversation ergriff.

"Ich schaue mich allerdings nach etwas ganz Speziellem um, das vor kurzem in den Besitz dieser Galerie gelangt sein könnte. Aber ich habe bisher nichts entdeckt, das auch nur annähernd das gewünschte Alter aufweisen kann."

Ihr Blick durchstreifte den Ausstellungsraum mit einer deutlichen Enttäuschung. Margarete war nicht entgangen, dass sie sich ihrerseits nicht mit Namen vorgestellt hatte und ihr fiel jetzt auf, dass die Anhänger ihrer diversen Ketten und auch die Armreifen kein billiger Tand aus dem Kaufhaus waren, sondern nach alter Handwerkskunst aussahen. Ein paar Symbole darauf kamen ihr seltsam vertraut vor.

"Wenn Sie sich für Objekte interessieren, die älter als 100 Jahre sind, dann werden Sie hier heute allerdings nicht fündig werden. Wir haben den aktuellen Schwerpunkt auf die unbekannten Künstler der Nachkriegszeit gelegt, die besonders von den damaligen schlechten Lebensbedingungen geprägt waren und trotzdem nicht davon abzuhalten waren, sich den brotlosen Künsten zu widmen. Unsere Absicht ist es, gerade den Wert bei all den damals notwendigen Entbehrungen zu würdigen, die zu einer ganz eigenen Mischung aus Trostlosigkeit und Hoffnung geführt hatten."

Margarete ersparte sich einen ausführlicheren Vortrag, da sie das schwindende Interesse der Frau deutlich erkannte. Diese murmelte etwas wenig freundliches, das so viel klang wie: "Entbehrungen gibt es immer."

Sie schenkte ihr allerdings schnell wieder ihre Aufmerksamkeit und blickte Margarete direkt in die Augen.

"Mein Interesse gilt Objekten aus einem sehr viel älteren Krieg, der noch immer seine Opfer fordert. Und ich fürchte, dass jemand mit mangelndem Geschick einen nicht wieder gut zu machenden Schaden anrichten würde."

Bevor Margarete sich persönlich beleidigt fühlen konnte, hatte sich die seltsame Person mit einer knappen Verabschiedung abgewandt und verschwand aus dem Raum, nur ein leiser werdendes Klackern ihres Schmucks und Verwirrung zurücklassend.

 

 

Es lauerte.

Die Witterung lag unmissverständlich vor ihm und führte ihn auf unsichtbaren Pfaden durch das Gestrüpp. 

Die Natur schien den Atem angehalten zu haben und es bewegte sich außerhalb der Zeit. Nichts konnte seine Aufmerksamkeit von der Beute ablenken, nicht einmal die eigenen Gedanken. Es verspürte nur einen einzigen Antrieb, der ihn zu einem erbarmungslosen Jäger machte.

Und seine bloße Essenz eilte ihm voraus, lähmte das Opfer durch den giftigen Stachel der Furcht. Sein Sieg war unvermeidlich und es suhlte sich in dem Wissen des Bevorstehenden.

Mit der Geduld eines unsterblichen Wesens widmete es sich seiner Aufgabe. Lange zurück liegende Gewohnheiten wurden von ihm wieder aufgenommen. Sein ganzer Daseinszweck lag darin begründet, zu finden, was zerstört werden musste und sich davon zu nähren.

Es genoss diesen unfairen Kampf.

 

 

Margarete kam stöhnend zu sich, vom Nachhall der Bilder noch immer wie erstarrt. Sie konnte sich daran erinnern, verfolgt zu werden oder nein, jemanden dabei zu beobachten, wie er verfolgt wurde. Und sie war auf der Suche nach einer Lösung, nach einem Schutz vor dem Monster gewesen, was ihr aussichtslos erschien und sie im Laufe des Albtraums immer stärker verzweifeln ließ.

Vermutlich bereitete ihr das Problem mit ihrem aktuellen Projekt so viel Kopfzerbrechen, dass es sie sogar schon zu einem Verfolgungswahn in den Träumen veranlasste. Und dabei saßen ihr tatsächlich ein paar Kunstkritiker im Nacken.

Eilig machte sie sich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz und warf dabei regelmäßige Blicke über ihre Schulter. Ein unangenehmes Prickeln im Rücken verursachte ihr Schweißausbrüche und sie war reichlich erleichtert, unbehelligt dort anzukommen. Allerdings erwartete sie ein Bild der Verwüstung.

An den Glasfenstern und rund um den Eingang zur Galerie waren des Nachts mit schwarzem Graffiti Schmierereien angebracht worden. Margarete konnte ein paar Schriftzeichen darunter erkennen, aber es waren vorwiegend wirre Linien und unzusammenhängende Schnörkel, die in dem grauen Morgendunst ziemlich unheimlich wirkten und sich wie eine stumme Drohung ausnahmen.

Man hatte keine Scheiben eingeschlagen, was den Alarm ausgelöst hätte und offensichtlich war auch das Türschloss unbeschädigt. Trotzdem wählte Margarete als erstes die Nummer der Polizei und meldete den Vandalismus, bevor sie ein paar Fotos davon machte und ihrer Kollegin Bescheid gab. Sie würden die Galerie für die Zeit der Säuberung geschlossen halten müssen und zusätzliche Kameras anbringen. 

Nach sich endlos in die Länge ziehenden Aussagen und wilden Spekulationen, hatte sie sich endlich soweit beruhigt, dass sie nach einem gemeinsamen Essen mit Cecilia wieder zur Galerie zurückgehen konnte. Die langsam abnehmende Aufruhr in der vornehmen Gegend ignorierend, trat sie durch die Hintertür zur Werkstatt herein.

Da ihr zuvor noch kein bedeutender Durchbruch bei der Wiederherstellung des Gemäldes von dem unbekannten Künstler gelungen war, wollte sie sich nun mit dem schweren Holzrahmen beschäftigen.

Mittels feinporigen Feilen entfernte sie die letzten Überreste der Vergoldung und mischte ein paar Chemikalien, um damit das Relief der Maserung und Gravuren zu betonen. Diese würde sie dann fein säuberlich nachbearbeiten und abschließend eine neue Goldbeschichtung auftragen, die möglichst nah an den ursprünglichen Zustand heran reichte. Gleichzeitig könnte sie damit das Material versiegeln und vor den Umweltbelastungen sowie Tierbefall schützen.

Während sie in ihre Arbeit vertieft war, hörte sie über Ohrstecker ihre typische Arbeitsmusik. Ihr Herz schlug gleichmäßig im Einklang mit den Rhythmen und ihre Gedanken schweiften im leeren Raum, ohne sich lange bei einer Empfindung aufzuhalten.

Doch plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne, als sich ein Bild vor ihr inneres Auge schob, welches zumindest in ihrer Erinnerung eine markante Ähnlichkeit mit den Mustern im Holz aufwies. 

Margarete nahm ihre Spezialkamera zur Hilfe, die sensibel für ein sehr viel größeres Lichtspektrum als das menschliche Auge war und sowohl Infrarot als auch Ultraviolett erkennbar machte. Dabei entdeckte sie die in das Material eingearbeiteten Symbole, die nun noch kräftiger hervor stachen und mit zahlreichen verschlungenen Schnörkeln untereinander verbunden waren, so als wären es natürliche Adern, nur sehr viel filigraner. Ein dichtes Netzwerk spann sich über die gesamte Fläche des Rahmens, weder ein Anfang noch ein Ende war ersichtlich und die größeren Symbole passten sich harmonisch ein. 

Manche erinnerten sie entfernt an chinesische Schriftzeichen, andere waren so schlicht wie typische Runen und bei jeder Betrachtung offenbarte sich ihr ein neues wundervolles Motiv. 

Um sich selbst zu überzeugen, nahm sie die Aufnahmen ihres Handys zur Hand und verglich die Neuentdeckung mit dem Graffiti an der Vorderfront und sah nun bestätigt, was sie unterbewusst bereits erkannt hatte: es gab eindeutige Übereinstimmungen.

Und dieses Zufalls nicht genug, erinnerte sie sich auch an die mystischen Zeichen auf Armreifen und Kettenanhängern einer speziellen Person, die noch am Vortag in der Galerie etwas gesucht hatte - vielleicht genau dieses Objekt, welches hier vor ihr lag.

 

Bereits seit Stunden hockte Margarete vor ihrem Laptop und durchforstete sämtliche ihr bekannten Archive historischer Sammlungen und gelangte immer wieder über diverse Links zu alten deutschen Mythen. Dies war ein Themenbereich mit dem sie sich reichlich wenig auskannte, da man ihnen selbst in der altertümlichen Kunst einen relativ kleinen Bereich zugestanden hatte.

Natürlich gab es alte Kupferstiche und das ein oder andere Buch, welches mündliche Überlieferungen endlich schriftlich festgehalten hatte. Aber aus der Zeit, die für die Verarbeitung des Bilderrahmens in Frage kam, gab es keine offiziellen Überbleibsel. Lediglich Quellen aus zweiter Hand verwiesen auf okkulte Rituale, die im Zusammenhang mit ähnlichen Symbolen stehen könnten. 

Als erstes hatte sie natürlich an die Kelten gedacht und immer wieder endeten die erfolgversprechenden Spuren auf den Scheiterhaufen des Mittelalters. 

Wie viel Wissen und wie viel Kunst musste damals den Flammen zum Opfer gefallen sein. Schon lange glaubte Margarete nicht an die offizielle Behauptung, dass die Kirche echte Hexen gejagt und die Tugenden der armen Christen damit geschützt hatte. Aber was damals wirklich hinter der Inquisition gesteckt haben mochte, würde wohl auf ewig ein Geheimnis und im Lauf der Geschichte verschollen bleiben.

Sie warf einen Blick auf den Rahmen, den sie für die Recherche mit nach Hause genommen und gegenüber von ihrem Bett an die Wand gelehnt hatte, wo Margarete schon die halbe Nacht brütete.

Die vielen zarten Linien hatte sie mit einem bronzenen Ton auf der goldenen Grundierung farblich abgehoben. Es musste der Glaube eines uralten Kultes dahinter stecken, der den Symbolen eine gewisse Energie zugeschrieben hatte. 

Selbstverständlich glaubte Margarete keinen Moment daran, dass irgendwelche Schriftzeichen eine wie auch immer geartete Macht ausüben konnten. Allerdings leuchteten die Zeichen in dem flackernden Licht ihres Bildschirms verheißungsvoll und strömten eine angenehme Wärme aus, die ihr nach den zuletzt durchlebten Alpträumen mehr als willkommen war.

Sie gähnte herzhaft und streckte sich auf den Laken. Für heute hatte sie wahrlich genug erlebt und zum Glück konnte sie das Wochenende über zuhause bleiben, was sie ganz für ihre weitere Forschung nutzen würde.

Zuletzt postete sie noch die Nahaufnahmen der Verzierung in ein paar einschlägigen Foren und musste nun darauf hoffen, von unbekannter Seite ein wenig Hilfe oder zumindest einen Schubs in die richtige Richtung zu bekommen.

 

 

Sie rannte.

Immer weiter durch den dicht bewachsenen Wald trieb sie ihre eigene Angst. Dornen zerkratzten ihr Gesicht und ihre Hände, die sie schützend vor sich hielt. Die nackten Füße wirbelten Dreck auf und sie kämpfte darum, bei dem hohen Tempo nicht über Wurzeln zu stolpern oder zu tief in den weichen Untergrund zu sinken. 

Das Nachthemd flatterte wie ein Gespenst um sie her, fing das wenige Mondlicht ein, welches durch dichtes Blätterwerk kaum bis zum Waldboden reichte.

Es wehte kein Lüftchen, nur ihr Atem kam stoßweise und blies fahlen Nebel in die Nacht. Die einzigen Geräusche, welche sie wahrnehmen konnte, waren von ihr selbst verursacht. Dieser Wald hatte nichts Lebendiges an sich und auch die Bäume standen wie tote Mahnmale, beobachteten sie mit unbeweglichen Augen.

Doch sie wusste, dass sie nicht alleine war. Etwas war in der Dunkelheit hinter ihr und eine unmissverständliche Stimme flüsterte ihr stetig von Flucht.

Nichts bewegte sich, sie befand sich in einem einzigen großen Schatten.

Wo hatte sie eine ähnliche Formulierung schon einmal vernommen? In dem panischen Gedankenkarussel, das sich nur immer wieder um das selbe namenlose Grauen drehte, blitzte eine kurze Erinnerung auf. 

Doch die Panik übermannte sie noch bevor sie etwas anderes als Weiterlaufen hätte in Erwägung ziehen können. Das nahende Unheil war so greifbar wie die Strähnen ihrer Haare, die ihr im Gesicht klebten, und die Armreifen an ihren Handgelenken. 

Sie wagte einen kurzen Blick darauf, während ihre Füße sie weiter vorwärts trugen. Und sie entdeckte ein paar eingraviert Symbole, die ihr seltsam beruhigend erschienen.

Mit einem Ruck und übermäßiger Willensanstrengung zwang sie ihren Körper, für einen Moment inne zu halten. Sofort drang die Stille auf sie ein und die Nackenhärchen stellten sich verräterisch auf. Doch ihre Aufmerksamkeit war wie gebannt auf ihre Arme gerichtet. Hauchdünne Linien in blass goldener Farbe verliefen über die gesamte Haut und ihre Gelenke wurden von enganliegenden Holzreifen umspannt, welche sich allerdings nicht wie Fesseln sondern wie ein Schutzschild anfühlten.

Ohne groß darüber nachzudenken, setzte sie sich wieder in Bewegung, diesmal langsam und zielgerichtet. Woher auch immer das plötzliche Vertrauen kommen mochte, es leitete sie in eine bestimmte Richtung.

Zwar verschwand die allgegenwärtige Gefahr nicht, doch sie ließ sich nicht mehr von dem Gefühl übermannen. 

Sie hatte noch einen eigenen Willen.

 

 

Am nächsten Tag erwachte Margarete in den frühen Nachmittagsstunden so frisch erholt wie schon lange nicht mehr.

Der Bilderrahmen stand noch immer an seinem Platz und einzelne Sonnenstrahlen brachten den frischen Lack zum glänzen. Beinah hätte man es für einen echten Schatz aus massivem Gold halten können. Die Muster besaßen eine ungewohnte Anziehungskraft und sie streckte instinktiv ihre Finger danach aus, um das warme Holz zu berühren und seine angenehme Wirkung durch ihren Körper fluten zu lassen.

Selbst ohne ein Gemälde in seinem Mittelpunkt stellte es ein Kunstwerk ohne Gleichen dar. 

Margarete hätte es gerne für sich beansprucht und vor der Öffentlichkeit verborgen, obwohl sie eigentlich der Meinung war, dass man Schönheit nicht besitzen konnte, sondern diese erst durch das Teilen der Bewunderung mit anderen Menschen entstand.

Schließlich konnte sie sich davon lösen und widmete sich ihrem virtuellen Postfach. Erstaunlicherweise hatte sie über 100 Nachrichten, die Bezug auf ihre Anfrage nahmen, und durchweg alle davon klangen in höchstem Maße aufgeregt. Anscheinend hatten die Leute etwas erkannt, das ihr bisher entgangen war, denn es wurde häufiger ein Zirkel von Magie-interessierten Frauen erwähnt, den sie in weitere Recherchen einbeziehen würde. Ansonsten sprachen die Kontaktpersonen ihre Begeisterung über die wundervolle Arbeit aus und dass sie scheinbar viel Schweiß und Blut bei der Sache gelassen hat.

Nach dem Beantworten einiger Fragen, stöberte sie wie üblich in der dicken Wochenendausgabe der Zeitung und überflog den Teil mit den Todesanzeigen. Es hatte in den letzten paar Tagen einen enormen Anstieg verstorbener, alleinstehender Frauen gegeben. Auf den restlichen Seiten war allerdings nichts über Gewaltverbrechen vermerkt, man musste also von natürlichen Todesursachen ausgehen. Diese beiden Informationen bescherten Margarete Magenschmerzen. Irgendetwas sagte ihr, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte, schließlich beobachtete sie seit Jahren die Hinterlassenschaften der hiesigen Bevölkerung und konnte eine derartige Explosion als Anomalie identifizieren.

Erinnerungsfetzen aus ihren Träumen kamen ihr zu Bewusstsein, in denen sie die panischen Schreie von gejagten Frauen vernommen hatte. Eine inzwischen bekannte Gänsehaut legte sich auf ihre Arme und sie nahm sich vor, endlich Licht in das Dunkel zu bringen.

 

Mit neu gewonnenem Elan und einer inneren Unruhe, die ihr zur Eile riet, stürmte sie zur Galerie. Erleichterung durchflutete Margarete beim Anblick der gereinigten Glasfront und der frisch gestrichenen Tür. Fast hatte sie mit weiteren Übergriffen gerechnet. 

Da samstags die Ausstellung nicht offiziell geöffnet war, ging sie wieder auf den Hinterhof zum zweiten Eingang. Dort erwartete sie eine zusammen gekauerte Gestalt in auffallend bunten, aber verdreckten Kleidern.

Es klimperte vernehmlich als die Frau sich auf Margarete zu bewegte. Auf ihrem Gesicht vermischte sich tiefe Sorge mit einem Hauch von Hoffnung. Das hinderte Margarete allerdings nicht daran, ihrer eigenen Wut Luft zu machen.

"Sie haben vielleicht Mut hier noch einmal aufzutauchen!"

Eine zarte Hand legte sich auf Margaretes Unterarm und zog sie mit sich in die hinterste Ecke der Gasse, von wo aus man die Straßen nicht mehr einsehen konnte.

"Ich habe versucht sie zu retten."

Ihre Stimme klang rau und nicht annähernd so selbstbewusst wie bei ihrem letzten Treffen während der Ausstellungseröffnung, so als hätte sie lange geweint oder viel geschrien oder beides. "Doch es war alles vergebens."

Mit einem resignierten Seufzer ließ sie sich wieder auf den Treppenvorsprung nieder und blickte ins Leere. Jetzt erst bemerkte Margarete die nackten Füße, an denen dunkle Erde klebte und die blutigen Kratzer auf Wangen und Händen. Eine kurze Erinnerung blitze auf und verschwand wieder, bevor sie sie richtig greifen konnte.

"Wen wollten Sie retten? Und wovor? Warum haben Sie den Eingangsbereich der Galerie verschandelt? Und streiten Sie es bloß nicht ab. Es waren die selben Zeichen, wie ich sie auf ihrem Schmuck sehe und solche habe ich bei all meinen Recherchen nirgends finden können."

Anstatt ihr zu antworten, spielte die Frau mit einem ihrer Anhänger. Dann löste sie die Kette und drückte sie Margarete in die Hand. Völlig überrumpelt, umschloss diese das dargebotene Stück und keuchte überrascht auf, als daraufhin ein Netz feiner goldener Linien auf ihrem Arm sichtbar wurde. Erschrocken ließ sie es fallen und die Zeichnung verblasste.

"Was zum ...?"

Sie trat einen Schritt zurück, starrte fassungslos auf die Unbekannte im Schatten der Häuserfront. Auf einmal wirkte sie sehr alt. Dann sagte sie etwas, was Margaretes Welt völlig auf den Kopf stellte: "Du bist eine von uns und es wird versuchen dich zu finden."

Der Albtraum schoss in ihren Kopf und mit absoluter Klarheit sah sie erneut die Dunkelheit vor sich, die sie in ihrer panischen Flucht beinahe erdrückt hatte, bis zu dem Augenblick, als ihr der Anblick dieser wunderbaren Schnörkel auf der Haut zu innerer Ruhe verholfen hatte. Und da war noch mehr in ihren Erinnerungen vergraben: Sie hatte gewusst, dass sie verfolgt wurde. Genauso wie in den Nächten zuvor viele andere Frauen gejagt und getötet worden waren. Sie hatte sie gesehen und ihre verzweifelten Schreie vernommen, die in der wirklichen Welt allerdings ungehört verklungen waren.

"Wovon redest du? Was ist das in diesen Träumen?"

Die Frau flüsterte ein einziges Wort, doch es war zu leise als dass Margarete es hätte hören können, stattdessen spürte sie den Nachklang in ihrem Inneren. Die weitreichende Bedeutung der Bezeichnung wollte ihr aber noch nicht ganz klar werden: "Hexenfresser".

 

Es dauerte lange bis Margarete aus dem unzusammenhängenden Gefasel der Frau die wesentlichen Informationen herausfiltern und sie mit ihren eigenen Vermutungen zu einem Gesamtbild zusammensetzen konnte.

Inzwischen war die Sonne beinah untergegangen und sie fürchtete sich vor der Nacht, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Und diesmal hatte sie eine Ahnung davon, was das Monster unter ihrem Bett tatsächlich war.

"Was können wir tun, um es aufzuhalten?" 

Dies schien ihr die wichtigste Frage von allen zu sein, doch die Antwort war ernüchternd: "Gar nichts. Man kann dieses Wesen nicht von seinem Ziel abhalten, zu dessen einzigem Zweck es geschaffen wurde. Es wird solange jagen bis keiner mehr von uns übrig ist."

Damit konnte und wollte Margarete sich nicht abfinden. Es ging hier nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern um das Seelenheil jeder einzelnen Frau, die durch ihre Blutlinie mit einem Angehörigen des Zirkels der Hexen verwandt war. Und selbst wenn man nicht an die Existenz von Zauberkräften glaubte, so mussten es doch inzwischen Tausende von Nachkommen in der Welt geben, die dieser Gruppe rein biologisch angehörten. 

Inzwischen hatte sie soweit verstanden, dass diese Fäden, die durch bestimmte Zeichen auf ihrem Körper sichtbar wurden, nichts anderes als Energiebahnen waren, wie sie auf der ganzen Welt zu finden sind. Man kannte sie als Lay-Linien in der Geomantie, als Meridiane in der chinesischen Medizin, dessen Knotenpunkte die Akupunktur und Akupressur verwendete.

Den Ursprung der Symbole konnte ihr die Frau hingegen nicht erklären, sie seien noch viel älter als jede Aufzeichnung. Vermutlich stammten sie von einer uralten Religion, die sich mit den Kräften der Natur beschäftigt hatte. Jede Nachforschung über deren Wurzeln musste zwangsläufig an den mangelnden Quellen scheitern und man konnte sich auf mündliche Überlieferungen nach so langer Zeit nur wage verlassen. Aber sie hatten zum großen Teil eine schützende Funktion, von ihnen ging etwas Warmes aus und Margarete konnte sich nicht vorstellen, in welchem Zusammenhang diese zu den grauenhaften Geschehnissen standen.

Und trotzdem musste es einen Auslöser gegeben haben, der den Hexenfresser gerade jetzt wieder hatte aktiv werden lassen. 

"Es jagt in den Träumen, habe ich recht? Auf irgendeine verschrobene Art, kann es in diese fiktive Welt eindringen oder die Menschen dorthin locken, wo es nichts als einen dunklen Wald gibt. Ich habe den Ort gesehen und du auch."

Wenn das etwas mit dem Bild zu tun hatte, an dem sie seit einigen Tagen arbeitete, dann müsste sie es auch damit wieder beenden können.

"Was hat sich geändert vor ein paar Tagen? Wie kamst du darauf, hier in der Galerie zu suchen?"

Ihr Blick war eindringlich auf die Frau gerichtet, die auf einem Hocker saß, den kalt gewordenen Kräutertee vor sich und die Finger ehrfürchtig über der Leinwand schwebend. Die Metallplättchen in ihrem Haar funkelten bei jeder winzigen Bewegung im Dämmerlicht und verliehen ihr eine überirdische Aura.

"Es war wie ein Sog. Das Gefühl von einer starken Energie hat mich her geführt. Mein ganzes Leben habe ich nach einem Zugang zu meinen eigenen Kräften gesucht. Ich bin auf einer spirituellen Reise durch die Länder gezogen mit dem Wissen, dass ich zu einer Gruppe von Frauen gehöre, die zu mehr befähigt sind als nur Kartenlegen. Und plötzlich war es da. Ich konnte fühlen, wie mich eine uralte Macht durchflutet und zusammen mit ihr kam auch die Angst. Jetzt würde ich lieber auf alle Fähigkeiten verzichten, wenn ich dafür wieder ruhig schlafen könnte."

 

Nach einem umfangreichen Austausch mit den Frauen aus den Internetforen war Margarete zu einem Entschluss gekommen. Viele von ihnen hatten die neuerlangten Kräfte in sich gespürt und mit ihr waren Gedanken an Hexenverfolgung und Scheiterhaufen aufgelebt. Keine wollte riskieren, dass sie durch unnatürliche Fähigkeiten zur Zielscheibe der Öffentlichkeit wurden und erst recht wollte niemand zum weiteren Opfer des Traumjägers werden. 

Man wusste nicht, wo es ursprünglich her kam und wer es geschaffen hatte, aber es wurde von der Energie angelockt, die nun wieder in zahlreichen Frauen frei pulsierte und würde keine Ruhe geben, solange noch ein Funken Magie in dieser Welt existierte

Es gab nur eine Möglichkeit, die eine annähernde Chance zur Lösung des Dilemmas bot: Sie mussten die Macht erneut abgeben, sie wenn möglich so fest verschließen, dass sie in den nächsten Jahrhunderten nicht wieder befreit werden konnte. 

Und Margarete hatte eine Idee, wie sie dies erneut zustande bringen konnte. 

Sie hatte trotz ihres Bemühens nie eine konkrete Abbildung in dem Gemälde finden können, es war nichts als schwarze Farbe in mehreren Lagen auf einer Leinwand. Und das konnte lediglich daran liegen, dass es dem Maler nicht um das Endprodukt als Kunstwerk ging, sondern um das, was darin steckte.

Derart von ihrem Vorhaben überzeugt, mischte Margarete eine neue Farbe für ihre Zwecke. Sie hatte zuvor ein paar unerklärliche Bestandteile separieren können und legte all ihre Hoffnung darin, dass sie nun wusste, um was es sich dabei handelte und sie es korrekt reproduzierte: mit ihrem eigenen Blut.

Während die Sonne bereits weit hinter dem Horizont stand und sich die Anhänger des Zirkels wie besprochen in ihren eigenen Gemächern zu einer rituellen Meditation nieder ließen, um ihre Kräfte auszusenden, steckte sich Margarete ihre Kopfhörer ins Ohr und nahm dank der intensiven Musik Abstand von der Außenwelt.

Alles was zählte war der Wunsch, die ganzen Energien, die den Nachfahren der Hexen zur Verfügung stand zu bündeln und in das Bild fließen zu lassen, welches sie nun mit kräftigen Pinselstrichen als eine zusätzliche Schicht auf die bereits dicke Grundlage auftrug, bevor sie es mit Hilfe des restaurierten Bilderrahmens und den mächtigen Symbolen darauf verschließen würde.

Ihr Blickfeld engte sich zunehmend ein, sie fühlte sich seltsam schwerelos und wurde in die Strudel der schwarzen Farbe gezogen, in denen winzige Lichtpunkte knisterten.

 

 

Sie träumte.

Der Wald war ihr vertraut, doch die Dunkelheit hatte sich darin gelichtet. Zwischen den dichten Kronen des grünen Blätterdachs konnte sie ansatzweise einen blauen Himmel ausmachen. Sonnenstrahlen wanderten wie lebendige Wesen über den Waldboden, durch ein stetes Spiel des Windes in den Ästen zu einem anmutigen Tanz verführt.

Sie schritt vorsichtig zwischen den Sträuchern hindurch, die Erde fühlte sich warm unter den nackten Zehen an und sie konnte die tausend Stimmen einer lebendigen Natur hören. Im Hintergrund war das unverkennbare Plätschern eines kleinen Bachlaufs. Sie folgte dem Geräusch.

Staunend nahm sie die vielen Sinneseindrücke in sich auf, ließ die Erleichterung ihren ganzen Körper durchfluten und die Luft von ihrer Freude vibrieren.

In den Baumstämmen konnte sie schwache Linien unter der Rinde funkeln sehen, die ebenso bei jedem ihrer Schritte auf dem Moos aufleuchteten. Die ganze Welt war durchzogen von wunderschöner, freifließender Energie.

Nach einem angenehmen Spaziergang erreichte sie das steinige Bachbett und ein in den Schatten der großen Eiche verborgenes Häuschen.

Sie ging unbedacht darauf zu und öffnete die schwere Holztür, deren Rahmen mit zahlreichen mystischen Symbolen verziert war, unter Aufbietung all ihrer Kraft.

Im Inneren war es dunkel, die Fensterläden waren dicht verschlossen, nur ein gefiltertes Licht drang zusammen mit ihr in die schwarze Tiefe des Gebäudes.

Eine Gestalt, deren Umrisse von dichten Nebelschleiern verhüllt war, wartete dort und sprach mit einer geschlechtslosen Stimme direkt in Ihre Gedanken. 

Es verlangte nach einer neuen Berufung, jetzt wo es dem Sinn seiner Existenz erneut beraubt war.

Sie erfüllte ihm diesen Wunsch und machte ihn zum Wächter über die Traumwelt, auf dass kein Wesen mit unlauteren Absichten es jemals wieder betreten oder die dort verborgene Macht freisetzen könnte.

Sie sollte die letzte Hexe in der Welt der Menschen gewesen sein.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.02.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All den Frauen gewidmet, die nicht um ihr Erbe und die in ihnen wohnende Macht der Hexen wissen, weil uralte Kräfte das Geheimnis vor ihnen verschließt.

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